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Autor: Cabet, Etienne
In: Dokumente der Menschlichkeit - Band 20 (1919); Dreiländerverlag München / Wien / Zürich
 
Reise nach Ikarien
 
Die Ikarier sind der unerschütterlichen Überzeugung kein wahres, kein wirkliches Glück könne bestehen ohne Gleichheit und ohne Vergesellschaftung, und so ist es denn dahin gekommen, daß sie eine Gesellschaft auf der Grundlage der völligen GIeichheit ausgebildet haben. Alle sind so zu sagen assoziiert, sind Bürger, sind gleich an Rechten und Pflichten. Alle teilen sich gleichmäßig in die Lasten und in die Vorteile der Assoziation; alle formieren nur eine einzige Familie, deren Mitglieder durch das Band der Bruderschaft verknüpft sind. Sie sind ein einiges Brudervolk, und jedes ihrer Gesetze zweckt auf die Gleichheit, in allen Fällen, wo sie nicht materiell unmöglich ist.
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Sie haben die Aufgäbe gelöst und man kann nun in Ikarien die vollkommene Gleichheit in der Gesellschaft sehen. Wie sie nur eine einzige Gesellschaft, ein einziges Volk und eine einzige Familie ausmachen, gerade so macht ihr Grund und Boden, mit seinen unterirdischen Reichtümern und seinen Bauten über der Erde, nur ein einziges Grundstück, ihr Gesellschaftsland, ihre Domäne, aus. Alle beweglichen Güter der Assoziierten, nebst allen Produkten des Bodens und der Industrie, bilden nur ein einziges Gesellschaftskapital. Dieses, wie jenes, gehört unteilbar dem Volke, der Nation, die es bebaut und benutzt, durch ihre Bevollmächtigten oder in eigener Person verwaltet, und sich in die Erzeugnisse gleichmäßig teilt.
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Alle Ikarier sind, wie gesagt, gleich und assoziiere, jeder muß folglich eine Industrie üben und dieselbe Anzahl Stunden arbeiten; aber ihre ganze Vernunft ist rastlos bemüht, Mittel und Wege zu finden um dieses Arbeiten leicht, bequem, angenehm, kurz zu machen. Sämtliche Werkzeuge der Arbeit und die zu verarbeitenden Stoffe werden aus dem Gesellschaftskapital bestritten; alle Produkte des Bodens und der Industrie werden in den öffentlichen Magazinen aufgespeichert. Alle sind ernährt, behaust, gekleidet auf Kosten des Gesellschaftskapitals; sie sind es alle auf gleichmäßige Weise, mit der erforderlichen Berücksichtigung des Geschlechts, des Alters und einiger anderer Punkte, die im Gesetz angegeben sind. Auf diese Art ist die Republik oder Gütergemeinschaft die alleinige Besitzerin, die alleinige Eigentümerin; sie allein organisiert ihre Arbeiter und baut die Werkstätten und Magazine; sie allein baut den Acker, errichtet die Häuser, und fabriziert alle Stücke, die zur Kleidung, Nahrung, Wohnung und Möblierung nötig sind. Da die Erziehung als Grundlage der Gesellschaft bei den Ikariern gilt, so gibt die Republik selbige jedem Bürger, jedem ihrer Kinder, und zwar unentgeltlich, und zwar gleichmäßig, nicht anders wie sie jedem gleichmäßig die Nahrung gibt, deren er bedarf. Alle genießen das Brot des Leibes und das Brot des Geistes in gleicher, gleichmäßiger, gleichartiger Weise. Alle bekommen den nämlichen Anfangsunterricht und hinterdrein diejenige besondere Belehrung, welche zu ihrem besonderen Wirken, zu ihrem besonderen Geschäft notwendig ist. Diese Erziehung bezweckt aus allen Einwohnern tüchtige Arbeiter, gute Eltern, wackre Bürger, kurz, wahrhafte Menschen zu bilden.
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Da also alle gleich an Rechten, alle Bürger und assoziiert sind, so folgt sicher von selbst, daß sie alle Wähler und wählbare, alle Mitglieder des Volks und der Volkswehrmannschaft sind, Sie alle, ohne einen auszuschließen, sind Volk, Nation, denn bei ihnen ist kein Unterschied zwischen Volk und Nation. Man braucht nicht erst anzudeuten, daß das Volk nur sich selbst angehört, also selbstherrschend ist; demnach das Recht besitzt, sich in seinen Beratungen und Taten selbständig zu bestimmen. Es hat seine Gesetze sich ersonnen und aufgestellt, und kann sie, wenn es ihm gut dünkt, widerrufen oder abändern. Viele unter ihnen können gar nicht begreifen wie in andern Ländern das Ding anders sein darf. Das ikarische Volk hat durch seine Gesetze Ordnung in die Ernährung, Kleidung, Wohnung zu bringen gewußt, in seine Arbeiten, in seine Erziehung, und in seine Vergnügungen. Könnte es sich ohne Weiteres oft auf einer ungeheuren Ebene versammeln, oder in einem Saale, so würde es seine Oberherrlichkeit ausüben und dort die Gesetze machen, denen es forthin nachzuleben gedächte. Doch in der materiellen Unmöglichkeit, sich solchergestalt zu versammeln, bekleidet es mit denjenigen Machtvollkommenheiten, die es nicht in Person und unmittelbar vollziehen kann, seine Beauftragten, und behält sich alle übrigen vor. Es überträgt seiner Volksvertreterschaft die Macht, seine Konstitution und seine Gesetze zu bilden. Es überträgt einem Ausführungskomitee, einem Ausschusse. die Macht, diese Gesetze in Wirksamkeit zu bringen. Aber es bewahrt sich das Recht, die Vertreter zu wählen, die Mitglieder des Ausschusses zu ernennen, die Gesetzesentwürfe anzunehmen oder zurückzuweisen, Gerechtigkeit auszuüben, öffentliche Ruhe und den Frieden zu erhalten. Alle öffentlichen Beamte sind folglich Beauftragte des gesamten Volkes, sind alle wählbar, sind auf eine Zeit nur im Amte, sind verantwortlich und absetzbar. Um ja jedem übel angebrachten Ehrgeiz vorzubeugen, sind bei ihnen die gesetzgebenden Beamten und die gesetzausführenden geschieden, so daß nicht ein und der nämliche Bürger beides zugleich sein darf. Ihre Volksvertretung besteht aus zweitausend Deputierten, sie beratschlagen zusammen in einem einzigen Saale, nicht in zweien. Sie sind ohne Unterbrechung versammelt, und werden jährlich zur Hälfte erneuert. Ihre wichtigeren Gesetze werden der Begutachtung des gesamten Volkes vorgelegt. Der ausübende Ausschuß, oder Vollziehungsausschuß, besteht in einem Präsidenten mit fünfzehn Mitgliedern, die jährlich zur Hälfte neu gewählt werden; er ist in allen Stücken der Vertreterschaft untergeordnet. Das Volk übt in seinen Versammlungen alle Rechte aus, die es sich vorbehalten hat, als da sind: das Wählen, das Beraten und das Urteilen. Um der Nation dieses ihr Recht zu erleichtern, ist das ganze Land in einhundert kleine Provinzen geteilt, und jede in zehn Gemeinden, was also tausend Gemeinden macht, die an Flächeninhalt und Seelenzahl ziemlich gleich sind. Jede Provinzialstadt liegt im Mittelpunkt ihrer Gemeinde und außerdem sind alle erdenklichen Maßregeln getroffen, um den Einwohnern den Besuch der Versammlungen bequem zu machen. Damit ja kein Interesse leide, beschäftigt sich jegliche Gemeinde mit ihren Gemeindesachen, jegliche Provinz mit ihren Provinzialsachen insonderheit, während alle Gemeinden, alle Provinzen insgesamt, d. h. das Volk in seiner Allheit, und seine Vertreterschaft, sich mit den nationalen allgemeinen Angelegenheiten abgeben. Das Volk, in den eintausend Gemeinden verteilt, hält dort eintausend Gemeindeversammlungen, nimmt folglich dort das Wort über seine Gesetze, sei dies nun vor, sei dies nach der Beratung in der Deputiertenkammer. Natürlich geschieht alles im vollsten Lichte der Öffentlichkeit; alles wird statistisch übersichtlich dargestellt und die dazu bestimmte Nationalzeitung wird jedem Mitbürger zugeschickt. Damit nun jede Diskussion möglichst gründlich vor sich gehe, hat die Deputiertenkammer und ebenso jegliche Gemeindeversammlung, folglich das ganze Volk, sich in fünfzehn große Abschnitte oder Ausschüsse eingeteilt, deren jeder das ihm gehörende Fach behandelt. Sie haben einen Ausschuß für die Reichsverfassung, einen für die Erziehung, einen für den Ackerbau, einen für die Industrie, einen für die Nahrung, einen für die Wohnung, einen für die Kleidung, einen für die Statistik usw. Jedes dieser großen Komitees hat also den fünfzehnten Teil der Gesamtbevölkerung in sich, und die ganze Einsicht eines gebildetem großen Volkes ist rastlos mit Verbesserungsentwürfen und Ausführung derselben beschäftigt. Sie leben in einer Republik, in einer fast reinen Demokratie.
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Erziehung ist der feste Grund und Boden, auf dem Privat- und Staatsleben erbaut werden soll. Ohne ihn ist kein sicheres Gebäude möglich. Als die Republik sich Dasein errungen hatte, war folglich ihr erster Schritt, einen Ausschuß mit umsichtigster Prüfung des erhabenen Gegenstandes zu beauftragen. Alle früheren und noch vorhandenen Systeme wurden durchmustert und durchsprochen; der Ausschuß nahm, wie sich von selbst versteht, alle Mitteilungen bereitwillig auf. Das Gesetz bestimmte und regelte sodann die verschiedenen Erziehungsformen: die physische, intellektuelle, sittliche, industrielle, bürgerliche; regelte ferner für eine jede Gegenstände, Zeit, Ordnung und Methoden. Alle Einwohner, ohne Unterschied des Geschlechts und Geschäfts, erfreuen sich einer und derselben Elementarerziehung, die, als eine wahrhaft allgemeine, allen gemeinsame die Grundzüge der menschlichen Kenntnisse umfaßt. Damit fangen sie an. Alle die welche eine und dieselbe industrielle oder wissenschaftliche Beschäftigung treiben werden, genießen zudem die besonders auf diese Beschäftigung sich beziehende Erziehung; das ist folglich eine spezielle, professionelle, in welcher die vollständige Theorie wie Praxis dieser besonderen Beschäftigung gelehrt wird. Ein Teil der Erziehung ist natürlich den Eltern anvertraut, und ist folglich häuslich. Ein anderer Teil ist öffentlich oder allgemein in den Nationalschulen. Die Lehrer und Lehrerinnen daselbst sind auf das Sorgfältigste herangebildet, das Lehramt ist überhaupt bei den Ikariern mit höchster Achtung umgeben, denn sie sagen: unsere Lehrer erziehen die Nation. Durch die unverdrossene, rastlose Beharrlichkeit, mit der diese große und erhabene Republik das Unterrichten und Erziehen, das Bilden in jeder Hinsicht, nun bereits seit einer langen Reihe von Jahren betrieben hat und ferner betreiben wird, ist es allmählich dahin gekommen, daß kein Vater vorhanden ist, der nicht imstande wäre, seine Knaben und keine Mutter, die nicht imstande wäre, ihre Töchter zu erziehen; kein Bruder, keine Schwester, die nicht fähig wären, die jüngeren Geschwister zu erziehen. Grundlage für alle weitere Erziehung und Zucht ist unstreitbar die Physische Erziehung, über welche also zuerst zu berichten ist. Der Erziehungsrat hat, wie immer, auch diesmal vorgezeichnet und erwogen, und das Volk hat geprüft, und das Geprüfte, Angenommene zum Gesetz erhoben. Die ikarische Republik beschützt und beschirmt die Kinder von Geburt an oder vielmehr von der Zeit der Schwangerschaft her. Die Ikarische Republik hat besondere Bücher über Anatomie, Physiologie, Gesundheits- wie Krankheitszustände usw. ausarbeiten lassen, und diese ein für allemal bestimmten Bücher gibt sie denjenigen, welche sich vermählen. Auch besondere Vorträge rein wissenschaftlicher Art sind eröffnet. Für die Zeit der Schwangerschaft, für die Entbindung ﴾die in der Familie im Beisein mehrerer Hebammen geschieht﴿ und das Verhalten nach derselben, werden gleichfalls wissenschaftliche, sowohl mündliche, als gedruckte Belehrungen vorgenommen. Die Frauen sind sämtlich verpflichtet, den auf ihre mannigfachen Lebenszustände bezüglichen Vorträgen beizuwohnen. Sie tun das gern, „denn", sagen sie, „was schmählicheres gibts als ein Weib, welches die Naturgesetze mißkennt und, sei es aus Unwissenheit, sei es aus Torheit, übertritt". Übrigens sind die Ikarier seit langem der unerschütterlichen Überzeugung, daß der Mensch ein viel bildungsfähigeres Wesen ist als die Europäer meinen; sie wissen aus Erfahrung, daß die Nation sich vervollkommnet, daß der Mensch schon minder unvollkommen geboren wird, sobald die nötige Bildung der vorhergehenden Generation zuteil geworden war. Der Mensch ist gewiß fähig, viel mehr noch von der Unvollkommenheit abzuwerfen als es den Ikariern bis jetzt gelang, und es wäre Wahnwitz, wollten sie sich für die allervollkommenste Blüte und Frucht halten, die am Menschheitsbaum wachsen kann. Mit andern Worten, kein Mensch heutzutage darf es sich herausnehmen, der Ausbildung des Menschen in Zukunft Schranken zu ziehen. Ein mit Verunstaltung geborenes Kind