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Autor: Göller, Adolf
In: Deutsche Bauzeitung -  20 (1886); S. 174 - 175
 
Über die Wirkung des edlen Materials in der Architektur und im Kunstgewerbe
 
Mittheilungen aus Vereinen.
Württembergischer Verein für Baukunde. 1.  o r d e n t l.  V e r s a m m l u n g  am 5. Märs 1886. Vorsitzender:  v.  Hänel.
Nach Erledigung des geschäftlichen Theils sprach Professor  Göller:
"U e b e r  d i e  W i r k u n g  d e s  e d l e n  M a t e r i a l s  i n  d e r  A r c h i t e k t u r  u n d  i m  K u n s t g e w e r b e."

Redner suchte 2 Thatsachen der Erfahrung zu erklären, einerseits die erfreuende Wirkung, welche die edlen Metalle, die Juwelen und Halbedelsteine, die Perlen, die kostbaren textilen Stoffe, dann die feinen Bausteine, Marmor, Porphyr, Granit usw. auf das Auge ausüben, andererseits die große Verschiedenwerthigkeit des Eindrucks einer in verschiedenen Materialien ausgeführten Form, z. B. einer Façade in Haustein gegenüber einer solchen in Zement- oder Kalkputz, einer Säule in Marmor gegenüber einer gleichgebauten in Sandstein oder gebranntem Thon, eines Möbelstücks in einer feinen Holzart, gegenüber einem solchen in einer gewöhnlichen. Diese Thatsachen sind bisher von der Aesthetik nicht untersucht, ja kaum beachtet worden. Ueberall im Leben ist das Gefühl des Augenblicks bestimmt durch die Vorstellungen, die in diesem Augenblick klar oder minder klar in der Seele thätig sind; dasselbe muss auch im Gefühl des Schönen, also auch in der Freude an jenen edlen Materialien zu treffen sein. Geht man an die Zergliederung der Vorstellungen, welche dem Eindruck derselben zu Grunde liegen, so findet sich günstiger Weise, dass eine solche Zergliederung sehr weit geführt werden kann, wogegen sie in andern Gebieten des Formschönen bald auf Schwierigkeiten stößt. Zuerst sind zwei Vorzüge der edlen Stoffe auszuscheiden, welche zwar im Gefühl lebhaft mitwirken, aber doch von der Wirkung auf das Auge zu trennen sind, nämlich die physikalische Ueberlegenheit und der hohe Tauschwerth. Es ist sicher, dass das Wissen von der Härte, Geschmeidigkeit, Weichheit und Feinheit der Oberfläche, von der Widerstandsfähigkeit gegen mächtigen Druck, vom Ausdauern im Feuer oder Wasser usw. jenen Stoffen einen Theil ihres Adels verleiht, und dass z. B. schon diesem Wissen ein Theil der edleren Wirkung der Hausteinformen gegenüber denjenigen im Verputz zuzuschreiben ist; aber die Frühzeitigkeit, mit welcher die Freude am Glänzenden und Farbenreihen im Kindesalter erscheint, noch ehe man von diesen Vorzügen weiß, lässt erkennen, dass die Wirkung des edlen Materials der Hauptsache nach auf anderen Ursachen beruht. Für die Mitwirkung des Wissens von ihrem hohen konventionellen Werth in der Freude an vielen Kunstgebilden können viele Aeußerungen und Werke des Alterthums, z. B. die chryselephantinen Götterbilder der Griechen, als Belege dienen. -

