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Autor: Feldegg, Ferdinand von
In: Der Architekt - 1 (1895); S. 1 - 2
 
Wiens zweite Renaissance
 
Als vor nunmehr bald vierzig Jahren Wien seiner ersten bedeutungsvollen Neugestaltung entgegengieng, da glichen seine Bewohner den Zusehern eines neuen Stückes, dessen Verlauf diesen noch völlig unbekannt ist. Theilnahme und Neugierde, Voreingenommenheit für oder wider den Dichter, Entgegenkommen oder Zurückhaltung, Verständnis oder Verständnislosigkeit - sie stehen bei solcher Gelegenheit insgesammt Pathe. Heute, da der Vorhang über der letzten Scene lange gefallen, sind wir in der Hauptsache über den Wert der Dichtung einig - über den Wert der Dichtung nicht minder, als über den der einzelnen Acteure, die sie uns verwirklichten. Und abermals füllt sich der Zuschauerraum mit einem gespannt harrenden Publicum, abermals steht diesem eine Novität in Aussicht. Doch ist es diesmal eine Novität wesentlich anderer Art, die der Theaterzettel verkündet, und andere Acteure sind es, die sie vorführen werden. Gleichwohl vermögen wir uns der Reminiszenzen nicht zu erwehren, die sich leise in unsere zuwartende Stimmung einschleichen; und der Vergleich zwischen Einst und Heute, zwischen jener ersten Wiener Renaissance und der zu gewärtigenden zweiten Renaissance ist es eben, der nicht zum wenigsten dieser letzteren die Signatur gibt. Aus den naiven, aber um deswillen auch in der Hauptsache empfänglichen Zusehern, die wir damals waren, sind verwöhnte und kritische Beurtheiler geworden, die wir heute sind. Denn wir haben alle insgesammt etwas, wir haben  v i e l  gelernt. Das ist gut und das ist schlecht zugleich. Mangel an Können macht dessen Ausübung unmöglich und verhindert so die künstlerische Bethätigung; Überschuss an Können aber droht sie zu zerstören: Dies lehrt uns die Geschichte der Kunst, in der die höchste Blüte allemal die Vorstufe des Verfalls ist. Inzwischen dürfen wir uns bis zu einem gewissen Grade versichert halten, dass jede Zeit ihre Leute findet und auch die zukünftige Bauentwicklung Wiens sie deshalb finden wird, so gut finden wird, wie sie die verflossene gefunden hat. Die Frage kann dabei nur sein, ob auch eine solche Zeit wieder kommen wird, die  g r o s s e n  Talenten congenial ist, und die sie eben deswegen auch hervorbringt, sie an die Oberfläche des künstlerischen Lebens zieht. Dies zu beurtheilen ist es aber geboten, einen kurzen Vergleich zu ziehen zwischen dem, was die damalige Bauentfaltung Wiens bedeutete und dem, was die kommende bedeuten wird, welche Aufgaben jene stellte und welche diese stellen wird. Dieser Vergleich liegt auf der Hand: Damals und heute ist das  ä u s s e r e  Moment der Bauentwicklung dasselbe, indem beidemale ausgedehnte Baugründe geschaffen wurden; damals war es der innere Wall, an dessen Stelle sich ein neuer Stadttheil erheben sollte, jetzt ist es der äussere Wall, sind es neue Strassenzüge und einzelne grosse Plätze im Innern der Stadt, die neuen Baugrund liefern. Aber welcher Unterschied, wenn wir das  i n n e r e  Baumoment von damals mit dem von heute vergleichen! Welche grossen baulichen Aufgaben harrten damals im einzelnen der Architekten! Theater, Museen, Concerthäuser, Rath- und Parlamentshaus und eine stattliche Anzahl neuer Paläste  m u s s t e n  entstehen, denn das Bedürfnis darnach war ein dringendes. Das aber fehlt heute. Die grossen  B a u i n d i v i d u e n,  die einzelnen Monumentalwerke sind alle vollendet. Unter solchen Umständen kann es