wird bei ihnen sofort Gegenstand umständlicher, umsichtiger Fürsorge seitens der Republik. Instrumente und Verfahrungsmethoden sind immer bereit, den Fehlgriff der Naturkraft zu verbessern, und dank diesem System sind sie meist wohlgebauten Leibes. Sollte die Wöchnerin zum Säugen unfähig sein ﴾was selten genug der Fall ist﴿, so wird ohne Schwierigkeit, nach dem zu diesem Behuf der Behörde und den Hebammen stets zu Gebot stehenden Register, eine Frau gefunden, welche des Säuglings zweite Mutter, so zu sagen, werden mag. Während der fünf ersten Lebensjahre hat jedes Kind sich ausschließlich der mütterlichen Pflege zu erfreuen; es ist fortwährend unter ihrer Aufsicht. Die Mutter ihrerseits ist, seitens der Republik, ein Gegenstand der Fürsorge, Zuvorkommenheit, Artigkeit in jeder Hinsicht, sowohl vor wie nach der Entbindung. Viele und großartige Entdeckungen wurden seit vierzig Jahren gemacht, um das Gedeihen des Kindes, in körperlicher und geistiger Beziehung zu fördern. Auge und Ohr z. B. werden aufs feinste entwickelt. In dieser Beziehung findet man einen großen Abstich zwischen den andern Nationen und den Ikariern zu Gunsten dieser letztern. Vom dritten Lebensjahr ab, bis zum fünften, bringen die Mütter einer und derselben Straße ihre Kinder beiderlei Geschlechts zusammen, damit die Kinder, unter steter Aufsicht einiger der Mütter, gemeinschaftliches Spiel treiben. Sobald das Kind kräftiger wird, fangen zu Hause, und später in der Schule, die vom Gesetz aufs umständlichste verordneten Leibesübungen an. Diesem Turnen werden die Mädchen ebenso unterzogen wie die Knaben. Reiten und Schwimmen sind gleichfalls gymnastische Übungen für beide Geschlechter. Tanzen, Schlittschuhlaufen, die Waffen gebrauchen, sind Geschicklichkeiten, die jeder Ikarier besitzt. Die Schüler lernen militärisch marschieren, d. h: den Körper gefällig und zugleich kraftgemäß tragen. Die ikarische Nation wird in jeglicher Geburtenreihe schöner und stärker an Leib und Geist. Man kann, im Ernst gesprochen, eine Veredlung der Rasse wahrnehmen, und die Ikarier sind froh und stolz darauf, denn wer ists, der den Anstoß dazu gab! Sie, die ikarische Nation, mit dem großen Ikar an ihrer Spitze. Sie sind recht eigentlich der „Schmied ihres eigenen Glücks". Durch die zweckdienliche, materielle Behandlung, die dem Kinde widerfährt, ist das richtige Sichentfalten seiner Intelligenz sicher gestellt. Somit zeigen die Kinder, schon ehe sie sprechen, geistige Bewegung, die oft in Erstaunen versetzt. Im fünften Jahre beginnt die allgemeine und gemeinsame Erziehung, bis zum siebzehnten, achtzehnten Jahre dauernd. Sie wird aber noch mit der häuslichen verbunden, denn die Kinder gehen erst um neun zur Schule, nachdem sie zu Hause gefrühstückt, und kommen um sechs Uhr abends wieder; zwei Mahlzeiten bekommen sie in der Schule. Um fünf Uhr morgens steht die Familie auf, und die Kinder desgleichen. Bis halb neun Uhr machen sie ihren Anzug fertig und werden in der Wirtschaft beschäftigt; die älteren Personen weisen sie an. Abends wiederholen sie ihre Lektionen und spielen. Das Kind, zum Lesen mit lauter Stimme angehalten, lernt gut aussprechen, und dazu kommt der wichtige Unterricht in der Deklamation, damit es nicht beim Vorlesen in ein bloßes Ableiern verfalle, wodurch höchst unangenehme Eindrücke entstehen, und auch häufig einem bestimmten Redezwecke geschadet würde. Die Folge davon, ist, daß die Ikarier und die Ikarierinnen ohne Ausnahme gut lesen und sprechen; sie finden Gefallen an ihrer, Sprache, und wissen sie zu gebrauchen. Was das Schreiben betrifft, so lehrt es die Mutter ihr Kind, und, wenn der kleine Zögling es inne hat, wird ihm nicht mehr erlaubt, unleserlich zu schreiben. Daher kommt, daß sie alle, ohne Ausnahme, leserliche Schriftzüge machen, viele unter ihnen sind natürlich Schönschreiber, Kopisten. Nichts verrückter in ihren Augen, als wollte man den eigenen Namen z. B. auf eine verzwickte Weise hinkritzeln, so daß andere Personen ihn gar nicht oder mit Mühe erraten können; diese Tollheit findet sich daher auch bei ihnen nicht mehr. Ihre Landessprache ist so regelrecht und einfach, bei aller reichen Mannigfaltigkeit, daß der Ikarier sie bald lernt; die ikarischen Sprachlehrer haben deshalb die Gewohnheit, ihre Schüler und Schülerinnen nach einiger Anleitung, die Regeln der Sprache selbst auffinden zu lassen, wo es nur irgend tunlich. Es ist wiederum die Mutter, die das Kind anhält, sich im regelrichtigen Darlegen seiner Empfindungen, Gefühle, Gedanken, Urteile, Schlüsse zu üben; es muß kleine Aufsätze, Briefchen, Beschreibungen, sowohl mündlich als schriftlich, nach Vorbereitung und aus dem Stegreif machen; daher die Leichtigkeit und die Richtigkeit, mit der die Kinder sich ausdrücken. Überhaupt widmen die Ikarier mehr Mühe und Zeit, im Durchschnitt, auf gründliches Studium der Nationalsprache, als der fremden Sprachen. Die Sprachen des Altertums und der modernen Welt werden bei ihnen als Profession, genau und gründlich, betrieben, wenn man in ihrer Kenntnis als Lehrer, Reisender, Dolmetscher, Übersetzer usw. es zu einem möglichst nützlichen Punkte bringen will; hierfür aber sorgt die spezielle, um das achtzehnte Lebensjahr anfangende Erziehung. Solcherweise hat die Grunderziehung nichts mit dem Erlernen fremder Sprachen zu tun. Man braucht wohl nicht hinzuzufügen, daß alle bedeutenden Werke, aus allen nichtikarischen Sprachen in diese übertragen wurden und werden; jeder findet sie auf den Nationalbibliotheken, deren es unendlich viele, im ganzen Reiche verteilte gibt. Die Kinder erlernen frühzeitig das Zeichnen; kein Arbeiter, keine Arbeiterin, die nicht auf der Stelle in Geschäftssachen z. B. einer neuen Vorstellung im Kopf, auch eine neue Darstellung auf dem Papier geben kann. Die Industrie und die schönen Künste haben dadurch viel gewonnen. Malerei, Kupferstecherei, Bildhauerei, und sonstiges dahin Gehörige, wird später studiert. Dagegen gewinnt das Kind, sowohl das männliche als das weibliche Kind, frühzeitigst die Grundzüge der Naturkunde, in allen ihren Zweigen, ohne einen einzigen auszuschließen.
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Die Grundrisse der Geometrie und Arithmetik werden desgleichen in der allgemeinen Erziehung begriffen, so daß es keinen Bewohner, keine Bewohnerin des Landes Ikarien gibt, denen es schwer fiele, eine beliebige Ausrechnung, Ausmessung, Planzeichnung zu machen. Und die Kinder werden nicht etwa zu verständig, auf Kosten des Herzens, erzogen, denn Musik, sowohl Singen als Spielen, ist ein Grundgegenstand der ersten Erziehungsepoche. Dies ist ein großes, ein folgenreiches Ding; eine viele Millionen Menschen zählende Nation, ganz aus musikalischen, Musik liebenden, Musik würdigenden, Musik komponierenden Personen, beiderlei Geschlechts, ohne alle Ausnahme, bestehend, ist schon lediglich deshalb, und völlig abgesehen von sonstigen Verhältnissen, zu höhern, kräftigern, inhaltsvolleren, Regungen und Taten fähig, als eine andere Nation, die sich dieses herrlichen Vorzuges noch nicht zu erfreuen hatte. Man kann natürlich nicht behaupten, jeder Ikarier sei gerade so tief gebildet und talentreich in Musik wie sein Mitbürger, aber man darf dreist sagen, ein jeglicher ist durch Musik auf einen Bildungsgrad gehoben, den er ohne Musik nicht erreicht hätte. Talentunterschiede kommen stets vor, allein durch allgemeine Bildung und Erziehungsgleichheit ist eine sehr große Verallgemeinerung des musikalischen Gehörs und Talents zu Wege gebracht.
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Mit siebzehn Jahren für die Mädchen, mit achtzehn für die Jünglinge, hebt eine abermalige Erziehung an: die professionelle, speziell sich auf ein Fach beziehende, sowohl in theoretischer als in praktischer Hinsicht. Zugleich Unterricht in Literatur, Geschichte, Anatomie, Gesundheits- und Krankheitskunde, bis zwanzig und einundzwanzig Jahren, nach den Arbeitstunden des Vormittags. Auch bei einundzwanzig Jahren hört die Erziehung nicht auf; alsdann kommt ein Unterricht „die Geschichte des Menschen" betreffend. Alle Ikarier sind hierzu berufen und sind hierzu verpflichtet. Was später nachfolgt, ist zwar nicht mehr vorgeschrieben, doch schließen sich nur wenige, sehr wenige Personen von stetem Weiterlernen und Fortbilden aus. Wie jener Philosoph der Vorzeit sagte: „ich will lernen während ich altre", so sprechen und handeln die Ikarier. Ihr Grundsatz ist: das Kind möglichst viel, möglichst schnell und möglichst wirksam zu lehren. Daher entwickeln sie unablässig sein Denken und Fühlen. Sie machen oft das Lernen zum Spiel und das Spiel zum Lernen. Mit größter Achtsamkeit wird seitens der Eltern wie seitens der Lehrer vermieden, dem Zögling leeren Wortschwall zu geben; es wird die Sache, der Gegenstand, worauf das Wort sich bezieht, dem Kinde, welches zum ersten Male dasselbe vernimmt, vorgewiesen, wenn dieses nur irgend tunlich. Da allgemeine Bildung vorhanden ist, braucht man nicht zu zittern, ein törichter Vater, eine unwissende, abergläubische Mama, eine verzogene Schwester, ein albernes Dienstmädchen werde dem Kinde falsches Zeug in den jungen Kopf setzen. Der Erziehungsrat, diese erhabene Behörde der Republik, hatte nach längen Arbeiten endlich die Weise ausfindig gemacht, das Kind das Lesen auf die passendste Art zu lehren. Das war keine Kleinigkeit! Seit langem aber ist die Methode in allgemeiner Anwendung und jede Ikarierin bedient sich ihrer, wenn sie ihre Kinder unterrichtet. Viel zur Erleichterung trägt natürlich die neue Sprache bei, in der weder Doppellautendes noch Doppelsinniges vorkommt. Was einst so manche Träne und Züchtigung erforderte, das Lesenlernen, wird heute ein erfreuendes Entfalten des jungen Wesens, gleich angenehm für Lehrling und Lehrerin. Die Republik hat ein besonderes Lesebuch für diese kindlichen Anfänger bestimmt, „Kinderfreund" genannt, in ihm findet man das Meisterwerk in dieser Kunst. Die Ikarier besaßen schon seit geraumer Zeit ein recht gutes. Der Erziehungsausschuß war indessen noch nicht zufrieden. Er schrieb abermals, wie zur Anfertigung des früheren, einen Wettbewerb aus; und so entstand das jetzige, mit Bildern aller Art geziert. Die Republik hat den Verfasser mit einer Bildsäule beehrt. In der Schule wird ebenfalls dieses Buch benutzt; der Unterricht geschieht dort anfänglich von Lehrerinnen, die an Freundlichkeit und Gerechtigkeit nichts den Müttern in Behandlung der Kinder nachgeben. Die Kinder lesen übrigens nicht so vielfältige Bücher, als dies in anderen Nationen der Fall ist. Die Ikarier sind überzeugt, ein paar recht tüchtige, zweckdienliche Kinderschriften sind tausendmal einem ganzen Haufen von Büchern, in denen Gutes mit Nichtgutem vermischt ist, vorzuziehen. Übrigens sind für die verschiedenen Kindes- und Jugendalter verschiedene Bücher vorrätig und man darf nicht glauben, es würden, sozusagen, alle Schäfchen über einen und denselben Kamm geschoren. Solche Tollheit fällt den Ikariern nicht ein. Das Schreibenlernen geschieht bei der Mutter, welche imstande ist, eine Lehrerin, ein liebendes Weib und eine Wirtschafterin zu sein, ohne daß eine dieser ihrer edlen Eigenschaften mit den andern in Widerstreit kommt. Die Mutter und der Lehrer in der Schule zeigen dem Kinde, warum z. B. die Feder so und nicht anders anzufassen sei, und von Zeit zu Zeit wird das Kind examiniert, warum es so und nicht anders sein muß, Wißbegier und Neugier treiben das Kind oft zu Fragen, und es wird immer die passende Antwort erteilt. Es kommt hierdurch ein hoher Grad von Klarheit, Bündigkeit und Schärfe in die kindliche Seele; der Zögling schämt sich nicht mehr, etwas nicht zu wissen, was ihm noch nicht erklärt ward, oder wohin ihn seine Urteilskräfte noch nicht zu tragen vermögen; er antwortet frisch drauf los: „dies weiß ich nicht", und genießt dadurch den Vorteil, alles Gelüge aus Eitelkeit zu meiden. Die Schule lehrt Rechnen und Meßkunde in den Anfangsgründen nicht bloß vermittelst der Schulbücher, sondern ebenso sehr im Anschauen der Werkstätten, Produkte, Naturumgebungen, wo die Kinder selbsthändig und selbstäugig„ ~ um sich so auszudrücken ~ mit Leichtigkeit und Sicherheit das erlernen, was oft Erwachsene, unter einem verrückten Lehrsystem nicht erlernen können oder wollen.
