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Autor: Lang, Gustav
In: Deutsche Bauzeitung 25 (1891) 93. - S. 563 - 564
 
Wissenschaft und Wirklichkeit im Bauwesen
 
In Nr. 77/79 der Dtsch. Bauzeitung wird die Frage: "Ist der flache Korbbogen in statischer und ästhetischer Hinsicht zu verwerfen" in einer Weise erörtert, welche bei flüchtigem Lesen die bedenkliche Ansicht erwecken könnte, als stehe die Wissenschaft der Baustatik manchmal im Widerspruch mit der Wirklichkeit und dem Schönheitsgefühl. Diese Meinung dürfte z. Thl. hervorgerufen werden durch den Gebrauch des mehrdeutigen Wortes "Theorie", das theils im Göthe'schen Sinne von "zur Zeit herrschenden einseitigen Lehrmeinungen in Einzelgebieten", theils im Sinn der Grundlehren der ganzen Baustatik aufgefasst werden kann. Man vergleiche z. B. folgende 2 Sätze S. 467: "theoretisch ist diese Schlussfolgerung unanfechtbar. In Wirklichkeit aber ist sie nicht gut denkbar" oder S. 468: "die Bedenken gegen den flachen Korbbogen in statischer Hinsicht dürften daher lediglich theoretischer Natur sein, in der Wirklichkeit dagegen der Begründung entbehren." Hier kann sich das Wort "theoretisch" nur auf einige einseitige Lehrmeinungen beziehen, die vom Verfasser mit Recht bekämpft werden, (die aber bezüglich der Gewölbetheorie auch schon seit 2 Jahren wissenschaftlich abgethan sind). Soll eine baustatische Lehre (Theorie) völlig unanfechtbar sein, so darf sie keinen Widerspruch mit der Wirklichkeit zeigen; denn sonst hat sie auf wahre Wissenschaftlichkeit keinen Anspruch, da ja die Aufgabe der Bauwissenschaft eben darin besteht, die Naturgesetze so zu verwerthen, dass die berechneten Bauwerke den an sie gestellten Forderungen genügen und für die Wirklichkeit brauchbar sind. Die oben erwähnte "Unanfechtbarkeit" kann sich daher nur auf die Schlussfolgerungen aus angenommenen Voraussetzungen beziehen, nicht aber auf die Vorsaussetzungen selbst. Vielmehr wird man sagen dürfen: Eine Theorie, welche der Wirklichkeit nicht entspricht, beruht, falls die Erstwickelung mathematisch richtig ist, auf falschen und zum mindesten ungenügenden Voraussetzungen. In letzterer Hinsicht wurden freilich - besonders früher - sehr häufig Fehler gemacht; man zeigte seine Gelehrsamkeit in der Entwickelung mathematischer Formeln (oder zeichnerischer Berechnung), in die man sich mit Eifer hineinstürzte, ohne sich Zeit zu nehmen, die oft leichtfertig angenommenen Voraussetzungen auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Solche Berechnungen haben nur akademischen Werth und ihre Anwendung im Bauwesen führte zu Enttäuschungen, welche das Vertrauen in die Ergebnisse der Wissenschaft seitens ihrer Nichtkenner keineswegs gefördert haben. Heutzutage aber ist die Werthschätzung des gelehrten Formelkrams auf ihr richtiges Maass zurückgeführt; man weiss, dass der begabteste Mathematiker nicht nothwendig auch ein guter Techniker sein wird, dass die Ausführung der Rechnung nicht die Hauptsache, sondern nur ein Hilfsmittel ist, (in dessen Handhabung man sich allenfalls einen Mathematiker als Hilfskraft miethen kann), dass der Schwerpunkt unserer Theorien vielmehr im richtigen  A n s a t z  besteht, welch' letzterer nur auf Grund genauer Kenntnisse des Zwecks und der Benützungsweise des Bauwerks, der Eigenschaften der zu verwendenden Baustoffe und der Art der Bauausführung richtig aufgestellt werden kann.

