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Autor: Berlage, Hendrik Petrus
In: Leipzig; Zeitler (1905); 53 S.: graph. Darst.
 
Gedanken über Stil in der Baukunst
 
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Vor etwa ein paar Monaten, an einem wunderschönen Herbstabend stand ich auf der steinernen Brücke am Liebesteich zu Brügge. Die Sonne hatte sich eben gesenkt und es war über Stadt und Landschaft jene Glutfarbe gegossen, die an Herbstabenden eine so unvergleichliche Stimmung hervorruft, eine Stimmung, zu der schweigen besser paßt als reden. Rechts die flache flandrische Ebene; eine solche, die wir Holländer nicht gern gegen eine Gebirgsgegend umtauschen möchten. Wiesen mit Vieh, umrahmt von hochgewachsenen Bäumen; zwischen diesen die breite Landstraße; und was der holländischen Landschaft einen so ungemeinen Reiz verleiht, Wasser; kein breiter Fluß, sondern verschiedene Gräben, welche die Wiesen parzellieren. Bauerngehöfte beleben das Ganze. Die Stadt hat noch ihre alte Umwallung, d. h., die Befestigungen sind zwar niedergerissen, aber der Graben ist noch nicht zugeschüttet, und die alten Tore sind noch nicht Verkehrszwecken zuliebe verschwunden; übrigens, man lächelt, wenn man an Verkehr und Brügge denkt. Neue Viertel sind auch nicht da; es bilden daher die an der Landseite liegenden, nahe an den Stadtgraben gerückten einzelnen Häuser, Werkstätten und Lagerplätze noch den schönen Übergang von Stadt zu Land, d. h. von hoch zu nieder. Links die Stadt, mit ihren durch die Abendsonne noch röter als sonst gefärbten Dächern, die das Wasser des Teiches gleichfarbig widerspiegelt. Die Türme der Kirchen Notre-Dame und Saint-Sauveur, wunderbar fein getönt, zu denen die über den Häusern emporragenden Bäume gar herrlich stimmen, verleihen dem Stadtbild etwas Stattliches. Das Ganze ein Bild von erhabener Ruhe. Bei dem Anblick eines solchen Bildes kommen einem gar mancherlei Gedanken. Schon morgens vor dem Frühstück hatte ich einen Spaziergang gemacht. Ich kam an einen kleinen Obstmarkt, keine Markthalle, sondern an einen Kanal, an dessen Ufer unter Bäumen die Weiber an ihren kleinen Verkaufstischen saßen. Daneben eine steil ansteigende Brücke, mit einem Bogen über den Kanal setzend, mit dem tot darniederliegenden Wasser; kein Mensch sonst am Quai. Nachher hatte ich die ganze Stadt durchwandert. Kanälchen entlang, durch öde Sträßchen und Gäßchen, wo das Gras zwischen den Pflastersteinen wächst, alle mit denselben kleinen Häuschen, mit denselben abgestuften Giebelchen, zum großen Platz. Der mächtige Hallenturm schaut auf eine Einöde hernieder, in der das Standbild der beiden Nationalhelden Breydel und de Coninck sich lächerlich einsam ausnimmt. Ich besuchte das Rathaus, es ist ein gotischer Bau vom feinsten Stil. Ich ging an romanischen Kirchenportalen vorbei, deren wunderbare Abgewogenheit von einfacher Linienführung einen zur Andacht zwingt. Ich besuchte ein altes Patrizierhaus, das mit der Kirche Notre-Dame zusammen eine wunderschöne Gebäudegruppe bildet, und jetzt, gänzlich restauriert, auch im Innern von der ehemaligen Schönheit noch vieles zu erzählen wußte. Ich sah an demselben Tag im Sankt-Johannishospital, und im städtischen Museum die schönsten mittelalterlichen Gemälde der Welt, und stand nun, wie gesagt, auf der Brücke am Liebesteich, und konnte mich nicht sattsehen am herrlichen Abendstimmungsbild. Da plötzlich seh ich am Ufer etwas hinaufragen, das inmitten dieser Umgebung buchstäblich gen Himmel schreit: einen Fabrikschornstein, und auf einmal begreife ich, was wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts verloren haben. Ich denke dabei zurück an die jetzt tote, aber vor 600 Jahren belebte Stadt, und wie sie damals ausgesehen haben mag; und an eine moderne Metropolis, mit ihren langen Straßen, elektrischen Trambahnen, Eisenbahnhallen, und allem was zu einer solchen gehört; und dann kommt bei diesem Vergleich über mich ein Gefühl der größten Verzweiflung. Denn alle die Riesenfortschritte auf technischem und industriellem Gebiet haben nicht vermocht, uns auch nur annähernd etwas zu geben, was in einer Beziehung auch nur im entferntesten mit dem Früheren zu vergleichen wäre; ich meine in Beziehung zur Schönheit, und von dieser Schönheit will ich reden. Wir können doch wohl ganz ruhig konstatieren, sogar unter Zuerkennung mildernder Umstände, daß das neunzehnte Jahrhundert das Jahrhundert der Häßlichkeit gewesen, und diese muß wohl als eine der schlimmsten Eigenschaften einer Zeit bezeichnet werden. Man hat, um zu einem solchen, wahrhaftig nicht erheiternden Ausspruch zu kommen, alles ruhig, d. h. nüchtern, vergleichenden Blickes zu betrachten, darf sich nicht betäuben lassen durch fragliche Schönheiten, wozu in unserer kunstlosen Zeit allerdings einige Verführung vorhanden sein dürfte, d. h. darf sie nicht überschätzen. Das neunzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der Häßlichkeit gewesen; unsere Großeltern, unsere Eltern, und wir selber, haben gelebt und leben in einer Umgebung so häßlich als keine früher gewesen. Ich wiederhole noch einmal: man betrachte alles nüchternen Blickes; und wenn man dann alle Dinge vergleicht mit denjenigen aus früheren Zeiten, dann kommt man zu der Überzeugung, daß nichts, aber auch nichts von alledem, was unsere Eltern und wir zum Gebrauch benutzten, schön genannt werden kann, und daß dasjenige, was noch hübsch aussieht, aus einem vorvergangenen Jahrhundert zu stammen pflegt. Betrachten wir das Innere unserer Wohnungen, dann schaudern wir völlig vor alle dem Kram, den wir Hausrat nennen. Kein Stuhl, kein Tisch, kein Topf, der auch nur einigermaßen befriedigt; und die einzige Ursache, daß wir uns nicht zum Verzweifeln ärgern, ist die, daß der Mensch leider, oder vielmehr glücklicherweise, sich an alles gewöhnt. Betrachtet man die Wohnungen selber, so hat der löbliche Spekulationsbau, diese Massenproduktion der schlimmsten Sorte, gegen die ein einziges erträgliches Haus eines Architekten in seiner Einsamkeit nicht aufkommen kann, einen Typus geschaffen, an dem wohl nichts mehr von dem übriggeblieben ist, was man Baukunst zu nennen pflegt; die Art und Weise, wie diese Bauten zustande kommen, schließen auch von vornherein jedes Resultat im günstigen Sinne aus. Dieselbe Massenproduktion hat das ganze Weichbild unserer Städte verdorben und den schönen Übergang zwischen Stadt und Land verwüstet, indem die brutalen Straßenenden direkt ins Grün vor der Stadt verlaufen. Unsere Städte? Ja, was soll man von unseren neuen Stadtvierteln sagen? Mir ekelt völlig vor Ringstraßen; ach, wenn sie nur keine Prachtbauten enthielten! Nun ja, es gibt unter diesen, unter den vielen Laden- und Geschäftshäusern natürlich welche, die mit Talent entworfen sind; es gibt unter den vielen Privatwohnungen solche, in denen der Bewohner sich behaglich fühlen kann, aber trotzdem sind mir diese Prachtbauten ein Ekel, sind mir Boulevards mit Konkurrenzfassaden ein Greuel, weil, abgesehen von allen sonstigen bedenklichen Qualitäten, an allen diesen modernen Monumentalbauten doch schließlich "jenes gewisse Etwas" fehlt, das uns sogar am geringsten Häuslein aus vergangenen Zeiten so wunderbar imponiert. Ja um Himmelswillen: soll man denn seinen Nachbar immer zu übertrumpfen suchen durch so viel Kubikmeter Granit mehr? Denn es scheint namentlich in der Säule von Granit und dann in einem vergoldeten Säulenkapitell, etwas sehr Bestrickendes zu liegen; mit Brüstungen an jedem Fenster, bis übers Dach, und mit Erkern und Kuppeln an jeder Straßenecke; wo gerade in umgekehrter Richtung die einzige Lösung zu finden wäre! - Aber darüber später.

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Und dann unsere neuen Städte, mit den breiten Straßen! Groß, geräumig, mit ihrer platten Leere, ich meine nicht an Menschen und Verkehrsmitteln, sondern ihrer künstlerischen Leere, die das enge mittelalterliche Gäßchen nur allzu schmerzlich vermissen läßt. Und draußen im Stadtpark mit den Villenanlagen ist es nicht besser. Wiederum muß ich meinen Ekel vor Villenvierteln und Villaparks kundgeben. Auch für diese gilt zwar dieselbe Bemerkung: einzelne Bauten legen Zeugnis ab von Fleiß und Talent; aber wiederum herrscht diese gräßliche Massenproduktion, an der alle Einheit fehlt; städtische Monumentalarchitektur übertragen auf Landhäuser; an kleinen Häuschen das ganze architektonische Programm verwirklicht, mit Türmchen, Erkerchen, Balkonen, mittelalterlichen Verglasungen usw. Und dann erst der Inhalt der vielen städtischen Verkaufsläden, der modernen Warenhäuser, mit ihren Dutzendwaren. Zu schildern was dort zu haben ist, oder vielmehr nicht zu haben ist, bleibt unmöglich. Bei der Betrachtung eines solchen Magazininhaltes wundert man sich nicht mehr über die Interieurs, von denen oben die Rede war; das ist übrigens schon so oft bemerkt worden, daß es jetzt eine unnütze Wiederholung von vielfältig Gesagtem und Geschriebenem wäre. Ja, wohl haben wir in einer häßlichen Zeit gelebt, nicht nur, weil sie einer  k ü n s t l e r i s c h e n  Äußerung entbehrte, sondern weil sie schließlich auch in  g e i s t i g e r  Beziehung häßlich war und noch ist. Mit diesem Wort soll natürlich nicht behauptet sein, daß es keine Gelehrten gibt. Im Gegenteil, die Wissenschaften, d. h. die Naturwissenschaften zählen die vortrefflichsten Apostel scharenweis! Aber wenn von Häßlichkeit auf geistigem Gebiete die Rede ist, dann meine ich damit das absolute Fehlen eines, ich möchte sagen, gemeinschaftlichen Lebenszweckes, eines Zusammenwirkens aller nach einem Ziel; das Fehlen einer gewissen Lebensweihung, in letzter Instanz das Fehlen, nicht von Bildung, denn wir sind nun einmal gebildeter (!) als frühere Völker, denn wir haben keine Scheiterhaufen, keine Inquisition und keine Sklaven mehr, aber von Kultur, die etwas ganz anderes ist. Denn ist nicht eben Kultur die Übereinstimmung zwischen einem geistigen Kern, Folge eines gemeinschaftlichen Strebens, und dessen Abspiegelung in stofflicher Form, d. h. Kunst? Die Menschheit hat, als Gemeinschaft genommen, kein Ideal mehr. Es ist an die Stelle der gemeinschaftlichen geistigen Interessen das persönliche Interesse getreten, und zwar rein materieller Natur, das Geld. Überflüssig, diese bekannte Tatsache noch einmal zu wiederholen, werden Sie sagen; ganz recht; aber man kann nun einmal die ökonomischen Ursachen des künstlerischen Verfalls nicht ignorieren. Auf ihrem großen Sündenregister hat die Herrschaft des Kapitals wohl diese allergrößte Sünde: Wert zu legen auf Schein für Wesen, d. h. nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen Lüge auf den Thron geholfen zu haben. Mit dem Wachstum des Kapitals ist auch seine Huldigung gekommen und zwar seine geistige; so trat das Schlimmste ein, daß die Uneigennützigkeit nicht mehr als eine Tugend, sondern als eine Dummheit betrachtet wird. Für Geld ist alles zu haben, also auch Kunst; je mehr Geld, je mehr Kunst; und jetzt kommt die fatale Verwechslung von Ursache und Folge, daß, wenn etwas viel Geld gekostet hat, es auch Kunst ist. Die absolute Urteilslosigkeit der großen Masse in Kunstsachen hat nun dieses schreckliche Resultat herbeigeführt, daß alles Kostbare diese kapitalistische Huldigung mitmacht, und als Kunst betrachtet wird. Daher, um bei unserem Gegenstand, bei der Baukunst, zu bleiben, die gegenseitige Überbietung in teueren Materialen; und die scheußliche Konsequenz dieser Tatsache, die Einführung von nachgeahmten Materialen, denn derjenige, der die echten nicht bezahlen kann, sucht natürlich in der Imitation denselben Effekt zu erreichen, und damit ist nun, wie im geistigen Leben auch in die Kunst, der Schein an die Stelle des Wesens getreten, hat nun auch in der Kunst die Lüge gesiegt. Welche Verheerungen das Kapital, so ausgenutzt, gestiftet hat, weiß heutzutage jedermann. Die Lüge ist Regel, die Wahrheit Ausnahme geworden und hier steht auch die sogenannte offizielle Wahrheit immer ein wenig neben der Wahrheit, d. h. sie ist eine Lüge. Man könnte sich hier auch auf Max Nordau beziehen, der sein fatales Buch gewiß nicht ohne Grund geschrieben hat 1).