Ein dritter Vorzug des edlen Materials liegt darin, dass es die vom Entwerfenden gedachten Formen weit vollständiger erreichen kann, als das gewöhnliche. Die Ebene an gebranntem Thon oder Gusseisen ist nicht eine genaue Ebene, sondern eine Landschaft aus kleinen Hügeln und Thälern, dabei immer etwas windschief oder gewölbt; die Kanten sind immer etwas abgerundet und verzogen. Weit strenger ist die Ebene und gerade Linie schon zu erreichen in Marmor oder polirtem Granit. Eine Gesimskante in gebrannten Steinen ist eine hin- und herzitternde Linie, in Haustein weit mehr eine strenge gerade. Diese Thatsachen, sowie die Vergleichung des Eindrucks, den das Backstein-Mauerwerk, der Wandverputz und der Oelfarben-Anstrich in den verschiedenen gebräuchlichen Feinheitsgraden ihrer Ausführung darbieten, können lehren, dass der Eindruck all dieser Arbeiten um so schöner wird, je mehr es gelingt, die Ebene zur wahren Ebene, die Kante zur wahren geraden Linie zu machen, und beim edlen Material gelingt dies eben weit mehr. Nach Ausscheidung auch dieses Vorzugs bleibt die Wirkung der Oberfläche an sich übrig. Um auch diese zu zergliedern, wurden konkrete Beispiele eingeführt, nämlich ebene polirte Platten aus Malachit, Jaspis oder Achat. Der überaus feine Eindruck dieser Schmucksteine ergiebt als leicht auszuschneidende Vorstellungen die folgenden: 1. Die Ebene, 2. die Zeichnung oder den Linienzug, der auf der Fläche erscheint, 3. die Kontraste der hellen und dunklen Streifen, 4. den Reiz der Farbe, 5. den Glanz, 6. einen mehr oder minder starken Grad des Durchscheinens der oberflächlichen Schicht. Man kann nun jedes einzelne dieser Elemente sich heraus genommen denken und beurtheilen, welchen Schönheitswerth es an sich darbietet, und in welchem Maaß es durch sein Hinzutreten die Schönheit das Ganzen steigert. Dass z. B. der Linienzug, der auf jenen Schmucksteinplatten so weich hinfließt, an sich wenig werth ist, lässt sich durch Herauszeichnen auf Papier beweisen, dass er aber die Schönheit der Platten deutlich erhöht, ergiebt die Vergleichung der eintönigen Steine mit den gestreiften. Die Zusammenstellung polirter und unpolirter Platten gleicher Zeichnung beweist, dass der Glanz zur schönen Wirkung sehr viel beiträgt; dagegen lehrt ein Stück Thon in Firniss getaucht, dass er an·sich auch nur wenig werth sein kann. Was die Platten ohne den Reiz der Farbe und den leichten Grad ihres Durchscheinens werth sind, können ihre glatt und eben aufgespannten Photographien anschaulich machen; was die Ebene zum Ganzen beiträgt, das lehrt die Vergleichung einer unpolirten Platte mit einem Stück des rohen Minerals. Die Durchführung dieser Vergleichungen ergiebt das Resultat, dass jede Einzelvorstellung, die eine solche Schmucksteinplatte erweckt, obgleich an sich wenig werth, durch ihre Gleichzeitigkeit mit den übrigen eine hohe Wirkung erzielt.  N a c h  e i n a n d e r  erscheinend, lassen sie das Auge ungerührt; durch ihre Vereinigung werden sie stark. Indem man zur Ebene die Zeichnung, zu dieser den Kontrast heller und dunkler Flächen, dann den Reiz der Farbe, endlich den des Durchscheinens und des Glanzes fügt, sieht man die Schönheit entspringen und wachsen und sich vollenden. Wie in der Mathematik die Größen sich mit einander multipliziren lediglich durch ihr Nebeneinandertreten, so erzeugen jene Einzelvorstellungen, als an sich arme psychologische Faktoren, lediglich durch ihr Zusammentreten im Bewusstsein das unverhältnißmäßig viel reichere psychologische Produkt des Schönen.