Eine genaue Berücksichtigung aller dieser Einflüsse ist freilich selten oder nie möglich; die Rechnung würde dadurch zu verwickelt; ja manche Werthe können sogar nie genau ziffermässig angegeben werden. Man ist daher genöthigt, gewisse Vernachlässigungen zu machen, beziehungsweise manche Einflüsse nur durch sogen. Sicherheits-Zuschläge zu berücksichtigen. Ganz vollkommene Theorien, d. h. genaue wissenschaftliche Berechnungen der inneren Kräfte und selbst mancher äusseren Kräfte unserer Träger giebt es daher überhaupt nicht und somit auch keine vollkommene Uebereinstimmung der errechneten Spannungen mit den thatsächlich auftretenden. Man arbeitet aber unablässig an der Lösung der Aufgabe, möglichst gute Uebereinstimmung zwischen beiden zu erzielen, wozu die wissenschaftlichen Versuchs-Anstalten den Prüfstein liefern und gelangt so im Lauf der Zeit in immer vollkommeneren Einzeltheorien - freilich oft mit einem Aufwand an Arbeit, der sie für die häufige Anwendung im Bauwesen ungeeignet macht. Deshalb bedürfen wir zum raschen Entwerfen unserer Bauten noch der Annäherungs-Rechnungen, deren Werthschätzung davon abhängig ist, dass sie gleichzeitig möglichst genau sein und möglichst einfach zum Ziele führen sollen, zwei Forderungen, die sich schwer vereinigen lassen und Vorsicht bei der Benutzung erheischen. Lehrbücher, welche nur solche Annäherungs-Rechnungen bringen, sollten daher auch immer die gemachten Vernachlässigungen hervorheben und ebenso die dadurch bedingten Giltigkeits-Grenzen bezw. die Fehlergrössen angeben, denen man muthmaasslich bei ihrer Benutzung in den technisch wichtigsten Anwendungs-Gebieten ausgesetzt ist. Statt dessen liest man häufig kurzweg und meist ohne weitere Untersuchung die Angabe, dass die gemachten Vernachlässigungen zulässig und ohne erheblichen Einfluss seien; ferner, wenn in der Ausrechnung selbst keine Vernachlässigung gemacht wurde, spricht Mancher von einer "mathematisch genauen Theorie" und erweckt dadurch im Laien den Eindruck der Unfehlbarkeit, die doch nach Obigem schon für die Grundlagen der Rechnung oft gar nicht zu erzielen ist. Man kann nur von der grösseren und geringeren Genauigkeit und  B r a u c h b a r k e i t  einer solchen Theorie sprechen und wird fortwährend an ihrer Vereinfachung und Vervollkommnung weiter zu arbeiten haben. Die sichere Anwendung einer Theorie ist aber in ungewöhnlichen Fällen nur für den jenigen möglich, der ihre Herleitung und den Einfluss der gemachten Vernachlässigungen kennt; und doch begegnet man gerade bei Halbgebildeten so häufig der stolzen Abweisung von Bedenken durch die Behauptung: "Dies ist genau, ich hab's ja berechnet," während die ganze Rechnung auf die gedankenlose Anwendung einer unpassenden Formel hinaus läuft.