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Wie in der intellektuellen und leiblichen Erziehung, so in der moralischen. Ja, da des Menschen Seele ein Wichtigeres ist als sein Körper, hat die Achtsamkeit sich womöglich noch zu schärfen, sobald es an die moralische Bildung geht. Die ersten Schritte auf der Bahn dieser Bildung tut das Kind abermals unter der Obhut seiner Mutter. Besonderer Unterricht in den schon erwähnten Vorlesungen setzt die junge Gattin in die innere Möglichkeit, sich dieser Bildung des Kindes anzunehmen. Das Grundgefühl, welches die Mutter in ihrem Zögling zu entwickeln sucht, ist kindliche Liebe, kindliches Vertrauen, kindlicher Gehorsam; und auf diesen Gehorsam wird so strenge gehalten, daß man ihn fast blinden Gehorsam nennen könnte. Der Vater lehrt das Kind die Mutter verehren, und umgekehrt. So kommt es, daß die Kinder ihre Eltern als ihre Gottheit betrachten. Wächst das Kind etwas heran, so lehrt man es, sich selbst anziehen, sich selbst reinigen, seine Kammer selbst in Ordnung bringen, ohne hilfsbedürftig auf andere Leute warten zu müssen. Man lehrt es frühzeitig, seinen Eltern, älteren Geschwistern und sonstigen älteren Familienmitgliedern dienstfertig zu sein, desgleichen den Hausfreunden und Gästen. Auch wird es angewiesen, in allen Vorfällen seine jüngeren Geschwister zu beschützen, zu belehren, zu warnen, zu beaufsichtigen. Alle häuslichen Verrichtungen, die nur irgend ein Kind leisten kann, werden es gelehrt, und so geschieht es denn, daß es fröhlich, mit den älteren Mitgliedern zusammen, das Hauswesen in Stand zu halten sich beeifert. Man findet die Kleinen oft singend bei ihren Hausgeschäften; niemals zeigen sie saure Mienen. Sommer und Winter läßt man um fünf das Kind aufstehen. Während einer bis zwei Stunden macht es in seinem Hausarbeitskleide die Geschäfte der Wirtschaft, die ihm zuerteilt werden können. Stets unter den Augen eines im Alter vorgerückten Mitglieds macht es seine Toilette, wobei eine äußerste Reinlichkeit als Hauptsache gilt, doch weiß man auch hierin das Notwendige mit dem Nützlichen und Schönen zu verschmelzen, damit das Kind früh schon Geschmack an Anstand und Anmut, sich selbst und anderen Personen gegenüber bekomme. Hierauf beginnt es seine Studierarbeit, seine Mutter oder sonst jemand überwacht es dabei, bis es zum Frühstück, und nach diesem zur Schule geht, welche um neun Uhr anhebt.
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Man kann sagen, von seinem ersten Lebensalter ab lernt das Kind, Bürger sein. Schon in der Schule wird es zum Staatsmitglied gleichsam gestempelt, indem es daselbst durch das Schülergesetzbuch, die Prüfungen, die Schülerwahlen, die Schülerjury unaufhörlich, aber allmählich, Staatsbürger wird; sozusagen im Vorspiele, im Kleinen. Aber man glaube nicht, daß die Ikarier sich dabei beruhigen, nein, im achtzehnten Jahre beginnt ein neuer Abschnitt von Erziehung und Unterricht; und diesen Abschnitt nennen sie die Bürgererziehung. In jener Epoche lernt der Zögling die Grundrisse der Literatur, der Redekunst und die allgemeine Weltgeschichte. Die erwähnte Bürgererziehung besteht in einem sehr gründlichen Studium der vaterländischen Geschichte, der ikarischen Gesellschaft, Verfassung, Gesetzgliederung, der Amtsgeschäfte, des Verwaltungsganges usw. Kurz, in einem Studium der Pflichten und Redete des Bürgers und der Behörde, die er einsetzte. Jedes Kind lernt die gesamte Verfassung auswendig. Wie die Knaben, ebenso die Mädchen, mit denen keine Ausnahme in dieser hochwichtigen Sache gemacht werden kann, da ja auch sie Mitbürgerinnen werden sollen. Auf diese einfache Art bringt es die Erziehung dahin, daß kein Ikarier vorhanden, der nicht vollständig mit den Wahlen der Nationalrepräsentation, den Volkszusammenkünften und der Nationalgarde oder Bürgerwehr Bescheid wüsste; jeder ist unterrichtet über das, was ein Beamter der Behörden darf und wo dessen Macht aufhört; jeder weiß, was das Gesetz erlaubt und verbietet. Wer seine Bürgererziehung vernachlässigt hätte, würde später nicht Bürgerrechte ausüben können, und das wäre unendlich schimpflich. Jede Ikarierin ist desgleichen in dieser Kunde des Staatsbetriebes bewandert und nimmt deswegen auch stets am Wirken des Gatten, des Bruders, des Sohnes regen Geistes Anteil.
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Obschon die Ikarier den inneren Frieden auf immer hoffen und auch von außen nicht Krieg fürchten, sind dennoch sämtliche Bürger, d.h. sämtliche Bewohner des Reiches, Mitglieder der Bürger- oder Landwehr; sie üben sich im Handhaben der Waffen und Ausführung von militärischen Schwenkungen vom achtzehnten bis einundzwanzigsten Lebensjahr. Dieses ist keineswegs ein nutzloses Soldatenspielen, sondern ein republikanischer Abschluß der Bürgererziehung, eine Ergänzung der gymnastischen Leibes- und Gesundheitsübungen, sowie auch für die Nationalfestlichkeiten sehr brauchbar. Mit einundzwanzig Jahren ist der Jüngling Staatsbürger. Die jungen Leute werden so gut als möglich zu guten Söhnen, guten Gatten, guten Vätern, guten Nachbarn: kurz zu wahrhaft gebildeten Menschen gemacht. Man braut kaum hinzuzufügen, daß sie auch zur Friedfertigkeit gebildet sind, denn eine der Grundregeln ist, von Kindheit an sie zum Respekt vor der Mehrheit zu gewöhnen; daher kommt es daß sich die Minderheit immer gern in den Beschluß der Mehrheit fügt, und dadurch gelang es, daß jedesmal ohne Zank und Haß, ohne Tätlichkeiten, bloß vermöge einer gewöhnlichen Bedenkung und Besprechung nach allen Seiten hin, die Sachen entschieden wurden, und das ist sehr viel wert.
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Die Ikarier haben weder sogenanntes Privateigentum noch Geld, weder Kauf noch Verkauf. Gleich in Allem sind sie, wenigstens bis zu dem Punkte, wo eine völlige Unmöglichkeit eintritt. Sie schaffen alle samt und sonders gleichmäßig für die Republik und die Gemeinde. Sie ist es allein, welche die Erzeugnisse des Bodens und des Fleißes an sich nimmt, um sie sofort gleichmäßig unter alle zu verteilen; sie nährt, kleidet, behauset die Bürger, sie bildet ihren Geist aus, sie stärkt ihren Körper, sie gibt jedem, was ihm nottut. Der Staatszweck ist: glücklich zu sein und glücklich zu machen; das ist das Ziel, welchem alle Gesetze zustreben, demgemäß heften sie den Blick immer zuerst auf das Notwendige, dann auf das Nützliche, zuletzt auf das Anmutige ohne da Schranken vorzuschieben. Um ein Beispiel unter tausend anzuführen: Könnte der Staat jedem Pferd und Wagen geben, so würde kein Ikarier ohne Equipage sein. Aber da dies nicht möglich ist, so hat keiner Pferd und Wagen, sondern muß sich der öffentlichen Wagen, der öffentlichen Pferde bedienen, auf die natürlich deswegen die höchste Sorgfalt verwendet wird. Diese Grundsätze finden sich in Anwendung bei der Organisation der Arbeit. Die Republik oder die freie Gemeinde bestimmt jährlich alle diejenigen Gegenstände, die hervorgebracht werden müssen, um als Nahrung, Wohnung, Kleidung des Volkes, das heißt der Nation oder aller, zu dienen. Der Staat allein ist berechtigt, in seinen Nationalwerkstätten, Nationalfabriken, Nationalmanufakturen ﴾da nämlich nichts privat gemacht wird﴿ seine Arbeiter zu beschäftigen. Der Staat wählt überall die besten Plätze aus, gibt die besten Gründrisse und die besten Materialien zum Aufbau dieser Werkhäuser oder vielmehr Werkpaläste, er allein weiß jedesmal diejenigen Gewerke zu verknüpfen, welche getrennt nicht gut bestehen können. Da er, der Herr über alles, auch keine Ausgabe scheut, so sind seine Unternehmungen mit dem glänzendsten Erfolge gekrönt. Er vermag es, jeden Zweig bis in Kleinste zu vervollkommnen, die besten Vorschläge nach langem, reiflichsten Prüfen anzunehmen, und alle übrigen abzuweisen. Er macht sofort die guten Neuerungen bekannt und führt sie ein. Er bildet in Werkschulen seine Arbeiter, er übt sie theoretisch wie praktisch, er bezahlt sie ﴾nicht mit Geld, welches bekanntlich bei den Ikariern nicht vorhanden ist, sondern﴿ in Naturalien. Er endlich ist der Generalhaushalter und Hausmeister im Reiche, denn er sammelt die Produkte in seinen Magazinen und teilt sie von dort an die Arbeitenden, seine Söhne und Töchter aus. Dieser Staat die Nation selbst, durch das Komitee der Industrie dargestellt. Man muß schon jetzt die ungeheuren Vorzüge dieses Organismus einsehen; welche Ersparnis an Zeit, Mühe, Kraft, welche Tüchtigkeit sich dadurch gewinnen läßt, ist wahrhaft bewundernswert. Jeder Ikarier und jede Ikarierin übt irgend eine Hausbeschäftigung oder Kunstfertigkeit oder Profession aus, die vom Gesetzbuch bestimmt ist. Die jungen Männer beginnen das Arbeiten mit dem achtzehnten, die jungen Mädchen mit dem siebzehnten Jahre. Früher kann man sie nicht dazu nehmen, da sie ihren Körper ausbilden, ihre Erziehung abmachen müssen. Im fünfundsechzigsten hört der Greis auf, im fünfzigsten die Frau, wenn sie es wünschen; doch ist die Arbeit so erleichtert, daß nur wenige Personen jenes Alters sich zurückziehen, fast ohne Ausnahme fahren sie fort, ein Geschäft noch weiter zu betreiben. Krankheit macht natürlich arbeitfrei, in schweren Fällen wird aber, um allem Mißbrauch vorzubeugen, erheischt, daß der Patient sich in den öffentlichen Krankenpalast, das sogenannte Hospital, führen lasse. Jeder Arbeitende kann übrigens in besonderen gesetzlich bestimmten Umständen, und unter Bewilligung seiner Mitarbeitenden, einen Urlaub erhalten. Die ikarische Arbeit ist leicht, angenehm; die Verordnungen haben stets den Zweck vor Augen; niemals ist ein so gerechter milder Arbeitsmeister in der Welt gesehen worden, als der ikarische Staat ist. Maschinen sind hier ins Endlose vervielfacht und sehr nahe der Vollkommenheit gebracht. Zweihundert Millionen Pferde oder dreitausend Millionen Menschen werden dadurch ersetzt; diese Maschinen haben die gefährlichen, ekelhaften und langweiligen Arbeiten übernommen. In diesem Punkte zeichnet sich Ikarien am glänzendsten aus; gerade auf die schlimmen, langweiligen, ekelhaften Geschäfte hat es seine Sorgfalt in der Art gelenkt, daß es sie mit den größten Vorkehren umgibt und unschädlich für Leib und Seele zu machen weiß. Kein Arbeitender gebraucht z: B. seine Hände, um einen gefährlichen oder ekelerregenden Gegenstand anzufassen.
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Die Ikarier glauben, daß Geistesüberlegenheit ein Naturgeschenk ist, und man durch nichts in der Welt demjenigen Menschen wehe tun soll, der nicht diese Geistesüberlegenheit besitzt. Im Gegenteil, solche Naturversehen, Naturmängel, Naturfehler, Naturungleichheiten muß die Gesellschaft vernunftsvoll ausfüllen, ausgleichen, gütig ausbessern, damit der arge Unfug des leidigen Zufalls möglichst verschwinde; der Geistesüberlegene hat ja schon lediglich dadurch etwas Großes vor den Übrigen voraus, denn er fühlt den Segen und die  i n n e r e  Macht seines höheren, reicheren, stärkeren Geistes. Man wäre rasend, wollte man diese Hoheit, die ihm keiner raubt, noch erhöhen durch äußerliche Erhöhungen, Vorrechte und Hervorhebungen. Wenn noch eine Bevorzugung gälte, so müßte man sie demjenigen geben, der mühevoller arbeitet als andere, doch geschieht das auch nicht. Soldes Ermutigen brauchen die Ikarier nicht. Der Arzt sieht sich geehrt, geachtet; weshalb sollte er sich ärgern, wenn der Schuhmacher es desgleichen ist? ~ Hiermit steht übrigens keineswegs im Widerstreit, daß dem Arbeitenden, der sozusagen über seine Pflicht arbeitet, oder der eine anerkennenswürdige Geschäftsverbesserung, oder eine Entdeckung, die der Rede wert, aufbringt, einen besonderen Beweis der Nationalachtung, öffentliche Auszeichnungen, ja selbst die Ehrerbietung des gesamten Volkes, nach genauester Prüfung und Aburteilung, zuteil wird. ~ Faulenzer gibt es nicht, denn teils ist das Arbeiten leicht und der Arbeitende sieht, daß sein Bemühen etwas schafft, was dem Vaterlande, der Mitbürgerschaft, und folglich auch ihm und seiner Familie zugute kommt; teils auch ist der Mensch durch die früheste Erziehung, durch die fortdauernde Zucht und Gewohnheit, durch das Beispiel und durch seine Bildung dahin gelangt, Trägheit und Müßiggang für so niederträchtig, unmoralisch, menschheitschändend anzusehen, wie den DiebstahI in anderen Ländern.
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Arbeiten mußte man in der ersten Zeit der Republik sehr lange, an achtzehn Stunden manchmal, aber das ist jetzt längst vorbei, und heute arbeitet man nur noch im Sommer sieben, im Winter sechs Stunden, nämlich von sechs oder sieben früh bis ein Uhr Nachmittags. Der Staat wird dieses noch mehr verringern. Es unterliegt keinem Zweifel, daß neue Maschinenerfindungen an Stelle der arbeitenden Menschen treten, oder auch wenn die Verminderung in dem zum Fabrizieren Notwendigen, z. B. in den Bauten, einen größeren Teil Menschenkraft überflüssig macht. Indessen ist andererseits zu bedenken, daß wenn einige Industrien abnehmen, doch bald wieder andere in ihren Platz treten oder gar ganz neue hinzukommen, wie z. B. letztes Jahr, als ein neues Möbel erfunden worden, welches in sämtliche Behausungen der gesamten Bevölkerung der Republik gestellt werden mußte, und zu dessen Verfertigung in hinreichender Menge, nicht weniger als hunderttausend Arbeiter verlangt wurden. Da vermehrte sich die allgemeine Arbeitszeit um fünf Minuten. Die Frauenzimmer tun alle Wirtschaftsarbeiten im Hause, von fünf oder sechs Uhr früh bis halb neun; von da ab bis ein Uhr arbeiten sie in ihrer Profession in den Werkstätten. Ausgenommen vom Arbeiten in diesen Nationalwerkstätten sind natürlich alle Schwangeren und diejenigen, welche Kinder säugen; desgleichen alle Familienmütter, oder richtiger ausgedrückt, diejenigen Hausfrauen, welche an der Spitze einer ganzen Familie stehen, denn der Staat meint, das Hauswesen und eine Familie in Ordnung halten, sei ebenfalls eine gemeinnützige, dem großen Allgemeinen zu Gut kommende Beschäftigung.
