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Autor: Feldegg, Ferdinand von
In: Der Architekt - 6 (1900); S. 11 - 13
 
Über Grundlagen modernen Empfindens*)
 
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*) Im Nachfolgenden soll das Ergebnis dreier Discussions-Abende im bautechnischen Verein  »A k r o p o l i s« in Kürze zusammengefasst werden. Es wird sich darin so mancher Gedanke von Wert finden. Zusammengehalten mit einer vor nicht zu langer Zeit in dem größten österreichischen Fachverein dem gleichen Thema gewidmeten Besprechung - deren Inhaltslosigkeit freilich eine geradezu überraschende war - gewinnt jene Discussion sogar eine wenigstens relativ große Bedeutung.


Die grundlegenden Anfänge jedwedes culturgeschichtlichen Umschwunges liegen Jahrzehnte, selbst oft ein Jahrhundert zurück. Auch die »Moderne« ist kein Product unserer Zeit allein, sondern bloß deren Erscheinung. Was unsere Zeit in ihrem ganzen Wesen vorbereitete, das wird auch die Moderne - wie wir die Kunstweise unserer Tage zu nennen pflegen - beeinflusst haben. Unsere Zeit fußt auf den Endergebnissen der großen Aufklärungsperiode, die den Übergang des XVIII. zum XIX. Jahrhundert bildet. Stärker als jemals zuvor in der Geschichte drängte sich den Denkern, zumal den deutschen, die Erkenntnis auf, dass die Welt als Problem nicht allein eine äußere, objective, sondern auch eine innere, subjective Seite aufweise; dass der naive Realismus, der die Dinge so »an sich« nimmt, wie er sie zu sehen vermeint, oberflächlich und deshalb falsch ertheilt; dass in Wahrheit die Dinge, wie wir sie sehen, ebensosehr und zugleich ein Product unseres Geistes, unserer Art zu »sehen« sind, als ein Product ihres eigenen Wesens. Es war also die Bedeutung des  S u b j e c t s,  des menschlichen  I n d i v i d u u m s,  welche solcherart von den Denkern gleichsam entdeckt und zu einem unumgänglichen Factor in aller künftigen Geistesthätigkeit proclamiert wurde. Nach Immanuel Kant, dem Begründer dieses wissenschaftlichen Subjectivismus, folgte - wenn wir, wie billig, nur der Denker von bleibendem Einflusse gedenken - Arthur Schopenhauer, dessen »Zuendedenken« der Kant'schen Lehre in dem Satze gipfelte: die Welt sei mein Wille und meine Vorstellung. Die Welt sei Wille - mein Wille; das bedeutete nichts anderes, als mein eigenstes, innerstes Wesen selbst mache die Welt aus. Der Fortschritt in der Ausgestaltung eines subjectivistischen, eines persönlichen, individualistischen Erfassens und Durchdringens der Welt ist unverkennbar. Nach Schopenhauer kam, seinen Fußstapfen anfänglich folgend, dann über sie weit hinauseilend, Friedrich Nietzsche, der, was unmittelbare und rasche Wirkung anbelangt, vielleicht