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Autor: Meyer, Hannes
In: Bauhaus - 3 (1929); 3. - S. 4
 
Bauhaus und Gesellschaft
 
wir erkennen
in jeglicher lebensrichtigen gestaltung
eine organisationsform des daseins.
wahrhaft verwirklicht
ist jede lebensrichtige gestaltung
ein reflex der zeitgenössischen gesellschaft.
bauen und gestalten sind eins,
und sie sind ein gesellschaftliches geschehnis.
als eine "hohe schule der gestaltung"
ist das bauhaus dessau kein künstlerisches,
wohl aber ein soziales phänomen.

als gestalter
ist unsere tätigkeit gesellschaftsbedingt,
und den kreis unserer aufgaben schlägt die gesellschaft.
fordert nicht heute in deutschland unsere gesellschaft
tausende von volksschulen, volksgärten, volkshäusern?
hunderttausende von volkswohnungen??
millionen von volksmöbeln???
(was frommt hiegegen das piepsen irgendwelcher kenner)
(nach den kubistischen kuben der bauhaus-sachlichkeit?)
sonach erachten wir als gegeben
die struktur und die lebensbedürfnisse
unserer volksgemeinschaft.
wir erstrebenden
größtmöglichen überblick über das volksleben,
die größtmögliche einsicht in die volksseele,
die größtmögliche kenntnis dieser volksgemeinschaft.
als gestalter
sind wir diener dieser volksgemeinschaft.
unser tun ist dienst am volke.

alles leben ist drang zur harmonie.
wachsen heißt
das streben nach harmonischem genuß von
sauerstoff + kohlenstoff + zucker + stärke + eiweiß.
arbeiten heißt
unser suchen nach der harmonischen daseinsform.
wir suchen
keinen bauhausstil und keine bauhausmode.
keine modisch-flache flächenornamentik
horizontal-vertikal geteilt und neoplastisch aufgepäppelt
wir suchen keine geometrischen oder stereometrischen gebilde,
lebensfremd und funktionsfeindlich.
wir sind nicht in timbuktu:
ritual und hierarchie
sind keine diktatoren unserer gestaltung.
wir verachten jegliche form,
die zur formel sich prostituiert.
so ist das endziel aller bauhausarbeit
die zusammfassung aller lebenbildenden kräfte
zur harmonischen ausgestaltung unserer gesellschaft.

als bauhäusler sind wir suchende:
wir suchen das harmonische werk,
das ergebnis bewußter organisation
der geistigen und seelischen kräfte.
jedes menschen werk ist zielgerichtet
und des gestalters welt blickt daraus.
dieses ist seine lebenslinie.
so wird unser werk
kollektiv gerichtet und volksbreit geschichtet
weltanschauliche demonstration.

kunst?!
alle kunst ist ordnung.
ordnung der auseinandersetzung mit diesseits und jenseits,
ordnung der sinneseindrücke des menschenauges,
und je nachdem subjektiv, persönlich gebunden,
und je nachdem objektiv, gesellschaftsbedingt.
kunst ist kein schönheitsmittel,
kunst ist keine affektleistung,
kunst ist nur ordnung.

klassisch:
im modul der logischen raumlehre des euklid,
gotisch:
im spitzen winkelmaß als raster der leidenschaft,
renaissance:
im goldenen schnitt als regel des ausgleichs.
kunst war immer nur ordnung.
wir heutigen ersehnen durch kunst ausschließlich
die erkenntnisse einer neuen objektiven ordnung,
bestimmt für alle,
manifest und mittler einer kollektiven gesellschaft.
so wird
kunstlehre zur systematik der ordnungsgesetze
und unentbehrlich jedem gestalter.
so wird
künstler kein beruf,
sondern die berufung zum ordner.
so wird auch
bauhauskunst ein versuchsmittel objektiver ordnung.

die neue bauschule
als eine erziehungsstätte zur lebensgestaltung
trifft keine begabten-auslese.
sie verachtet
affenhafte geistige beweglichkeit als begabung,
sie achtet die gefahr der geistigen sektenbildung:
inzucht, egozentrik, weltfremdheit, lebensferne.
die neue bauschule
ist eine prüfstelle der eignung.
irgendwo ist irgendwer geeignet.
das leben lehnt keinen ab.
eignung zur symbiose
durchblutet jedes einzelwesen.
dergestalt ergreift erziehung zur gestaltung
den ganzen menschen.
entfernt hemmung, beklemmung, verdrängung.
beseitigt vorwand, vorurteil, voreingenommenheit.
sie vereinigt die befreiung des gestalters
mit der eignung
zur eingliederung in die gesellschaft.

die neue baulehre
ist eine erkenntnislehre vom dasein.
als gestaltungslehre ist sie das hohe lied der harmonik.
als gesellschaftslehre
ist sie eine strategie des ausgleichs
der kooperativkräfte und der individualkräfte
innerhalb der lebensgemeinschaft eines volkes.
diese baulehre ist keine stil-lehre.
sie ist kein konstruktivistisches system,
und sie ist keine mirakellehre der technik.
sie ist eine systematik des lebenaufbaues,
und sie klärt gleicherweise die belange des
physischen, psychischen, materiellen, ökonomischen.
sie erforscht, begrenzt und ordnet die kraftfelder
des einzelmenschen, der familie und der gesellschaft.
ihre grundlage ist die erkenntnis des lebensraumes
und das wissen um die periodizität des lebensablaufs.
die seelische distanz ist ihr so wichtig
als der in metern meßbare abstand.
ihre gestaltungsmittel sind - bewußt angewendet -
die ergebnisse der biologischen forschung.
weil diese baulehre lebensnah ist,
sind ihre thesen stetig wechselnd;
weil ihre verwirklichung im leben liegt,
sind ihre formen so reichhaltig
wie das leben selber.
"reich sein ist alles."

zu guter letzt ist alle gestaltung schicksalsbedingt
durch die landschaft:
dem seßhaften ist sie einzig und einmalig,
sein werk ist persönlich und lokalisiert.
fehlt flottantem volk dieser heimatkomplex,
wird das werk leichthin typisch und standard.
ein bewußtes erleben der landschaft
ist bauen als schicksalsbestimmung.
als gestalter erfüllen wir das geschick der landschaft.

hannes meyer
MH_bauh_gesell2.gif (250269 Byte)
zur frage: photographie und kunst im aufsatz lu märten (s.6)
aufnahme durch die fensterscheibe
von co-op