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Bis zum achtzehnten Jahr genießen die Kinder einen Elementarunterricht in allen Wissenschaften, jedes lernt Zeichnen und Mathematik, jedes bekommt allgemeine Übersicht über die Gewerbe und Künste, bekommt Kenntnisse von den Rohstoffen des Tierreichs, Pflanzenreichs und von der Maschinerie. Man begnügt sich aber nicht bloß mit theoretischem Belehren; nein, man fügt dazu die Praxis und gewöhnt die Kinder in den verschiedenen Werkstätten, den Hobel, die Säge, die Feile usw. zu führen; das ist dem jugendlichen Körper heilsam, ist für den Geist ein Erholen und ist für die Gemeinschaft nützlich. Auf solche einfache Art wird es dem Jüngling nicht sauer, sich ein Gewerbe zu wählen, denn er hat durch das Handhaben der Instrumente bereits eine vor-läufige Übung sich angeeignet. Jedes Jahr veröffentlicht in jeder Gemeinde des ganzen Reichs die Staatsmacht eine Liste, worauf die Zahl der hier für jedes Geschäft notwendigen Arbeitenden verzeichnet ist, und ladet die jungen Leute von achtzehn Jahren zum Geschäftswählen ein. Bei Konkurrenz wird nach Prüfungen und Urteilspruch der Geschworenen verfahren, die Geschworenen sind in diesem Fall keine Andern als eben die Konkurrierenden. Somit wird an einem und demselben Tage im ganzen Lande jedes Geschäft mit Arbeitern versehen. Alle Werkstätten füllen sich aufs Neue. Dies ist alljährlich in der dem Revolutionsfeste vorhergehenden Woche. Von diesem Augenblicke hebt für die Jünglinge der spezielle Unterricht im Geschäft an; er ist natürlich an Dauer nicht immer gleich. Es versteht sich, daß er theoretisch-praktisch ist. Der theoretische Teil begreift die geschichtliche Entwicklung Nationen in Rede stehenden Gewerbes durch die Epochen und Nationen der Weltgeschichte hindurch, und die Wissenschaft, auf die sich dasselbe stützt; der praktische Unterricht geschieht in der Werkstatt, wo der junge Mensch die ganze Bahn, vom Lehrburschen ab,  durchzumachen hat. Das Gleiche geschieht für die jungen Frauenzimmer; man lehrt ihnen die Hauswirtschaft, weibliche Industrie, und läßt sie sich eine Profession im siebzehnten Jahr aussuchen. Alle Nachteile der europäischen, oder überhaupt der Geldprofessionen sind durch das ikarische Industriewesen völligst aufgehoben, alle Vorteile bewahrt und vermehrt. Man hat auf diese einfache Manier stets soviel Arbeitende als man braucht, stets am rechten Ort, nie zu viele, nie zu wenige, man hat keine Plage mit Privatwerkstätten, die den Hausbewohnern lästig würden; keine Privatläden; keine Kommerzbillette, keine Bankrotte, keine gezwungenen Ausverkaufe. Die Häuser sind somit lediglich zur Beherbergung der Familie bestimmt; die Nationalwerkhäuser sind nützlich und sind schön gebaut, sodaß sie zur Verschönerung der Stadt beitragen. Es kommen keine jener uralten Schlechtigkeiten mehr vor, die darin z. B. bestanden, daß der Schlosser im neuen Hause das Holz der Tür, die Farbe usw, verdarb, um dem Maler und dem Tischler abermals etwas zu verdienen zu geben; auch kann weder zu rasch noch zu langsam gearbeitet werden, da jeder Mitarbeitende gleichsam für sich und die Seinigen das in Rede stehende Stück arbeitet. Jeder Bürger, der Handwerker ist, trägt somit das unauslöschliche Bewußtsein der Würde und betrachtet sein Geschäft als öffentliches, als Staatsamt, gerade so wie jeder ikarische Beamte sein Amt als ein Gewerbe, eine Arbeit anzusehen gelernt hat.
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Da nun der Feldbau als die unentbehrlichste der Künste angesehen wird, so will die Republik, daß alle Bürger im Notfall das Feldbauen kennen, und alle darum so erzogen und unterrichtet werden, daß sie zu diesem Berufe sich eignen. Die dem Feldbauer notwendigen Kenntnisse sind überdies als solche betrachtet, die dem Bürger jeden Standes notwendig sind. Aus dieser Ursache werden alle Kinder in den Anfangsgründen des Feldbaus unterrichtet; und da man immer so viel als möglich der Lehre die Übung beifügt, so werden die Kinder fast täglich aufs Land geführt, um dort die Erzeugnisse der Erde kennen zu lernen und den Landarbeiten zuzusehen. Das sind ebenso angenehme als heilsame und lehrreiche Spaziergänge für sie. Die stärksten darunter, die ihr vierzehntes Jahr erreicht, werden sogar als Gehilfen eingeführt, um bei irgend einer leichten Arbeit mitzuwirken; die Steine z. B. aus dem Felde zu suchen, oder bei der Ernte zu helfen usw.; und diese Arbeiten gereichen ihnen zu einem wahren Vergnügen. Im siebzehnten oder achtzehnten Jahre steht es dem Kinde des Landmanns frei, ein anderes Gewerbe zu lernen, wenn eine städtische Familie es zu sich nehmen will, so wie  der Sohn eines Städters Landmann werden kann, wenn man ihn in einem Meierhofe aufnimmt, Die Söhne der Landbewohner ziehen jedoch meist vor, die Erde zu bauen wie ihre Väter. Jene jungen Leute nun, welche sich der Landwirtschaft widmen wollen, werden ein Jahr lang durch besonderen Unterricht und Übung dazu gebildet, und vollenden ihre Lehrzeit auf dem Gute ihres Vaters, wonach sie gewiß so vollkommene Landwirte sind, als es möglich ist. Der Landmann kennt alle Sorten Metalle, Steine und vorzüglich Erden; ihre Bestandteile und verschiedenen Eigenschaften; alle Erzeugnisse des Bodens und ihren Nutzen; alle Werkzeuge und ihren Gebrauch und Vorteil; ferner was die Jahreszeiten, die Winde, die verschiedenen Witterungszustände und die Mittel sie zu mildern und sich davor zu schützen, betrifft. Der Landmann kennt zugleich alles, was die Ernte, Traubenlese u. dergl. angeht, und überdies die Bereitung der Früchte zu Wein, Apfelwein etc. Keinem ist die Kenntnis der schädlichen wie der nützlichen, der wilden wie Haustiere noch der tierischen Erzeugnisse, fremd. Die Tochter der Landmanns lernt und kennt eben so gut, was sie in Feld, Hof und Garten bestellen kann; besonders, was die Milch, das Geflügel, Gemüse, Blumen und Obst anbelangt. Da jeder Landesbezirk oder jede Gemeinde ihren eigenen verschiedenen Boden besitzt, die einen z. B. Wein- die andern Getreideland, so nimmt man in ihrer Schule darauf besonders Rücksicht. Da jeder Meierhof seine besondere ihm ganz eigene Bodenbeschaffenheit und Lage hat, ist der Besitzer desselben hauptsächlich in seinem Wirken auf diese angewiesen, und erhält den Unterricht dafür. Bei solcher Ausbildung braucht man nicht über die Kenntnisse und Geschicklichkeiten der ikarischen Landwirte und -wirtinnen zu erstaunen. Auch darüber darf man sich nicht wundern, wie sie soviel zu lernen vermögen, denn Kinder oder junge Leute bis zu ihrem achtzehnten, neunzehnten Jahre können sich vieles erwerben; besonders da die Bildung, von ihrer Geburt an, mit größter Sorgfalt geleitet wird. Überdies hört der Unterricht der Landbebauer nicht mit der Schule auf, sondern dauert, wie der aller Gewerbsleute und Bürger, fort und nimmt zu bis an ihr Lebensende. Der Jüngling wie das Mädchen findet nach dem Austritt aus der Schule und beim Eintritt in die Meierei, die erfahrensten und freundlichsten Lehrer an den Eltern, Oheimen, Tanten, Brüdern und Schwestern. Sie finden weiter, vom Staate aufs herrlichste gedruckt; alle Bücher und Abhandlungen, in welchen sie gelernt haben, ein weitläufig erklärendes landwirtschaftliches Wörterbuch, eine Menge Schriften über Gärtnerei, Blumenzucht etc., zuletzt die Zeitung für Landwirte, in welcher sie jede neue Entdeckung und Vervollkommnung finden, die in dem Bereiche der ganzen Republik gemacht worden. Wieviele Beobachtungen, Erfindungen, Verbesserungen müssen aus einer so zahlreichen Bevölkerung aufgeklärter Feldbauer hervorgehen, die alles untersuchen, alles beleuchten.
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Die Religion ist nicht mehr mit Staat und Regierung gleich bedeutend, sie ist gänzlich davon getrennt, daher sie nicht die geringste bürgerliche Gewalt mehr besitzt, und in keinem Falle sich von dem Gehorsam gegen das Gesetz loszumachen vermag. Dagegen mischt sich das Gesetz nur in die Religion, um die Glaubensfreiheit zu schützen und den öffentlichen Frieden zu verhalten. Es sucht alles Gute aus ihr zu ziehen, das sie zu leisten imstande ist, und allen Übeln zu begegnen, dazu sie nur allzu oft die Veranlassung gewesen. ~ Die allgemeine oder Volksreligion, die Wahrheit zu gestehen, ist ein reines System der Sittenlehre und der Weisheit , und hat keinen weitern Nutzen, als die Menschen zu brüderlicher Liebe gegeneinander zu stimmen, indem sie ihnen als Regel ihres Betragens die folgenden drei Grundsätze vorschreibt: Liebe deinen Nebenmenschen wie dich selbst. Füge keinem andern das Böse zu, was du nicht wolltest, das er dir zufüge. Erzeige den andern alles Gute, das du dir selbst wünschest. ~ Der Gottesdienst ist äußerst einfach. Ein jeder preist, bewundert, betet die Gottheit an, dankt ihr im Innern seines Hauses nach seinem Gefallen. Die Ikarier haben auch Tempel zu ihrer Belehrung und zu einer allgemeinen Anbetung. Allein sie glauben, daß die Gerechtigkeit, der Brudersinn und folglich die Unterwerfung unter den Gesamtwillen, die Liebe des Vaterlandes und der Menschheit, der der Gottheit angenehmste Dienst sind. Sie glauben, daß der, welcher der beste Vater, der beste Sohn, der beste Bürger zu sein versteht, auch die Gottheit am besten anzubeten und ihr zu gefallen weiß. Vor allem denken sie, daß echte Liebe und Verehrung des Weibes, dieses Meisterstücks der Schöpfung, sich mit echter Gottesverehrung sehr wohl verträgt und dazu stimmt. Sie denken, daß die Entbehrungen und Selbstquälereien, welche ein schwärmerischer Sinn sich auferlegen könnte, Vergehungen an Gottes Güte sind, und daß die freie Natur der schönste Tempel des höchsten Wesens ist. Der Gottesdienst ist ohne alle Zeremonie und äußere Übung, welche zu Aberglauben oder Priesterherrschaft führen könnte. Keine Fasten, keine Abtötungen, keine freiwillige oder auferlegte Buße! ~  Begeht jemand ein Unrecht, so bestraft er sich damit, daß er es vergütet und den Eifer, seinen Mitmenschen oder dem Vaterlande nützlich zu sein, verdoppelt. Man würde es lächerlich finden, in einer fremden oder nur unbekannten Sprache zu beten, und dumme, öffentliche Gebete herzumurmeln, die nicht aus eines jeden Herzen kämen. Die schönen, besonders gesunden und bequemen, aber bilderlosen Tempel dienen hauptsächlich zur Predigt und zum religiösen Unterricht. Die Priester besitzen weder weltliche noch geistliche Gewalt. Sie können weder strafen noch lossprechen, sind bloß Prediger der Sitten und der Tugend, religiöse Lehrer, Räte, Führer, tröstende Freunde.
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Das Priestertum ist wie die Arzneikunst ein Gewerbe oder wenn man so will, ein öffentliches Amt. Mit achtzehn Jahren, nach Beendigung der allgemeinen Erziehung, wo jeder junge Mensch sich einen Stand wählt, besteht der, welcher sich dem priesterlichen geweiht, eine Prüfung, damit man wisse, ob er die erforderlichen Kenntnisse, Anlagen und Eigenschaften besitze. Wenn er zur Bewerbung zugelassen wird, studiert er sofort Wohlredenheit, Sittenlehre, Weltweisheit und Religion, und befaßt sich zugleide mit dem Unterricht und der Erziehung der Jugend. Er verheiratet sich vor dem achtundzwanzigsten Jahre, um so viel als möglich gegen den Sturm der Leidenschaften gesichert zu sein, und damit man urteilen könne, ob er in jeder Lage des geselligen Lebens den Andern zum Muster zu dienen vermöge. In seinem fünfundzwanzigsten Jahre besteht er eine zweite Prüfung. In dieser überzeugt man sich von seiner Würdigkeit und Fähigkeit, denen Rat und Trost zu erteilen, die dessen bedürftig sind; denn obgleich die Ikarier zu Menschen, wert dieses Namens, erzogen werden, obgleich Eltern und Freunde sehr fähig sind, ihren Kindern und Freunden zu raten oder sie zu trösten, so ist doch auch die Stimme des Priesters bei besonderen Gelegenheiten nicht unnütz, und wirkt um so kräftiger, als man sie seltener vernimmt. Da nun der Priester im Unglück ein Tröster und Führer, der Jugend ein zweiter Vater, seinesgleichen ein Bruder, den übrigen ein Freund sein soll, so wird eine ausgezeichnete Klugheit, Weisheit, Geduld und die Gabe zu überzeugen und zu überreden, von ihm erfordert. Wenn diese letzte Prüfung zugunsten des Bewerbers ausfällt, tritt er in den Rang der Kandidaten, und unter ihnen wählen die Bürger jeder Stadtabteilung ihren Priester. Aber sie wählen ihn nur auf fünf Jahre, um frei zu sein, den entfernen zu können, dessen Tugend nicht beständig würdig befunden worden, andern als Muster vorzuleuchten, denn die Tugend ist es ganz besonders, die man von ihm fordert. Je mehr er geehrt wird, um so gewisser wird sie erwartet, und je tugendhafter er ist, um so mehr verehrt man ihn.