für die künstlerische Ausgestaltung kommender Werke nur  e i n e  Richtschnur geben : Weil die grossen  B a u i n d i v i d u e n  fehlen, müssen  B a u c o m p l e x e  an ihre Stelle treten. Der monumentale Charakter der Baukunst, der nur in der angemessenen Neben- und Unterordnung der Theile unter ein Ganzes zum Ausdrucke kommt, kann ja in solchen Baucomplexen, wenn sie nur gleichfalls nach dem Gesetze der Neben- und Unterordnung erbaut sind, fast eben so vollkommen sich aussprechen, wie in einzelnen grossen Werken, die allerdings schon von vorneherein auf monumentale Wirkung berechnet sind. - Doch  e i n  grosser Unterschied macht sich hier freilich geltend. Während grosse Monumentalwerke, jedes für sich, in der Hauptsache Schöpfungen  e i n e s  Künstlers sind und von diesem zielbewusst und unter sorgfältiger Beachtung eines Gesammtplanes angelegt werden, sind Gebäudecomplexe das combinierte Werk mehrerer Künstler und als solches mitunter völlig zufällig entstandene Vereinigungen der  v e r s c h i e d e n s t e n  Geschmacks- und Stilrichtungen. Wie viel hier die Willkür der Bauherren, Zeitumstände, Geldfragen, ja selbst künstlerisch noch zweifelhaftere Factoren verschulden können, dessen sind unsere bunten Strassenzüge und Häuserzeilen ein traurig-beredtes Zeugnis. Dem abzuhelfen reicht aber ein einzelner Künstler, und wäre er das grösste Genie, nicht aus, ja selbst alle Künstler zusammen können es nicht, soferne jeder von ihnen unabhängig vom anderen schafft und den Zusammenhang des Ganzen eben dem Zufall überlässt. Da kann Abhilfe nur durch Zugrundelegung eines gemeinsamen Planes getroffen werden, in dem wohl jedem Theil individuelle Entfaltung, aber zum Zwecke einer höheren Einheit und unter deren Vorherrschaft gestattet ist. Ganze Baucomplexe müssten deswegen von vorneherein von einem gemeinsamen Gesichtspunkte aus aufgefasst werden, und von vorneherein müssten die Hauptzüge derselben in einem grossen allgemeinen Plane, und dies  n i c h t  b l o s s  i m  G r u n d r i s s e,  der ja für die architektonische Wirkung allein  n i c h t  entscheidend ist, sondern in ihrer räumlichen Gestaltung bestimmt werden. Dass hiezu ein Stadtplan  n i c h t  ausreicht, ist klar. Denn dieser gibt bloss die Strasse, den Platz, in den Linien seines Grundrisses. Aber die Gebäudemasse mit ihrer Silhouette, ihren hundertfältigen malerischen und architektonischen Beziehungen ist in ihm nicht vorausbestimmt und kann es nicht sein. E b e n  d e s w e g e n  d ü r f e n  w i r  a u c h  u n s e r e  S t a d t r e g u l i e r u n g s p l ä n e  i n  i h r e r  W i r k u n g  a u f  d i e  P r a x i s  n i c h t  ü b e r s c h ä t z e n.  Sie geben uns nicht mehr als den sozusagen strategischen Plan; aber ein solcher Plan kann vortrefflich sein, und die Schlacht, der Feldzug doch verloren gehen, wenn die Generale jeder auf seine eigene Faust diesen Plan verwirklichen. Klares, zielbewusstes, von künstlerischem Erfolg gekröntes Wirken kann hier zunächst nur von der obersten  B a u b e h ö r d e  erwartet und verlangt werden, vorausgesetzt, dass sie sich dieser künstlerisch und, fast möchte man sagen, auch politisch überaus schwierigen Aufgabe gewachsen zeigt. Allzufreudiger Optimismus wäre nun hier ebensowenig am Platze, als wichtigthuerischer Pessimismus. Gleichwohl, oder je nachdem, eben deshalb, wird es gut sein, wenn wir uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass in den Irrwegen administrativer Schwierigkeiten auch diesmal, wie so oft, die Kunst