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Autor: Gropius, Walter
In: Deutscher Revolutions-Almanach (1919); S. 134 - 136
 
Baukunst im freien Volksstaat
 
Der alte zerbrochene Staat herrschte mit der Geste des Gewalthabers über die Kunst. Der neue Staat muß ihr dienen, um sich das große Beiwort "der freie" erst zu erringen. Er muß freie Flugbahn schaffen für den schöpferischen Geist. Die Throne sind zwar umgestoßen, aber der alte Geist wurzelt noch zähe im ganzen Lande.  W i r  b r a u c h e n  e i n e  n e u e  g e m e i n s a m e  G e i s t i g k e i t  d e s  g a n z e n  V o l k e s.  Keine Regierung allein kann sie schaffen. Der Staat ist nichts als eine Summe von Einzelexistenzen.  J e d e r  helfe,  j e d e r  kehre zunächst vor seiner eigenen Türe. Wir stecken tief im Sumpf der alten Sünden.  N o c h  n i c h t  d i e  p o l i t i s c h e,  e r s t  d i e  v o l l e n d e t e  g e i s t i g e  R e v o l u t i o n  k a n n  u n s  "f r e i"  m a c h e n.  Kapitalismus und Machtpolitik haben unser Geschlecht träge gemacht im Schöpferischen und ein breites bürgerliches Philisterium erstickt die lebendige Kunst. Der intellektuelle Bourgeois des alten Reiches - lau und schwunglos denkfaul, anmaßend und  v e r bildet - hat seine Unfähigkeit bewiesen, Träger einer deutschen Kultur zu werden. Seine erstarrte Welt ist nun aufgerüttelt, ihr Geist ist umgestoßen und mitten im Umguß zu neuer Gestalt. Neue, geistig noch nicht erschlossene Schichten des Volkes drängen aus der Tiefe empor. Sie sind das Ziel der Hoffnungen. Ihre frischeren ungebrochenen Instinkte wurzeln noch in der Natur. An sie wird der kommende Künstler sich wenden, an das urwüchsig heitere Volksgemüt, das sich nicht scheut vor Farbe, Goldglanz und Süßigkeit, vor kindlicher Freude am Schönen. Aber wie gelangt das Volk zu jener Gemeinsamkeit im Geistigen, die erst den natürlichen Rhytmus der Gesamtheit schafft?  E i n e  g r o ß e  a l l u m f a s s e n d e  K u n s t  s e t z t  g e i s t i g e  E i n h e i t  i h r e r  Z e i t  v o r a u s,  s i e  b r a u c h t  d i e  i n n i g s t e  V e r b i n d u n g  m i t  d e r  U m w e l t,  m i t  d e m  l e b e n d i g e n  M e n s c h e n.

Erst muß der Mensch wohlgestaltet sein, dann erst kann ihm der Künstler das schöne Kleid gestalten. Das heutige Geschlecht muß von Grund auf neu beginnen, sich selbst verjüngen, erst eine neue Menschlichkeit, eine allgemeine Lebensform des Volkes erschaffen. Dann wird  d i e  Kunst kommen. Dann wird der Künstler das einheitliche Sprachmittel finden, mit dem er sich dem Volke verständlich machen kann.  D a n n  w i r d  d a s  V o l k  w i e d e r  m i t b a u e n  a n  d e n  g r o ß e n  K u n s t w e r k e n  s e i n e r  Z e i t.  Die "Künste" werden aus ihrer vereinsamten Abgeschiedenheit in den Schoß der allumfassenden Baukunst zurückfinden. Denn nur durch inniges Mit- und Ineinanderwirken aller künstlerischen Disziplinen kann eine Zeit jenes vielstimmige Orchester erzeugen, das allein den Namen Kunst verdient. Ars  u n a,  species mille (es gibt nur  e i n e  Kunst, aber tausend Arten). Der berufene Dirigent dieses Orchesters war von Alters her der Architekt. Architekt das heißt: Führer der Kunst. Nur er selbst kann sich wieder zu diesem Führer der Kunst erheben zu ihrem ersten Diener, dem übermenschlichen Wächter und Ordner ihres ungetrennten Gesamtlebens. Der Architekt von gestern war nicht mehr der universale Schöpfermensch und mächtige Meister aller künstlerischen Disziplinen. Darum besaß er nicht mehr das hohe Ansehen im Volke wie sein mittelalterlicher Vorgänger. Er hatte den Halt in der Gegenwart verloren. Das Bauen war aus allumfassender Gestaltungskunst zu einem Studium herabgesunken. Der natürliche Zusammenhalt mit seinen Werkbrüdern, den Malern und Bildhauern, ging dem Baumeister verloren, und also begab er sich seiner vornehmen Würde, Meister vom Stuhl im Haus der Kunst zu sein. Sein hohes Amt muß im Volksstaat wieder öffentliche Geltung finden, er selbst muß sie sich erzwingen durch jene hohe Menschlichkeit, die  ü b e r  dem Wirken des Tages steht, durch glühendes Interesse am gemeinsamen Werk. Wenn die Probleme der Maler und Bildhauer erst seinen Geist wieder so leidenschaftlich bewegen wie die eigenen der Baukunst, so müßen sich auch die Werke dieser Maler und Bildhauer wieder mit architektonischem Geiste füllen. Er muß die geistig gleichgesinnten Werkleute wieder um sich sammeln zu enger, persönlicher Fühlung - wie die Meister der gotischen Dome in den Bauhütten des Mittelalters - und  s o  i n  n e u e n  L e b e n s-  u n d  A r b e i t s g e m e i n s c h a f t e n  a l l e r  K ü n s t l e r  untereinander den Freiheitsdom der Zukunft vorbereiten, nicht behindert sondern  g e t r a g e n  v o n  d e r  G e s a m t h e i t  d e s  V o l k e s.