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Manifest Ikars, die Gemeinschaft der Güter betreffend. Teure Mitbürger! Ihr seid bisher elend und unglücklich gewesen. Auch ihr Reichen wart schwerlich froh und zufrieden! Diese Unbehaglichkeit, dieses Elend kommt aus der Vermögensungleichheit, dem Gelde, dem Eigentum, aus diesen Hauptgebrechen unserer gesellschaftlich-staatlichen Verhältnisse, die so alt wie das Menschengeschlecht sind und die immerdar fortwuchern und Gift streuen werden, wenn wir sie nicht mit den Wurzeln ausreuten. Ist nun aber nicht die Gemeinschaft der Güter das einzige Mittel dagegen? Und kann sie unmöglich sein, sobald eure Regierung mit euch vereint Hand ans Werk legt? Ja; es wird euch zieren, wenigstens den Versuch nicht zu scheuen, obwohl er manche Schwierigkeiten bietet. Und ist es nicht klar, daß keine Stunde verloren werden dürfe, damit die Länge der Zeit; in welcher das hohe Ziel erreicht werden kann, sich verkürze? Ihr habt Großes vollbracht. Den Feind habt ihr zerschmettert, der euch noch vor wenigen Tagen belästigte; aber wollt ihr jetzt die Hände sinken lassen und den Geist einschläfern, jetzt gerade, wo ihr reine Bahn vor euch habt? Das Schicksal eurer Nachkommen und der ganzen Menschheit wie das eurige, steht nun in eurer Gewalt; zaudert nicht! Eure Vorfahren, hatten nie eine solche Gelegenheit zum Schaffen erhabner Dinge wie sie euch jetzt zuteil geworden. Prüfet genau unsere Frage, werte Mitbürger! Besprecht sie überall, während eure Deputierten sich vorläufig darüber entscheiden, um sie nachmals eurem Gutachten zu unterbreiten. In der Gemeinschaft gibt es keine Armen, keine Müßiggänger mehr; keine Verbrechen und Strafen; keine Abgaben und Polizei; keine Prozesse, keine Qual und Sorge. Die Mitbürger sind Brüder und Freunde, alle glücklich und gleich glücklich. Wenn ihr, wie ich, davon überzeugt seid, verschwendet keinen Augenblick, nehmt, sobald das Prinzip euch gefällt, keinen Anstoß an der Mühe des Ausführens. Aber im Namen eures Wohles, des Wohles eurer Familien und der Menschheit, bitte ich euch, übereilt euch nicht, auf daß die erhabenste Angelegenseit nicht durch Hastigkeit Schaden leide. Weil die Gemeinschaft nicht ohne Umstände sofort verwirklicht werden kann, dies ist wenigstens mein Dafürhalten, möge mit Überlegung, mit Geduld verfahren werden. Geduld, ja freilich Geduld ist nötig, und Vertrauen in die Deputierten, deren Handlungen ihr zudem stets kritisieren und, mißbehagen sie euch, widerrufen könnt. Gewiß wollt ihr auf das Interesse des Landes ebenso achten wie auf das eigene Privatinteresse; was kann es euch demgemäß, antun, wenn die große Sache erst nach einigen Jahren zu Stande kommt? Was lange währt, wird gut; dieses Sprichwort möge hier seine richtige Anwendung erleben. Gesetzt, ihr dächtet lediglich an euer Privatglück: so möget ihr euch denn mit demjenigen vorläufig begnügen, welches heute möglich ist. Allerdings werdet ihr minder glücklich als eure Kinder, aber ihr seid glücklicher als eure Väter. Ihr Reichen werdet, hoffe ich, zum Wohle des Vaterlandes beitragen, und ihr Armen werdet nicht vergessen haben, daß es sich vor allem um die Ruhe und die Sicherheit eurer bisher unglücklichen Söhne und Töchter nunmehr handelt... Teure Mitbürger: das Menschengeschlecht erwartet von euch eine unerhörte Großtat; es richtet die Augen auf euch! Ihr werdet doch wohl; so hoffe ich zuversichtlich, der erhabenen Rolle entsprechen, die euch gegeben ist?
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Ikar an die Priester und die Christen. Diener Jesu Christi! ich, der Diktator, wünsche euer Glück nicht weniger als das der übrigen Bürger. Ihr werdet eure Kirchen und Kapellen behalten, und könnet Gott verehren nach wie vor unter dem Schutz der öffentlichen Macht. Predigt also Sittlichkeit und Recht , ihr Diener und Sendboten jenes Gottes, der euch darin mit Beispiel voranging. Predigt nicht nur in Worten, sondern auch in Taten! Laßt euer Wort ertönen zu gunsten der Armen; denn war es nicht Christus, der am schärfsten wider die Pharisäer und Reichen sprach? der am deutlichsten seine Liebe zu den Duldenden an den Tag legte? ~ Predigt Brudertum , Gleichheit . Der Gott, zu dem ihr betet, ist in den Tod gegangen um die Menschen zu befreien und jegliche Sklaverei, wie sie auch heiße, zu vernichten. Predigt Gütergemeinschaft , denn Jesus Christus hatte sie schon im Kreise seiner Jünger eingeführt und allen Menschen dringend empfohlen. Oder waren die Jünger Jesu nicht in der Gemeinschaft? und haben nicht auch die christlichen Anhänger während der ersten Zeit nach der Hinrichtung ihres Meisters in Gemeinschaft gelebt? Und spätere Jahrhunderte sahen tausende von feurigen Christusdienern, tausende von frommen Arbeitern in religiöser Gemeinschaft, so dem Worte nach als der Tat. Wahrlich, wolltet ihr die Gütergemeinschaft von euch weisen, ihr wäret keine rechten Christen! Und ich glaube demnach, da Christus für Widergeburt des Menschen durch die Gütergemeinschaft sein Blut vergossen hat, so werdet auch ihr dem großen Werke nicht widerstreben, und gern den Dank dieser Erde verdienen, um dereinst nach eurem Hinscheiden auch der himmlischen Belohnung teilhaftig zu werden!
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GRUNDZÜGE DES GESELLSCHAFTSORGANISMUS IM ÜBERGANGE
1. Während der fünfzig Jahre bleibt das Privateigentumsrecht ungekränkt, und die Arbeit ist ins Belieben gestellt; erst nach Ablauf dieser Frist wird jeder Bewohner, jede Bewohnerin der Republik zum Ausüben eines Geschäfts sich zu verpflichten haben.~
2. Die jetzigen Besitzstände werden respektiert, so ungleich sie auch sind; aber von heute ab beginnt ein System, wodurch diese Ungleichheit abnehmen wird.
3. Jeder Besitzende behält sein Eigentum noch, unterwirft sich jedoch gewissen Änderungen betreffs der Erbschaften; Schenkungen, Vermächtnisse und Ankäufe für die Zukunft.
4. Kein Einwohner, der über fünfzehn Jahre alt, wird zum Arbeiten verpflichtet, aber wer noch nicht fünfzehn Jahre hat, bekommt eine Gewerbserziehung, die ihn befähigt ein Geschäft auszuüben, sobald die Gemeinschaft beginnt.
5. Vom heutigen Tage, an wird das Gesetz auf Verbesserung des Looses der Armen und Verminderung des Überflüssigen sehen.
6. Die Summe der Steuern kann nicht verringert werden, wohl aber sind sie anders zu verteilen und an zuwenden als bisher.
7. Die Gegenstände des Notwendigen, deren sich der Arme und der Arbeiter bedient, zahlen keine Steuern mehr.
8. Die Gegenstände des Luxus zahlen fortschreitende Steuern.
9. Jede unnütze öffentliche Ausgabe fällt weg.
10. Jeder öffentliche Beamte wird vom Staatsschatz besoldet, und zwar hinreichend, aber nicht übermäßig.
11. Der Arbeiterlohn wird geregelt.
12. Die Preise der zum Leben unumgänglich erforderlichen Dinge werden taxiert, so daß Bauer, Handwerker und Eigentümer hinfort vom Einkommen ihrer Arbeit und ihres Eigentums bestehen können.
13. Fünfhundert Millionen werden jährlich verwendet, um den Arbeitern Arbeit, den Armen Wohnung zu verschaffen.
14. Zu diesem Zwecke werden die Vorbereitungsarbeiten der Gemeinschaft sofort begonnen.
15. Die Truppenzahl wird, unter Auszahlung einer Entschädigung, möglichst vermindert.
16. Bevor die stehende Armee gänzlich abgeschafft werden kann, läßt man durch sie, unter besonderer Löhnung, Arbeiten des öffentlichen Nutzens vollziehen.
17. Die Staatsdomäne wird, wo möglich, auf der Stelle zur Anwendung der Gemeinschaft bestimmt; man schafft Städte, Dörfer; Meiereien, und übergibt sie einem Teile der Armenklasse.
18. Es sind die nötigen Mittel zu treffen, um der gezwungenen Ehelosigkeit Schranken zu setzen und die Bevölkerungszahl zu vermehren.
19, Die Ehen der Arbeiter sind zu erleichtern.
20. Erziehung und Unterricht der jungen Generationen sind ein Hauptaugenmerk der öffentlichen Sorgfalt.
21. Zweck hierbei ist, Gesellschaftsmitglieder oder Arbeiter heranzubilden, die zur Gemeinschaft fähig.
22. Dafür sind hundert Millionen, wenn es nötig ist, jährlich auszugeben.
23. Die Lehrer sind aller Weise, samt ihren Familien, auf Kosten der Republik sorgenfrei zu erhalten; sie sind die wichtigsten unter allen Staatsbeamten.
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Erwiderung auf die gegen das Gütergemeinschaftssystem erhobenen Bedenken. Die Gemeinschaft ist aus einem zweifachen Grunde annehmbar, sie hat nicht die Nachteile des Privateigentums, und gewährt Vorteile, die jenem abgehen. Nicht die Nachteile; denn sie vertilgt den verruchten Eigennutz, sie verschmelzt das harte in sich verstockte Privatinteresse mit dem allgemein Interesse, sie erlöst folglich die Menschen von der krankhaften, feindseligen Spannung des Einzelnen gegen die andern Einzelnen. Sie verknüpft alle in eine riesige Assoziation, vergesellschaftet alle in liebevoller Gesinnungseinheit, während der Egoismus, d. h. das alleinige Dichten und Trachten nach dem Nutzen des Ich, die Menschen auseinanderhielt, vereinzelte. Die Gütergemeinschaft hat ferner das, was im Privateigentum Gutes ist; in der Tat erfreut sieh der Gemeinschaftler ungestört des Genusses eines Hauses, Gartens, der Kleidung, der Vergnügungen, der Bildungsanstalten, usw. Nur ist ihm ein Recht genommen, das wahnwitzige Recht des Eigentümers mit seinem Eigentum zu schalten und zu walten nach Lust und Belieben, Mißbrauch damit zu treiben und durch allerlei tolle Launen die Gesellschaft zu schädigen. Endlich bietet die Gemeinschaft ganz besondere Vorteile. Nur sie schafft reine Gleichheit, nur sie schirmt gegen Zufälligkeiten und Mißgeschick. Das Eigentum wird von Don Antonio heilig genannt. Wenn nun der Besitz eines Einzelnen heilig ist, warum sollte es nicht der Gemeindebesitz mehr sein? Die Gütergemeinschaft muß ein ebenso Heiliges in Don Antonios Augen sein, wenn er folgerichtig denken will. Es ist unbegreiflich, wie er das persönliche geteilte Eigentum göttlich, das mehreren Personen gemeinsam gehörige und unteilbare aber teuflisch oder mindestens eine Ausgeburt menschlichen Wahnsinns nennen kann. Man kann noch hinzufügen, daß die Gesetze des Eigentums in jeder Nation und zu jeder Zeit andere gewesen, es ist ganz falsch zu behaupten, das Eigentum sei ein festes, ewiges. Tausende von Völkern haben gelebt, und mit tausend, verschiedenen Eigentumsformen. Übrigens, wenn man sich auf einen Streit einläßt, ist nichts leichter als darzutun, daß die Gütergemeinschaft göttlich, heilig sei. Die Menschen haben den natürlichen Geselligkeitstrieb, wie Ameisen und Bienen; verstreut, auf das bloße Ich beschränkt, bringt der Mensch es doch zu nichts als zu Verwirrung, Haß und Neid. Ferner, man sehe auf die allgegenwärtigen Quellen des Lebens, auf Licht, Wärme, Luft, Elektrizität, Magnetismus, diese sind wahres Gemeingut, das Wasser der Wolken und des Bodens desgleichen. Dies alles kann nur Privateigentum werden, insofern sich jedes lebendige Geschöpf soviel als es bedarf, davon zueignet, in seinen lebendigen Leib aufnimmt. Woher füglich geschlossen werden kann, die Natur des Lebendigen sei eben die, daß in den Grundstoffen des Lebens Gemeinsamkeit herrsche. Ein altes Sprichwort heißt: Die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte, das will sagen: sie ist für alle. Wenn wir nun die Vernunft gebrauchen, ergibt sich, daß es mit der Erde, dieser „allgegenwärtigen Mutter der Dinge", wie Dichter der Vorzeiten sich ausdrückten, nicht anders sein sollte. Bei den Völkern der Urzustände ist Gemeinsamkeit der Bodenbenutzung gewesen, das unterliegt keinem Zweifel. Bevor sie Landwirtschaft anfingen, so lange sie also Jäger und Hirten, so lange sie Hirtenvölker waren, konnte von keiner Abmessung und Abzäunung bestimmter einzelner Grundstücke die Rede sein; das sieht man noch heute bei manchen in der Entwicklung zurückgebliebenen wilden Stämmen Afrikas, Amerikas und Asiens. Tausende von Jahren ist diese rohe, wüste Art der Gütergemeinschaft des Bodens und der Luft getrieben worden. Solch ein wilder Stamm war eine geschlossene Gesellschaft, eine feste Gemeinschaft, Futter für das Vieh, Nahrung für die Menschen, Beute, ja selbst Frauen waren gemeinsam, bis durch die Ehe eine Ordnung in das Geschlechtsleben kam. Völlig