1) Die conventionellen Lügen


Schein für Wesen. Das ist also jetzt die Parole. Was viel Geld kostet, ist auch Kunst.

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In dieser Betrachtung kann es als eine Merkwürdigkeit hervorgehoben werden, daß in unserer kunstlosen Zeit das Gemälde sich nicht nur hat behaupten können, sondern daß die Gemäldekunst sogar Großes geleistet hat. So schwer es sein mag, bei so komplizierten Verhältnissen in dieser Beziehung etwas festzustellen, Ursache und Folge genau auseinanderzuhalten, und namentlich bei Beachtung der Tatsache, daß eine gewisse Wechselwirkung in allen gesellschaftlichen Verhältnissen stattfindet, es ist jedenfalls nicht zweifelhaft, daß eine gewisse Blüte der Malerei, d. h. der Gemäldekunst doch auch wohl zusammenhängt mit der Herrschaft des Kapitals als teuer gekaufte Kunst, welche nur dem einzelnen zugute kommt. Demzufolge besteht die traurige Tatsache, daß das Gemälde ein Handelsartikel geworden ist, das vom nüchtern materiell angelegten Kunsthändler verhandelt wird, und daß trotzdem der Maler ohne den Kunsthändler nicht existieren kann. Und die Folge ist auch wieder, daß der Millionär in den meisten Fällen sich teuere Gemälde kauft und nun auch meint, je teuerer sie sind, desto mehr Kunst zu haben; jedenfalls aber an eine gute Kapitalanlage denkt. Der Ruhm des Malers wird kapitalisiert. Es wird die Kunst nicht ihrem wirklichen inneren Wert nach, sondern auch nach Talern bemessen, womit denn natürlich nicht gesagt sei, daß alle Gemälde, welche teuer bezahlt werden, keine Kunst repräsentierten. Welche Kunst hat nun aber wohl am meisten zu leiden gehabt, bei dieser Devise: "Schein für Wesen", d. h. der Lüge, oder der wirklich teuer bezahlten Scheinkunst? Es ist die Architektur. Sogar dem oberflächlichsten Blick ist es sichtbar, was da alles geschehen ist, erstens um wirklich reich zu sein, zweitens um reich zu scheinen, und von dieser Scheinkunst geben nun die bewußten Ringstraßen den markantesten Beweis. Und nun muß ich leider ehrlich sein, aber Deutschland hat uns in dieser Beziehung wohl das schlechteste Beispiel gegeben. Die Ursache ist auch wieder nicht weit zu suchen; sie ist in dem gewaltigen Aufschwung der Industrie nach dem Krieg von 1870, und dem darauf gefolgten nationalen Reichtum zu suchen; und Reichtum äußert sich immer am sichersten in Architektur. Wer viel Geld verdient hat, baut sich ein reiches Haus. Nun liegt es eben an den rasch erworbenen Reichtümern, und der damit übereinstimmenden Äußerung derselben, daß diese Architektur etwas Protzenhaftes an sich hat. Es ist teuere Architektur einerseits, Scheinarchitektur andrerseits, aber keine schöne Architektur geworden und das in einem Lande, das eine so schöne Tradition hinter sich hat, das ein Hildesheim und ein Nürnberg aufzuweisen hat, Städte, die nicht nur an Brügge erinnern, sondern vielleicht Brügge an Schönheit noch überbieten. Es ist unglaublich, erstlich was an diesen Bauten nicht alles gemacht wurde, und dann was da an ihnen nicht alles für Konstruktionslügen zu finden sind. Ja, diese Scheinarchitektur hat so tief eingegriffen, daß ich sogar am Neubau des Hamburger Rathauses, während dies Rathaus doch als ein Bau ersten Ranges gilt, an dessen Herstellung, wenn ich nicht irre, sieben Architekten tätig waren, gesehen habe, daß "massive" Granitsäulen nur Scheinarchitektur, also nicht massiv waren; und der Granit war sogar imitiert. Wenn sich nun schon an einem solchen Bau solche Imitation, d. h. Scheinarchitektur, d. h. eine Lüge kundgiebt, da kann es nicht wundernehmen, daß an anderen Bauten noch weniger gewissenhaft vorgegangen wird. Naturstein, der kein solcher ist, Eisen zu allen möglichen Zwecken benutzt, aber immer so, daß man es nicht sieht, ja seinen Gebrauch nicht einmal vermutet; alle möglichen Luxusmateriale imitiert; Gewölbe, die keine solchen sind, das sind nur einzelne Beispiele aus vielen. Und solches geschieht nicht nur in Deutschland, das ist natürlich. Sogar die gewaltigen monumentalen Türme der Towerbridge in London bergen in sich eine Eisenkonstruktion, und für diese bildet die Steinarchitektur eine nur lose zusammenhängende Hülle. Die Lüge ist Regel, die Wahrheit Ausnahme geworden. So ist es im geistigen Leben, so in der Kunst. Die Folge eines solchen Zustandes ist die geistige Langeweile, eben weil das Gemeinschaftsleben eines geistigen Inhalts entbehrt, und demzufolge oder zu gleicher Zeit auch Langeweile in der Kunst. Man braucht noch kein Moralprediger oder Calvinist zu sein, um sich daran zu ärgern, wenn schließlich nach der hastigen, rastlosen Jagd nach Geld, aber auch nur nach Geld, bei der großen Masse die schrecklichste Langeweile eintritt, und, um diese zu vertreiben, ins Wirtshaus oder Spezialitätentheater gegangen wird. Daher weist auch die Baukunst einen besonderen Aufschwung in Wirtshausarchitektur und Spezialitätentheaterarchitektur auf, und zwar mit besonderem Luxus; d. h. mit jener bombastischen leeren Pracht, die nun gar nicht innerhalb des Anständigen bleibt, und gerade durch jene bordellartigen Eigenschaften die große Menge betäubt. Mit dem Wachstum dieser Säle, wo "en masse" genossen wird, ist aber die geistige Leere ebenfalls im Verhältnis gewachsen. Nicht mehr das gesellige Cabaret, oder die Bierstube, nicht mehr ein Chatnoir, oder ein Auerbachs Keller, wo die größten Geister ihrer Zeit zusammentrafen, und wo ohne Zweifel der Ursprung ihrer vielen Kerngedanken steckt, gerade durch gegenseitigen Umgang entstanden und gesogen - sondern jetzt eine ungeahnte Vergrößerung in Auswahl und Oberfläche, die jedoch dem Gehalt jenes geistigen Umganges nicht zugute kam, im Gegenteil Ursache wurde einer allgemeinen geistigen Verflachung, mit der jenes selbstgenügsame Publikum, das jetzt, in Massen hereintretend, jene Lokale zu füllen pflegt, gekennzeichnet ist. Demgegenüber eine gesuchte Vereinsamung von Künstlern und Gelehrten, welche, obschon begreiflich, doch zu tadeln ist. Denn ihre Folge ist ein unerträglicher Pedantismus, eine gelehrte und künstlerische Selbstgenügsamkeit hieraus weiter ein gegenseitiger Haß und Eifersucht gerade derer, die durch fortwährenden Umgang einander begreifen lernen sollten und dadurch ausfüllen; hingegen jetzt einander nicht schätzen, einander hinterm Rücken ausschimpfen und am liebsten öffentlich, damit das Publikum wisse, daß keiner sonst als der Betreffende es weiß. Die Bühne ist bis zum äußersten heruntergekommen, denn die einzigen Stücke, die noch Publikum heranziehen, sind jene mit dem stets sich wiederholenden komplizierten Thema Monsieur, Madame et le troisième; das Café chantant ist an die Stelle des Dramas getreten, man will nach der angestrengten nervösen Tagesarbeit kein schweres Essen zu verdauen haben, und damit ist die ganze Sache erklärt. Am schrecklichsten sieht's aber am  S o n n t a g  aus, weil auch da noch der Tag zu überwinden ist. Das herrliche stimmungsvolle Glockengeläute wird nicht, oder nur selten gehört, und das ist vielleicht nur gut, denn mit dem pietätvollen Kirchgang geht's denn auch nicht mehr so von Herzen. Es ist, als ob mit dem Verschwinden der aufrichtigen Frömmigkeit, die in diesen Zeiten nicht mehr existiert, und auch nicht mehr existieren kann, als wie von selbst der fromme Aufruf zur andächtigen Zusammenkunft verstummt ist. Ja, man kriegt so das Gefühl, daß schließlich die Kirchgänger in die Kirche gehen, mehr um den Sonntagmorgen ganz anständig auszufüllen als wohl zur Befriedigung eines innerlichen Gemütsdranges. Und in der Stadt ist dann auch ein Sonntag ganz entsetzlich. Sie, die Stadt, die der Mittelpunkt, die Konzentration alles geistigen Lebens ist, und auch dessen Abspieglung sein sollte, sie zeigt gerade in ihrer Abspieglung  n u r,  aber auch nur das Bild der raffiniertesten Langeweile. Da, wo die Ursache fehlt, muß auch notwendig die Folge fehlen. So ist es denn gekommen, daß wir in einer Zeit leben, die wohl die häßlichste aller Zeiten genannt werden kann, und wenn nicht ein bißchen Literatur, und Wagner nicht wäre, dann müßten künstlerisch empfindende Menschen wirklich ohne jede Lebensfreude sein. Und diese Zeit, die äußerlich vielleicht noch etwas hätte sein können, hat auch das nicht vermocht, weil die Anregung zu einer schönen Form fehlte; nur Schein für Wesen, nur Protzentum als reiche Lebensäußerung, denn der Protz ist eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts. Und dabei denke ich dann auf einmal wieder zurück an Brügge und sehe in Gedanken das ganze stimmungsvolle Bild eines mittelalterlichen Sonntagmorgens, mit alle dem kirchlichen Ernst, oder einen Jahrmarkt dazu als Gegenstück, mit alle dem fröhlichen Zank, alle dem Humor, aber beide Äußerungen auf demselben geistigen und danach auch künstlerischen Boden stehend; beide Äußerungen einer hohen Kultur. Oder ich denke weiter zurück, und sehe den Panathenäenzug, die zahlreichen Reiter, die zum Opfer bestimmten Stiere, die Ehrenjungfrauen, ziehend durch das Tor der Propyläen, zur Akropolis hinaufsteigen mit dem Zweck, dort ein Fest zu feiern, aber ein Fest als Äußerung des ganzen geistigen Lebens, was eben das griechische Volk in seiner höchsten Lebensspannung vermochte. So sehe ich die ägyptischen Tempelfeste, ja sogar den Aufzug der Todgeweihten mit den Sterbensworten "Morituri te salutant" in dem Ideallicht einer höheren Kultur, als wir sie besitzen, in dem römischen Zirkus vorbeiziehen. Denn noch einmal: uns fehlt Kultur. Es ist das Fehlen dieser, das uns von der "guten alten Zeit" reden macht; aus diesem Grunde beneiden wir jedesmal, bei dem Besuch alter Städte, diese Zeit, trotzdem wir von alle den einstmaligen Abscheulichkeiten wissen. Es ist aber ihre Schönheit, die wir zurückhaben möchten, sogar mit allen jenen Abscheulichkeiten dazu, sogar ohne ihre Bildung. Wir lechzen nach einer Periode wie jener der "ungebildeten" Griechen, nach ihrer hohen Kultur, oder nach jenem barbarischen Mittelalter, aber mit seinem hohen Ehrendienst und bürgerlicher Ordnung, verkörpert in jenen prächtigen Werken der bauenden Künste, von denen wir das Unsterbliche begreifen, nach denen zu trachten wir aber ohnmächtig sind.

