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Autor: Lux, Joseph August
In: Deutsche Kunst und Dekoration - 20 (1907); S. 253 - 269
 
Der Qualitäts-Begriff im Kunstgewerbe
 
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VON J. A. LUX - DRESDEN

Wir verstehen unter Qualität nicht nur ein-
wandfreie Materialien und sachgerechte, solide
Werkarbeit, sondern auch die mit diesen
Hilfsmitteln durchgeführte organische Idee
der künstlerischen Raumgestaltung. Lux.

Ein Japankenner erzählt uns in seinen Reise-Schilderungen von einer Teezeremonie, in der zum Schluß die geleerte Teekanne von Hand zu Hand ging und durch die Feinheit ihrer Arbeit die Bewunderung der Gäste erregte. Der Genuß künstlerischer Schönheit bildete den Höhepunkt der Zeremonie. Dieser Fall soll durchaus nicht ungewöhnlich sein, sondern zur täglichen Gewohnheit gehören, im Leben ein besonderes Augenmerk auf die Qualität und die von ihr unzertrennliche künstlerische Arbeit zu richten. Den heutigen Europäern kommen solche Zustände geradezu märchenhaft vor. Für unseren Kulturstand ist es kennzeichnend, daß das große Heer der sogenannten Gebildeten, das Publikum schlechthin, kein Organ besitzt, den Qualitätsmangel in unserer Erzeugung wahrzunehmen. Die Mehrzahl der Menschen ist naiv genug, das beschämende Eingeständnis unverhohlen zu machen, daß sie von Kunst nichts verstehen und auch nichts wissen wollen. Diese Leute ahnen wahrhaftig nicht, daß diese Äußerung ebenso ungeheuerlich ist, als wenn sie sagen würden, sie wollen nichts von Gerechtigkeit, Lauterkeit des Charakters und edler Gesittung wissen. In der Tat beruht diese Kunstfeindlichkeit in einer durchaus mangelhaften Gesinnung. Ich will damit nicht sagen, daß diesen Menschen gewisse pedantische und schematische Begriffe, die ihnen als Kunstbegriffe erscheinen, abgehen. Sie sind in der Tat geneigt, gewisse Äußerlichkeiten vergangener Kunstepochen anzuerkennen und diese Äußerlichkeiten als die sogenannten Stile für ihre Dekorationszwecke in immer wiederholter und schließlich gänzlich verfehlter Anwendung auszunützen.

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Wenn die Frage des Stils beantwortet ist, so ist für sie in der Regel auch die Frage nach der Kunst gelöst. Aber diese Geschmacksverwilderung hat in künstlerischer, moralischer und wirtschaftlicher Beziehung solche Schäden hervorgebracht, daß schließlich wieder die Frage brennend geworden ist, was wir tun können, um den drohenden Gefahren unserer Zivilisation Halt zu gebieten. Es zeigt sich immer klarer, daß wir in unserer geistigen Entwicklung jene werktägige und tief menschliche Gesinnung vernachlässigt haben, die mit dem Begriff einer lebendigen Kunst untrennbar verbunden ist. Wenn also Menschen von sich sagen können, daß sie von der Kunst nichts verstehen und nichts wissen wollen, so bedeutet das im Grunde genommen, daß sie nicht imstande sind, die Gerechtigkeit zu lieben, die Würde der Arbeit und des Menschen zu achten und die Schönheit zu verwirklichen, von der es abhängt, ob wir in dieser Welt ein glückliches oder ein unglückliches Dasein führen. Ein Volk, das nicht unaufhörlich den Grundsatz der Qualität und der Arbeitsveredlung pflegt und entwickelt und nicht die ganze menschliche Bildung des Geistes und des Herzens in den Dienst der Sache stellt, hat keine Kunst, weil die Kunst von diesen Voraussetzungen nicht zu trennen ist. Sie ist nicht eine Sache für sich, die man sich extra als Aufputz irgendwo her verschreibt, sondern sie ist eine bestimmende Kraft im Leben und tritt notwendig immer dann in Erscheinung, wenn die Sehnsucht nach sinnfälliger Gerechtigkeit, Schönheit und Harmonie werktätig wird. Sie ist der Inbegriff dessen, was wir Qualität nennen und der Maßstab, inwieweit ein Volk bei seiner Arbeit menschlich und zugleich wirtschaftlich glücklich geworden ist, denn auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht kann die Produktion eines Volkes auf die Dauer nicht ersprießlich werden, wenn die Qualität als Grundbedingung fehlt. Ein Volk von Produzenten und Konsumenten, das sich mit einem gewissen bornierten Heroismus rühmt, von Kunst nichts wissen zu wollen, gesteht unwillkürlich ein, daß ihm an Qualität nichts gelegen ist und daß ihm daher auch an wahrhaft menschlicher Gesittung und am dauernden Erfolg seiner Wirtschaft nichts gelegen sei.