Die meisten der aufgezählten Einzelvorstellungen lassen sich nun noch weiter zerlegen; nach den Ergebnissen der Physik und Physiologie ist z. B. der Glanz das Zusammenwirken zweier verschieden farbiger Lichtarten auf einer und derselben Fläche, und auch vom Durchscheinen der oberflächlichen Schicht lässt sich nachweisen, dass sein Eindruck beruht auf einer Abstufung verschieden tief gefärbter Lichtstrahlen, von Weiß bis zu einem gewissen Maximalwerth der betreffenden Farbe und dass diese Kollektion verschieden farbentiefer Lichtstrahlen, als der Elemente der Körperfarbe, um so reichhaltiger, dass ferner die Körperfarbe um so voller, flüssiger wird, je stärker das Durchscheinen. Man gelangt dadurch zur Auflösung des ganzen Eindrucks jener Platten in eine Anzahl gleichzeitiger einfacher Lichtempfindungen und Vorstellungen des Auges. Auf der  V i e l h e i t  dieser Elemente beruht die Schönheit der Oberfläche des edlen Materials; der Vermehrung und Verminderung der Zahl dieser Elemente entspricht eine Zunahme und Abnahme ihrer Wirkung auf das Auge. Freilich darf nicht behauptet werden, wenigstens nicht ohne weiteren Nachweis behauptet werden, dass diese Wirkung  n u r   auf der Vielheit, nicht auch auf der  Q u a l i t ä t  der vereinigten Elemente beruhe; denn auch die Oberfläche des rohen Minerals ist ja eine Vorstellung des Auges, so gut wie die Ebene des polirten Steins. Aber die Durchführung der Zergliederung in Beziehung auf die Vorstellungen der Ebene und der regellosen Fläche macht es trotzdem wahrscheinlich, dass es nur auf die  V i e l h e i t  ankommt. Der Reiz der Edelsteine beruht auf dem Zusammenwirken vieler Lichtarten, theils weißer, theils farbiger und der reich zusammen gesetzten Vorstellung der Raumgestalt. Die Vergleichung geschliffener und ungeschliffener Steine zeigt auch hier, was die Summirung der gleichzeitigen Vorstellungen leistet. Die Schönheit der Gebilde aus Edelmetall liegt ebenfalls im Reichthum der Lichtempfindung vorwiegend in dem schönen Glanz, in welchen zwei wahre Farben zusammen wirken, während sonst das Glanzlicht weiß auftritt, endlich in der fast mathematischen Genauigkeit, mit der die Formen hergestellt werden können. Die Ueberlegenheit des weißen Marmors über den Gips beruht auf einem stärkeren Grad des Durchscheinens, ebenso diejenige von echtem Porzellan über Steingut, von Sandstein über gleichfarbigem Zement oder angestrichenen Verputz. In die Sandsteinfläche dringt das Licht durch die Quarzkörner ein und darauf beruht die feine durchsichtige Farbe; der Zement bildet sich außen eine Kruste, deren Farbe in Folge des fehlenden Durchscheinens trocken und stumpf erscheint. Eine der reichsten Kombinationen von Lichtempfindungen und Vorstellungen des Auges bieten die Blumen. Das aus jenen Schmucksteinplatten abgeleitete Resultat ist überraschend im Einklang mit andern Erscheinungen, der ohne Bedeutung gefallenden Formen; in allen ihren Gebieten findet sich die Thatsache, dass die Schönheit aus einem Zusammentreten vieler, an sich geringwerthiger Elemente entspringt. Der einfache musikalische Ton ist leer und uninteressant, erst die Begleitung mit Obertönen macht ihn brauchbar in der Musik und diejenigen Instrumente sind die werthvollsten, bei denen die Obertöne möglichst vollständig erscheinen. Reicher wird die Musik erst dadurch, dass sie im Akkord einen Ton mit anderen Tönen, in der Melodie eine Tonfolge mit einem Rhythmus oder einer Folge von Zeitmaßen begleitet, und in ihren reichsten Formen, in der Fuge oder im vielstimmigen Satz überhaupt, wirft sie viele Tonfolgen und Rhythmen zugleich in die Seele des Hörers. Dasselbe lehrt das Gedicht, indem es einen Gedanken mit einem regelmäßigen Spiel von Zeitmaßen oder dem  M e t r u m  und von gleichlautenden Silben oder dem  R e i m  begleitet. Wie bei den Schmucksteinen, die Einzelvorstellungen, so sind auch Versmaß und Reim an sich wenig werth; erst durch ihre Vereinigung unter sich und mit dem Gedanken gewinnen sie selber und gewinnt der Gedanke den hohen Einfluss auf das Gefühl. Alle diese Thatsachen weisen darauf hin, dass der Mensch - entgegen einer früher vorgetragenen Lehre von der "Einheit des Bewusstseins" - viele sehr verschiedenartige, wenn nur günstig ausgewählte Vorstellungen zugleich verfolgen kann und dass er dieser umfassenden Geisteskraft, dieser hoch gesteigerten Vorstellungsthätigkeit des Augenblicks das Gefühl des Schönen mit verdankt wenn nicht gar allein verdankt. Der geistvolle Vortrag wurde mit allgemeinem Beifall auf genommen und auch der als Gast anwesende berühmte Aesthetiker Professor Dr. v.  V i s c h e r  sprach seine zustimmende Befriedigung darüber aus. Am 13. März fand eine gesellige Vereinigung statt, in welcher, eingeleitet durch Stadtbaurath  K a i s e r,  die wichtige Frage von der Reinigung städtischer Straßen, insbesondere die Konstruktion der Abfuhrwagen, die Verwerthung des Kehrichts als Dünger, und die Entfernung von Schnee und Eis erörtert wurde. Darauf folgten Gesangsvorträge.