einflussreichste Denker aller Zeiten. Nietzsche verdichtete Schopenhauers Lehrbegriff vom »Willen zum Leben«, der in jedwedem Wesen wirke und es erfülle, zu dem Begriffe »Wille zur Macht«. Und damit ist wohl für den Individualismus die knappste und schärfste Formel gefunden, die sich denken lässt. Nietzsches »Übermensch«, seine Herrenmoral, die im Gegensatze zu der bis dahin giltigen Sclavenmoral den Sieg des Starken und Schönen über das Schwache und Hässliche proclamierte, seine Geringschätzung aller ethischen Forderungen - sind nur andere Ausdrücke für denselben Grundgedanken: Sieg des Subjectiven, des Individuellen über das Objective, das Allgemeine. Hier angelangt werden wir nun leicht den Übergang vom rein gedanklichen, philosophischen Wesen unserer Zeit zu deren künstlerischem Wesen finden; ist ja doch ein gut Theil künstlerischen Wesens schon in jener philosophischen Gedankenarbeit selbst enthalten, die mit ihren letzten, fast peinlichen Folgerungen, die widerspruchslos anzunehmen sowohl dem Denker, als dem Moralisten unmöglich ist, eben nur den Künstler ganz für sich gewinnen dürfte. Die Lossagung der Kunst vom naiven Realismus, so spät, ja auffallend spät sie eintrat, war somit eine durchaus vorbereitete, nothwendige. Auch die Kunst musste ja schließlich erkennen, dass die objectiven Dinge - seien sie gegenwärtige der Natur oder vergangene der Geschichte - nicht die einwandfreien Werte sind, die sie bis dahin in ihnen zu erblicken glaubte. Auch die Kunst musste einsehen, dass ein Baum »an sich« wohl in der Natur, nicht aber in seiner Wiedergabe durch das menschliche Auge ein widerspruchsloses Ding sei, dass der »Triumphzug des Germanicus« oder die »Zerstörung Jerusalems«, die kein noch lebendes Auge je geschaut, nicht »an sich« ein Vorwurf der Kunst sein könne, dass vielmehr in Wahrheit jener Baum erst  d a n n  Object der Kunst geworden, nachdem er im innern Auge, der Seele eines Künstlers sich wiederspiegelte, und jenes geschichtliche Ereignis erst  d a n n  ein Object der Kunst geworden, nachdem es mit dem Empfindungsinhalt, der »Seelennote«, eines Künstlers versehen wurde. Nicht also die Dinge möglichst so zu geben, wie sie an sich sind oder an sich gewesen sein mögen, ist Zweck der Kunst, sondern sie so zu geben, wie sie ein ganz bestimmtes künstlerisches Individuum erblickt. Nicht objektive »Werte«,  s u b j e c t i v e  »Werte« hat die Kunst zu liefern. Nicht die logische, allgemein giltge Erfassung der Dinge in der Welt ist Problem der Kunst und deren sinnliche Wiedergabe nicht Aufgabe des Künstlers, sondern die gefühlsmäßige, besondere, persönliche Erfassung ist ihr Problem und deren sinnliche Wiedergabe ist seine Aufgabe.