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Wir stehen schließlich dem Zerrbild einer Kultur gegenüber, wo die besten Kräfte und Anlagen, die technischen Erfindungen und wissenschaftliche Entdeckungen zu einem unerhörten Mißbrauch ausgenützt werden. In dieser Zeit sehen wir den Begriff einer qualifizierten Arbeit immer mehr schwinden und einer auf äußerliche Schönheit und Täuschung berechneten Erzeugung Platz machen, in der sich die große Dienerin der Menschheit, die Maschine, als Tyrannin auf spielt. Schließlich ist der Markt mit Gütern überschwemmt, die durch gewisse täuschende Äußerlichkeiten und namentlich durch die stechende Billigkeit das Feld behaupten und nach und nach dem ganzen Leben bis in das Heim in unsere innerste Seelenverfassung hinein ein neues, wenig erquickliches Gepräge gibt. Wir sehen anfangs mit Staunen eine Unmenge neuer Dinge, die uns auf den ersten Blick kostbar als Material und als anscheinende Handarbeit vorkommen; die große Masse des Publikums, von diesem Schein angelockt, sehnt sich gierig darnach mit Kinderaugen und mit Kinderhänden, und alsbald befestigt sich die Scheinwahrheit: Das Publikum verlangt es so und nicht anders. Aber über Nacht schon entpuppen sich diese Rübezahlgeschenke in ihrer wahren Natur. Wir erkennen nach näherer Prüfung, bei einiger Erfahrung, daß die meisten Dinge schleuderhafte und unreelle Nachahmungen der Handarbeit durch die Maschine darstellen. Verfälschungen von Stoffen und die geradezu betrügerische Absicht, eine Sache anders und besser erscheinen zu lassen, als sie wirklich ist. Nach und nach kann eine solide und sachgemäße Herstellung diesem Ansturm einer mächtigen unlauteren Konkurrenz nicht standhalten. Wir verlieren allgemach bis auf wenige Ausnahmen wichtige, von dem Qualitätsbegriff nicht zu trennende kunstgewerbliche und künstlerische Erzeugungen, die mehr und mehr durch industrielle Nachahmungen ersetzt werden. Wir haben heute im eigentlichen Sinn keine Goldschmiedekunst mehr, keine Schnitzkunst, und in der Keramik, in der Buchbinderei, in der Glasmalerei, Druckerei, Weberei sind die wahrhaft hochstehenden Erzeugnisse zu einer solchen Seltenheit geworden, daß sie fast als Raritäten anzusehen und durchaus unvolkstümlich geworden sind.