verloren gehen könnte. Da müssen denn die Künstler, die Architekten selbst den Gedanken einer planvollen Ausgestaltung des neu zu erbauenden Wiens aufgreifen und ihn durch innigeren collegialen Aneinanderschluss, durch wechselseitige Anpassung und Unterstützung, durch künstlerische Gemeinschaft verwirklichen helfen. Dabei braucht künstlerische Individualität nicht verloren zu gehen, das wäre ein Unglück; auch über einen etwa gemeinsamen Stil wird man sich selbstverständlich nicht zu einigen haben; wohl aber gibt es noch Berührungspunkte genug, die unbeschadet der künstlerisch so nothwendigen Unterschiede ein gemeinsames Wirken ermöglichen. Wie viel würde z. B. allein dadurch zu erreichen sein, wenn jedes neue Werk, das an irgend einer Stele entsteht, vor allem dem  N a c h b a r  in architektonischer Beziehung sich anpassen wollte, anstatt kalt und gleichgiltig, ja nicht selten trotzig und ablehnend sich neben ihm hinzupflanzen. Wie viel vermag in dieser Beziehung die Anlage sogenannter Höfe, wie wir einen solchen im Margaretenhof in gelungenem Beispiele besitzen, zu leisten. Dass aber derlei Höfe nicht schlechterdings  e i n e n  Bauherrn haben  m ü s s e n,  wird doch nicht bestritten werden können. Das wäre nun gleich eine Aufgabe für das Stadtbauamt, die zudem seiner künstlerischen Befähigung selbst gar keine Zumuthung stellte, dahin zu wirken, dass derartige Anlagen, an denen sich mehrere Bauherren betheiligten, in jeder Weise begünstigt würden. Ja das Stadtbauamt könnte die Bedingung stellen, dass Bauplätze solcher Complexe nur unter der Zusicherung  e i n h e i t l i c h e r  a r c h i t e k t o n i s c h e r  A u s f ü h r u n g  vergeben werden. Derlei Bauplätze sollten aber in allen Bezirken an den wichtigsten Stellen mehrere in Aussicht genommen werden.*

*) Mittlerweile ist Prof.  K a r l  M a y r e d e r s  Berufung ins Stadtbauamt und damit gleichsam eine Antwort auf die obigen Bedenken im denkbar günstigsten Sinne erfolgt.


Beiweitem günstiger für das künstlerische Städtebild wird sich übrigens der Fall überall da gestalten, wo einzelne öffentliche Bauten zur Ausführung kommen. Sie bestimmen den Charakter der ganzen Umgebung, und diese muss sich ihnen anpassen; nur völliger Unverstand wird dagegen fehlen. Aber leider ist die Aussicht auf derlei monumentale Bauten, wie wir bereits eingangs sagten, eine äusserst geringe, und wir haben insoferne eine schwierigere künstlerische Aufgabe vor uns, als unsere glücklichen Vorgänger, denen mit den grossen Aufgaben nicht bloss grosse Ehren in den Schoss fielen, sondern auch die grossen architektonischen Leitmotive gegeben waren. Dem gegenüber wird es für uns nothwendig werden, den monumentalen Zug, da wir ihn leider nicht in einzelnen grossen Werken festhalten können, wenigstens in den kleinen zu bewahren, und wenn dieser wichtigen Einsicht ein gewisser neubarocker Dragantstil, der mit der guten Barocke so wenig als möglich gemein hat, zum Opfer fallen sollte, so wäre dies der erste schöne Erfolg dieser Einsicht. Indessen sind unsere Hilfsquellen monumentaler Kunstübung noch nicht erschöpft. Wir können z. B. zu den Mitteln der plastischen Kunst, der Bildhauerei, greifen, die, anstatt in die Paläste der Millionäre sich zu verkriechen oder in die unsichtbaren Höhen thurmhoch stehender Attiken zu verschwinden, mitten unters Volk, auf die Plätze und Strassen, treten sollte. Motive würden sich hiezu genügend viele finden. Die Brunnen allein, deren zur Reinigung und Befeuchtung unserer staubigen Luft