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Ich sehe dann auf einmal die entsetzliche Leere unserer gegenwärtigen Zeit, das ekelhaft Geschäftliche, das aber auch nicht um einen Zoll höher steigt als das Niveau des nüchtern praktischen berechnenden Zweckes, und wenn man alsdann jeden Menschen für sich kämpfen sieht, um sich ein Plätzchen zu erobern, "ôte toi de là pourvu que je m'y mette", mit allen möglichen ehrlichen, aber auch allen möglichen unehrlichen Mitteln, wenn man fast niemals etwas unternehmen sieht zugunsten vieler, aber fast immer für sich allein; fast niemals kämpfen für oder gegen eine Sache, aber fast immer für oder gegen eine Person, dann bleibt einem aus dieser entsetzlichen Gewißheit nur ein Gefühl der größten Wehmut übrig. In der Erkenntnis jedes Übels liegt nun schon der Keim der Besserung; und zu der Erkenntnis dieser Dinge sind wir Gott sei Dank gekommen. Es gilt nun, uns aus diesem verzweifelten Zustand loszuringen, es gehe wie es geht; dazu muß alles aufgeboten werden. Aber wie? Diese verzweifelte Sachlage ist schon längst erkannt, sie ist nicht von heute oder gestern, aber die Verhältnisse sind so gewaltig kompliziert, daß es durchaus nicht leicht ist, die Mittel zu finden, das verlorene Ideal wiederzugewinnen. Es gilt hier Ursache und Folge ganz genau zu prüfen und dabei die Abhängigkeit aller Ereignisse voneinander zu erkennen, denn von einer Kunstentwicklung zu reden, oder dieselbe zu erklären suchen, ohne die politischen und ökonomischen Verhältnisse daneben zu betrachten, darf wohl als überwundener Standpunkt betrachtet werden. Es würde jene Erklärung eines richtigen Grundes entbehren. Keine Kunst wächst ohne Einfluß von außen. Die Erkenntnis der verzweifelten Lage hat nun zuerst in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Reaktion gegen die derbe Herrschaft des Kapitals gebracht, die sozialdemokratische Bewegung, die allmählich zu der gewaltigsten Bewegung auswächst, die die Geschichte kennt. Es hat so kommen müssen. Sie ist ursprünglich eine rein ökonomische Reaktion, die mit einer geistigen Reaktion nichts zu schaffen hat. Aber sie kann oder vielmehr wird eine solche werden, denn die Philosophie der Sozialdemokratie sucht alle Entwicklung aus ökonomischen Ursachen zu erklären, so auch die geistige; aus dieser Philosophie würde demnach folgen, daß kein Wachstum einer bildenden Kunst möglich wäre, bei den jetzigen ökonomischen Verhältnissen würden nicht einmal Keime einer solchen zur Entwicklung kommen können. Dies liegt nun doch anders, denn es ist sehr bemerkenswert, daß fast zu gleicher Zeit, als die ökonomische Reaktion sich zu regen anfing, sich auch eine künstlerische einstellte, und den Kampf auf dieser Linie begann; also den Kampf gegen die Scheinkunst, gegen die Kunst des leeren Reichtums, der Lüge, und der abgeschmackten Formen. Denn, merkwürdiges Zusammentreffen: gerade mit dem Anfang der Industrie, und der Herrschaft des Kapitals ging das Wiederaufblühen der sogenannten historischen Stile Hand in Hand, der Neo-Gotik und der Neo-Renaissance, und dies sogar in allen Ländern. Es scheint, als ob mit dem Wachstum der Industrie zugleich die künstlerische Erfindungskraft allmählich nachließ, abstarb, und die geistige Leere anfing; denn ist nicht in letzter Instanz die Wiederbelebung schon gewesener Stile Folge einer allgemeinen Geistesleere? Und das ist wahrhaftig nicht der Fehler der sie führenden Künstler, denn unter ihnen sind mehrere, die für alle Zeiten an erster Stelle genannt werden können. Man kann mit Deutschland anfangen, wenn es einige der bedeutendsten Namen zu nennen gilt. Die größte Verehrung gebührt zuerst dem großen Semper, der in Deutschland die italienische Renaissance wieder belebte. Von ihm später. Vor ihm war's Schinkel, der den griechischen Stil in schönen, fein stilisierten Monumenten zum Ausdruck brachte. An diese beiden Großmeister schließt sich eine beträchtliche Reihe von Talenten an, Führer einer Neo-Renaissanceschule, die sich wieder in ein paar Unterabteilungen zerlegt, nämlich die neoitalienische, die neogriechische und die neodeutsche Renaissance; die Neo-Gotik existierte schon und entwickelte sich neben diesen fort. In Österreich wirkt Semper auch und stiftet dort ebenfalls seine Schule; neben ihm von Ferstel als Neo-Renaissancist und Friedrich von Schmidt als Neo-Gotiker. In meinem Vaterland ist zuerst der große Cuypers zu nennen als Neo-Gotiker, und wohl als einer der bedeutendsten Architekten des vorigen Jahrhunderts; während sich ebenfalls eine tüchtige niederländische Renaissanceschule gründete, nach einer neoklassischen Schule in den vierziger Jahren. In Frankreich und England hat man dieselbe architektonische Bewegung, d. h. die Entwicklung einer neoklassischen Richtung, die sich direkt an den Empirestil anschließt, mit einem Führer wie Vignon, und eine Neo-Renaissancerichtung mit einem Talent wie Percier als Initiator, wozu denn ebenfalls eine neogotische Richtung sich gesellte, deren Apostel der hochbegabte Viollet-le-Duc war. In England in mehr konservativer Weise eine bedeutende neogotische neben einer Renaissancerichtung. Ist es nun nicht, wiederhole ich, ein merkwürdiges Ereignis, daß ein Kampf begonnen hat, nicht nur gegen die Scheinkunst, d. h. die Kunst des schlechten Konstruierens, und der Imitation, sondern sogar gegen die auf einem höheren Plan stehende Kunst der großen Meister des vergangenen Jahrhunderts, die die historischen Stile in ganz ernsthafter Weise wiederzubringen beabsichtigten. Man bekämpft diese Meister, nicht weil man ihre Kunst nicht schätzt und bewundert, nicht weil man so pedantisch wäre, zu behaupten, es besser zu können, nein wahrhaftig nicht, denn, gesagt, wir können ihre Vollkommenheit noch lange nicht erreichen und den jüngeren geziemt immerhin ihnen gegenüber noch einige Bescheidenheit, sondern weil es so kommen mußte, ebenfalls als Reaktion gegen eine Kunst, die zwar auf einem höheren Plan der Anschauung und Kritik, aber in rein ethischem Sinne dennoch als Scheinkunst zu betrachten ist, indem sie die Formen aus früheren Zeiten in dieser ganz anders gestalteten Zeit wieder einzuführen suchte. Eigentlich sollte ich dieses oft behandelte Thema nicht zu lang ausspinnen, ich möchte aber nur hier einfügen, was Karl Scheffler in seiner jüngsten Schrift über die "Konventionen der Kunst"1) dazu sagt.

1) Leipzig 1904. Verlag Julius Zeitler.


