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Autor: Boettcher, Georg
In: Kunstgewerbeblatt - 5 (1889); S. 74 - 76
 
Ein Wort zur Stilfrage
 
Wer den Mangel an einem originalen Stil im Kunstgewerbe unserer Zeit beklagt, dessen Gedanken werden immer und immer wieder an der Beantwortung der Frage sich abmühen: Wie könnten wir zu einem solchen gelangen? Die mannigfachsten Vorschläge sind in dieser Hinsicht gethan und befolgt worden und haben - auch wenn wir von dem hochkomischen Preisausschreiben weiland König Ludwigs absehen - zu keinem nennenswertem Erfolge geführt. Selbst das scheinbar untrüglichste Rezept, einen originalen Charakter in der Komposition zu erzielen, das nämlich: die Gestaltung irgend welches Gebrauchsgegenstandes, eines Stuhles z. B. ohne alle Anlehnung an Vorbilder, rein auf Grund eingehenden Studiums der Funktionen eines solchen Möbels vorzunehmen und dann erst, unter Wahrung der praktischen Anwendbarkeit, demselben eine wohlthuende Form zu geben - selbst dieses dem denkenden Menschen in der That nächstliegende Mittel hat wohl originelle aber nicht originale, d. h. stilistisch wahrhaft neue Schöpfungen zu Tage gefördert. Da gegen das System  d i e s e r  Kompositionsweise an und für sich nichts einzuwenden ist, entsteht die Frage: Woher trotzdem der Mißerfolg? Die Antwort lautet einfach: Wir sind nun einmal mit Kenntnissen von den verschiedensten Stilarten so gänzlich überfüllt, so vollständig in der Formensprache aller möglichen Epochen bewandert und befangen, daß uns originale, naive Einfälle gar nicht mehr kommen  k ö n n e n,  daß unsere Kompositionen, aller Vornahme und Absicht zum Trotz, unwillkürlich, in dieser oder jener Stilweise sich gestalten  m ü s s e n,  daß sie, selbst wenn wir uns zwingen wollen, original zu sein, zuletzt doch darauf hinauslaufen, den Charakter irgend welcher Stilepoche nachzuahmen, wenn sie nicht gar - was am häufigsten, ja wohl meistens der Fall ist - Sammelsurien von Formen aller möglichen Stile, von mehr oder minderem Geschmacke sind. Entsteht die weitere Frage: Wie wäre diesem alles Originale erstickenden Reichtum an Stilkenntnissen, diesem Ansturm von Formen vergangener Epochen auf die künstlerische Phantasie des Modernen zu wehren? Und hier ist die Antwort nicht so leicht wie bei der vorhergehenden Frage zu formuliren. Gewonnener Bildung sich plötzlich zu entledigen, dürfte ein unerreichbares Kunststück sein, ganz abgesehen davon, daß es ein thörichtes Unternehmen bliebe, Errungenschaften aufzugeben, die unsere Erkenntnis von den Dingen gefördert haben. Und darum kann es sich in dieser Frage nicht um die handeln, deren Bildung bereits eine abgeschlossene ist, nicht um das gegenwärtig schaffende Geschlecht; von ihm ist keine Umkehr zu erhoffen und zu verlangen. Die Jugend ist es, die heranwachsende, erst zu bildende und nach jeder Richtung bildungsfähige, die einzig und allein hierbei in Betracht kommt. Und bezüglich dieser giebt allerdings die Frage viel zu denken und regt zu eingehender Erörterung an. Man hat oft, gewiß mit Recht, Verwunderung darüber geäußert, daß in der Gestaltung und ganz besonders der Verzierung unserer kunstgewerblichen Erzeugnisse die tausend und abertausend Formen unserer heimischen Flora so gut wie gar nicht in Anwendung kommen oder höchstens in konventioneller, seit alten Zeiten bereits geläufiger Auffassung. Gerade bei den besseren Erzeugnissen, den sogenannten "stilvollen" Gebrauchsgegenständen ist dieser Mangel ihrer künstlerischen Erzeuger an eigenem Studium der Pflanzen, dieser ewigen Vorbilder für den Ornamentisten, höchst auffallend. Wie anders verfährt dagegen der Japaner in der Anwendung der Flora und Fauna seines Landes! Es giebt kein noch so unbedeutendes Pflänzchen und Tierchen, das er nicht zu verwerten und durch Zusammenstellung mit anderen in einen für das Auge und künstlerische Gefühl wohlthuenden Gegensatz zu bringen wüßte! Wie liebevoll eingehend hat er die heimischen Gewächse, Schmetterlinge u. a. in allen ihren Erscheinungen studiert! Die deutsche Flora aber blüht für unsere Ornamentisten ganz vergeblich, und die Versuche, die hin und wieder aufgetaucht sind, neue Motive aus ihr dem Formenschatze unserer Verzierungsweise einzuverleiben, haben klägliches Fiasko gemacht und sind längst wieder von der Bildfläche verschwunden. Denn alle diese Experimente liefen entweder darauf hinaus, in jämmerlicher Äußerlichkeit das alte Verzierungssystem beizubehalten und nur hier und da an Stelle einer Palmette irgend ein fächerartiges Blättchen, für einen Granatapfel einen Distelkopf zu setzen, oder sie stellten die früheren Stilgesetze in gesucht-origineller Weise auf den Kopf und lieferten geschmacklose Wunderlichkeiten, oder aber sie versuchten Blumenstudien nach der Natur mit allen unkünstlerischen Zufälligkeiten und ohne jede Berücksichtigung des zu verzierenden Gegenstandes, also den alten Naturalismus, als Neuheit einzuschmuggeln. Die Autoren dieser unglücklichen Versuche ermangelten keineswegs immer des Talentes. Verschiedene von ihnen waren treffliche Blumenmaler und gleichzeitig geistvolle Ornamentisten,  s o b a l d  s i e  d i e  G e g e n s t ä n d e  i n  d e r  A r t  d i e s e s  o d e r  j e n e s  S t i l s  z u  b e h a n d e l n  h a t t e n.  