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Ob die solcherart ganz von Subjectivismus durchdrungene moderne Kunst »realiatisch« genannt werden darf, ist eine wohl entschieden zu verneinende Frage. Während es dem Realismus entspricht, zunächst das Äußere, den Gegenstand, auf seine künstlerische »Wertigkeit« zu prüfen, während er demgemäß von malerischen und nicht malerischen  M o t i v e n  sprechen und zwischen ihnen streng unterscheiden zu sollen glaubt, fragt die moderne Kunst dergleichen nicht, setzt sie schlankweg ein Motiv und lässt es schlechtweg wirken, als solches, ganz individuell - und in der Stärke dieser Wirkung als solcher liegt für sie die künstlerische »Wertigkeit«. Das ist nicht bloß kein Realismus, sondern gerade dessen Gegentheil, soferne wir nur diesen Begriff echt und in seinem geschichtlichen Sinne fassen: Als eine von den äußeren Dingen ausgehende, von ihnen bestimmte Auffassungsweise, im Gegensatze zum Subjectivismus, der die innere, seelische Quelle wesentlich benützt. Realismus schöpft stets aus der Natur und der Geschichte, der »äußeren Erfahrung«, deren gleichsam künstlerische Auslese er uns zu geben trachtet; Subjectivismus schöpft dagegen mit Vorliebe aus der »inneren Erfahrung«, er späht nach Seelenwerten und gestaltet solche aus dem Innern heraus. Realismus verinnerlicht vielfach das Äußere, sucht es uns zu vermitteln; Subjectivismus veräußerlicht unser eigenes Inneres, es uns möglichst getreu wiederspiegelnd. Dieses Überwiegen der »Seelenwerte« in der modernen Kunstauffassung zeitigt auch jene vielbeachtete, aber häufig missverstandene Vorliebe der Modernen für das Krankhafte, das Psychopathische. Diese Vorliebe erklärt sich einfach aus der Thatsache des gesteigerten Innenlebens bei krankhaften Zuständen. Wie schon Schopenhauer treffend bemerkte: Wir fühlen das schmerzende Hühnerauge - den ganzen übrigen gesunden Körper fühlen wir nicht. Der psychopathische Zug zahlreicher moderner Kunstschöpfungen - literarischer und bildnerischer Art - ist somit eine rein accessorische Folge der im Pathologischen begründeten absoluten Steigerung aller Seelenwerte; er fließt nicht, wie man fälschlich glaubt, aus einer Vorliebe für das Kranke als solches. Wenn wir nun an die Anwendung der Kategorien »realistisch« und »individualistisch«, wie sie sich uns bisher ergaben, auf die Baukunst schreiten, so befremdet uns zunächst die erstere Anwendung. Kann man von der Architektur denn überhaupt als einer realistischen Kunst sprechen? Es scheint, dass die Architektur, als eine nicht nachahmende Kunst, jedes realen Vorbildes überhaupt entbehrt, dass sie weder in der Natur, noch in der Geschichte ein solches Vorbild findet, wie wir es doch bei den beiden anderen bildenden Künsten sicher antreffen. In der That ist nun die Architektur in ihren Originalschöpfungen nicht nachahmend. Die naturalistische Hypothese, wonach die Uranfänge der Baukunst sich in ihren Bildungen an die Natur - etwa die Bäume - anlehnten, ist längst als falsch aufgegeben. Ebensowenig kann die materialistische Hypothese aufrecht erhalten werden, die Baukunst schöpfte ihre originalen Urformen aus den materiellen Eigenschaften ihrer Stoffe, sie sei im technologischen Sinne »nachahmend« oder wenigstens nachempfindend; ebensowenig die utilitaristische Hypothese, sie lehne sich in ihren Urbildern genau an menschliche Bedürfnisse an, sei durch sie in ihrer Formengebung inspiriert, sei in utilitärer Hinsicht »nachahmend« oder wenigstens einfühlend entstanden. Einzig und allein die psychologisch-ästhetische Hypothese, wonach die Uranfänge der Baukunst einem angebornen (oder wenigstens allmählich im Urzustande erworbenen) Triebe nach Verzierung, der den analogen Trieben bei der Spracherfindung, ja selbst schon bei der ihr voraufgehenden Lautbildung u. dgl. parallel läuft, entsprungen sind, hat Aussicht auf zukünftige wissenschaftliche Anerkennung. Darnach also scheint wirklich die Baukunst, soferne wir ihre originale  A n f a n gsthätigkeiten im Auge behalten, jeder realistischen, objectiven Quelle zu entbehren und gänzlich aus einer inneren, subjectiven Quelle ihre Anregung zu schöpfen. Anders aber freilich die Architektur in ihrem  h i s t o r i s c h e n  V e r l a u f e.  Hier, wo in der Bildung festumschriebener Formengruppen - den Stilen - nach und nach eine vorbildliche Unterlage für jede weitere, spätere Schöpfung entstanden, zeigen sich auch bald genug die Ansätze zu einer »realistischen«, d. h. aus dem »objectiv Gegebenen« schöpfenden Kunstauffassung. Und so ist denn in der Baukunst das, was man strenge »historische Richtung« nennt, zugleich mit gutem Grund als »Realismus« zu bezeichnen, ist die Kategorie des »realistischen« in der Baukunst in der Form der  N a c h a h m u n g,  zwar keiner natürlichen, wohl aber  k ü n s t l i c h e r  (i. e. künstlerischer)  V o r b i l d e r  verwirklicht. Nachbildung der alten Stile in größtmöglicher Genauigkeit ist der Inhalt der realistischen Baukunst.

