Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Breuer, Robert
In: Berliner Architekturwelt 17 (1915); S. 359 - 361
 
Die Festigung des Deutschen Stils
 
Soviel ist gewiß, daß es in diesem Jahre keine internationale Ausstellung geben wird. Das Problem der Weltausstellungen, das den Industriellen und den Diplomaten gleichmäßig Kopfzerbrechen gemacht hat, ist durch das Schwert des Krieges nach dem Beispiel des berühmten Knotens gelöst worden. Trotz der Schnellebigkeit unserer Zeit und trotz der Notwendigkeit des internationalen Zusammenarbeitens der Technik und der Chemie, des Maschinenbaus, der Papierfabrikation, der Weberei, der Holzindustrie, kurz alles dessen, was zu des zivilisierten Menschen Nahrung und Notdurft gehört, werden wohl doch tausend Tage und mehr vergehen, ehe nach dem Läuten der Friedensglocken die Völker neu zusammenströmen, um auf einem großen, verlockend zugerichteten Markt einander ihre Waren anzupreisen. Solche Ruhepause ist nicht einmal so sehr zu beklagen. Es wird der friedliche Wettstreit der Völker, zu dem es nach der gewaltigen kriegerischen Umwälzung wieder kommen wird und kommen muß, gebührend vorbereitet werden; es werden die Nationen, von den gegenseitig geschlagenen Wunden geheilt, ihre Eigenarten in Ruhe entwickeln, um sie schließlich, wenn eine gewisse Reife eintrat, neu aneinander zu messen. Doch das ist Zukunftshoffen; zunächst werden wir uns während einiger Jahre mit Landesausstellungen zu begnügen haben, und auch für diese müssen erst in friedlichen Tagen die Kräfte frisch gesammelt werden. Darauf kommt es an. Möchte Deutschland die Macht, die ihm ein gerechtes Schicksal nach den Schlachten zugewiesen haben wird, recht zu nutzen wissen. Möchten ihm die Niederungen jener berüchtigten Gründerjahre nach Siebenzig erspart bleiben, die Abgründe der Geschmacklosigkeit, in die es damals hinabfiel, das faule Protzentum einer dumpfen Genußsucht und die gedankenlose Nachahmung all des Gewaltigen, was die Väter geleistet haben. Um die Entwicklung der deutschen Leistungsfähigkeit in die rechten Bahnen zu zwingen, wird man nicht früh genug alle Schaffenden auffordern müssen, nachzudenken: auf welchem Wege die deutsche Arbeit vor Ausbruch des Krieges gewesen ist, und welches Ziel notwendig auch nach dem Frieden wieder erstrebt werden muß. Wir wollen, um bei dem uns gebührenden Leisten zu bleiben, solche Betrachtung an den Gebieten der Architektur, in dem Umfange wie Muthesius sie faßt — vom Sofakissen bis zum Städtebau — vollziehen. Wir besinnen uns: als die Soldaten zu marschieren begannen, war Deutschland gerade dabei, der Welt den deutschen Stil, das heißt den in Stein, in Holz, Glas oder Webfaser Form gewordenen Ausdruck für die uns angeborene und anerzogene Eigenart auf dem Forum der Völker vorzustellen. Deutschland hatte sich von der Tyrannei der französischen Mode befreit und war entschlossen, den Engländern den Ruf der höchsten Leistungsfähigkeit streitig zu machen. Die schöne Qualitätsarbeit war das Ideal der deutschen Produktion geworden. Es sollten die Deutschen nicht nur den Aberglauben an die Unerreichbarkeit des Pariser Schicks verlernen, sie sollten endlich selbstbewußt genug werden, ihre, die deutsche Form der Welt aufzuzwingen. Zwar hat es nicht an Phlegmatikern gefehlt, die mit falscher Beharrung (und sogenannter klassischer Bildung) die Ludwigstile, auch die italienische Renaissance oder das englische Chippendale für endgültig und damit für unantastbar erklärten; diese Schwachherze glaubten wohl an die Militärmacht, aber nicht an die Kulturmission Deutschlands. Wir andern aber, die wir mit Wilhelm von Humboldt wissen, daß Reiche vergehen, daß aber ein guter Vers bleibt, wir haben uns durch die Genügsamkeit der Abschreiber (auch wenn sie Hoflieferanten waren) nicht stören lassen: wir haben unser Bestes daran gesetzt, den deutschen Stil zu fördern und zu klären. Unsere Arbeit ist nicht vergeblich