verkehrt ist es zu behaupten, die Gemeinschaft sei spurlos verschwunden. Sie erhielt und erhält sich noch unter mancherlei Formen, z. B. in jedem Staate gab es von jeher, trotz des Privatwesens, ein Gemeinwesen, bestehend aus Grundstücken, Weiden, Waldungen, Teichen, Wegen, Flußfurten, Häfen zum Nutzen und Frommen aller Einwohner; gab es Brunnen, Spazierplätze, Tempel, Theater, Spitäler, Schulen, Bäder, die nicht Privatgut geworden. Deutet nicht auch der Name „Gemeinde" auf den in Rede stehenden Punkt zurück? Eine ziemliche Menge von Institutionen ist desgleichen in die Welt des Privateigentums aufgenommen, die den Stempel der Gemeinschaftlichkeit tragen, z. B. Brief- und Personenpost, Märkte, Magazine, Bazars, Bäckereien, Weinkeltern, Festlichkeiten, Schauspiele usw. Ja, dies geht so weit, daß selbst die Gesetzgebung sich seiner nicht ganz erwehren konnte, und man hat z. B. vorgeschrieben, daß es bei Schiffbruch, Überschwemmung, Feuersbrunst beobachtet werde. Dieser Umstand ist wichtig, er beweist, daß der Eigentumsstaat nicht ganz ohne die Gemeinschaftlichkeit sich behelfen mag; so stark dringt sie sich dem Menschen auf. Was die kirchliche Kommunion, was die zahllosen Gemeinschaften der religiösen Orden betrifft, so genügt es, ihrer hier nur mit einem Worte zu erwähnen. Nichtssagend ist übrigens der Einwurf, die Nationen hätten sich gleichsam stillschweigend gegen dies Prinzip des Gemeinschaftswesens erklärt, indem sie dem Prinzip des Privatwesens in Politik und Ökonomie und Recht den Vorzug eingeräumt! Einerseits darf man an Sparta, Peru und Paraguay erinnern, wo Gemeinschaftliches überwiegend auftrat, andererseits ist zu erkennen, daß die Menschheit die Bahn von Jahrtausenden durchlaufen hat, ohne, wenn man so sagen soll, einen verständigen Reiseplan gemacht zu haben. Sie irrte vielmehr kreuz und quer herum, taumelte von wenig Sinnigem zu Unsinnigem, von viel Unsinnigem zu wenig Sinnigem, machte hier und da eine meist zufällige Entdeckung, die sie auch ebenso leicht nicht hätte machen können, stand manchmal still, ging manchmal gar zurück, sprang dann wieder hurtig vorwärts, kurz, sie lebte im ärgsten Wirrwarr. Daher kam es denn auch, daß in den Tag hinein gewütet wurde, aufs Geratewohl geschah hier ein Fortschritt, dort ein Umweg. Die Kuhpockenimpfung, das Buchdrucken, der Dampf sind Erfindungen, die gleichsam wider den Willen der menschlichen Gesellschaft auftauchten, wenigstens hat sie sich um vorbereitende Erziehung und Bildung der drei Erfinder nicht im Mindesten bekümmert, hat ihnen die schnödesten Hindernisse in den Weg geworfen, hat das Genie und den Mut dieser erhabenen Helden verhöhnt. Man kann selbst sagen, es sei ein Unglück, daß die Menschen nicht längst und überall die Form der Gemeinschaft angenommen, wie es auch zu bedauern ist, daß die Kuhpockenimpfung nicht früher erschienen; aber soviel ist gewiß; große zivilisierte Völker werden schneller, gründlicher das neue Prinzip zur Verwirklichung treiben als kleine und unzivilisierte; heute eher als früher, und in zwanzig Jahren eher als heute. Wir dürfen der alten Weltentwicklung keinen Vorwurf machen, müssen vielmehr die Zukunft veredeln. Don Antonio hat der Gemeinschaft vorgeworfen, sie verletze Recht und Billigkeit, indem sie dem Genie nicht besser zu speisen und zu wohnen und sich zu kleiden erlaubt als der gewöhnlichen Tätigkeit. In Wahrheit, diese Anklage ist ﴾so sonderbar sie auch dem Ohre eines Ikariers klingt﴿ nicht unwichtig und verdient näher beleuchtet zu werden. Daß ein und derselbe Punkt der Betrachtung immer wiederkehrt, darüber ist sich nicht zu wundern, da alle die verschiedenen Fäden des Gewebes, mit dessen Auslegung und Auseinanderlegung man es auch hier zu tun hat, sich vielfältig berühren. Und so ist es auch mit dem jetzigen. Don Antonio erwartet eine Antwort, und er hat die Befugnis sie zu erwarten, aber sein neuer Einwurf ist bereits wiederholentlich gemacht und abgefertigt worden: Gleichwohl soll nochmals darauf eingegangen werden. Wohl hat die Anklage etwas scheinbar richtiges, solange man sie nicht tiefer erfaßt. Man kann Don Antonio eine andere Frage entgegenhalten: was würde dem Erfinder des Dampfschiffes, dem unsterblichen Fulton, seine Entdeckung helfen, wäre keine Gesellschaft da, in der sie benutzt werden kann? Und wie hätte dieser Mann seinen Geist auf den gewaltigen Grad von Schärfe und Beharrlichkeit im Studium der Naturkräfte und Maschinen erheben mögen, wenn er nicht in der vorhandenen Gesellschaft und den wissenschaftlichen Errungenschaften früherer Geister nach und nach Ausgangspunkt, Mittel und Ziel seines Strebens sich erworben? Man versetze Fulton als Säugling nach einer wüsten Insel, er hätte dort immerhin ein hohes Alter erreicht, aber gewiß nicht das Dampfschiff erfunden. Ja, durch die Bildung wird der Mensch erst ein Mensch. Und durch die Bildung, geistige wie sittliche und körperliche, wird er erst zu einer bestimmten Persönlichkeit ausgeprägt. Ideen, Gefühle, Gemütsbewegungen, Gewohnheit und Sitten, Sprache, Religion, Profession, Wissen: alles dies ist Produkt der Erziehung, ist Erzeugnis der Einwirkung, welche die Gesellschaft auf den Einzelnen übte. Das Kind ist bildungsfähig. Man nehme zwanzig Kinder aus zwanzig Ländern. Zwanzig verschiedene Erziehungen machen sie zu zwanzig sehr verschiedenen Menschen; aber setzt man dieselben in eine einzige Erziehungsweise, in der sie stets beisammen bleiben, so entsteht etwas daraus, wie man es in Ikarien sieht. Unermeßlich ist die Anzahl derer, die, richtig erzogen, große Geister, unermeßlich ist auch die Anzahl der andern, die, ohne Erziehung, jämmerliche, krüppelige geworden wären. Jedes Gesellschaftsmitglied ist der Gesellschaft verpflichtet. Jeder soll und muß ihr seinen Dank abtragen durch völlige, ernste Arbeit mit allen seinen Fähigkeiten, und den Bedürfnissen des Ganzen helfend zur Seite stehen. In der gut organisierten Gesellschaft genießt der Einzelne aber auch nach seinen persönlichen Bedürfnissen und da durch sie und auf ihre Kosten seine Anlagen und Fähigkeiten gebührlich entwickelt sind, so bleibt ihm schlechterdings keine Zulage, kein Extrahonorar, keine aparte Besoldung und keine spezielle Auszeichnung zu beanspruchen. Er bekommt , was er braucht zu Geistes und Leibesunterhalt und Bildung; er gibt, was er hat und was die Gesellschaft braucht; so geht es unaufhörlich, das ganze Leben lang, so erst werden beide quitt, was soll da noch eine besondere Belohnung? Gewährt ihm die Gesellschaft eine solche, so hat sie ihre Gründe, will dadurch das Nacheifern anspornen, seine Erinnerung verherrlichen, usw., aber es fällt ihr nicht ein, ihn speziell zu belohnen. Übrigens liegt es am Tage, der Mensch in der wahren Gesellschaft, findet Freude, unendliche Freude am Betätigen seiner Kräfte. ~ Gewerbe, Wissenschaft, Kunst, Entdeckungen gewähren dem Menschen, dessen Existenz materiell sicher gestellt ist, einen höhern reinern Genuß als Löhnung oder Belohnung. Schon in der verderbten Welt des Privateigentums sieht man ja Spuren davon, indem talentvolle oder mutige oder edelherzige Personen, ohne Belohnung zu erheischen, aus bloßem Triebe und um diesem Triebe zu genügen, sich aufopfern, zu Grunde gehen und dennoch heiter dabei sind! ~ Don Antonio hat ferner gemeint, die Gemeinschaft trete der Freiheit zu nahe. Allerdings, wenn er unter Freiheit das regellose wüste Austoben versteht, tun, was einem so ohne weiteres in den Kopf kommt, geradewegs nach dem persönlichen rohen oder raffinierten Gelüst eben! Das ist aber nicht Freiheit, das ist Frechheit. Niedermetzeln, Aufspeichern, das Aufgespeicherte verzehnfachen, den Nebenmann ausplündern und belügen, ist nicht Freiheit. Hier handelt es sich um die gerechte, die gebildete Freiheit, die sich in gebildeten und bildenden Mitteln bewegt, die ihre Gesetze sich selber aussinnt, sie sich selber vors Auge stellt und ihnen gehorsamt! Diese Freiheit ist die Selbstherrschaft und Selbstbeherrschung. Diese Freiheit ist wahr, kräftig und schön zugleich. Es ist mit wenigen Begriffen so schändlich Mißbrauch getrieben worden als mit dem Begriff „Freiheit". Wahnwitz wäre es, räsonniertest du: mir ist heiß, also will ich unbekleidet umherlaufen; oder: ich will undankbar sein; oder: ich will nichts essen in meinem Leben: oder: ich will in einem fort essen; gegen diese Verkehrtkeiten stellt sich Vernunft, Sitte und Natur. Du kannst also nur frei dich äußern in Wort und Tat, indem du dich innerhalb der Gesetze des menschlichen Wesens oder Menschtums bewegst, innerhalb der Gesetze der menschlichen Gesellschaft, und innerhalb der Gesetze der Natur, die fort und fort in Luft und Temperatur; Licht usw. auf deine Haut, Nerven, dein Gehirn, dein Blut, deine Organe einwirkt. Heutzutage heißt Freiheit oft die wütendste Leidenschaft, mit der man gegen den bestehenden Despotismus ankämpft, und dieses todeskühne Streben hat auch eine Schattenseite; es schlägt gern um in Ausschweifen, Unmaß aller Art. Wer dem Ertrinken nahe ist, packt selbst ein rotglühendes Eisen; ein verschmachtender Wanderer schlürft ekelhaftes Schmutzwasser; wer das Schwert über seinem Kopf sausen hört, greift hinein, obgleich er sich die Finger zerschneidet. Ähnliches geschieht jedesmal, wenn die Menschen sich aus ungeheurer Not erlösen wollen; sie fallen von einem Äußersten ins entgegengesetzte Äußerste. Aus der Knechtschaft zur willkürlichsten Anarchie, ist ein Sprung, der schon oft gemacht ward. Ein Volk bricht einige seiner Ketten und ruft: Freiheit! schrankenlose Freiheit! Freiheit der  Presse , denn es lag in den Zwangsschrauben der Zensur oder der Schriftstrafverordnung; Freiheit des Unterrichts , denn es hatte die Einmischerei der Finsterlinge in Erziehung und Lehrsystem zu erdulden gehabt; Freiheit der Industrie , denn es litt furchtbar durch die alten Zünfte, Innungen, Meisterschaften; Freiheit des Handels, denn es will den Monopolen, Privilegien und der teuflischen Maut entrinnen; Freiheit des Besitzes , denn es hatte lange Jahrhunderte unter der Zuchtrute der Zwingherren geseufzt, die ihm das Privatgut wegrissen und sich für alleinige Eigentümer des Landes und der Nation ansahen; kurz Freiheit, Freiheit, alles zu sagen und zu tun oder auch garnichts zu tun, denn es erhob sich zornbrausend gegen die Polizei seiner Hudler und Zertreter, die alle Augenblicke mit Verbieten und Gebieten es bis aufs Blut schikanierte. Aber du heilige schöne Freiheit! das Volk muß, dich zu erringen, allmählich zur Erkenntnis kommen, daß du nicht das dürre, schroffe Gegenstück bist zu seinen bisherigen Unfreiheiten. Erst muß das Volk wissen, daß die wahre Freiheit nur als freies Gesetz, das sich die Versammlung der gleichen Gesellschaftsglieder gibt, bestehen kann. Die Gemeinschaft, sagt Don Antonio, hat zu viele Gesetze! ~ Sehr wohl. Aber das Königtum mit dem Eigentum im Bunde, hat dieses nicht auch viele? Und gestattet es wahre, wirkliche Freiheit? Könnt ihr euch selbständig bilden, selbständig eure Kleinen erziehen, selbständig eure Angelegenheiten verwalten? Und das materielle Elend, läßt es die Elenden zum Bewußtsein, zum ruhigen Bissen einer trockenen Brotkruste kommen? Und die Landespolizei mit ihren hunderttausend Falkenaugen läßt sie euch tanzen und singen und speisen und Theater besuchen, wie ihr es möchtet? Und ein Sträußchen Veilchen 1>und ein Band von solchen Farben tragen? <1 Das Veilchen war Napoleons Lieblingsblume; es galt nach seinem Sturze als ein Abzeichen, das auf eine politische Parteigesinnung schließen ließ, die dem Bestehenden feindlich.

ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS
In Ikarien macht einer die Gesetze: nämlich das gesamte Volk.
In Ikarien vollzieht einer sie: nämlich das gesamte Volk.
In Ikarien gehorcht einer ihnen: nämlich das gesamte Volk.

Es war notwendig, auf die Einwürfe Don Antonios Bescheid zu geben, denn er ist gewiß ein aufrichtiger Freund der Menschheit. Dennoch: Es lebe die Gleichheit und die Gemeinschaft! England, Frankreich, Amerika müssen Ikarien nachkommen; sie werden es! Die Gleichheit ist keineswegs unmöglich! Sie ist auch nicht erdrückend, erkältend; die Geschichte der Welt bezeugt ihre segensvolle Fruchtbarkeit.
