*) Im Nachfolgenden soll das
Ergebnis dreier Discussions-Abende im bautechnischen Verein
»A k r o p o l i s« in Kürze
zusammengefasst werden. Es wird sich darin so mancher Gedanke von Wert
finden. Zusammengehalten mit einer vor nicht zu langer Zeit in dem
größten österreichischen Fachverein dem
gleichen Thema gewidmeten Besprechung - deren Inhaltslosigkeit freilich
eine geradezu überraschende war - gewinnt jene Discussion
sogar eine wenigstens relativ große Bedeutung.
Die grundlegenden Anfänge jedwedes
culturgeschichtlichen Umschwunges liegen Jahrzehnte, selbst oft ein
Jahrhundert zurück.
Auch die »Moderne« ist kein Product unserer Zeit
allein, sondern bloß deren
Erscheinung. Was unsere Zeit in ihrem ganzen Wesen vorbereitete, das
wird auch die Moderne
- wie wir die Kunstweise unserer Tage zu nennen pflegen - beeinflusst
haben. Unsere Zeit fußt auf den Endergebnissen der
großen
Aufklärungsperiode, die den
Übergang des XVIII. zum XIX. Jahrhundert bildet.
Stärker als jemals zuvor in der
Geschichte drängte sich den Denkern, zumal den deutschen, die
Erkenntnis auf, dass die
Welt als Problem nicht allein eine äußere,
objective, sondern auch eine innere,
subjective Seite aufweise; dass der naive Realismus, der die Dinge so
»an sich« nimmt,
wie er sie zu sehen vermeint, oberflächlich und deshalb falsch
ertheilt; dass in Wahrheit
die Dinge, wie wir sie sehen, ebensosehr und zugleich ein Product
unseres Geistes, unserer
Art zu »sehen« sind, als ein Product ihres eigenen
Wesens. Es war also die Bedeutung des S u b j e c t
s, des
menschlichen I n d i
v i d u u m s, welche solcherart von den Denkern gleichsam
entdeckt und zu einem
unumgänglichen Factor in aller künftigen
Geistesthätigkeit proclamiert wurde. Nach Immanuel Kant, dem
Begründer dieses wissenschaftlichen
Subjectivismus, folgte - wenn
wir, wie billig, nur der Denker von bleibendem Einflusse gedenken -
Arthur Schopenhauer,
dessen »Zuendedenken« der Kant'schen Lehre in dem
Satze gipfelte: die Welt sei mein
Wille und meine Vorstellung. Die Welt sei Wille - mein Wille; das
bedeutete nichts anderes, als mein
eigenstes,
innerstes Wesen selbst mache die Welt aus. Der Fortschritt in der
Ausgestaltung eines subjectivistischen, eines
persönlichen,
individualistischen Erfassens und Durchdringens der Welt ist
unverkennbar. Nach Schopenhauer kam, seinen Fußstapfen
anfänglich
folgend, dann über sie weit
hinauseilend, Friedrich Nietzsche, der, was unmittelbare und rasche
Wirkung anbelangt,
vielleicht einflussreichste Denker aller Zeiten. Nietzsche verdichtete
Schopenhauers Lehrbegriff vom »Willen
zum Leben«, der in jedwedem
Wesen wirke und es erfülle, zu dem Begriffe »Wille
zur Macht«. Und damit ist wohl für
den Individualismus die knappste und schärfste Formel
gefunden, die sich denken lässt.