Indem er behauptet, daß alle Kunst, insofern sie Sprache der Seele sein will, auf Konventionen angewiesen ist, und daran anknüpft, daß die richtige Basis einer Kunst heutzutage fehlt, sagt er, daß das verflossene Jahrhundert reich ist an Opfern, an Genies, die keine Resonanz in ihrer Zeit fanden, und darum auf alte Konventionen zurückgriffen, konventionell wurden. Die andern ringen verzweifelt nach neuen Weltideen, die längst noch nicht reif sind, und stammeln mit gebrochenen Sprachwerkzeugen unklare Prophezeiungen. Auf den Schlachtfeldern der Kunst kämpfen geniale Begabungen, die innerhalb einer gefesteten Epoche, wie die Renaissance, oder gar die Gotik, Unsterbliches geleistet hätten, die, dem Maße der Energieentwicklung nach, hinter keinem Meister der Vergangenheit zurückstehen, und deren Wirken doch nur Episode sein kann. Episode, das ist leider die Rolle, welche die Arbeiten der großen Künstler, von denen eben die Rede war, nur gespielt haben können. Trotz ihrer großen Talente haben diese Künstler nicht vermocht, da sie in unserer Zeit lebten, mit ihren Arbeiten höher zu steigen als zur Episode, sie wirkten also nur vorübergehend, wurden nicht zum Ereignis, d. h. bleibend. Das war ihr trauriges Schicksal, abhängig, wie der Mensch ist, von allen großen Lebensbedingungen. Und so hat denn die Architektur im letzten Jahrhundert Großes hervorgebracht, Großartiges leisten wollen, und auch geleistet; aber indem sie prinzipiell auf falscher Basis stand oder vielmehr keine Basis hatte, ist sie eine Scheinkunst geblieben, nicht in ordinärem, sondern in höherem Sinne, und dadurch hat sie die Reaktion hervorgerufen. So wie die Herrschaft des Kapitals nötig war, um den Keim zur Entwicklung zu bringen, der den ökonomischen Kampf hervorrief, so war auch die Herrschaft der Scheinkunst nötig, um den Keim einer Kunstreaktion zu erwecken. So wie das Kapital anfangs nur Gutes versprach und nützlich gewirkt hat, so haben auch die historischen Stile anfangs Gutes versprochen und auch wirklich befruchtend gewirkt, indem sie die Architektur aus dem Morast der absoluten Entartung emporhoben. Sie waren nötig. Wir können also jetzt eine geistige Evolution neben einer ökonomischen wahrnehmen. Aber trotzdem gehören diese beiden Evolutionen zueinander; sie greifen ineinander hinein; sie sind prinzipiell dieselben, sie ergänzen einander, ihre Führer verstehen einander. Sie schreiten zusammen auf demselben Wege einem entfernten Ziele zu. Der große Kampf hat begonnen. Aber bevor man einen Kampf anfängt, soll man sich klarmachen: erstens wie man sich eine Umwälzung eventuell vorstellt und was man nachher erreichen will, und dann, mit welchen Mitteln der Kampf geführt werden soll. Nun hat die Erfahrung gelehrt, daß, wenn auch über verschiedene Gegenstände bestimmte Grundsätze verkündet werden können und auch bestehen, und daher eine Vereinbarung darüber sehr gut möglich ist, eine solche ihre Schwierigkeiten hat, wenn es die Kunst betrifft. Die Ursache liegt nun wohl zunächst darin, daß ein Faktor niemals eliminiert werden kann, nämlich der persönliche Geschmack; aber der Grund der ganz verschiedenen Meinungen ist wohl der, daß die eigentlich ausführenden Künstler gewöhnlich (es gibt natürlich Ausnahmen) nicht dermaßen philosophisch angelegt sind, daß sie sich genügend Rechenschaft über ihre Kunst geben, ihre Ursachen, Folge usw., um ihre Einsicht in Worten motivieren zu können. Ihre Meinung, ihre Einsicht, ihre Philosophie über "Kunst" liegt eben in ihren Arbeiten selber, und ihr Schaffensdrang ist schuld, daran, daß sie sich nicht besonders um Ursache und Folge ihrer Kunst kümmern. Das "Schaffe Künstler, rede nicht" bleibt immer wahr. Und wollen wir nun sogar die eigentlichen Philosophen zu Rate ziehen, dann hat auch das seinen Haken, denn auch bei ihnen scheint es Meinungsverschiedenheiten zu geben, ja sogar dermaßen, daß die großen Denker nicht einmal mit der Baukunst selber fertig werden, nämlich ob sie eine Kunst sei oder nicht. Man braucht nur Kant, Schopenhauer, Solger, Krause, Hegel, Trahndorff, Weiße u. a. nachzuschlagen, um den Beweis zu haben, wie schwer eine Definition über Architektur zu geben ist, und daher noch viel schwerer zu sagen, wie dieselbe nun eigentlich sein sollte. Und das rührt eben daher, daß die Philosophen wieder keine ausführenden Künstler sind, und alle Theorie grau, und nur des Lebens goldner Baum grün ist, d. h. auf gut Deutsch, daß noch kein Gelehrter entweder dem Beethoven und Wagner das Komponieren, noch einem Praxiteles und Michelangelo das Bildhauen gelehrt hat; daß noch kein Philosoph entweder den Raffael und Rembrandt im Malen, oder den Iktinos und Bramante im Bauen unterweisen konnte. Ja sogar ein Ruskin, der wohl der Vater der modernen Kunst genannt wird, bleibt schließlich doch Gelehrter, der uns auf direktem Weg kaum nützen kann. Und das ist schließlich auch wieder klar, denn die Philosophie vermag nur aus den Erscheinungen ihre Schlüsse zu ziehen. Man kann die Ideen der Menschen von vornherein definieren, kann aber jedenfalls keine Kunst vorschreiben. Nein, da sind doch die großen, praktisch arbeitenden Künstler wie Viollet-le-Duc in Frankreich, und der schon genannte Semper in Deutschland, bessere Lehrer, indem sie in ihren großen Werken "La Dictionnaire raisonné de l'architecture" und "Der Stil in den technischen Künsten" praktische Ästhetik geben, also eine solche, die man brauchen kann. Denn worum handelt sichs? Darum, wieder einen Stil zu haben! Nicht nur ein Königreich, sondern der Himmel für einen Still ist der Ausruf der Verzweiflung; das ist das große verloren gegangene Glück. Es gilt die Scheinkunst, d. h. die Lüge zu bekämpfen, wieder das Wesen und nicht den Schein zu haben. Wir wollen also das Wesen der Architektur, d. h. die Wahrheit, und noch einmal Wahrheit, denn auch in der Kunst ist die Lüge Regel, die Wahrheit Ausnahme geworden.

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Wir Architekten müssen daher versuchen wieder zur Wahrheit zu kommen, d. h. das Wesen der Architektur wieder zu fassen. Nun ist und bleibt die Baukunst die Kunst des Konstruierens, d.h. des Zusammenfügens verschiedener Elemente zu einem Ganzen, d. h. zum Umschließen eines Raumes, und da nun eben dieser prinzipielle Grundsatz eine leere Form geworden, so muß vor allen Dingen wieder versucht werden, wollen wir auf den Grund der Sache gehen, gut zu konstruieren, und, um dies wieder ganz unbefangen tun zu können, in der einfachsten Form. Es sollen wieder natürliche begreifliche Sachen gemacht werden, d. h. eine Sache, ohne die den Körper verdeckende Bekleidung. Aber noch weiter: wir Architekten müssen auch zuerst das Skelett studieren, so wie der Maler und Bildhauer das tun, um nachher ihrer Figur die richtige Form geben zu können. Denn die Bekleidung bei jedem Naturgebilde ist gewissermaßen eine genaue Abspiegelung des innern Gerippes, das so wie es uns den vollkommensten Aufbau darbietet, ja schließlich ein Bauwerk genannt werden kann, wobei das logische Konstruktionsprinzip vorherrscht, und der eigentliche bekleidende Teil nicht wie eine lose, diese Konstruktion ganz verneinende Hülle; nicht wie ein Anzug, darum sitzt, sondern mit dem innern Bau völlig verwachsen, in letzter Instanz gezierte Konstruktion ist, so wollen wir versuchen den Körper wieder zu finden. Rücksichtslos soll das geschehen und alles Unnütze verschwinden; denn die Architektur ist im Grunde so verdorben, daß, wollen wir das ideale Ziel erreichen, kein Kompromiß möglich ist; etwas zugeben heißt alles beim alten lassen. Also vorläufig das Studium des Skeletts, d. h. die nüchterne Konstruktion in aller Derbheit, um nachher wieder zum vollen Körper zu kommen, aber diese ohne Konfusion mit Kleidern. Sogar die letzte Hülle, auch das Feigenblatt, soll weg, denn die Wahrheit, die wir wollen, ist ganz nackt. Die Architektur war eine nach schlechter Mode gekleidete Person. Nennen wir sie Geck und Demimondaine, oder Übermensch und Überdame, gleichviel, es soll das Modekleid abgerissen, und die unverhüllte Gestalt, d. h. die gesunde Natur, die Wahrheit hervorkommen. Und um dies zu erreichen, heißt es jenes Geheimnis abzulauschen, wie die Alten dazu gekommen sind, ihren Gebäuden diesen nie verfehlten Reiz zu geben, mit anderen Worten, wie sie zu dem Resultat gekommen sind, das wir bei allen unsren Versuchen vermissen. Und dann fällt uns sofort auf, daß, was sonst geschehen sein mag, d. h. wieviele für uns oft unerklärliche Zusammenstellungen getroffen sind, wieviele für uns zufällige Abweichungen heraustreten, diese eine große, ich möchte sagen, Haupteigenschaft sofort ins Auge tritt, es ist "die Ruhe"; eine reizende Ruhe in ihren kleinen Werken, eine erhabene Ruhe in ihrer großen monumentalen Architektur. Unsre jetzigen Arbeiten dagegen machen den Eindruck, sehr unruhig zu wirken. Fast möchte ich sagen, daß die beiden Worte Stil und Ruhe synonym sind, daß also Ruhe gleich Stil, Stil gleich Ruhe sei. Daher kann aus diesem Begriff, aus der Existenz jener Erfahrung, wohl die Folge gezogen werden, daß: eben weil die alte Architektur Stil hat, sie jene wohltuende Ruhe zeigt. Stil ist die Ursache der "Ruhe". Es kommt also darauf an, diese Ursache zu untersuchen, also zu fragen was Stil sei. An dieser Stelle, in dieser Betrachtung drängt sich uns jenes Werk in die Hand, das schon von mir genannt wurde, nämlich der "Stil in den technischen Künsten", und mit ihm sein Verfasser, der große deutsche Kunstgelehrte und Architekt Gottfried Semper. Ich wähle dieses Buch, weil einige Sätze aus ihm herauszunehmen sind, die als ebensoviele Mottos über Kunstaufsätzen stehen müßten, und die allein schon sein Studium zu einem Genuß machen. Erstens dies: Semper war, wie schon gesagt, kein Philosoph im eigentlichen Sinne, und ebendeswegen ist das Studium seines Buches so sehr zu empfehlen; denn Semper ist vor allem, und eben das soll sehr stark betont werden, ausführender Künstler, und sein Werk ist  n i c h t s  weniger als eine "praktische Ästhetik". Nur Viollet-le-Duc ist in neuerer Zeit mit ihm zu vergleichen. Sempers ästhetischen Betrachtungen liegen aber solche hochgestimmte Ideen zu Grunde, daß man sofort bemerkt, doch mit einer philosophisch angelegten Natur zu tun zu haben. Nebenbei gesagt: alle großen Künstler sind mehr oder weniger philosophisch angelegt; ernste hohe Kunst ist nicht Gefühlsäußerung allein, sondern ebenfalls das Resultat scharfen Denkens. Semper will das Höhere erreichen, aber andererseits ruft er uns zu: "Willst du in die Ferne schweifen, ach das Gute liegt so nah". Aber eben das Naheliegende scheint für uns so schwer; und das mag eben auch wieder nicht so sehr wundernehmen in dieser an antagonistischen Ideen, Mystifikationen und Kompliziertheiten so hochschwangeren Zeit. Semper hat wie alle großen Geister vorwärts gesehen; er ist einer von denen, von welchen Heine sagt: "die einander über die Jahrhunderte zunicken". Ich nehme einen Satz aus den Prolegomena, den schönsten, den ich in dieser Beziehung kenne. "So wie die Natur bei ihrer unendlichen Fülle doch in ihren Motiven höchst sparsam ist; wie sich eine stetige Wiederholung in ihren Grundformen zeigt, wie aber diese nach den Bildungsstufen der Geschöpfe und nach ihren verschiedenen Daseinsbedingungen tausendfach modifiziert, in Teilen verkürzt oder verlängert, in Teilen ausgebildet, in anderen nur angedeutet erscheinen; wie die Natur ihre Entwickelungsgeschichte hat, innerhalb welcher die alten Motive bei jeder Neugestaltung wieder durchblicken, ebenso liegen auch der Kunst nur wenige Normalformen und Typen unter, die aus urältester Tradition stammend in stetem Hervortreten dennoch eine unendliche Mannigfaltigkeit darbieten, und gleich jenen Naturtypen ihre Geschichte haben. Nichts ist dabei reine Willkür, sondern alles durch Umstände und Verhältnisse bedungen."1)

1) Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, Bd. I. Prologmena S. VIII.