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Dagegen hat die Industrie, anstatt die technischen und künstlerischen Merkmale ihrer Erzeugnisse zu suchen, sich darauf beschränkt, alle Merkmale einer hochstehenden alten Handwerkskunst in uneigentlichen schlechten Materialien im maschinellen Herstellungsweg nachzuahmen. Auf diesem Weg sind wir zu einem neuzeitlichen Gütersegen gekommen, der Kacheln aus Blech, Ledertapeten aus Papier, Schuhsohlen aus Pappe, Leinenpapier aus Holzstoff und all die unzähligen Fälschungen hinsichtlich der Stoffe, der Formen und der Technik bescheert. Wir finden Schnitzereien, in herkömmlichen Stilformen, die durchaus Maschinenarbeit sind, Goldschmiedearbeiten die ausnahmslos von der Maschine gestanzt und von den sogenannten kleinen Goldarbeitern nach Art der Uhrenbestandteile montiert werden, wir finden Marmorimitationen und künstliche Maserungen, Stofftapeten, die Papier sind und Bronze, die Gips ist, die Unmenge von sogenannten Galanterie- und Luxuswaren, die den üblichen Wohnungsschmuck bilden, wo die Nachahmung französischer Bronzen aus Zinnguß eine Hauptrolle spielt. Wir können alle Stilarten von Öfen und Kacheln haben, aber nur die eine richtige Stilart nicht, die sich als reines Handwerkserzeugnis, oder als reines, glattes Maschinenerzeugnis ausdrückt. Wir sind nun keineswegs darauf erpicht, an unseren Einrichtungen und Anschaffungen bloße edle Handarbeit zu sehen, was bei dem Stande des Massenbedürfnisses und der heutigen Produktionsart durchaus nicht im ganzen Umfang möglich ist. Wir müssen vollauf die Berechtigung der Maschinenarbeit und ihren Segen anerkennen, aber wir dürfen verlangen, daß diese Herstellungsart ihrem Wesen getreu und bei aller Sachlichkeit und Schlichtheit künstlerisch geadelt sei. Es ist nicht zu verwundern, daß die Schundproduktion vergiftend bis auf die Quellen zurückwirkt und die Gewinnung der Rohmaterialien dem gleichen Grundsatz der Täuschung und Verschlechterung unterwirft. Wir haben es schließlich so herrlich weit gebracht, daß selbst eine wiederbeginnende solide Arbeitsweise in Frage gestellt wird durch die enorme Schwierigkeit, unverfälschte und einwandfreie Materialien zu erlangen.

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Lederarten, die nicht durch chemische Prozesse, durch künstliche Narbungen und ähnliche, auf Täuschung abzielende Behandlungsweisen qualitativ in Frage gestellt, sind kaum mehr oder nur mit allergrößten Schwierigkeiten zu erlangen. Echtfarbige Stoffe gehören zu den Seltenheiten und müssen in der Regel aus dem Ausland bezogen werden. Die Pflege feiner heimischer Holzarten für den Bedarf der Kunsttischlerei ist derart zurückgegangen, daß wir auch in dieser Hinsicht auf das Ausland angewiesen sind. Bis in die Natur hinein und in das Landschaftsbild macht sich die Verschlechterung der Qualität geltend und es hat fast den Anschein, als ob der deutsche Wald nur mehr für den Bedarf der Papierfabriken bewirtschaftet würde. Allmählich hat sich die Meinung festgesetzt, daß Industrie und Gewerbefleiß eines Landes in der fortschreitenden Entwicklung gleichbedeutend ist mit der Verschlechterung des gesamten wirtschaftlichen Haushaltes und daß die Industrialisierung mit dem Begriff von Schunderzeugung eng verwachsen ist. Die Tatsachen geben dieser Auffassung allerdings recht, wenngleich immer wieder gesagt werden muß, daß die Industrie durchaus nicht das Odium der Schundproduktion zu dulden braucht. Eine Erzeugung jedoch, die fortwährend auf Verschlechterung hinarbeitet, und sich schließlich immer nur durch Preisunterbietungen halten kann, arbeitet auf Kosten vorhandener wertvoller Materialgüter und auf Kosten der zu höheren Aufgaben berufenen menschlichen Arbeitskräfte. Trotz vereinzelter vorübergehender Hochkonjunkturen der Handelsumsätze muß notwendigerweise eines Tages die Krisis eintreten, die die schlimmen Folgen des Mißbrauches von Natur- und Menschenkräften über uns verhängen wird. Die Produktions-Verschlechterung und Preis-Unterbietung geht immer auf Kosten des arbeitenden Volkes, des Konsumenten und der an sich wertvollen Naturstoffe.