gewesen. Unsere Erfolge waren so bedeutend, daß die bisherigen Herren der Zivilisation, die Franzosen und die Engländer, bereits stutzig wurden. Selbst wenn wir die Dinge, um die es sich hier handelt, nicht überschätzen, so dürfte es doch wohl zutreffen, wenn behauptet wird, daß die bedeutsame Entwicklung der deutschen Architektur und des deutschen Kunstgewerbes, die ja wiederum nur ein Wahrzeichen für den Aufschwung unseres Wohlstandes und unseres Selbstbewußtseins war, nicht gerade dazu half, uns das Wohlwollen der in ihren absoluten Ansprüchen bedrohten Herren von Paris und London zu gewinnen. Es war kein Zufall, daß die Pariser seit der Weltausstellung von Brüssel eine große Revanche planten; in Paris mußte man Witterung davon bekommen haben, daß die Deutschen mit Leidenschaft bestrebt waren, langsam, aber sicher das Zentrum der internationalen Kultur von der Seine an die Spree und die Isar zu verlegen. Seit Brüssel. Man tut gut, sich gerade in diesen kriegerischen Tagen auf die Weltausstellung des Jahres 1910 zu besinnen. Die Sachlage war damals ungefähr diese: Frankreich war dahergekommen mit der großen Geste dessen, der seit Jahrhunderten den guten Geschmack kommandiert, nach dessen Modepfeife die Welt tanzt, und dessen Qualität unantastbar ist. Es kam so, wie es schon vor zwanzig Jahren gekommen war. Auch England schickte seinen alten guten Ruf, seine gesicherte Kultur und seine bewährte Überlieferung ins Treffen. Es hatte sich nicht bemüht, für Brüssel etwas Außergewöhnliches und Neues zu machen; es zeigte Textilien, die wir schon seit zwanzig Jahren kannten, Keramiken, die uns nach Wesen und Erscheinungen wohl vertraut waren, Bücher, die wir seit langem als mustergültig verehrten. Es zeigte keine Novitäten. Man gewann den Eindruck, daß die einzelnen Firmen ihr Lagerbuch aufgeschlagen und danach das Beste, das Bewährte, das Gewohnte nach Brüssel geschickt hatten. Man stand vor einer kompakten Vollkommenheit, vor einer unbeirrbaren Sicherheit des Schaffens und vor einem Selbstbewußtsein, das alles und alle verachtete. Das alte England, der Kolonisator der Welt, hatte sich nicht um das bekümmert, was die übrigen Völker bringen würden, es wußte, daß es in jedem Fall bestehen mußte. Und es hatte recht behalten. Indessen, die neue Sonne, die in Brüssel aufging, die Sonne Deutschlands, brannte es dennoch. Es erhob sich die Idee und verkündete einen Tag, da die gesichertste aller Traditionen tönerne Füße bekommen wird. Deutschland zog nach Brüssel unter der Flagge einer Idee. Es kam, um den Völkern darzustellen, wonach die Besten der Nation sich reckten. Deutschland wollte nicht sein Niveau zeigen, nicht das, was für die breiten Massen sowohl der Wohlhabenden wie der Besitzlosen noch das Gewohnte war. Deutschland zeigte, was als eine Aufregung, als eine neue Bewegung in den Kreisen der Intelligenz und der Künstler bei weitblickenden Fabrikanten und zielbewußten Handwerkern eben erst sich bemerkbar gemacht hatte. Das war gewiß nicht gefahrlos; das verhieß aber die Aussicht, von heute auf morgen die Aufmerksamkeit einer ganzen Welt auf sich zu lenken und über Nacht aus einem bedauerten Dornröschen zu einem fast gefürchteten Pionier zu werden. Das war es denn auch, was Deutschland in Brüssel gelang. Wer sich Mühe gab, während der Ausstellung auf die Völker zu achten, der fand, daß sie stutzig wurden. Sie begriffen nicht, wie es gekommen war, daß da plötzlich eine neue Architektur, eine neue Raumkunst, ein neues Kunstgewerbe wuchsen und beinahe schon blühten. Deutschlands draufgängerisches Bekenntnis von dem, was es eben selber erst errang, brachte ihm damals die Achtung aller Wohlwollenden und das bestürzte Mißtrauen derer, die niemals an solch eine Gefährdung der französischen und englischen Vorherrschaft auf allen Gebieten der Kunst und des Luxus, des Komforts und des guten Geschmacks, der Architektur und des Kunstgewerbes hätten glauben