Ich frage, ob jemals in schönerer Weise gesagt worden ist, was in jeder Künstlerwerkstatt als Spruch an die Wand gehängt werden sollte; daß nämlich die Natur, behaupte ich, und nur sie allein uns den Weg zu zeigen hat, in dem Sinne, daß: 1. sie selber mit den einfachsten Mitteln, eine unendliche Zahl verschieden gestalteter Kunstwerke hervorbringt, und 2. daß sie logisch ist, indem sie niemals willkürlich arbeitet. Könnte man den Künstlern jemals deutlicher zurufen: Denkt nach bei allem, was ihr tut, und sorgt dafür, daß alle eure Kunstwerke bis zum kleinsten Detail davon Zeugnis ablegen. Tuet nichts willkürlich: aber vor allen Dingen, seid sparsam in dem Gebrauch eurer Motive, d. h. seid einfach. Also, allen denen zum Trotz, die meinen, daß die Kunstfertigkeit sich durch eine große Verschiedenheit von Motiven zeigt, ruft Semper dem Künstler zu: Das ist nicht wahr; betrachte, studiere unsere Allmutter, die Natur, seht wie sparsam sie arbeitet, und trotzdem jenen großen, unendlichen Kunstreichtum zu erreichen weiß. Ist denn die Natur nicht ebendeshalb die Meisterin der Kunst? Ich nehme einen zweiten Satz. "Ja, die Natur, die große Urbildnerin muß ihren eignen Gesetzen gehorchen, denn sie kann nichts anders als sich selbst wiedergeben; ihre Urtypen bleiben dieselben durch alles, was ihr Schoß in den Äonen hervorbrachte". Also ihr Künstler, nicht nur sollt ihr sparsam sein mit euren Motiven, sondern ihr könnt sogar keine neuen erfinden. So wie die Natur ihre Urtypen umformt, so könnt ihr auch die ursprünglichen Kunstformen nur umformen; neue machen könnt ihr nicht, und versucht ihr das, dann werdet ihr sehen, daß eure Arbeit keine bleibende Bedeutung haben kann, denn ihr werdet unnatürlich, unwahr! Dazu kommt aber noch mehr. Etwas sehr eigenartiges sagt Semper am Beginn seiner Betrachtungen über "die Nat", als notwendiges Element, bei der Zusammenfügung verschiedener Teile. Er fragt nämlich: ob vielleicht ein ethymologischer Zusammenhang da wäre, zwischen dem Wort Not, in dem bekannten "aus der Not eine Tugend machen" und dem Wort Nat; und ob es also heißen müßte, "aus der Nat eine Tugend machen", mit anderen Worten: Man soll nicht versuchen bei konstruktiven Zusammenstellungen die notwendige Nat zu eliminieren; im Gegenteil, man soll eine Tugend, d. h. ein Verzierungsmotiv aus ihr machen; daher, ihr Künstler, benützt die verschiedenen Konstruktionsmißlichkeiten als Verzierungsmotive. In diesen Worten huldigt Semper einem wahren Rationalismus des Stils, trotzdem er auf die mittelalterliche, die gotische Kunst nicht gut zu sprechen ist. Aber stimmt dieser Satz mit dem prinzipiellen Grundsatz Viollet-le-Ducs überein: "Toute Forme qui n'est pas ordonnée par la structure doit être répoussée?" Ich zog aus Sempers Buch jene Sätze heraus, scheinbar nicht zusammenhängend, sie gehören aber doch zusammen und können als Stilgrundlage dienen. Wir fragen uns doch: weshalb die Werke früherer Kunst einen ruhigen, dagegen die unsrigen einen unruhigen Eindruck machen? Ruhe ist die Hauptqualität, selber nicht Ursache, sondern Folge einer Anzahl von Qualitäten, die sich uns sofort aufdrängt, und uns auf tausend Meter schon ein altes Bauwerk zwischen neuen erkennen läßt. Da nun, wie gesagt, diese Ursache "Stil" ist, kommt es schließlich nur darauf an, was denn unter Stil zu verstehen sei. Nun gibt Semper zwar eine sehr schöne Definition von dieser so schwer zu umschreibenden Eigenschaft: sie lautet: "Die Übereinstimmung einer Kunsterscheinung mit ihrer Entstehungsgeschichte, mit allen Vorbedingungen und Umständen ihres Werdens", aber dies bezieht sich mehr auf die Bewegung selber, also eventuell auch auf die jetzige. Es scheint mir daher folgende doch verständlicher, weil praktischer, indem sie sich mehr auf das Kunstwerk selber bezieht.

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Ich meine diese, die, wenn ich nicht irre, von Goethe herrührt: "Stil ist Einheit in der Vielheit ". Mit dieser Erklärung wären wir wohl einen Schritt weiter, denn sie bringt uns zum Ziel der Ruhe; denn wo Einheit ist, ist Ruhe. Wie bringen wir nun Einheit in die Vielheit, d. i. Einheit in die Vielheit der zusammenkommenden Teile. Eine Andeutung dazu finde ich bei Semper. Geht bei der Natur in die Lehre, d. h. seid sparsam in der Wahl eurer Motive, das schützt vor Verirrungen, die nur nachteilig in bezug auf die Ruhe wirken; seid nicht bange, dadurch zu nüchtern zu werden, d. h. phantasielos, denn die Natur beweist, daß der höchste Kunstreichtum sogar bei der größten Beschränkung möglich ist; sagt nicht auch Goethe schon, daß erst in der Beschränkung sich der wahre Meister zeigt? Und zuletzt; seid logisch in der Benutzung eurer Motive. Arbeitet in dieser Richtung, dann habt ihr die Möglichkeit, dem näher zu rücken, was wir alle suchen, nämlich Stil, d. i. Einheit in der Vielheit. Denn habt ihr wohl einmal beachtet, daß, trotzdem die Natur unbewußt arbeitet, d. h. nach festen Gesetzen, welchen sie ewig gehorchen muß; in welcher Betätigung die Umstände unbewußt jene unendliche Verschiedenheit bringen, die auch ihre unendliche Schönheit ist, sie bei dieser unendlichen Fülle und Verschiedenheit ihrer Gestaltungen nie unruhig wirkt; daß sogar die grellen Farben der Blumen, sowie dieselben in der Landschaft stehen, bei Millionen und abermals Millionen gesäet, niemals unangenehm grell wirken; daß jedoch, wenn wir Menschen ein paar elende Blumentöpfe in unser Gärtchen stellen, sie sofort kontrastieren, wenn sie nicht mit einem gewissen Verständnis hingestellt werden; daß jedoch, wenn sie künstlerisch, bewußt, d. h. mit Stil hingestellt werden, diese Unruhe wieder verschwindet, das kommt daher, weil dort, in der Natur, Einheit in der Vielheit herrscht, und hier, weil wir einen Gegensatz in die Natur hineintragen, eben weil dabei die Absicht war, ein kunstvolles Ganzes herzustellen. Die wunderbaren Vorbilder von architektonisch angelegten Parks und Gärten von den Gärten des Tiberius bis zu dem, englischen Garten eines Lords so und so sind ein trefflicher Beweis für die bewußte Absicht, auf einem anderen Platz, als der Natur selbst, große Kunstwerke zu schaffen, d. h. bewußt Stil zu erzeugen, also Einheit in der Vielheit mit denjenigen Elementen, welche die Natur selber beibringt; ja, die Kunstgeschichte gibt sogar ein außerordentlich merkwürdiges Beispiel von künstlerischem Schaffen im Streben zum Stil, d. h. zur Ruhe. Der griechische Tempel stand, wenn nicht in einer Stadt, in Mitte einer etwas vernachlässigten Pflanzung; hingegen das Rokokopalais in einem Garten von zugeschnittenen Bäumen, ein Beweis, wie die Künstler danach suchten, das Gleichgewicht zwischen Bewegt und Unbewegt, also wenn man will, zwischen Ruhe und Unruhe herzustellen. Die Natur sorgt sogar selber für Herstellung des Gleichgewichts; denn wenn eine zu grelle Farbe die Einheit stören würde, bedeckt sie dieselbe mit einer Patina, und in diesem Sinne hilft sie auch uns; denn das Neugestaltete macht immer einen unangenehmen Eindruck. In dieser Weise wird, wie schon öfter gesagt ist, die Zeit auch unsere Werke schöner machen; allerdings, wenn wir nur nicht den Schluß daraus ziehen, daß nur deshalb die alten Kunstwerke so schön sind, weil die Zeit an ihnen gearbeitet hat. Nein wahrhaftig nicht; unsre Gemälde werden nach dreihundert Jahren noch keine Rembrandts, und unsere Gebäude kriegen nach zweitausend Jahren noch nicht den "Stil" eines Tempels von Pästum oder einer Kathedrale von Amiens. Die Zeit kann verschönern, aber gottlob das Häßliche noch nicht schön machen. Die Natur wirkt also nicht unruhig, weil sie "Stil" hat, und betrachten wir die Kunstwerke aus früherer Zeit, dann verwirren auch diese nicht, weil sie Stil haben, d. h. Einheit in der Vielheit. Das geht so weit, daß sogar die Monumente aus der Barockzeit, an der wir, hie und da auch wirklich nicht mit Unrecht, so ganz jene Eigenschaft von Wildheit, Überladenheit und übertriebenem Formenspiel zu tadeln haben, doch noch einen ruhigen Eindruck machen, dagegen unsere nüchternen modernen Straßen verwirrend wirken. Bei aller Überladenheit des Barockstils ist dort Ruhe, gegenüber der modernen, nüchternen, verwirrenden Stillosigkeit. Man fühlt es nun deshalb, weil die letzten Ausläufer der Renaissance, d. h. die alten Häuser aus dem Anfang und der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch Einheit zeigen und das zwar trotz ihrer Schöpfer. Jene Häuser sind nur der Beweis für die Kraft einer vergangenen Stilperiode, so kräftig, daß sogar die nüchternsten letzten Exemplare noch Qualitäten besitzen, die Respekt einflößen. Wie gelangen wir nun wieder zu einer Einheit in der Vielheit? Es ist kein Rezept dazu da, das auf einmal wieder neu entdeckt werden könnte und darauf Genesung bringen. Nein, es führt ein langer Weg von Kunstexperimenten erst zum Ziel. Man studiere die Natur im allgemeinen, in dem Sinne, wie ich es oben meinte, und im besonderen, also in unserem Fall, die alten Monumente, nicht um sie zu imitieren oder von denselben detaillierte Motive abzunehmen, sondern um jene Elemente in ihnen aufzusuchen, die ihnen Stil gegeben haben. Und fällt dann nicht sofort auf, daß das Urprinzip des Stils "Ordnung" ist, d. h. Regelmaß, sogar dort, wo sie scheinbar nicht vorhanden ist, sogar dort, wo es nicht sogenannte akademische Pläne gibt, also dort, wo wir nichts zu tun haben mit Symmetrie im gewöhnlichen Sinn des Worts? Es ist kein Zufall, daß wir von klassischen Ordnungen reden! So wie in der Natur Ordnung herrscht, indem sie nach festen Gesetzen arbeitet, ebensogut sehen wir eine gewisse Ordnung in den alten Monumenten. Unsere Architektur sollte daher auch wieder nach einer gewissen Ordnung bestimmt werden! Wäre das Entwerfen nach einem geometrischen System nicht ein großer Schritt vorwärts? Eine Methode, nach der viele der modernen niederländischen Architekten schon arbeiten. Dieses System kann ich jetzt nicht erörtern, es ist aber mit dem Modul der klassischen Kunst einerseits, und mit dem mittelalterlichen Dreiecksystem andererseits zu vergleichen. Nur soll recht beachtet werden, daß diese Methode kein Zweck, sondern Mittel bliebe, und das Mittel allein noch keinen Künstler macht. Das gewaltige Ringen in der gegenwärtigen Zeit um einen sogenannten neuen Stil ist doch nur zu betrachten als ein Suchen nach "Einheit in der Vielheit", als ein Streben, in die Motive Ordnung, d. h. Ruhe zu bringen, in die unbegrenzte Anzahl, absolut willkürlich, mit wilder Leidenschaft gezogener Motive. Und das soll natürlich bewußt geschehen, so wie denn der Mensch erst dann zu arbeiten anfängt, wenn er bewußt arbeitet. Das scheint ganz selbstverständlich, allerdings; da ich aber sagte: die Natur arbeitet unbewußt und hat trotzdem Stil, und sagte: der Mensch soll sie als Beispiel nehmen und bewußt arbeiten, da muß wohl zuletzt eine Auseinandersetzung folgen, und um so mehr, als wir auch bei diese Anschauung wiederum einer gesellschaftlichen Erscheinung begegnen. Die mit der ganzen gegenwärtigen Gesellschaft und ihrem Luxus unzufriedener Leute, die auch wieder zur Natur Zurückkehren wollen, d. h. allen ein Leben auf dem Lande predigen, denen der Mensch nicht mehr im jetzigen Sinne Heerdentier ist, für die alle Städte verschwunden sind - sie rufen uns Architekten zu: "Kehrt zurück zum Bauernhaus; das Bauernhaus ist das Resultat des einfachen Bedürfnisses." Ganz recht, aber für das Bedürfnis des Bauers. Unsere Paläste sind aber auch ein Bedürfnis; philosophisch betrachtet ist alles was gemacht ist eine Folge von Bedürfnissen. Zurück zur Natur? Aber unsere Städte sind auch Natur; alles ist Natur. Hier wird nun verschiedenes verwechselt. Erstens einmal, abgesehen von der Möglichkeit, unsere Städte verschwinden zu lassen, will der Mensch nun einmal keine Absonderung; er hat im Gegenteil geistige Bedürfnisse, wenn auch vielleicht einige Geister sich außerhalb der Gesellschaft stellen wollen, und die Förderung dieser Bedürfnisse hat eine Konzentration zur Folge; wozu denn schließlich auch noch das aus der Natur entnommene Beispiel der Bienen- und Ameisenstädte dienen kann. Die natürliche Entwickelung der Menschheit geht denn auch gerade in umgekehrter Richtung als jene, die diese Leute wollen, und die Stadt steht nicht am Anfang, sondern am Ende der Kultur, möge dieselbe dann auch sich allmählich anders gestalten; so wie das schon jetzt geschieht, vom engen Gedrungenen zum weit Ausgebauten, liegt am Ende die sogenannte Gartenstadt der Zukunft, möglich gerade durch die vielen Verkehrsmittel, die dann eine Liebe zur Natur nicht auszuschließen brauchen. Im Gegenteil, diejenigen, welche die Schönheit einer Stadt am meisten bewundern, sind auch wohl dieselben, die am meisten gerührt werden durch die Erhabenheit einer Sternennacht oder die Herrlichkeit eines Herbstwaldes. Aber abgesehen davon ist eine Rückkehr zum Bauernhaus schon darum unmöglich, weil das Bauernhaus kein Kunstwerk ist, so wie die Architektur das meint; denn das Bauernhaus ist unbewußt entstanden, d. h. entstanden wie die Natur fortwährend arbeitet, unbewußt, aber wie gesagt innerhalb fester Gesetze. Aber wie ihre Produkte je nach Umständen umgeformt, und ebendeswegen ist es so schön, paßt es in die Landschaft. Es ist schön, so wie die von primitiven Völkern gemachten ebenfalls unbewußt entstandenen Gegenstände schön sind, gewissermaßen wie Kinderarbeiten, welche eben durch ihre Naivetät so natürlich, und durch diese Natürlichkeit so stilgemäß, und dadurch so bewundernswürdig sind, und auch deshalb in die Gebilde der Natur hineinpassen. Es ist schön, so wie noch die Bauerntracht schön ist (sogar der Anzug des Arbeiters ist das), die unbewußt, also nicht mit der Absicht etwas Schönes zu machen, entstanden ist, und daher auch in die Natur paßt. Dagegen nimmt sich die europäische Kleidung in der Landschaft und namentlich Sonntags ganz lächerlich aus. Hier steckt das Geheimnis des sogenannten malerischen Reizes, eine unbewußt entstandene Schönheit, die zur Kunst des eigentlichen Gemäldes, also zur nachahmenden Malerkunst geführt hat, sowie zu dem übereinstimmenden Zweig der Bildhauerkunst. Weil die Architektur nun von der Natur im allgemeinen, wie auch von den primitiven Völkern allgemeine Qualitäten lernen kann, so kann, wenn ein Landhaus gebaut werden soll, von der Bauernwohnung gelernt werden, nämlich jene Eigenschaft von primitiver Einfachheit in der Form; aber das Bauernhaus selber soll nicht gemacht werden, weil das positive Kunstwerk der Zweck ist und jenes positive Kunstwerk kann erst das Resultat eines bewußten Arbeitens, der bewußten Absicht sein, etwas Schönes, d. h. etwas Stilrichtiges zu machen. Dies kommt daher, daß ein stilrichtig gebautes Landhaus sicher ebenfalls in die Landschaft paßt, dann jedoch der Bauernwohnung gegenüber eine Schönheit höherer Ordnung vergegenwärtigt. Es kommt daher, daß die stilbewußte Kleidung, das nationale Kostüm, ja sogar die Militäruniform auch wieder zur Natur stimmen, eben weil sie auch wieder eine Schönheit höherer Ordnung vergegenwärtigen. Weiterhin deswegen, weil im allgemeinen das Stilbewußte, architektonisch Schöne eine Schönheit höherer Ordnung ist, als das malerisch Schöne. Hier gilt es also, den Übergang zur bewußten Arbeit zu finden, denn dieselbe Bauernwohnung zeigt, abgesehen von allen möglichen technischen Fehlern, auch künstlerisch, in Beziehung zum Kunstschönen, die größte Unvollkommenheit. Wir werden durch unsere Kultur gezwungen, bewußt zu arbeiten. Das Zurückgehen zur Bauernwohnung bedeutet einen Rückgang zu einer Kultur niederer Ordnung, in letzter Instanz zur Unkultur. "Erst bei fortgeschrittener Kunst beginnt die bewußte Unterscheidung von künstlerischer Behandlung der Beschränkungen und Vorteile, welche die verschiedenen zur Ausführung zu benutzenden Stoffe für logisches Schaffen besitzen und zulassen", sagt Semper; Hegel sagte vor ihm: "Das Kunstschöne steht höher als die Natur, denn die Kunstschönheit ist aus dem Geist geborene und wiedergegebene Schönheit, und um so viel der Geist und seine Produktion höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um so viel ist auch das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur." Daher ist immer wieder zu sagen: Lernt von der Natur, aber lernt mit Bewußtheit anwenden, was sie, die Natur, unbewußt tat; und wenn wir in diesem Sinne streben, werden wir wieder erreichen, was in allen Stilperioden erreicht ist. In diesen Zeiten zeigten die Monumente die nämlichen Stilqualitäten, d. i. Einheit in der Vielheit, wie die unansehnlichsten Gegenstände. Ich muß hier noch die prächtige Auseinandersetzung bringen, die Semper der ägyptischen Kunst widmet. "Die Grundzüge der ganzen ägyptischen Architektur scheinen im Nileimer wie im Embryo enthalten zu sein; und nicht minder auffallend ist die Verwandtschaft der Form der Hydria mit einzelnen Typen des dorischen Stils. Beide Formen sind Vorverkündiger dessen, was die Baukunst erfindet, weil sie danach strebten, das Wesen beider Völker monumental auszudrücken."1)

1) Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, Bd. II, S. 5.


Jeder Stil hat sein Jünglingsalter, seine wilden Jahre, seine archaisierende Periode, die zum Mannesalter, zur ruhigen Kraft, zur bewußten Tat wachsen muß; wir sind noch im Jünglingsalter; das bewußte Arbeiten hat noch kaum angefangen. So ist es; in diesen verzweifelt verwirrten Zeiten, nicht rückgängigen, sondern vorwärts stürmenden, mit dem enormen Zuwachs der Städte, lechzen wir förmlich nach einem neuen Stil; in letzter Instanz nach einem monumentalen Stil; denn am Ende ist doch nur die Baukunst imstande, die größten Taten und die heiligsten Empfindungen der Völker bildlich zu verewigen, und die Monumente, die das wieder tun müssen, können nur in einem geistigen Zentrum, d. h. einer Stadt der Zukunft aufgebaut werden. Mit einer Rückkehr zum Bauernhaus wäre für uns Architekten die Sache abgetan, denn den Bau eines Bauernhauses könnten wir in dem Fall ganz ruhig den Bauern selber überlassen. Dem anderen Fall, und das ist der einzig mögliche, der einzig denkbare, der einzig ideale, gehört unsere Arbeit, und diese wird die schönste, die es gibt; erreichen werden wir sie aber wohl, scheint mir, erst in ferner Zukunft, und wir werden auch nicht auf einmal zu ihr hinkommen. Ich sage: nicht auf einmal, nein, wahrhaftig nicht, denn betrachtet man die ganze gewaltige Bewegung in der Gesellschaft und was diese heutzutage erregt und erschüttert, dann komme ich zu der Überzeugung, daß man ein architektonisches Kunstwerk, ich meine eines in monumentalem Stil, nicht nur nicht fordern, sondern nicht einmal erwarten kann. Ich halte es vorläufig für eine Unmöglichkeit, daß ein solches entstehen kann. NB. Gibt es denn keinen modernen Stil? Verkündigen nicht ein halbes Dutzend Zeitschriften schon längst die frohe Botschaft? Ich bin aber so frei, vorläufig diese frohe Botschaft noch sehr reserviert anzunehmen, und das, was bereits in dieser Richtung geschehen ist, nicht zu überschätzen. Ein einziger Blick in einen Museumsaal oder einen japanischen Laden muß m. E. wohl zu einiger Bescheidenheit stimmen. Zu einem Stil gehört doch eine gewisse Konvention, eine Übereinstimmung in gewissen dekorativen Elementen, eine prinzipielle Grundlage, und wenn wir nun die Äußerungen des sogenannten modernen Stils in den verschiedenen europäischen Ländern betrachten, dann ist nach meinem Dafürhalten in dieser Angelegenheit eine gewisse Zurückhaltung gerechtfertigt; denn im Gegenteil, wo man erwarten sollte, daß durch den großen Verkehr die Grenzen zwischen den Ländern weggewischt wären, zeigt sich als künstlerische Aktion überall eine gewisse nationale Tendenz. Denn obgleich es, soviel ich weiß, zwar  e i n  Prinzip gibt, dem von allen Modernen sozusagen gehuldigt wird, und das ist gerade das Prinzip der einfachen ehrlichen Konstruktion, von dem oben bereits die Rede war, bemerkt man doch alsbald, daß dieses Prinzip bei den meisten entweder nur in Worten besteht, oder schlecht interpretiert wird. Ist, um nur ein Beispiel zu nennen, die ganze sogenannte "art nouveau", von dem ohne Zweifel sehr begabten van de Velde als eine solche propagiert, doch eigentlich nicht das Gegenteil jenes gesunden Prinzips; und ist nicht schon deswegen der Einfluß dieser "neuen Kunst" schon bedeutend am Sinken, eben weil sie dieses Prinzip schlecht interpretierte? Es wird Ihnen klar sein, daß, und davon bin ich überzeugt; nur die Richtung Wert für die Zukunft haben kann, die nach jenem Prinzip, nach dem Prinzip der ehrlichen einfachen Konstruktion am saubersten, d. h. am gewissenhaftesten arbeitet, und, um dahin zu kommen, scheint mir die mittelalterliche Kunst als Vorschule von unschätzbarem Wert.