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In der Tat empfinden wir schon vielfach die sich notwendig ergebenden schlimmen Folgen, die sich in dem wirtschaftlich, moralisch und hinsichtlich seiner Leistungen heruntergekommenen Arbeiterstande und in unserer immer größerwerdenden Abhängigkeit von dem Ausland äußern. Wir müssen die Rohprodukte und namentlich die besseren Qualitäten zu hohen Preisen einführen und sind gezwungen, unsere Schund-Produktionen auf dem Weltmarkt zu den niedrigsten Preisen anzubieten, wenn wir unsere Fabriken beschäftigen wollen. Bei dem teuren Einkaufen und dem billigen Verkaufen muß sich notwendigerweise ein Defizit ergeben, das nicht unbedingt in der Handelsbilanz zum Ausdruck kommt. Im Gegenteil. Die Handelsbilanz kann uns diese Krisis auf Zeiten hinaus durch anscheinend immer günstigere Zahlenverhältnisse verbergen. Die tatsächlich enormen Verluste werden hier gar nicht gebucht, denn sie werden von einem Faktor getragen, der nicht in diese Rechnung kommt. Diese enorme Verlustdifferenz wird von dem arbeitenden Volk selbst getragen und die Hungerlöhne, die wirtschaftliche Hilflosigkeit des Proletariats mit allen daraus entspringenden sozialen Schäden stellen das Verlustkonto dar, auf dem die Nation ihren Rechnungsfehler büßt. Hier ist die Lage so hoffnungslos, daß selbst die durch Streiks und andere Mittel der Selbsthilfe bewirkten Lohnerhöhungen sofort durch eine unverhältnismäßig hohe Steigerung der Lebensmittel illusorisch gemacht wird. Hieraus folgt die Tatsache, daß das fleißigste Industrieland den teuersten Lebensunterhalt gewährt, und daß jene, die am schwersten arbeiten, und am wenigsten verdienen, verhältnismäßig ihren Unterhalt am teuersten bezahlen müssen. Abgesehen von den sich auf volkswirtschaftlichem Untergrunde abspielenden Krisen bewirkt die mangelhafte Gesinnung in der industriellen und gewerblichen Erzeugung eine geradezu kulturfeindliche Wirkung auf das äußere Lebensbild. Wir sind gewohnt zu sagen, daß sich in der Bauweise eines Volkes die Beschaffenheit seines Charakters zeige. Wir können diesen Satz als erwiesen hinnehmen, denn der heutige volksmäßige Ausdruck in der Bauweise stimmt vollends mit der erwähnten, in der sonstigen nationalen Arbeit betätigten Gesinnung überein.

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Auch in der Architektur sehen wir das gleiche Streben einer auf Täuschung abzielenden Werktätigkeit. Falsche Quadern, falsche Rustika, falsche Türme, nicht zugänglich und nicht zum Zweck der Ausschau, auf allen Zinskasernen, Konsolen und Stützen, die nichts stützen, sondern selber getragen sind, Scheinskulpturen aus Gips gegossen, Steinarchitektur aus Blech mit Mörtelverputz und ähnliche Erscheinungen, die einen sogenannten herrschaftlichen Anstrich geben sollen, einen Anstrich, hinter dem sich das ganze sattsam bekannte Wohnungselend unserer Städte verbirgt. Im Kunstgewerbe, das ja auch einen Teil der Architektur bedeutet, herrschen ganz ähnliche Erscheinungen, künstliche Maserungen, zwecklose Beschläge, Dekorationen im Jugendstil oder in historischen Stilen, Zierrat und kein Ende und in der Regel ein völliges Mißverstehen von wahrhaft sachlichen Grundsätzen und Forderungen, die das Leben nötig hat. Diese sichtbaren Züge unseres Lebens sind der Ausdruck einer inneren Verfassung und es ist folgerichtig, daß sie in intellektueller und sozialer Hinsicht ein ähnliches Schauspiel darbieten. Es ist das gleichartige Streben der heutigen Menschheit, einen Vorrang auf der sogenannten Stufenleiter des Lebens einzunehmen, wobei in der Stufenleiter der Grad des Einkommens und der, in der Regel von diesem Einkommen abhängige Titel maßgebend ist.