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Grundsätze der Gemeinschaftslehre. Welches sind die natürlichen oder göttlichen Rechte? ~ Diejenigen, welche die Natur oder Gottheit gewährt hat. Welches sind die gesellschaftlichen oder menschlichen Rechte? ~ Diejenigen, welche die Gesellschaft der Menschen gewährt. Welches sind die natürlichen Rechte? ~ Vor allem das Recht zu leben und seine sämtlichen leiblichen wie geistigen Kräfte zu bestätigen. Was heißt das Recht zu leben? ~ Darunter verstehe man das Recht, von allen Naturgütern zur Nahrung, Kleidung und Wohnung Gebrauch zu machen und sich gegen jeden Angriff zu schirmen. Was heißt das Recht alle seine leiblichen Kräfte zu betätigen? ~ Darunter verstehe man das Recht, den Aufenthalt zu ändern, zu arbeiten, sich zu assoziieren und zu versammeln, kurz alles zu tun, was einem beliebt, ohne dem Nebenmenschen zu schaden; ferner in Ehe zu leben und Familie zu haben, denn das ist offenbar für jedermann. Was heißt das Recht seine geistigen Kräfte zu beschäftigen? ~ Es ist das Recht, alle Mittel zur Bildung in Anwendung setzen zu dürfen. Haben alle Menschen die nämlichen Naturrechte? ~ Offenbar, denn ein Mensch so gut wie ein anderer Mensch hat teil am Menschentum. Ist also die Ungleichheit im menschlichen Wesen nur ein Schein? ~ Jawohl, die Menschen sind zwar verschieden an Größe, Stärke, Gesundheit, Fähigkeiten, Neigungen, aber das hat nichts zu sagen, sie sind doch allesamt Mitglieder der Menschheit. Man kann z. B. mehrere Schwache gegen einen Starken stellen, und dann ist wieder die Gleichheit ganz sichtbar. Übrigens genügt es zu wissen, daß die menschliche Vernunft ein für allemal spricht: „Wir sind alle gleich dem Wesen nach und sollen es folglich auch an Rechten sein." Ist von Natur die Erdoberfläche für alle oder nur für einzelne? ~ Für alle, denn alle leben auf ihr. Übrigens ist diese ursprüngliche Bodengemeinschaft von den Denkern anerkannt worden. Mit dem Weiterschreiten der Kultur ist eine Teilung eingetreten. Die Vernunft bestimmt aber zuletzt, inwiefern diese Teilung richtig, und inwiefern unrichtig ist. Hat also jeder gleiches Anrecht auf einen Teil der Lebensgüter? ~ Gewiß, und zwar gerade auf einen solchen Teil als er zum Existieren und zum Ausbilden seiner Kräfte, zum Befriedigen und Zivilisieren seiner Bedürfnisse und zum Wirken braucht. Es wäre daher Unsinn, z. B. alle Menschen auf ein und dieselbe Ration Speise zu setzen; der Eine hat mehr als der Andere zu essen nötig, und er darf dieses tun, sobald genug vorhanden. Hat man einmal wirklich mit Vorbedacht und Verabredung die Erdengüter verteilt? ~ Nein, sondern jeder griff zu, nahm und raffte was er konnte, ohne Rücksicht auf seine Nebenmenschen. Soll man das Redet des ersten Besitznehmers respektieren? ~ Freilich, wenn noch genug Gegenstände vorhanden sind, die nicht mit Beschlag belegt worden. Was ist die natürliche Gleichheit! ~ Sie ist der Ausspruch der Vernunft, daß jedem sein Lebensanteil gebührt. Sie erlaubt keinem, wer er auch sei, Überflüssiges an sich zu reißen; das wäre ein Diebstahl zum Schaden dessen, der noch nicht das Notwendige besitzt. Wenn jedoch jeder das Notwendige hat, nun so darf man darüber hinaus auch Überflüssiges nehmen, muß aber stets bereit sein, es abzutreten, sobald sich zeigen sollte, daß jemand noch nicht das Notwendige hat. Aber wie, wenn der erste Besitznehmer, jetzt im Überflusse, einst selbst gearbeitet hat? ~ Auch dann ist er verpflichtet, seinen Überschuß abzutreten, sobald nämlich es sich herausstellt, daß andere zu kurz gekommen sind. Haben die Menschen natürliche Pflichten? ~ Ja, ebenso wie sie natürliche Rechte haben. Rechte und Pflichten sind dasselbe, sind untrennbar, alle, z. B. haben das Recht Lebensgenuß zu fordern; alle haben die Pflicht, ihn zu gewähren. Welches sind die natürlichen Pflichten ? Sie liegen in dem Satze: „Tue dem andern nicht, was du willst, daß er dir nicht tue, und tue ihm, was du willst, daß er dir tue". Was ist die Gesellschaft ? ~ Sie ist die Gegenseitigkeit aller Menschen und beruht auf Freiwilligkeit. Daher darf es in ihr nicht Herren und Knechte, nicht Plünderer und Geplünderte, nicht Scheerer und Geschorene, nicht Schinder und Geschundene, nicht Betrüger und Betrogene geben. Kurz, die Gesellschaft darf nicht einer Herde gleichen, die den Hirten unterworfen ist. Mit andern Worten, worauf beruht die Gesellschaft? ~ Auf dem gemeinsamen Interesse aller Vergesellschafteten, Assoziierten. Sind die Nationen bisher Gesellschaften gewesen? ~ Keineswegs, denn in jeder war eine Spannung, ein Zwiespalt zwischen Reichen und Nichtreichen, Aristokratie und Volk. Nationen sind übrigens ohne bestimmte Absicht entstanden, durch Eroberungen, und überall ist eine Herrscherklasse gewesen und ist noch vorhanden. Daher sind diese sogenannten zivilisierten Gesellschaften ganz erbärmlich organisiert, die Armenklasse hat überall nichts als Elend zu ihrem Anteil. Haben die Kinder der Armen noch heutigen Tages natürliche Rechte? ~ Gewiß, diese Rechte sind unverjährbar und unveräußerlich. Taugt die sogenannte zivilisierte Gesellschaft von heute etwas für die Reichen? ~ Wenig im Grunde oder garnicht. Die Menschen in diesen sogenannten zivilisierten Gesellschaften sind unmenschlich gegen einander, das zeigt sich unter drei Hauptformen: Vermögens- und Machtungleichheit ~ Privateigentum ~ Geld. Diese drei schlimmen Dinge hat man teils aus Eigennutz, teils aus Dummheit geschaffen und sich bisher gefallen lassen. Wer macht heute Gesetze? ~ Der reiche Mann und der hochgeborene Mann.
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Überblick des Ganzen. Gibt es kein Heilmittel wider diesen allgemeinen Leidenszustand? ~ Ja, und das Mittel wird durch die Vernunft bezeichnet, welche spricht: „Ihr müßt die oben genannten drei menschheitswidrigen Dinge abschaffen und die Gemeinschaft verwirklichen." Was will die Gemeinschaft? ~ Sie will, daß eine Nation ein Ganzes von gleichmäßig assoziierten, verpflichteten, berechteten freien Personen werde, sodaß folglich das Einzelinteresse mit dem Allgemeininteresse zusammenwachse, verschmelze und einen einzigen gesunden Körper oder Gesellschaftsorganismus bilde. Der Wahlspruch sei: „Alle für einen und einer für alle"; dies heißt die Solidarität, und ist der schnurstracke Gegensatz zum Individualismus oder zur Vereinzelung und Zersplitterung, die wir heute erleben. Was will die Gemeinschaft ferner? ~ Sie setzt alle Lebensbedürfnisse als gemeinsames oder Gesellschaftskapital; sie setzt allen Boden als gemeinsames Grundstück oder Gesellschaftsdomäne. Sie will die Bedürfnisse der Menschen befriedigen und läutern durch Kunst- und Naturprodukte, welche auf dem Wege der Gesellschafts- Industrie gewonnen werden. Diese Industrie wird durch Maschinen und weise Leitung vor sich gehen, mit Arbeitsteilung. Jeder einzelne arbeitet die gleiche Stundenzahl im Tage, nach seinen Fähigkeiten; und genießt den gleichen Anteil an den Erzeugnissen, nach seinem Bedarfe. Warum bekommt der Mann von Talent und Wissen nicht eben deshalb mehr von den Erzeugnissen zu genießen? ~ Darum nicht, weil Talent und Wissen sowohl eine Naturgabe als ~ und noch mehr ~ Gesellschaftsgabe ist; ohne die gesellschaftliche Erziehung wäre der Mann weder wissend noch gebildeten Talents geworden. Was ist die Arbeit in der bezweckten Gütergemeinschaft? ~ Sie ist ein öffentliches Amt und dieses öffentliche Amt gilt als Arbeit; Amt und Arbeit gelten als Abgaben an das Ganze. Also gibt es keine sonstige Abgabe? ~ Nein. Wie ist die Arbeit? ~ Gemeinsam in den großen Werkstätten, möglichst angenehm, leicht und kurz; übrigens müssen alle arbeiten. Durch immer höher zu vervollkommnende Maschinen wird sie für die Menschheit schonender gemacht als je zuvor. Wie steht es mit Nahrung, Kleidung und Wohnung? ~ Sie ist gleich und hinreichend für alle und jeden, wird in den öffentlichen Arbeitsanstalten verfertigt und verteilt. Ein Gesetz hat das Muster bestimmt. Und die Vergnügungen und der Luxus? ~ Vernunftgemäß wird zuerst das Notwendige besorgt, dann das Angenehme. Das Maß in Vergnügen und Luxus ist, wie gesagt, die Vernunft. Und Städte und Wege? ~ Sie sind nach einem Plane aufs beste zum Dienste aller gemacht. Und der Handel? ~ Der inländische besteht im Produktenverteilen, der auswärtige geschieht von der Oberbehörde. Und die Familie? ~ Eine jegliche lebt möglichst gemeinsam in sich, ohne Dienstboten und macht einen kleinen Haushalt für sich aus. Und die Ehe? ~ Ist frei insofern, als jeder frei wählen und heiraten darf, ja muß; sie wird aufgelöst in den nötigen Fällen. Und die Erziehung? ~ Sie ist die Basis des Ganzen; ist eine leibliche, geistige, sittliche, staatsbürgerliche, gewerbliche: Sie ist teils eine häusliche, teils eine gemeinsame; sie ist eine allgemeine oder grundzügliche <elementare> und eine spezielle oder professionelle. Welches ist der Hauptsatz der Staatlichkeit? ~ Er lautet: „Alles für und durch das Volk und nichts ohne das Volk". Die sämtlichen Mitglieder der Gesellschaft sind gleichermaßen Staatsbürger, gehen zur Versammlung, dienen in der Volksgarde oder Landwehr, sind Wähler und wählbar. Wie entsteht das Gesetz? ~ Das Volk wählt Vertreter, diese beraten das Gesetz und legen es dem Volke zur Ansicht vor. Folglich ist das Gesetz der einfache, ungeschminkte Ausdruck des allgemeinen Willens und der allgemeinen Weisheit. Da das Gesetz vom Volke, d. h. von allen ausgeht, kann niemals die Freiheit und Gleichheit leiden. Wie steht es mit der Vollziehung des Gesetzes? ~ Sie ist unter dem Befehle der Gesetzgeber und hat wählbare, absetzbare, verantwortliche Magistrate und Beamten; diese sind in Provinzen und Gemeinden sehr zahlreich. Wer sitzt zu Gericht? ~ Das Volk. Wie sind die Strafgesetze? ~ Sehr mild, da die Verbrechen sehr selten oder fast null sind. Sichert die Gemeinschaft das Wohl aller? ~ Ja, sie ist die einzige Gewähr dafür. Nur in ihr ist Harmonie des Ganzen und der Einzelnen möglich, und der einzelnen unter sich. Christus sagte: „Ein Kamel geht leichter durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich." Die Lage der Reichen, das Menschentum der Reichen, ist also auch zu verbessern, nicht minder als der Armen. Ist ein plötzlicher Sprung, ohne Vorbereitung, aus dem bisherigen Plunder in die Gemeinschaft möglich? ~ Nein, wir brauchen dazu einen allmählichen Übergang, indem mehrere Generationen durch dienliche Erziehung dazu gebildet, alle Männer stimmfähige Staatsbürger werden, und die Freiheit zu Versammlungen und Diskussionen, das heißt zum ernsten Bedenken und Besprechen der Sachen bekommen. Warum nicht plötzlicher Umsturz? ~ Weil dieser die Besitzenden zur Verzweiflung und Empörung treiben würde; auch wären die Leute nicht hinreichend gebildet. Wie lange soll der Übergang dauern? ~ Dreißig bis hundert Jahre; das ist lange, aber ist einmal notwendig. Übrigens wird von Stunde an der Zustand ein besserer, und wir werden mit dem frohen Bewußtsein sterben, unsere Nachkommen und die Welt gerettet zu haben. Daher verzage man nicht, wenn die Geduld auch auf eine harte Probe gestellt wird. Sollen wir die herrschende besitzende Klasse mit Gewalt zum Einwilligen zwingen? ~ Nicht doch! Dies wäre gefährlich, sehr gefährlich. Gewaltsame Umwälzungen sind wie ein Kriege, dessen Ausgang zweifelhaft ist. Eine bestehende Regierung ist, schon allein dadurch, daß sie besteht, mächtig; sie kommandiert die Reichtümer des Landes, ist unterstützt von der herrschenden Klasse der Aristokraten, befehligt über die gesetzgebende und vollziehende Gewalt, über das Heer, die Bürgergarden, die Gerichtshöfe, die Polizei nebst deren hunderttausend sichtbaren und unsichtbaren Zaubermitteln. Die Unterdrückten sind zahlreich, aber ist das genug? ~ Nein, sie müssen auch organisiert sein. Aber die Regierung weiß sie daran zu hindern. Sie sind mutig. Aber der Gegner ist auch nicht feige und ist an Kriegszucht überlegen. Die Unterdrückten wollen sich aufopfern. Aber sie können nicht mit ihren nackten Händen die Kanonenkugeln des Gegners abwehren. Die junge Volkspartei ist natürlich sehr zu allerlei Fehlern geneigt; ist übereilend, mißtrauisch gegen die wahren Volksfreunde, leichtgläubig mit den falschen Volksfreunden, tollkühn und ungeschickt. Das Volk hat seit Anfang der Weltgeschichte immer hie und da Aufstände gemacht, und mit schlechtem Erfolge. Verräterei und Dummheit verdarb fast alles, seit Menschen leben, hat nie das Volk soviel Macht in Händen gehabt