mögen. Es begab sich, daß in den Brüsseler Zeitungen Urteile zu lesen waren, wie dieses: „Jeder Tag drängt die Deutschen weiter vorwärts, sie befreien sich von der Konvention, sie übergeben sich dem Leben mit einer Art Trunkenheit und einem siegesgewissen Taumel. Jedenfalls: sie marschieren und mühen sich, mit dem neuen Geist alle Phasen des Daseins zu durchtränken …. Wenn man durch diese Säle und Zimmer spaziert, steht man mitten in Deutschland. Die Architektur, die Möbel, die Fensterverkleidung, die Fußböden, jegliches Schmuckwerk, alles das hilft ein Milieu, einen Raum schaffen, einen Raum, in dem eine Atmosphäre herrscht, die sich aus Vätergesinnung und kühnem Pionierwillen glücklich mischt." Solchen beflügelten Worten folgte später mehr oder weniger herbe Abwehr; die Architektur der weißen Kürassiere wurde schwer und düster gescholten. Indessen, es will beachtet sein, daß während der Ausstellungszeit in Brüssel das kostbarste Haus, das dort wohl jemals für einen Privatmann errichtet worden ist, gefördert und bald darauf auch fertiggestellt wurde: das Haus Stoclet, das der Wiener Josef Hoffmann baute. Erinnert man sich gleichzeitig, daß vor Jahresfrist etwa der Belgier van de Velde, der lange zuvor nach Deutschland auswandern mußte, um die neugeborene Linie der Gotik fruchtbar zu machen, in Paris gehindert wurde, das Theater, an dem er dort arbeitete, zu vollenden, so wittert man einiges von der Krise, die durch das Selbständigwerden der Deutschen den bisherigen Verwesern des guten Geschmacks und des Luxus, der Kunst und des Lebensstils beschert worden ist. Wir wollen gewiß nicht undankbar sein. Wir haben manches von Frankreich gelernt, und England ist uns in vielem ein Vorbild gewesen. Die deutsche Malerei von Leibl bis Liebermann wäre ohne die großen Franzosen, ohne Courbet und Manet, kaum denkbar. Ohne das englische Landhaus würde uns vielleicht noch heute der Schrecken der Villa „Burgfrieden" beschieden sein. Solche Andeutungen genügen, um uns in Erinnerung zu bringen, wie mannigfach und wie tief die Einflüsse waren, die aus Frankreich und England zu uns überströmten. Wir haben sie zu nutzen gewußt. Wir haben uns auch hierin als das Volk der Übersetzer bewährt. Dann aber sind wir selbständig geworden und sind in nicht wenigen Dingen über unsere Lehrmeister hinausgewachsen. Für solches Reifwerden der Deutschen gab es im Jahre 1914, während bereits für uns die Fangnetze geknüpft wurden, zwei treffliche Beispiele: die Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik zu Leipzig; die Werkbund-Ausstellung in Köln. Das Ergebnis der Leipziger Völkerschau war besonders kennzeichnend. Die Kenner hatten wohl vermutet, daß die vergleichende Wertung für die deutsche Bücherherstellung nicht ungünstig ausfallen würde; das Ergebnis der Weltausstellung aber war: daß Deutschland dabei ist, alle übrigen Länder zu überflügeln. Gewiß, noch kann England mancherlei, was Deutschland noch nicht erreichte; das billige Buch besonders vermögen wir so einwandfrei und vor allem so billig nicht herzustellen. Auch hat England noch immer die überzeugendere Tradition und das größere Gleichmaß der Leistungen aufzuweisen. Wir experimentieren noch zu viel, wir gestatten den Büchern immer noch zu viel Individualität, wir leiden noch ein wenig am Künstler. Dennoch: wenn man bedenkt, daß vor einem Vierteljahrhundert das deutsche Buchgewerbe noch durch das verrufene Prachtbuch und durch romantisch verwilderte Zufälligkeiten beherrscht wurde, so muß man mit erschreckender Ehrfurcht die Leistungen der zur Einsicht und gleichzeitig zu hoher Leistungsfähigkeit gekommenen Schriftgießereien, Papierfabriken, Farbenfabriken, Buchdruckereien, Buchbindereien und Verlagsanstalten anerkennen. Wir haben gewandte Setzer und umsichtige Maschinenmeister, empfindsame Bibliophilen und verständige Freunde technisch einwandfreier Massenauflagen. Das Gefühl für das kleinste der Ornamente, den