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Vorwärts zu kommen ist das moderne Gebot des gesunden Menschenverstandes, worunter ein Vorwärtskommen in materieller Hinsicht vorwiegend verstanden wird. Weil in der Tat in dem erbitterten Konkurrenzkampfe niemand in diesem Sinne vorwärts kommen kann, der in der Wahl der Mittel heikel ist, so ist dieses Vorwärtskommen in der Regel auf eine Unterdrückung, Vergewaltigung und offenbares Unrecht gegründet. Die notwendige Folge ist Unterwürfigkeit, Kriecherei und Augenaufschlag nach oben, Härte, Gewissenlosigkeit und Bedrückung nach unten. Der gesunde Menschenverstand herrscht allmächtig und dieser gesunde Menschenverstand bestimmt die Moral, die schließlich immer auf den Grundsatz hinausläuft, zuerst ich und dann Du. Es ist klar, daß auf Grund dieser Verfassung jede Tat lediglich nach ihrem äußeren Erfolg beurteilt wird. Wir wissen zwar alle recht gut, wie in der Regel die äußeren Erfolge zustande kommen und welchen schweren Stand das anspruchslose innere Verdienst dagegen hat.

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Aber wir sind nichtsdestoweniger bereit, den äußeren Erfolgen gegen unser besseres Gefühl Beifall zu zollen und ihnen das höchste Maß von Ehren entgegen zu bringen. Ja wir sind in unserer moralischen Laxheit jederzeit entschlossen, den äußeren Erfolg als Maßstab des inneren, oft völlig mangelnden Wertes zu betrachten. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn nun alles Streben in jener krankhaften Sucht darauf gerichtet ist, auf eine höhere Stufe der sogenannten Rangordnung zu gelangen und daß die wahrhaft menschliche Größe, die sich überall und in der Regel fern von diesen Rangordnungen entfalten kann, als etwas Unzeitgemäßes, Unpolitisches und Halblächerliches betrachtet wird, in einer Zeit, die »Unwert schweigendem Verdienst erweist«. Wissenschaftliche Dogmen sind heute im Dienste nationalistischer Lebensauffassung zu einer solchen unumstößlichen Herrschaft gelangt, wie im Mittelalter etwa die religiösen Glaubenssätze, mit dem Unterschied jedoch, daß diese Glaubenssätze inmitten eines rauhen und harten Lebens ein Schutzdach für wahrhaft edle Menschlichkeit, für die Entfaltung eines uneigennützigen, ehrfurchtgebietenden Heroismus und für die Kraft göttlicher Begeisterung gewährte. Der gesunde Menschenverstand und die von der einseitigen Verstandestätigkeit entwickelte Wissenschaft, wonach nichts Bestand hat, was nicht zählbar und wägbar für die unmittelbaren Bedürfnisse des Individuums in Betracht kommt, haben diese egoistische, engherzige Ordnung festgelegt und sich zum Wächter ihrer Moral gemacht. Wir befinden uns heute in einer religiösen Krisis, die zugleich eine moralische ist, denn es scheint, daß jener mystische Quell, aus dem die Menschheit ewig ihre Kraft und Schönheit schöpfen wird, in der herrschenden Geistesverfassung keine Rolle spielen soll.

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Wir wollen alle unseren Pflichten leben in der Meinung, damit alle Fragen und Forderungen des menschlichen Geistes zu befriedigen, aber wir vergessen ganz, daß wir diese Pflichten nach Maßgabe dieses gesunden Menschenverstandes auf egoistischer Grundlage aufgebaut haben und sind wirklich der Meinung, daß es vollständig für das menschliche Glück ausreicht, nach den Gesetzen zu leben. Wenn wir nun immer tiefer heruntersteigen zu den psychologischen Grundlagen, aus denen unsere sichtbare Kultur und unsere Arbeitsweise hervorgewachsen ist, so finden wir, daß der Begriff des Rechtes, den uns der gemeine Menschenverstand vorgezeichnet hat, vollkommen der Auffassung entspricht, die unser ganzes Tun, unser Denken, Arbeiten und Handeln leitet.