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Ich habe die beiden großen praktischen Ästhetiker Semper und Viollet - le - Duc genannt, und glaube nun das Verdienst Viollet-le-Ducs in dieser Beziehung jedenfalls nicht niedriger stellen zu müssen als das Sempers, denn er war einsichtig darin, daß die mittelalterliche Kunst prinzipiell für die moderne Zeit die richtige Grundlage angeben konnte; sie steht nämlich nicht nur auf rein konstruktivem Boden, sondern sie bildet gewissermaßen den Faden zwischen alt und neu, und wir müssen diesen Faden an der richtigen Stelle wieder aufnehmen. Daher war die klassische Kunst, resp. die italienische Renaissance, oder die ganze Neo-Renaissancebewegung um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nur von vorübergehendem Wert. Die Neubelebung einer Kunst, welche selber schon nicht prinzipiell konstruktiv war und daher sehr bald in eine rein dekorative Richtung verfiel, war von vornherein bedenklich; denn da mußten ihre Apostel wohl bald auf Widersprüche stoßen. Diese blieben denn auch nicht aus. Sogar Semper, von dem man erwarten sollte, daß er das Prinzip der mittelalterlichen Kunst besser verstanden hätte, ist von diesen Widersprüchen nicht freigeblieben. Die Blüte des Barockstils als sogenannte moderne Kunst des heutigen Deutschland ist darum tief zu bedauern und dieser Stil sollte nun wohl der letzte sein, bei dem man in die Lehre geht, denn jene Blüte bedeutet historisch schon wieder ein Ende. Daher bleibt die Neo-Renaissancebewegung, die in allen europäischen Ländern auftrat, trotz ihrer begabten Führer nur ein Verzweiflungsakt, eine geniale Impotenz, Episode, wie Scheffler sagt; aber ebendeswegen ist die neben ihr schreitende neo-mittelalterliche Bewegung prinzipiell als Vorschule für die moderne Kunst die befruchtende gewesen, und deswegen hat die große englische Bewegung einen so gewaltigen Einfluß haben können, weil sie nichts anderes als eine neo-gotische war. Die ehrliche Konstruktion in vereinfachter Form; ich halte, wie schon gesagt,  d a s  vorläufig für das richtige Prinzip, nach dem wir arbeiten sollen; ich möchte fast sagen: dogmatisch, denn der wahre Künstler sorgt schon selber dafür, daß mit dem Prinzip die Welt nicht zugrunde geht. Wir sollen nicht in 25 Jahren erreichen wollen, wozu frühere Generationen einige Jahrhunderte brauchten; überstürzen wir die Sache, und die Gefahr dazu in dieser schnellebenden Zeit ist groß, dann werden wir stolpern und müssen nachher von neuem anfangen. Dazu kommt, daß die an die Architekten gestellten Aufgaben von Grundrißeinteilung, durch Kompliziertheit des Dienstes und hygienische Vorschriften erschwert, viel schwieriger und viel verwickelter sind als die früheren. Überdies werden täglich neue Materiale entdeckt, die praktisch geprüft und ästhetisch verwendet werden müssen; und zu alledem kommen noch, ganz abgesehen von der notwendigen kurzen Bauzeit, weil nun einmal immer "time money" ist, die materiellen Streitigkeiten mit Unternehmen, weil diese ihrer Stellung nach immer prinzipiell dem Architekten, also der Arbeit gegenüber stehen, während sie doch ihr gemeinsames Werk sein sollte! Wie soll dabei noch "Einheit in der Vielheit" erstrebt werden können? Aber diese Streitigkeiten sind, der Art ihrer Unannehmlichkeit nach, noch nicht zu vergleichen mit der Uneinigkeit der eventuell nicht auf demselben Plan von Kunstanschauung stehenden zusammenwirkenden Kräfte, der Maler und Bildhauer, die den Baumeister daher nicht verstehen, oder nicht verstehen wollen; wobei denn als der schlimmere Fall die "geistige Einheit" in der Vielheit fehlt. Nein, solange solche materiellen Ursachen einerseits und geistigen Ursachen andererseits die große Einheit aktiv beeinflussen und den höheren Flug hemmen, stecken wir, und noch auf längere Frist, in einer mißlichen Lage. Die zu über windenden Schwierigkeiten bei der Ausführung eines monumentalen Bauwerks sind so ungeheuer, daß auch von diesem Standpunkt betrachtet ein wirkliches Kunstwerk nicht zu erwarten ist. Wir kommen zu der verzweifelten Erkenntnis, daß noch nichts Vollkommenes erreicht werden kann. Diese Einheit in der Vielheit, der Stil, den wir vermissen, d. h. Ruhe, Ordnung, war in höchster Offenbarung vorhanden in einem ägyptischen Tempel, in einem griechischen Götterhaus, in einem romanischen Dom, in einem Hindutempel, in einem gotischen Dom, in einem Renaissance-Rathaus. Sie war in verschiedenen Abstufungen von höherer und niederer Ordnung vorhanden in den Kunstwerken ans diesen herrlichen Zeiten. Aber diese Kunstwerke waren auch nicht die Arbeiten des einzelnen, und die Gegenwart ist die Zeit des auf die Spitze getriebenen Individualismus und Subjektivismus, welch letzterer in dem Spruche Olbrichs gipfelt: "Zeige, Künstler, deine Welt, welche niemals war, noch jemals sein wird". Der einzelne muß es jetzt tun und aus diesem Zustand erwächst ein erbitterter Haß und Schadenfreude gegen den einzelnen. Alles vergibt man, nur das nicht: den Schein, einem anderen nachgeahmt zu haben. Man macht lieber etwas neues Schlechtes, als eine gute Umarbeitung des Vorhergegangenen, was schließlich denn doch das einzig richtige wäre, um zu einer Einheit zu gelangen. Es ist heutzutage nicht nur ein ökonomischer Kampf sondern auch ein geistiger Kampf von allen gegen den einzelnen, vom einzelnen gegen alle. Ebensowenig wie es ein ökonomisches Zusammenwirken gibt, gibt es eine geistige. Sie ist nicht möglich, weil auch geistiges Zusammenwirken Aufopferung fordert, d. h. die Unterordnung der eigenen Meinung unter die höhere andere, und diese zynische Zeit kennt keine Aufopferung. Es herrscht also absolute Unordnung, d. h. Stillosigkeit, also Unruhe, sowohl ökonomisch, wie geistig, und solange diese herrscht, ist kein Wachstum dessen möglich, was wir verlangen. Wird es nun jemals wieder eine Zeit geben, die der entgegengesetzten Devise huldigt: "Einer für alle, und alle für einen"? Soweit wir sehen, ist es nicht so leicht, noch eine Illusion zu haben; trotzdem bleibe die feste Überzeugung und Hoffnung auf eine monumentale Kunst für die Zukunft, aber diese Zukunft ist noch fern, eine Ansicht, die ich genügend motiviert zu haben glaube. Denn was soll da nicht noch alles geschehen, bevor die Menschheit wieder so weit, d. h. aus dieser absoluten Stillosigkeit heraus ist. Forscht man aber auf einem höheren Plan nach dem Zusammenhang aller Ereignisse und Erscheinungen und nicht wie so oft geschieht einseitig, d. h. eine Erscheinung, also in diesem Falle eine Kunsterscheinung für sich, dann wird sofort klar, daß es noch lange währen wird, bevor wir an die Pforte einer solchen neuen Kunstära gekommen sind. Es herrscht ökonomische sowie geistige Anarchie, und Anarchie steht dem, was wir erreichen wollen, diametral gegenüber. Vor allen Dingen sollte die große Arbeiterbewegung so weit vorgeschritten sein, daß sie wenigstens den vernichtenden Einfluß des kapitalistischen Geistes lahm gelegt hat, denn nicht so sehr das Geld, als vielmehr dieser hemmt jede Möglichkeit einer monumentalen Kunst, eines eigenen Stils. Die beiden Evolutionen, die materielle und die geistige, vollziehen sich zu gleicher Zeit, denn die geistige vollzieht sich ebenfalls schon jetzt. Ist doch die ganze moderne Kunstbewegung, sie möge sich in noch so verschiedener Gestaltung kundgeben, nichts anderes als eine solche; und schließlich wird aus dieser chaotischen Kunstverwirrung auch eine feste Kunstidee hervorgehen; in demselben Augenblick, wo die politische Evolution vollzogen sein wird, kommt auch die künstlerische zum Durchbruch und von diesem Moment an wird man an dem Wachstum eines Stils arbeiten können. Denn erst dann kann auch wieder von einem Weltgefühl die Rede sein, weil dann das große Prinzip der Gleichheit für alle Menschen, nicht nur religiös, sondern auch politisch-ökonomisch herrschen wird.