Sowie sie aber im Stil  n e u  sein, Pflanzenformen, die noch nicht verwendet, in denselben  e i n f ü h r e n  wollten, gerieten sie in einen der drei erwähnten Fehler und brachten nichts Erfreuliches zu stande. Es stak ihnen eben die angelernte Anschauung: die Naturformen als  e i n s  und die Verzierungsformen als anderes, jenem gegenüberstehendes, anzusehen, so im Blut, daß es ihnen mit dem besten Willen unmöglich war, die beiden Elemente zu verquicken und damit etwa wirklich Stilistisches zu schaffen. Dies aber bringt uns auf den Kernpunkt der Frage. Es scheint uns nämlich der große Grundfehler unserer Kunstgewerbeschulen zu sein, daß schon der  S c h ü l e r,  ehe er überhaupt noch die Naturformen kennt und, vor allem, ehe ihm das Wesen der Form in ihrem Verhältnis zur verzierenden Kunst klar geworden ist, die Formen der alten Stilarten d. h. die doch aus der Natur entlehnten Ornamentformen als ein  G e g e n s ä t z l i c h e s  z u  d e n  N a t u r f o r m e n  auffassen lernt und daß infolgedessen, wenn er später zu eignem Erfinden gelangt, seine Phantasie im Bann der überlieferten Verzierungsformen steht und er, wenn es nun darauf ankommt, eigenartig und neu zu sein, trotz aller Naturstudien, sich nicht zu helfen weiß. Schon längst haben die Maler und Bildhauer das alte schädliche, zu konventionellen Schaffen führende Prinzip über den Haufen geworfen: erst alte Vorbilder und dann die Natur zu studiren. Heut weiß jeder, daß er daß eigne, naive, originale Sehen schädigt, wenn er zuerst Formeln und Gesetze auswendig lernt, die früher wohl gegolten, ihrer Natur nach aber ewig wechseln müssen. Ein jeder weiß, daß, wenn er erst in rechtem Studium der Natur sein Auge geübt und Formen- und Farbenkenntnis erworben, ihm dann einesteils weit mehr die Schönheiten der Antike bewußt werden müssen und daß er andernteils  n u r  so seine Individualität, wenn er sonst eine hat, zu behaupten vermögen wird. Diese Erkenntnis ist der verzierenden Kunst seltsamer Weise noch nicht gekommen. Noch immer wird den Schülern gleichzeitig mit dem Naturzeichnen oder auch wohl gar  v o r  diesem und leider in gar keiner Beziehung zu demselben der überlieferte Formenschatz aller Stilarten in den Kopf getrichtert, bis dann beim Abgange von der Schule, vor lauter Bildung jede originale Äußerung glücklich in ihnen erstickt ist und sie befähigt sind, in jedem erdenklichen Stile zu entwerfen, nur nicht in dem, der ihnen am nächsten läge, in einem eigenen. Das aber wird stets das einzig-wahre System des verzierenden Künstlers bleiben, wie es das einzig-wahre der Künstler früherer Epochen von ungetrübtem Stilgefühl war:  d i e  N a t u r f o r m e n  g l e i c h  a u f  i h r e  V e r w e n d b a r k e i t  a l s  V e r z i e r u n g s m o t i v e  z u  b e t r a c h t e n  u n d  n i c h t  i m  G e g e n s a t z  z u  d e n  O r n a m e n t f o r m e n  z u  s e h e n.  Soll die Jugend, die sich der Ausübung verzierender Kunst widmet, für diese einzig-richtige Auffassung wieder gewonnen, der Stil, den Anforderungen unserer Zeit entsprechend, wirklich gründlich umgemodelt und ein im besten Sinne moderner werden, so müssen die Kunstgewerbeschulen das Hauptgewicht auf  e i n e  g r ü n d l i c h e  B e l e h r u n g  u n d  A u f k l ä r u n g  d e r  S c h ü l e r  ü b e r  d i e  F o r m  i n  i h r e m  V e r h ä l t n i s  z u  d e r  v e r z i e r e n d e n  K u n s t  u n d  a u f  e i n  u n a u s g e s e t z t  z u  b e t r e i b e n d e s  S t u d i u m  d e r  N a t u r f o r m e n  m i t  B e r ü c k s i c h t i g u n g  i h r e r  d i r e k t e n  V e r w e n d u n g  z u  V e r z i e r u n g s z w e c k e n  legen und dann erst, wenn der Schüler ganz in diesem Wichtigsten gefestigt ist, ihn mit den besten Motiven vergangener Stilarten bekannt machen. Dem Zug der Zeit, dränge er nun nach Renaissance oder Rokoko hin, ja selbst der Mode innerhalb dieser Formensphären, widersetzt sich der einzelne stets erfolglos. Aber ein ganzes, heranwachsendes Geschlecht wird Mittel und Wege finden, seine Ansichten nach und nach geltend zu machen, sofern es nur in den Stand gesetzt ist, eigne Ansichten zu haben und diese Ansichten eine wirkliche Weiterentwicklung des Formenlebens bedeuten.