Buchstaben, und dessen Architektonisierung zum Satzbild, die Sinnlichkeit, die Narbe eines geschöpften Büttens mit den Fingerspitzen zu tasten und den Helligkeitsgrad der Seiten mit geschliffenem Instinkt zu wägen, das Empfinden für den Organismus des Einbandes, alle diese Tugenden haben sich bei uns mit bewundernswerter Schnelligkeit und der uns eigentümlichen Gründlichkeit entwickelt. Wir können heute mit England konkurrieren, wir übertreffen es bereits an Beweglichkeit und (das spricht für das Volk der Naivität gegenüber dem Volke des Utilitarismus) an Phantasie. Das französische Buch aber haben wir glorreich überwunden. Der französische Pavillon in Leipzig war für die große Nation eine beinahe empfindlichere Niederlage, als es einst die Schlacht gewesen ist, deren Denkmal seinen Schatten bis zu dem Louis-seize-Bau aus Gips hinüberwarf. Die Tage der herrlichen französischen Druckwerke, der entzückenden Liebhaberbände und der verführerischen Buchillustrationen scheinen (von ganz wenigen Künstlern zu schweigen) vorüber zu sein. Die allgemeingültige Produktion steckt in einer geradezu verblüffenden Verwilderung. Auch das französische Buch starb am Konservativismus seiner Nation, an einem Konservativismus, der, weil er jede Fühlung mit dem Geiste der Zeit verlor, dilettantisch zu wirken beginnt. Das war Leipzig. In Köln konnten Vergleiche solcher Art nicht ohne weiteres angestellt werden; es waren dort nur deutsche Leistungen zu sehen. Das Gesamtergebnis dieser im Zeichen der schönen Qualitätsarbeit, mit Absicht in Frankreichs Nähe abgehaltenen Werkparade, war dennoch so etwas wie eine Abrechnung. Dabei ist völlig gleichgültig, daß die Kölner Ausstellung manches Verfehlte aufwies, daß sie sogar, gemessen an früheren Veranstaltungen, hier und da ein Rückschritt, zum mindesten eine Trübung war; es ist auch einerlei, daß in Köln nicht das ganze Deutschland, sondern nur das im Zeichen der Werkbundgemeinde arbeitende auf den Plan trat: es war dies die Ausstellung derer, die begriffen haben, daß Deutschland einen eigenen Formenausdruck zu erringen hat. Und damit war es eine Ausstellung gegen Frankreich und England. Mochte die Kritik noch so scharf sein, sie mußte als Gesamteindruck dieses Grenzaufmarsches der Künstler, Handwerker und Fabrikanten doch dieses zugeben: daß das deutsche Volk sich energisch aufrafft, um auf allen Gebieten des architektonischen Schaffens voran zu schreiten. Es hebt sich das Niveau; es regen sich aber auch so viele Einzelkräfte, so viele eigen geartete Begabungen, daß selbst dann, wenn ein augenblickliches Stocken zugegeben werden müßte, man ein Versiegen nicht zu befürchten brauchte. Das aber ist die maßgebende Einsicht, die uns Köln vermittelt: wo ist das Volk, unter dessen Architekten, Fabrikanten und Handwerkern soviel Persönlichkeiten ragen, deren jede etwas anderes vollbringt, und die doch gemeinsam das gleiche wollen — den Stil der selbständig gewordenen und zur Weltherrschaft drängenden Nation? Die Kölner Ausstellung sah die Armeen über den Rhein ziehen; aus ihren Hallen wurden die Möbel, die Webstoffe, die Metallarbeiten, die Gläser, die Keramiken, die Bücher, die Goldwaren entfernt. Jetzt rasten dort Ersatztruppen, ruhen Verwundete. Der Krieg tobt. Die schönen Künste schweigen. Der militärische Sieg reift. Er würde keinen Sieg des Deutschtums bedeuten; wenn nicht schon heute alle dazu berufenen Kräfte jeden Augenblick nutzten, mehr denn je an der Hebung der deutschen Arbeit und damit an der Reinigung und Gründung des deutschen Stils zu wirken. Reiche vergehen, ein Vers bleibt. Das Möbel der heiligen Ludwige übte seine Gewalt noch Jahrhunderte nach dem Tode des letzten der langen Reihe. Jetzt kommt es darauf an, eine deutsche Architektur — vom Sofakissen bis zum Städtebau — zu erringen, die der Dauerhaftigkeit des Reiches, wie sie unverbrüchlich von den Schwertern gehämmert wird, Ewigkeit sichert.

Robert Breuer