Nietzsches »Übermensch«, seine
Herrenmoral, die im Gegensatze zu der bis dahin giltigen
Sclavenmoral den Sieg des Starken und Schönen über
das Schwache und Hässliche
proclamierte, seine Geringschätzung aller ethischen
Forderungen - sind nur andere
Ausdrücke für denselben Grundgedanken: Sieg des
Subjectiven, des Individuellen über das
Objective, das Allgemeine. Hier angelangt werden wir nun leicht den
Übergang vom rein
gedanklichen, philosophischen
Wesen unserer Zeit zu deren künstlerischem Wesen finden; ist
ja doch ein gut Theil
künstlerischen Wesens schon in jener philosophischen
Gedankenarbeit selbst enthalten, die
mit ihren letzten, fast peinlichen Folgerungen, die widerspruchslos
anzunehmen sowohl dem
Denker, als dem Moralisten unmöglich ist, eben nur den
Künstler ganz für sich gewinnen
dürfte. Die Lossagung der Kunst vom naiven Realismus, so
spät, ja auffallend spät sie
eintrat, war somit eine durchaus vorbereitete, nothwendige. Auch die
Kunst musste ja
schließlich erkennen, dass die objectiven Dinge - seien sie
gegenwärtige der Natur oder
vergangene der Geschichte - nicht die einwandfreien Werte sind, die sie
bis dahin in ihnen
zu erblicken glaubte. Auch die Kunst musste einsehen, dass ein Baum
»an sich« wohl in
der Natur, nicht aber in seiner Wiedergabe durch das menschliche Auge
ein
widerspruchsloses Ding sei, dass der »Triumphzug des
Germanicus« oder die »Zerstörung
Jerusalems«, die kein noch lebendes Auge je geschaut, nicht
»an sich« ein Vorwurf der
Kunst sein könne, dass vielmehr in Wahrheit jener Baum
erst d a n n Object
der Kunst geworden, nachdem er im innern Auge, der Seele eines
Künstlers sich
wiederspiegelte, und jenes geschichtliche Ereignis erst d a n
n ein Object der
Kunst geworden, nachdem es mit dem Empfindungsinhalt, der
»Seelennote«, eines Künstlers
versehen wurde. Nicht also die Dinge möglichst so zu geben,
wie sie an sich sind oder an sich gewesen sein mögen, ist
Zweck der Kunst,
sondern sie so zu geben, wie sie ein ganz bestimmtes
künstlerisches Individuum erblickt.
Nicht objektive »Werte«, s u b j e c t i
v
e »Werte« hat die Kunst zu liefern. Nicht
die logische, allgemein giltge Erfassung
der Dinge in der Welt ist Problem der Kunst und deren sinnliche
Wiedergabe nicht Aufgabe
des Künstlers, sondern die
gefühlsmäßige, besondere,
persönliche Erfassung ist ihr
Problem und deren sinnliche Wiedergabe ist seine Aufgabe.
Ob die solcherart ganz von Subjectivismus durchdrungene moderne Kunst
»realiatisch«
genannt werden darf, ist eine wohl entschieden zu verneinende Frage.
Während es dem
Realismus entspricht, zunächst das Äußere,
den Gegenstand, auf seine künstlerische
»Wertigkeit« zu prüfen, während
er demgemäß von malerischen und nicht
malerischen M o t i v e n sprechen und zwischen
ihnen streng unterscheiden zu
sollen glaubt, fragt die moderne Kunst dergleichen nicht, setzt sie
schlankweg ein Motiv
und lässt es schlechtweg wirken, als solches, ganz individuell
- und in der Stärke
dieser Wirkung als solcher liegt für sie die
künstlerische »Wertigkeit«. Das ist nicht
bloß kein Realismus, sondern gerade dessen Gegentheil,
soferne wir nur diesen Begriff
echt und in seinem geschichtlichen Sinne fassen: Als eine von den
äußeren Dingen
ausgehende, von ihnen bestimmte Auffassungsweise, im Gegensatze zum
Subjectivismus, der
die innere, seelische Quelle wesentlich benützt. Realismus
schöpft stets aus der Natur
und der Geschichte, der »äußeren
Erfahrung«, deren gleichsam künstlerische Auslese er
uns zu geben trachtet; Subjectivismus schöpft dagegen mit
Vorliebe aus der »inneren
Erfahrung«, er späht nach Seelenwerten und gestaltet
solche aus dem Innern heraus.