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Alle unsere Einzelbestrebungen, eine Wendung zum Besseren herbeizuführen, müssen notwendigerweise an der Beschaffenheit unseres Rechtes scheuern. Hier ist in der Tat die Wurzel der herrschenden Gesinnung und die Krankheit ist eine Wurzelkrankheit. Wir sehen, wie dieser Rechtsauffassung nach die Mehrzahl der arbeitenden Menschheit von der eigentlichen Grundlage allen ersprießlichen Arbeitens, von dem Recht des unveräußerlichen Bodens ausgeschlossen ist. In der Krisis, die uns beschäftigt, spielt die Bodenfrage und die Wohnungsfrage eine eminente Rolle. Solange diese Frage nicht gelöst ist, werden wir die Schwierigkeiten nicht überwinden. Der ungeheure Komplex von Problemen, die auf Wirkung und Gegenwirkung beruhen, kann nicht von der Kraft eines Einzelnen bewältigt werden. Das ganze Volk muß sich schließlich geistig an dem Gedanken entzünden, der in unserer Forderung der Qualität liegt. Nicht zufällig ist dieser Gedanke in die Welt gekommen. Er hat stets gewirkt und wirkt im Verborgenen auch bei uns in der Seele jener Menschen, die über die Gehäbigkeit des Alltags hinaussehen und mehr wissen, als der gesunde Menschen-Verstand sich in seinem kleinlichen Egoismus träumen läßt. Unsere Bildung muß dahin kommen, daß sie die Menschen befähigt, den Blick aufs Ganze offen zu halten und in dem kleinsten Dinge, das durch menschliche Arbeit hervorgebracht ist, die Wirkung einer Kraft zu sehen, die das höchste Maß von Glück und Schönheit erstrebt. Es ist, um es mit einem Wort zu sagen, die elementare künstlerische Kraft, und wenn es heute Menschen gibt, wie die übergroße Mehrzahl unserer Gebildeten, die nichts von Kunst verstehen und nichts wissen wollen, so ist das nur der überzeugende Beweis eines tiefen moralischen Verfalles, der unser ganzes inneres und äußeres Leben mit der Verwahrlosung, der Entartung und der Verarmung bedroht. Wir stehen ja heute in den Anfängen einer neuen Bildung, die dort einsetzt, wo die positive Arbeit des Volkes im Dienste der Schönheit und der Veredlung beginnt. Ich meine das moderne Kunstgewerbe. Hier ist ein ganz deutliches Beispiel gegeben, welche enorme wirtschaftliche, moralische und darin eben im tiefsten Sinne künstlerische Bedeutung, die Pflege der Qualität hat. Der Fortschritt des Kunstgewerbes hängt von der Pflege der Qualität ab.

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Die Qualität ist das Ergebnis einer Veredlung der Arbeit; Veredlung und Fortschritt sind nur möglich auf gewerblicher Grundlage. Hier wird der künstlerische Gedanke bei der Arbeit des Volkes werktätig, aber er kann bei dieser einzelnen Erscheinung nicht stehen bleiben, denn er umfaßt die ganze sichtbare, von Menschenwerk abhängige Welt und die bestimmende, moralische und geistige Verfassung des Menschen. Die Wirkung, die sich auf einem Gebiet, wie im modernen Kunstgewerbe, äußert, muß notwendigerweise nach alten Richtungen ausstrahlen.

Was hier geschieht, wird auf allen Gebieten geschehen, wenn die Entwicklung zum Segen führen soll. Die neue Bildung wird das Weltbild verändern. Sie wird vor allem die geistige Struktur ändern und die Rechtsauffassung mit dem künstlerischen Begriff der Qualität und ihrer notwendigen Grundlage richtigstellen.

J. A. Lux