nicht genug angelegt werden könnten, gäben eine stattliche Anzahl solcher Motive ab. Und wenn zudem die künftigen Bauherren sich von Fall zu Fall gruppenweise vereinigen und ein oder das andere plastische Werk zum Schmucke jenes Platzes oder jener Strasse, wo auch ihr  e i g e n e s  Haus steht, stiften wollten, so wäre damit von dem einzelnen wenig geopfert und doch der Gesammtheit viel gegeben. Auch hier, meine ich, könnte das Stadtbauamt mit sanftem, aber beharrlichem Nachdrucke das seinige beitragen, die öffentliche Kunst zu fördern. - Rechnen wir endlich noch hinzu, dass immerhin eine gewisse Anzahl öffentlicher Bauten, die freilich zum Unterschiede von den öffentlichen Bauten der Sechziger-Jahre fast ausschliesslich praktischen Zwecken dienen werden, hinzukommt: So stellt sich die Prognose für die zu gewärtigenden architektonischen Aufgaben der neuen Ära im ganzen nicht völlig ungünstig. Aber eines freilich müssen wir uns gleichwohl vorhalten: Während die erste Wiener Renaissance mit ihren grossen Palastbauten einen wesentlich  a r i s t o k r a t i s c h e n  Z u g  hatte, wird die zweite Wiener Renaissance mit ihren vorwiegenden Nutzbauten einen  d e m o k r a t i s c h e n  Z u g  aufweisen. Und da droht uns denn, künstlerisch genommen, eine Gefahr. Es droht uns die Gefahr trockener Utilitätsmeierei, wo wir nach künstlerischem Schwunge lechzen; es droht uns die Gefahr, aus Mangel wahrhaft grosser Aufgaben ins Kleinliche und Unkünstlerische zu verfallen, die Gefahr, dass wir das Grosse, weil es uns nicht wie unseren glücklichen Vorgängern von aussen entgegenkommt, verloren geben, anstatt es in uns selbst zu suchen und kühn nach aussen, in die lebendige Wirklichkeit zu tragen. Nichts aber wäre trauriger als dies, wenn die zweite Renaissance Wiens dereinst, zum Unterschiede von der ersten, die Ära des Verkehrs- und Eisenbahnstils, der kunstlosen Nützlichkeit genannt werden würde! Dies zu verhindern ist deshalb die heilige Pflicht der heutigen Künstlergeneration, die zu ihren grossen Vorgängern aufzublicken sich schämen müsste, wenn sie ihre Zeit und damit sich selbst im voraus verloren gäbe! Noch sind die Männer unvergessen und man darf auch sagen unersetzt, die vor 40 Jahren auf dem Plane standen. Unvergessen noch sind die Namen eines van der Nüll und Heinrich v. Ferstel, eines Theophilos Hansen und Friedrich Schmidt und die noch mancher anderen Künstler jener Tage. Sie sind unvergessen. Aber sie sind zur Zeit auch noch unersetzt. Mir dünkt, das kann heute nicht leicht stark genug betont werden. Unsere Zeit - ja, sagen wir Zeit, ohne Namen zu nennen - ist übermüthig und blickt mit Geringschätzung, wenigstens mit zu geringer Schätzung, auf ihre Altvordern herab. Aber diese »Zeit« hätte allen Grund, vielmehr mit Hochachtung auf das zurückzublicken, was vor ihr war. Das forderte nicht nur die historische Gerechtigkeit, sondern auch die kluge Vorsicht von ihr, denn sie hat ihr Meisterstück noch zu leisten, und der Freibrief wird ihr von einer Instanz ausgestellt werden, von der sie nur das eine wissen kann, dass sie strenge ist: das ist die Zukunft. Nicht Hochmuth, nicht Selbstüberschätzung, noch weniger Geringachtung des Alten, nur Selbstvertrauen und die wahre Erkenntnis des eigenen Könnens soll uns deshalb erfüllen, während wir der zweiten Wiener Renaissance entgegenschreiten, allerdings mit der Hoffnung entgegenschreiten, dass auch sie ihre Künstlergeneration finden wird, so wie die erste Wiener Renaissance sie dereinst gefunden hat.

v. Feldegg