Realismus verinnerlicht vielfach das Äußere, sucht
es uns zu vermitteln; Subjectivismus
veräußerlicht unser eigenes Inneres, es uns
möglichst getreu wiederspiegelnd. Dieses Überwiegen
der »Seelenwerte« in der
modernen Kunstauffassung zeitigt auch jene
vielbeachtete, aber häufig missverstandene Vorliebe der
Modernen für das Krankhafte, das
Psychopathische. Diese Vorliebe erklärt sich einfach aus der
Thatsache des gesteigerten
Innenlebens bei krankhaften Zuständen. Wie schon Schopenhauer
treffend bemerkte: Wir
fühlen das schmerzende Hühnerauge - den ganzen
übrigen gesunden Körper fühlen wir
nicht. Der psychopathische Zug zahlreicher moderner
Kunstschöpfungen - literarischer und
bildnerischer Art - ist somit eine rein accessorische Folge der im
Pathologischen
begründeten absoluten Steigerung aller Seelenwerte; er
fließt nicht, wie man fälschlich
glaubt, aus einer Vorliebe für das Kranke als solches. Wenn
wir nun an die Anwendung der Kategorien
»realistisch« und
»individualistisch«,
wie sie sich uns bisher ergaben, auf die Baukunst schreiten, so
befremdet uns zunächst
die erstere Anwendung. Kann man von der Architektur denn
überhaupt als einer
realistischen Kunst sprechen? Es scheint, dass die Architektur, als
eine nicht nachahmende
Kunst, jedes realen Vorbildes überhaupt entbehrt, dass sie
weder in der Natur, noch in
der Geschichte ein solches Vorbild findet, wie wir es doch bei den
beiden anderen
bildenden Künsten sicher antreffen. In der That ist nun die
Architektur in ihren
Originalschöpfungen nicht nachahmend. Die
naturalistische Hypothese, wonach die Uranfänge der Baukunst
sich in ihren Bildungen an
die Natur - etwa die Bäume - anlehnten, ist längst
als falsch aufgegeben. Ebensowenig
kann die materialistische Hypothese aufrecht erhalten werden, die
Baukunst schöpfte ihre
originalen Urformen aus den materiellen Eigenschaften ihrer Stoffe, sie
sei im
technologischen Sinne »nachahmend« oder wenigstens
nachempfindend; ebensowenig die
utilitaristische Hypothese, sie lehne sich in ihren Urbildern
genau an menschliche Bedürfnisse an, sei durch sie in ihrer
Formengebung inspiriert, sei
in utilitärer Hinsicht »nachahmend« oder
wenigstens einfühlend entstanden. Einzig und
allein die psychologisch-ästhetische Hypothese, wonach die
Uranfänge der Baukunst einem
angebornen (oder wenigstens allmählich im Urzustande
erworbenen) Triebe nach Verzierung,
der den analogen Trieben bei der Spracherfindung, ja selbst schon bei
der ihr
voraufgehenden Lautbildung u. dgl. parallel läuft, entsprungen
sind, hat Aussicht auf
zukünftige wissenschaftliche Anerkennung. Darnach also scheint
wirklich die Baukunst, soferne wir ihre
originale A n f a n
gsthätigkeiten im Auge behalten, jeder realistischen,
objectiven Quelle zu entbehren und
gänzlich aus einer inneren, subjectiven Quelle ihre Anregung
zu schöpfen. Anders aber
freilich die Architektur in ihrem h i s t o r i s c h e
n V e r l a u f e. Hier, wo in der Bildung
festumschriebener Formengruppen -
den Stilen - nach und nach eine vorbildliche Unterlage für
jede weitere, spätere
Schöpfung entstanden, zeigen sich auch bald genug die
Ansätze zu einer
»realistischen«, d. h. aus dem »objectiv
Gegebenen« schöpfenden Kunstauffassung. Und
so ist denn in der Baukunst das, was man strenge »historische
Richtung« nennt, zugleich
mit gutem Grund als »Realismus« zu bezeichnen, ist
die Kategorie des »realistischen«
in der Baukunst in der Form der N a c h a h m u n
g, zwar keiner natürlichen,
wohl aber k ü n s t l i c h e r (i. e.
künstlerischer) V o r b i l d e
r verwirklicht. Nachbildung der alten Stile in
größtmöglicher Genauigkeit ist der
Inhalt der realistischen Baukunst.
In bewusstem und gewolltem Gegensatze dazu zielt nun das Bestreben der
modernen Richtung,
allerdings etwas verspätet, dahin, auch in der Baukunst vom
Realismus zum Individualismus
oder, allgemeiner gesagt, vom Objectivismus zum Subjectivismus
überzugehen: In genauer
Befolgung des seit einem Jahrhundert geschichtlich vorbereiteten
Umschwunges unserer
Gesammtcultur. D i e m o d e r n e B a u
k u n s t s c h ö p f
t b e w u s s t e r a u s d e r
i n n e r e n, d e r i
n d i v i d u e l l e n Q u e l l e, a l
s d i e i h r v o r
a u s g e g a n g e n e h i s t o r i s c h e R i c
h t u n g g e t h a
n.*)
*) Gewisse materialistische
Alluren der modernen Architekturt h e o r i e dürfen uns nicht
irre machen. Sie betreffen ja das Wesen der Sache so wenig, dass sogar
ein in der Kunstpraxis tonangebender Meister zugleich Verfasser eines
extrem-materialistischen Buches über Architektur werden
konnte; ein Widerspruch, der unter der Voraussetzung einer die
Praxis
d e c k e n d e n Theorie einfach möglich
wäre.