Ein Beispiel, welches das Gesagte noch verdeutlichen möge, giebt Winkler in der Dtsch. Bauzeitung 1879/80 bezüglich der Gewölbetheorie: Er entwickelt dieselbe zunächst auf Grund der Elastizitäts-Gesetze, die ihn zu verschiedenen Lehrsätzen bezüglich der Lage der Drucklinie führen, je nach den bei der  R e c h n u n g  gemachten Vernachlässigungen. Sodann untersucht er die Abweichungen, welche die Wirklichkeit gegenüber seinen Rechnungs-Grundlagen zeigt, und bestimmt deren Einfluss angenähert als sogen. "Störungen" in der Lage der Drucklinie; hieraus ergeben sich schliesslich (aber nur dem Kenner) ungefähre Anhaltspunkte für 2 Grenzlagen der Drucklinie, die nach bekannter Weise mittels Kräfte- und Seileck eingezeichnet werden können, und mittels deren dann die voraussichtlich ungünstigsten Spannungen zu berechnen, bezw. geeignete Abänderungen in der Form und Stärke des untersuchten Gewölbes vorzunehmen sind. Der Streitruf nach ausschliesslicher Anwendung des Stichbogens oder Korbbogens ist hierdurch von selbst beseitigt, da je nach örtlichen Verhältnissen bald der eine, bald der andere zweckmässiger und darum statisch richtiger sein wird. An der Schaffung noch sicherer Anhaltspunkte für die Grenzlagen der Drucklinie wird aber immerhin weiter zu arbeiten sein. (Aehnliches gilt für die Knicktheorien.) Die Forderung nach Angabe der Fehlerquellen bei unseren Annäherungs-Theorien ist nun freilich leichter zu  s t e l l e n,  als zu  e r f ü l l e n.  Manchmal giebt es Hindernisse, die zur Zeit noch unüberwindlich sind. Wir bedürfen dann anderer Anhaltspunkte für die Beurtheilung unserer Rechnung und diese liegen nach meiner Meinung in dem gesunden Schönheitsgefühl, das jedem Menschen angeboren ist, bezw. durch Erziehung ausgebildet werden kann, das aber freilich auch nicht unfehlbar ist, da es durch Modeschrullen verdunkelt und beeinträchtigt werden kann. Jedenfalls aber ist der Satz zu bestreiten, dass richtige Theorie und gesundes Schönheitsgefühl je zu sich widersprechenden Bauformen führen können; ich habe immer gefunden, dass, wo ein solcher Widerspruch sich zeigte, entweder die Theorie fehlerhaft bezw. einseitig war, oder dass das Unheil über die Schönheit der betr. Form sich später klärte und läuterte. Denn Bauten, die nach statisch richtigen Grundsätzen entworfen sind, können auch ein gesundes Schönheitsgefühl nicht beleidigen und umgekehrt. Es handelt sich ja bei unseren Bauwerken nicht "um das Ding an sich, das weder schön noch hässlich ist," sondern am Gebilde von Menschenhand, die den Naturgesetzen entsprechen müssen, in denen unser ganzes Fühlen und Denken wurzelt, so dass wir nichts für schön halten können, was nach diesen Gesetzes als zweckwidrig erscheint. Letzteres trifft aber zu für Bautheile, deren Form nach Voraussetzungen berechnet ist, die der Wirklichkeit widersprechen. Ja selbst schon die einseitige Betonung von nebensächlichen Forderungen in den Ansätzen unserer Rechnungen führt u. A. zu unschönen Formen, wie ich in dem Buche "Zur Entwickelungs-Geschichte der Spannwerke des Bauwesens" weiter ausgeführt habe und wodurch sich folgende Schlusssätze ergaben:

"E i n  W i d e r s p r u c h  z w i s c h e n  d e n  E r z e u g n i s s e n  e i n e r  r i c h t i g e n  B e r e c h n u n g  u n d  e i n e s  g e s u n d e n  S c h ö n h e i t s g e f ü h l s  i s t  t h a t s ä c h l i c h  g a r  n i c h t  v o r h a n d e n" . . .  "F a l l s  u n s e r e  R e c h n u n g  z u  u n s c h ö n e n  F o r m e n  f ü h r t,  d e u t e t  d i e s  d a r a u f  h i n,  d a s s  n i c h t  a l l e  i n b e t r a c h t  k o m m e n d e n  E i n f l ü s s e  b e i m  A n s a t z  u n s e r e r  F o r m e l n  r i c h t i g  a b g e w o g e n  w u r d e n;  d a s  S c h ö n h e i t s g e f ü h l  k a n n  u n s  d a h e r  e i n  L e i t s t e r n  b l e i b e n,  d e r  u n s e r e  R e c h n u n g  d a v o r  b e w a h r t,  s i c h  i n  E i n s e i t i g k e i t e n  z u  v e r l i e r e n."

Entbehrlich wird dadurch die Rechnung nicht, besonders nicht bei Nutzbauten, wo immer die Aufgabe zu lösen ist, den Zweck bei genügender Sicherheit mit dem kleinstmöglichen Kostenaufwand zu erzielen. Eine Ueberhebung der wissenschaftlichen Berechnung über das künstlerische Gefühl ist hiernach ebenso wenig gerechtfertigt wie der umgekehrte Fall. Die  V e r e i n i g u n g  b e i d e r  führt am raschesten und sichersten zum Ziele und ist für das Bauwesen am förderlichsten. Allein unfehlbar ist ja weder unsere Rechnung noch unser Schönheitsgefühl und so mögen denn auch in Zukunft Fälle eintreten, wo  s c h e i n b a r  ein Widerstreit beider entsteht. Dies deutet aber dann blos an, dass Rechnung oder Gefühl, oder auch beide zumal in diesen Fällen einer Läuterung bedürfen, die sich bei solcher Erkenntniss rascher vollziehen wird, als bei dem bisher vielfach angenommenen Zwiespalt zwischen den Ergebnissen der Rechnung und des Schönheitsgefühls

Hannover, 12. Oktober 1891, G. Lang