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In bewusstem und gewolltem Gegensatze dazu zielt nun das Bestreben der modernen Richtung, allerdings etwas verspätet, dahin, auch in der Baukunst vom Realismus zum Individualismus oder, allgemeiner gesagt, vom Objectivismus zum Subjectivismus überzugehen: In genauer Befolgung des seit einem Jahrhundert geschichtlich vorbereiteten Umschwunges unserer Gesammtcultur.  D i e  m o d e r n e  B a u k u n s t  s c h ö p f t  b e w u s s t e r  a u s  d e r  i n n e r e n,  d e r  i n d i v i d u e l l e n  Q u e l l e,  a l s  d i e  i h r  v o r a u s g e g a n g e n e  h i s t o r i s c h e  R i c h t u n g  g e t h a n.*)

*) Gewisse materialistische Alluren der modernen Architekturt h e o r i e dürfen uns nicht irre machen. Sie betreffen ja das Wesen der Sache so wenig, dass sogar ein in der Kunstpraxis tonangebender Meister zugleich Verfasser eines extrem-materialistischen Buches über Architektur werden konnte; ein Widerspruch, der unter der Voraussetzung einer die Praxis  d e c k e n d e n  Theorie einfach möglich wäre.


Gleich der übrigen bildenden Kunst betrachtet sie es nicht mehr als ihre vornehmste Aufgabe, objective Werte (bei der Malerei und Bildnerei sogenannte künstlerische Motive, bei der Baukunst historische Stilformen) wiederzugeben, sondern vielmehr neue, individuelle Werte zu schaffen. Sie hat eine wesentlich auf Erfindung gerichtete (heuristische) Tendenz. Diese neuen Werte werden aber nothwendig aus der inneren - als der neben der äußeren einzig noch möglichen - Quelle geschöpft werden müssen, es werden, im Unterschiede zu den objectiven, äußeren Werten subjective Werte, also Seelenwerte sein. Deren künstlerische Ausgestaltung werden wir uns - ähnlich wie am Anfange der Kunst - als eine Art organprojectiven Vorganges zu denken haben, also einen Vorgang, bei welchem Seelenzustände (innere Organverhältnisse), nach außen projiciert und ins Körperliche übertragen, zur »Erscheinung« gebracht werden. Dass dieser Vorgang möglich, ja dass er wirklich ist, beweist die Fülle der technischen Erfindungen - von der einfachen Axt angefangen bis zum Riesenteleskop - welche insgesammt nach Kapps (»Philosophie der Technik«) überzeugender Darlegung organprojectivisch entstandene Artefacte sind. So ist die Axt in ihren Maßen und Gewichtsverhältnissen analog dem menschlichen Arm, das Fernrohr analog dem menschlichen Sehapparat durchgebildet u. s. f. Nur freilich handelt es sich bei den Erzeugnissen künstlerischer Art, wie es die Gebilde der Baukunst sind, um weit höhere, geistigere Seelenwerte, als sie den rein technischen Erzeugnissen zugrunde liegen. Es sind nicht, wie bei diesen, bloß dynamische, auf Kräftespannungen in den Muskeln oder, wie im besonderen bei dem dem Auge nachgeahmten Fernrohr, auf physikalisch-anatomischen Beziehungen beruhende, also sogenannte niedere Seelenwerte, die hier ins Spiel treten, sondern höhere Seelenwerte aus dem geistigen Besitzstande der Menschheit, die ganze große Scala der Willens-, Gefühls- und Denkvorgänge umfassend. Diese Seelenwerte sind, als  S t i m m u n g sinhalt baukünstlerischer Werke, deren geheime Organisatoren, sie führen ebenso die Hand des Künstlers, während er entwirft, als sie seine Phantasie im Augenblicke der Conception beflügeln. Das aus dem Innern Herausgestalten einer Aufgabe, das der Moderne als der einzig würdige Zweck künstlerischen Schaffens gilt und mit Recht gilt, ist nichts weiter als ein höherer organprojectiver Process im angedeuteten Sinne. Dass bei solcher Art künstlerischer Production das Individuum in seiner ganzen Concretheit engagiert ist, dass bei einer solchen direct aus dem Lebensquell schöpfenden Bethätigung das Individuum zuweilen bis zur scheinbar völligen Ungebundenheit sich entfalten wird, kann uns nicht Wunder nehmen. Aber wie thöricht und zwecklos wäre es anders, das sichere Gebiet des Äußeren, Historischen, Herkömmlichen zu verlassen, wenn uns an seiner Statt nur eine fertige seelische  S c h a b l o n e  geboten werden würde. Das Überschäumende, Ungezähmte der jungen Richtung vermag daher nur jenen dauernd irre zu machen, der das Wesen derselben gänzlich missversteht. Im Vorstehenden dürfte es, wenigstens in seinem Hauptzuge, richtig erfasst worden sein.

F. v. Feldegg