Gleich der übrigen bildenden Kunst betrachtet
sie es nicht mehr als ihre vornehmste Aufgabe, objective Werte (bei der
Malerei und
Bildnerei sogenannte künstlerische Motive, bei der Baukunst
historische Stilformen)
wiederzugeben, sondern vielmehr neue, individuelle Werte zu schaffen.
Sie hat eine
wesentlich auf Erfindung gerichtete (heuristische) Tendenz. Diese neuen
Werte werden aber
nothwendig aus der inneren - als der neben der
äußeren einzig noch möglichen - Quelle
geschöpft werden müssen, es werden, im Unterschiede
zu den objectiven, äußeren Werten
subjective Werte, also Seelenwerte sein. Deren künstlerische
Ausgestaltung werden wir uns
- ähnlich wie am Anfange der Kunst - als eine Art
organprojectiven Vorganges zu denken
haben, also einen Vorgang, bei welchem Seelenzustände (innere
Organverhältnisse), nach
außen projiciert und ins Körperliche
übertragen, zur »Erscheinung« gebracht
werden.
Dass dieser Vorgang möglich, ja dass er wirklich ist, beweist
die Fülle der technischen
Erfindungen - von der einfachen Axt angefangen bis zum Riesenteleskop -
welche insgesammt
nach Kapps (»Philosophie der Technik«)
überzeugender Darlegung organprojectivisch
entstandene Artefacte sind. So ist die Axt in ihren Maßen und
Gewichtsverhältnissen
analog dem menschlichen Arm, das Fernrohr analog dem menschlichen
Sehapparat durchgebildet
u. s. f. Nur freilich handelt es sich bei den Erzeugnissen
künstlerischer Art, wie es die
Gebilde der Baukunst sind, um weit höhere, geistigere
Seelenwerte, als sie den rein
technischen Erzeugnissen zugrunde liegen. Es sind nicht, wie bei
diesen, bloß dynamische,
auf Kräftespannungen in den Muskeln oder, wie im besonderen
bei dem dem Auge nachgeahmten
Fernrohr, auf physikalisch-anatomischen Beziehungen beruhende, also
sogenannte niedere
Seelenwerte, die hier ins Spiel treten, sondern höhere
Seelenwerte aus dem geistigen Besitzstande der Menschheit, die ganze
große Scala der
Willens-, Gefühls- und Denkvorgänge umfassend. Diese
Seelenwerte sind, als S t i m
m u n g sinhalt baukünstlerischer Werke, deren geheime
Organisatoren, sie führen ebenso
die Hand des Künstlers, während er entwirft, als sie
seine Phantasie im Augenblicke der
Conception beflügeln. Das aus dem Innern Herausgestalten einer
Aufgabe, das der Moderne als
der einzig würdige
Zweck künstlerischen Schaffens gilt und mit Recht gilt, ist
nichts weiter als ein
höherer organprojectiver Process im angedeuteten Sinne. Dass
bei solcher Art künstlerischer Production das Individuum
in seiner ganzen
Concretheit engagiert ist, dass bei einer solchen direct aus dem
Lebensquell schöpfenden
Bethätigung das Individuum zuweilen bis zur scheinbar
völligen Ungebundenheit sich
entfalten wird, kann uns nicht Wunder nehmen. Aber wie
thöricht und zwecklos wäre es anders, das
sichere Gebiet des Äußeren,
Historischen, Herkömmlichen zu verlassen, wenn uns an seiner
Statt nur eine fertige
seelische S c h a b l o n e geboten werden
würde. Das Überschäumende,
Ungezähmte der jungen Richtung vermag daher nur jenen dauernd
irre zu machen, der das
Wesen derselben gänzlich missversteht. Im Vorstehenden
dürfte es, wenigstens in seinem Hauptzuge,
richtig erfasst worden sein.
F. v. Feldegg |