als im Jahre 1793... Und es hat sich doch wieder durch Zwist der Führer, vielleicht durch zu große Hast, allmählich in die uralten Bande schlagen lassen; es ist jetzt von neuem geknebelt, oder beinahe geknebelt. Wenn aber eine Volkserhebung für die ewigen Rechte der Menschen, zu Boden gedrückt worden, dann bricht endloser Jammer herein! Nach Robespierre´s Sturz geschah das zweimal. Man hat es gesehen, als Camille Babeuf scheiterte. Man hat es gesehen, als nach der Julirevolution alle möglichen Angriffe und Versuche, größere und kleinere, mißlangen. Die machtvolle Klasse der Gebieter freut sich stets über solche Unternehmungen der Volkspartei, die nur zum Schaden der Unterjochten ausfallen können. Jedes nutzlose Wort, jede nutzlose Gebärde, jeder nutzlose Blutstropfen, wodurch die Volksmänner Wunder zu wirken hoffen, schnürt die Ketten fester, macht sie lastender, heißer. Es ist gräßlich ~ und das vergeßt nicht ~ es ist gräßlich, daß durch die verkehrten Streiche einiger braven, edeln Wagehälse und der sich mit ihnen verbindenden heuchlerischen Schufte, eine ganze Nation in ihrem mühsamen Wege zur Befreiung aufgehalten werden soll. Ich wiederhole: ich weise in wohlverstandenem Interesse des Volkes die Gewaltsamkeit von der Hand. Aber, höre ich einwenden, wenn sie gelänge?... wäre es dann nicht heilsam, nicht billig, die Reichen und Aristokraten zu zwingen? und wieder sage ich nein. Die Reichen sind Menschen wie die Armen, sind auch unsere Mitbrüder, sind Mitglieder der Menschheit. Freilich muß man es verhindern, daß sie Unterdrückung ausüben; aber man darf nicht die Gütergemeinschaft damit eröffnen, daß man einen Teil der Menschen unterjocht. Man hasse sie auch nicht, denn ihre Vorurteile und Laster sind traurige Erzeugnisse der abscheulichen Gesellschaftseinrichtung und der abscheulichen Erziehung vor allen Dingen. Will man aus ihnen den Teufel austreiben, so darf man sie nicht verbrennen. Christus hat nicht den Mord der Reichen gepredigt, sondern ihre Bekehrung. Soll man also nicht den selbstsüchtigen, eigennützigen Ladenbesitzer, Krämer, Kaufmann hassen? ~ Nein, hasset seinen Eigennutz, aber es wäre ungerecht und töricht, diese große Klasse der Fabrikanten und Handelsleute zu hassen. Alle ihre Schlechtigkeiten entspringen lediglich aus der Gesellschaftsorganisation; diese Menschen sind in steter Angst um ihren Kredit, zittern durch Bankerott entehrt zu werden, schweben stets zwischen Furcht und Hoffnung, können durchaus nicht im Notfalle auf fremde Unterstützung rechnen, sind Tag und Nacht in Sorgen um das Billet, das sie am Ende der Woche oder des Monats abzahlen sollen, und erdulden obendrein unaufhörliche Martern von seiten des Associe´ und der eigenen Ehegattin, denn letztere ist allemal in die Geschäfte des Mannes eingeweiht, und sie hetzt ihn fort und fort und verdoppelt seine Selbstsucht und Habgier, indem sie ihm immer zuruft: „Gedenke unserer Kinder!" Auf diese Weise muß er wohl Egoist werden. Es ist schlimm, daß er meist ohne viel Bildung und sehr leichtgläubig ist und den Volksbedrückern schnell als Werkzeug dient. Aber das ist nicht seine Schuld, sondern die Schuld seiner elenden Erziehung. Übrigens ist das alles einmal so und nicht anders; und ein Arbeiter, der vorher gar eifrig gegen diesen Stand schimpfte, ist kaum in denselben getreten, so wird er selbstsüchtig, eigennützig und ängstlich. Wie soll man es anfangen, um die Machthaber für das Prinzip der Gütergemeinschaft zu gewinnen? ~ Durch mündliche und schriftliche rastlose Ausbreitung, Entwicklung Bekanntmachung. Man wende sich weder nur an Reiche noch nur an Arme, sondern an diese beiden Klassen, aus denen der heutige Staat ganz und gar besteht. Man suche die Wähler, die Deputierten, die Regierenden zu überzeugen; man mache Licht im Kopfe des Volkes, denn es genügt nicht zu schreien: „Ich bin Republikaner, ich bin Demokrat, will Brüderlichkeit und Menschenrecht"; das kann der erste beste Polizeiagent auch schreien, wenn er den geheimen Befehl hat, die Massen aufzuregen, um einen Straßenkrawall zu bewirken, der nachher gehörigen Orts bestens benutzt werden soll, um das Joch des Volkes aufs neue zu beschweren. ~ Man muß wissen, was man will und wollen was man weiß. Man mag das größte Genie sein und kann doch keine Stecknadel fabrizieren, weil man es eben nicht gelernt hat. ~ Weshalb mißglückten so viele Revolutionen, 1792, 1815, 1830? Weil das Volk keinen scharf und deutlich vorgezeichneten Weg vor Augen hatte. Und hätte es seit 1830 in Gesamtheit sich mit nichts anderm als sich bilden beschäftigt, wahrlich, die gute Sache stände heute besser. Die Reichen dafür gewinnen, wäre nicht unwichtig. In ihrer Klasse zählt man gewaltige, begabte Geister, auf deren geringstes Wort in Prosa und Versen Tausende beifällig lauschen. Und sollten sie sich halsstarrig abkehren? Haben doch in frühern Zeiten adlige reiche Männer die Volkssache getragen: Lykurg, die Könige Kleomenes und Agis von Sparta, Solon von Athen, die römischen Edelleute Gracchus, Thomas Moore, der Erzkanzler von England, der französische Millionär Helvetius, der französische Gelehrte Mably, der französische Finanzminister Turgot, der französische Graf Condorcet usw. Und hat nicht Lafayette dieser hohen Klasse angehört? Und finden sich nicht heute edle, geistvolle Frauen in den Reihen der Reichen? Wohlan denn, die ihr nicht darbt an Herzens- und Geistesbildung, an Wissen und Scharfsinn, an Muße und Geld, wohlauf, geht rüstig an die Untersuchung der Frage. Mögen andere den Plan vervollständigen; es war der Anfang, und aller Anfang ist schwer. Nur keine Verschwörungen. Nur keine stückweise Verwirklichungsversuche; wenn die fehlschlagen, so leidet die Sade selbst ungeheuer, und man wird mutlos. Durchdenkt und durchsprecht sie; mehr ist jetzt nicht zu tun. Die Zukunft der Welt gehört der Gemeinschaft, habt also Vertrauen. Meine Überzeugung in die Wirksamkeit des friedlichen Verfahrens ist so stark, daß ich, hätte ich eine Revolution in der Hand, doch die Hand nicht aufmachen würde, und sollte ich darüber in der Verbannung sterben. Das sind meine Grundsätze.
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Arbeiter, auf nach Ikarien! Denkt über euer Los nach und ihr müßt einsehen, daß euch das Elend packt, wenn ihr den Mutterleib verlassen habt, und daß es sich nicht eher von euch trennt als wenn ihr im Sarge ruht. Ihr, Proletarier, Söhne der Proletarier, wandelt in schmutzigen Lumpen einher, darbt am Geist und hungert am Magen; schaut nur zu oft böses Beispiel, arbeitet zu oft über eure noch jugendlichen Kräfte, so steht es um eure Kindheit. Dann kommt Arbeiten und immer Arbeiten bis auf Schweiß und Blut, Arbeiten voll Gefahren, voll Ekel, und ohne genügenden Lohn, Arbeitslosigkeit und Schulden; Krankheiten; Militärdienste; Handwerksbuch; keine Aussicht, stete Unruhe über den morgenden Tag. So lebt ihr in eurer Jugend. An Ehe und Familie haben viele nicht zu denken; und die, welche sich verheiraten, bereuen es oft, so fürchterlich lasten auf ihnen die Sorgen. ~ Und euer Alter, nach langem Arbeiten und vielfältigen Vaterlandsdiensten, hat wieder, zur Vergütung, nichts als Jammer, Elend, Qualen, Hospital und Selbstmord zu erwarten. Dicht neben euch seht ihr eure Meister und Gebieter prassen und Gold rollen; sie haben sozusagen bloß die kleine Mühe auf die Welt zu kommen, dann finden sie reichlichst alles was sie brauchen, um nicht zu arbeiten, nicht zu produzieren, aber trotzdem zu genießen. Ihr habt keine Genüsse, obgleich ihr alles hervorbringt. Allein, Freunde seid gerecht: diese beneideten Klassen sind auch mit ihren Sorgen, ihrem besonderen Kummer geeinigt; sie auch sind Schlachtopfer der alles verschuldenden Gesellschaftsorganisation. Immerhin; aber ihr, ihr seid elend, und es muß uns Arbeitenden endlich irgendwoher Heilung kommen, deucht mir. Blickt nach Ikarien in Amerika, dort wird das Proletariat nicht mehr vorhanden sein, ebenso wenig schwelgende Reiche. Dort sind alle Bürger die Besitzer des allgemeinen, gesellschaftlichen, nationalen und nicht zu teilenden Eigentums. Also ist Armut drüben nicht möglich. Ebenso wenig Arbeitsleute und Arbeitsmeister; stattdessen Assoziierte, brüderlich auf gleichem Fuß sich behandelnd, alle arbeitend, je nach Fähigkeiten. Alle Geschäfte gelten dort als öffentliche Ämter, und alle Ämter gelten als Geschäfte. Folglich gibt es keine Ausbeuter, keine Auspresser, keine Aussauger dort. Keine Tagelöhner werdet ihr dort haben, aber eine gerechte Verteilung der Produkte, wie zwischen Assoziierten. Keine Arbeitslosigkeit, keine Konkurrenz, sondern Arbeitsorganisation, feste vernünftige Arbeitsregeln, nach Erfahrung, Klugheit, öffentlicher Meinung und Ansicht der Mehrheit der Arbeiter selber. Die ganze Ackerbau- und Industriearbeit wird nach großen Werkstätten ausgeübt; niemand bleibt müßig, niemand ist übermäßig beschäftigt. Die Werkstätten sind zweckdienlich, gesund, schön; die Maschinen nehmen viele, ja die meiste Mühe dem Arbeiter ab. Jeder, soviel als möglich, erwählt selbst sich nach Geschmack und Lust eine Profession. Alle Amtsführer sind wählbar und absetzbar; alle Einwohner sind wählbar und wählend... Keine Arbeits- oder Handwerksbücher mehr; kein knechtischer Soldatendienst; keine Steuer <Arbeit ist die einzige Abgabe>; jeder gut behaust, bekleidet, genährt, unterrichtet, in Gesundheit erhalten durch die unablässige Sorgfalt der Regierung, d. h. der gesamten Nation; jeder in die Möglichkeit versetzt, ein Weib zu nehmen und ungestört Familienfreude zu genießen. Keine Aristokratie, keine Vorrechtler, keine Ungleichheiten. Reine, ganz reine Demokratie, Gleichheit nach Vernunft und Billigkeit, d. h. in Verhältnis und Proportion, stets nach den leiblich-geistigen Kräften für die Arbeit, und nach den Bedürfnissen für die Verteilung. So erst sind alle gleichmäßig beglückt. Kurz, die Arbeiter sind drüben das Volk, die Nation. Nur sie, und niemand anders, herrschen dort; denn es gibt drüben nichts als Arbeitende; sie erziehen sich in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse, und erst auf diesem Pfade wird die Menschheit in Ordnung kommen. Arbeiter! zaudert nicht; heute seid ihr noch geknebelt, getreten, gefesselt; Achtung hat niemand vor euch, und ihr habt weder Brot noch Arbeit nach Bedarf. Laßt uns dorthin gehen, wo dieses Elend nicht mehr sein wird, nach Ikarien!


NACHWORT

ETIENNE CABET, 1788~1856, war der Sprecher der ersten kommunistischen Massenbewegung. Während seines Aufenthaltes, als politischer Flüchtling, in England brachten ihn literarische Forschungen zu kommunistischen Ideologien. Als notwendige Voraussetzung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erkannte er die Gütergemeinschaft, die er durch friedliche Agitation durchsetzen zu können hoffte. Er schrieb seinen Roman „Reise nach Ikarien", der trotz aller Breiten und Seichtheiten als Zeitanschauungswerk auch heute, gerade heute, noch recht lesenswert ist, um für seine Pläne der Gesellschaftsorganisation Propaganda zu machen. Ein englischer Lord lernt als Reisender Cabet´s Idealland Ikarien kennen. In Vorträgen und Gesprächen erfahren wir mit ihm, wie der ikarische Staat entstand, wie die gesellschaftliche Neuordnung vollzogen wurde. In die Erzählung eingestreut finden wir allerlei lange Abhandlungen, über die Entwicklung der Menschheit zur Gleichheit, die Geschichte der Philosophie, die französische Revolution usw. Ein Netzwerk, darin sich auch seltene Fische fingen. Für den kritischen Leser ist die Lektüre von großem Interesse. Cabet war Republikaner und Demokrat. Trotz oder wegen seiner Kleinbürgerlichkeit war er der Liebling des französischen Proletariats, ungeheuer verhaßt beim Bürgertum, verflucht von der Kirche, die sein Urchristentum verabscheute. Cabet versuchte seine Theorien auf amerikanischem Boden zu verwirklichen. Expeditionen richteten dort, unter seiner Leitung, ikarische Niederlassungen ein. Innere Zwistigkeiten und die über Cabet hinwegschreitende politische Entwicklung machten sie unmöglich. Der Marxismus löste dies Sektierertum ab. <Dem Namen nach besteht noch heute im Staate Jowa die Gesellschaft der Ikarier>. Das Buch von H. Lux: „Etienne Cabet und der Ikarische Kommunismus", Stuttgart, Dietz, unterrichtet über Cabet´s Gedanken und Werk. Wir bringen aus seiner „Reise nach Ikarien" eine Reihe einzelner Abschnitte, besonders die Erziehung betreffend und einige der Aufrufe und grundsätzlichen Darlegungen.

Paul Oestreich