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Scheffler sagt in seiner Schrift: "Kunst, die nicht auf einem Weltgefühle basiert, also auf Urkonventionen, gibt es nicht." "Für die bildende Kunst ist eine allgemein gültige Konvention über die Grundidee des Lebens von großem Wert." Ist das nicht trefflich gesagt? fühlt nicht jeder Künstler heutzutage die absolute Ohnmacht, etwas Großes in Ornamentik zu leisten, eben weil gerade der Gegenstand d. h. die ideale Grundidee dazu fehlt. Scheffler sagt weiter: "Die Geschlossenheit früherer Kunstepochen beruhte fast ausschließlich darauf, daß die Menschen sich auf eine Religion geeinigt hatten, und die Zersplitterung in der künstlerischen Produktion der Gegenwart ist ebenso aus dem Fehlen einer allgemein anerkannten Weltidee zu erklären. Stil entsteht nur durch Beschränkung, bedarf als Grundlage eines Systems, ist selber System. Je bewußter die Menschheit wird, desto umfassender fördert sie dieses System. In ihm sollen möglichst viele Zweifel Antwort finden, und alle Widersprüche des Lebens aufgelöst werden. Die Zeiten zwischen zwei Konventionen, Religionen, sind für die bildende Kunst unfruchtbar. Denn da kein Vertrag über die Art des Ideals dann mehr gilt, ist jedes Individuum nur auf sich gestellt und muß, weil gemeinverständliche Symbole ihm nicht zur Verfügung stehen, seinen Empfindungen aus sich heraus neue Gleichnisse suchen. Was ihm nun symbolisch seiner Erkenntnis nach erscheint, ist es nicht anderen, und er bleibt unverstanden. Das charakteristische Merkmal in jedem religiösen Interregnum ist gerade das Einsamkeitsgefühl aller; kulturbildend ist nur das Solidaritätsgefühl." Trifft das nicht zu? Das Einsamkeitsgefühl, das ist es eben was alle Künstler in dieser Zeit spüren, da sie nicht verstanden werden, weil sie die Träger von Kunstideen bleiben, die außerhalb der Masse stehen. Wenn ihre Werke eine etwas andere Sprache reden, als die abgeschmackte alltägliche, schon längst dagewesene, dann werden sie nicht verstanden, werden beschimpft und am liebsten in den Zeitungen, daß womöglich alle wissen sollten was für Unsinn sie gemacht, von sogenannten Kritikern, die, abgesehen von der stets von ihnen vergessenen Tatsache, daß vorläufig Kritikausüben immer noch leichter ist als schaffen, selbstverständlich noch viel weniger Anhaltspunkte haben, und daher nur darauf los schreiben. Und wieder weiter. Die Gegenwart lebt so zwischen zwei Zuständen und alle Erscheinungen der neueren Kunst lassen sich einerseits auf das Fehlen der religiös-philosophischen Konvention zurückführen, andererseits auf die Sehnsucht danach. Das Christentum ist tot, und von einer neuen Form universaler Weltbegriffe, wie sie in den Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Forschung liegen müßte, ist kaum ein leiser Anfang zu spüren. In diesen Dilemma teilen sich die Künstler. Die einen bedienen sich alter Formen, sowohl heidnischer wie christlicher, und suchen ihnen eine neue Erkenntnisform anzupassen.
"Was die Nutzkünstler Zweckgedanken nennen, ist im Grunde Kausalitätsidee, also Gottidee, und die eifrigen Versuche, die darauf zielen, Tisch und Stuhl, Wohnhaus und Geschäftsgebäude vernünftig zu konstruieren, sind auf Unterströmungen zurückzuführen, die von religiöser Sehnsucht bewegt werden". Das ist es wohl, und gerade in den letzten Worten sehen wir unbewußt den idealen Untergrund der modernen Bewegung motiviert. Die vernünftige Konstruktion kann die Basis der neuen Kunst werden; wenn jenes Prinzip genügend durchgedrungen ist nicht nur, sondern auch allgemein verwendet wird, erst dann werden wir an der Pforte einer neuen Kunst stehen, in dem Moment, wenn auch das neue Weltgefühl, die gesellschaftliche Gleichheit aller Menschen manifestiert wird, ein Weltgefühl nicht mit seinem Ideal eines Jenseits, d. i. nicht in diesem Sinne religiös, sondern mit seinem Ideal von dieser Erde, also jenem entgegengesetzt; aber wäre denn schließlich damit nicht dem Endziel aller Religionen näher gerückt, die christliche Idee nicht verwirklicht; oder ist nicht die ganze christliche Lehre zurückzuführen auf dies eine, Gleichheit für alle Menschen, die erste Bedingung eines Idealstrebens? Dann wird die Kunst wieder eine geistige Basis haben, die sie braucht, um sich als vollbewußte Äußerung dieses Weltgefühls manifestieren zu können. Dann wird aber auch das architektonische Kunstwerk nicht einen spezifisch individuellen Charakter haben, sondern das Resultat der Gemeinschaft, d. h. in diesem Sinne aller sein, daß bei der Führung des Meisters jeder Arbeiter auch geistig daran mitarbeiten kann. Denn, obschon wir wissen, daß in den großen Kulturperioden, außerhalb des Mittelalters diese Art des Zusammenwirkens nicht existierte: heutzutage weiß man, daß das Interesse des Arbeiters auch an seiner Arbeit völlig fehlt. Das Verschwinden dieser Idee, des pedantischen Gefühls des Individuums zugunsten der eigentlichen Arbeit, als Außerung nicht einer Person, sondern eines Zeitgeistes, dessen Dolmetscher der führende Künstler ist, scheint heute kaum bekämpft werden zu können, denn ich kenne Künstler, die für die Zukunftskunst schwärmen, und von Gemeinschaftskunst reden, die aber am reaktionärsten sind, wenn es auf Zusammenwirken ankommt. Und trotzdem wird als wie von selbst das Individuum zugunsten nicht der Gemeinschaft sondern der Idee in den Hintergrund gedrängt werden, so wie das früher der Fall war, denn wer fragt schließlich nach dem ersten Baumeister einer mittelalterlichen Kathedrale, wer nach dem Namen eines ägyptischen Architekten; man kennt allein die Herrscher, unter deren Regierung die Bauwerke entstanden. Aber trotz alledem: wir können konstatieren, daß ein Anfang mit dem langen Weg gemacht ist, der zu einem architektonischen Stil führt, und ich glaube, daß nichts mehr diese Bewegung aufhalten kann. Es scheint sogar, daß die Architektur die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts sein wird, eine Überzeugung, die ich ebenfalls aus den gesellschaftlichen und geistigen Erscheinungen der Gegenwart heraushole. Denn mit dem Wachstum der Arbeiterbewegung wächst auch jene Kunst, die der Mensch, das ganze Volk zusammengenommen, am wenigsten entbehren kann, die ihm am nächsten liegt und das ist die Baukunst. Ihre Evolution fing zu jeder Zeit mit derjenigen des Gebrauchsgegenstandes, des Hausrats an, und nun ist es wieder merkwürdig, zu beobachten, wie mit einer wahren Wut versucht wird, eben diesen Hausrat, die Möbel, und das Zimmer umzugestalten. Wie im Nileimer, sagt Semper, der ganze ägyptische Stil wie im Embryo enthalten ist, d. h. wie vom Nileimer aus der Stil zum Tempel gewachsen ist, so mag auch nachher von der Zukunftskunst gesagt werden, daß sie in einem noch kommenden modernen Gefäß enthalten sein mag. Die Baukunst wird dann wieder den ersten Rang unter den Künsten einnehmen, gerade weil sie die eigentliche Volkskunst ist, nicht die Kunst des einzelnen, sondern die Kunst aller, die Kunst der Gemeinschaft, in der sich der Zeitgeist widerspiegelt; denn zur Herstellung eines Bauwerks ist doch die ganze Nutzkunst, und mit ihr sind doch alle Arbeiter nötig. Sie fordert ein Zusammenwirken aller Kräfte, und diese können nur geistig verwendet werden bei ökonomischer Unabhängigkeit aller. Sie, die Baukunst, ist die Manifestation des äußersten Könnens eines ganzen Volkes. Denn nur bei Zusammenwirken aller Kräfte zu einem ideellen Zweck kann jene staunenswerte Vollkommenheit erreicht werden, die das Geheimnis der höheren Baukunst ist, und deswegen vom Individuum allein nicht erreicht werden kann. Noch mehr aber. Die Baukunst wird die bildende Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts sein, so wie sie das letzte Mal vor sechs Jahrhunderten gewesen ist, wobei dann Malerei und Skulptur wieder ihr dienend zur Seite schreiten werden, und  a l s o  verwendet zur höheren Entwicklung gelangen können; sie werden aber ihren Charakter von heute als Gemälde und Salonfigur verlieren, eben weil diese prinzipiell eine geistig niedriger stehende Kunst vergegenwärtigen, und daher erst in zweiter Linie kommen; eine Prophezeiung, die aus den gesellschaftlichen und künstlerischen Evolutionen der Gegenwart hervorgeht: kann man doch schon beobachten, wie mit dem Wachstum der Nutzkunst diese an Interesse gewonnen und die Masse der Gemälde und Salonfiguren jährlich abnimmt. Es herrscht ein Streben nach Einheit in der Vielheit in der Gemeinschaft, nach Ordnung, also nach Stil. Ich finde es schön, von Stil in der Gemeinschaft reden zu können, so wie es früher war und in der Zukunft wieder sein wird, aber dann in ganz anderer, für uns jetzt noch nicht zu definierender Form; aber jene Gemeinschaft wird jedenfalls dem Brüggener Bilde diametral gegenüberstehen, als geistig ganz anderer Natur. Die Künstler der Gegenwart stehen jetzt vor der schönen Aufgabe, die künstlerische Verschönerung, d. h. den großen architektonischen Stil jener zukünftigen Gemeinschaft vorzubereiten. Eine schönere Arbeit gibt es wohl nicht, denn jene Zeit wird alsdann wieder eine Kultur haben und daher Aufgaben stellen, so schön wie sie noch nie gewesen sind; denn um so viel geistig höher als jene Zeit der mittelalterlichen und allen vorhergegangenen sein wird, indem ihr Ideal auf einem höheren Plan stehen wird als Folge des entwickelten ökonomischen Gleichheitsprinzips, um so viel schöner wird auch die stoffliche Abspiegelung jener Ideale, werden ihre architektonischen Monumente, wird ihr ganzer Stil sein. Die glauben, übereilen sich nicht. Denn, mag es auch einerseits traurig sein zu wissen, daß wir von jener schönen Zeit nichts mehr sehen werden, andererseits bleibt der Trost des Traumbilds, daß aus diesem Wust von Häßlichkeit, gegenseitigem Haß und materiellem Zynismus der Gegenwart wie ein Phönix aus seiner Asche eine Kunst emporsteigen wird, zu der wir nur die Fundamente zu legen vermochten.


NACHTRAG

Im Anfang jeder großen Kulturperiode war das richtige architektonische Prinzip vorherrschend, d. h. das Prinzip der guten unverfälschten Konstruktion. Davon habe ich mich in meiner Arbeit ebenfalls leiten lassen, aber, in Einklang mit den vorher entwickelten Betrachtungen, mich beschränkt auf die größte Einfachheit, und bei Aufbau und Verzierung nach Lösungen gesucht, die mir am natürlichsten vorkamen. Dazu möge nachstehende Erläuterung dienen, die daher als eine Interpretation jenes allgemeinen Prinzips aufgefaßt werden muß. Indes Architektur ist die Kunst der Raumumschließung, so ist daher auf den Raum, in architektonischer Beziehung, konstruktiv, sowie dekorativ der Hauptwert zu legen, und ein Gebäude soll daher nicht in erster Linie Manifestation nach außen sein. Eine Raumumschließung wird hergestellt durch Mauern; daher manifestiert sich der Raum, oder verschiedene Räume, nach außen als ein mehr oder weniger zusammengestellter Komplex von Mauern. Auf die Mauer fällt daher in diesem Sinne wieder der gebührende Wert, daß dieselbe ihrer Natur nach flach bleiben soll, denn eine zu sehr gegliederte Wand verliert ihren Charakter als solche. Die Architektur der Wand bleibe daher Flächendekoration. Die vorspringenden Architekturteile bleiben beschränkt auf diejenigen, die durch die Konstruktion geboten sind, wie Fensterstürze, Wasserspeier, Rinnen, einzelne Gesimse usw. Aus dieser sog. "Architektur der Mauer", wobei die vertikale Gliederung von selbst wegfällt, folgt weiter, daß die eventuellen Stützen, wie Pfeiler und Säulen, keine vorspringenden Kapitelle erhalten, sondern daß die Entwickelung der Übergänge sich innerhalb der Mauerfläche gestaltet. Die eigentliche Flächendekoration bilden die Fenster, die natürlich nur dort anzubringen sind, wo dieselben nötig, und alsdann in den betreffenden verschiedenen Größen. Diese Anordnung schließt natürlich das Anbringen von einzelnen farbigen und bildnerischen Verzierungen nicht aus; nur sollen dieselben nicht vorherrschen, und soll mit der größten Sorgfalt die richtige Stelle gesucht werden, wo sie anzubringen sind. Dem Prinzip gemäß sollen sie Flachornamente bleiben, d. h. in der Mauer vertieft, und sollen sog. Figuren, schließlich verzierte Mauerteile bilden. Man soll vor allen Dingen die nackte Wand wieder in all ihrer schlichten Schönheit zeigen, und alle Überladenheit aufs Peinlichste vermeiden. Schließlich zeigt sich, abgesehen von jener individuellen Interpretation, dasselbe Prinzip im allgemeinen:

1. im Ägyptischen Stil.
2. im Griechischen Stil, und zwar besser am Antentempel als schon am Peripteraltempel.
3. im Römischen Stil, wo derselbe noch nicht das Säulenschema (fälschlich) vorsetzt.
4. im Mittelalterlichen Stil, einschl. Romanische Arbeiten; die Gotik verirrt sich bald in ein verwirrendes Formen- und Linienspiel.
5. in der Frührenaissance, wie sie noch unter dem Einfluß der mittelalterlichen Kunst war; sehr bald aber  nimmt sie das klassische Säulenschema als Wanddekoration auf; und damit wird das richtige Prinzip verlassen. Allmählich wird sie Dekorationsstil, in dieser Richtung ist dann der Rokokostil wieder der beste