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Autor: Mies van der Rohe, Ludwig
In: Der Querschnitt - (1924); 4. - S. 31 - 32
 
Baukunst und Zeitwille
 
Nicht die baukünstlerischen Leistungen lassen uns die Bauten früherer Zeiten so bedeutungsvoll erscheinen, sondern der Umstand, daß antike Tempel, römische Basiliken und auch die Kathedralen des Mittelalters nicht Werke einzelner Persönlichkeiten, sondern Schöpfungen ganzer Epochen sind. Wer fragt angesichts solcher Bauten nach Namen und was bedeutet die zufällige Persönlichkeit ihrer Erbauer? Diese Bauten sind ihrem Wesen nach ganz unpersönlich. Sie sind reine Träger eines Zeitwillens. Hierin liegt ihre tiefste Bedeutung. Nur so konnten sie Symbole ihrer Zeit werden.

Baukunst ist immer raumgefaßter Zeitwille, nichts anderes. Ehe diese einfache Wahrheit nicht klar erkannt wird, kann der Kampf um die Grundlagen einer neuen Baukunst nicht zielsicher und mit wirksamer Stoßkraft geführt werden; bis dahin muß er ein Chaos durcheinander wirkender Kräfte bleiben. Deshalb ist die Frage nach dem Wesen der Baukunst von entscheidender Bedeutung. Man wird begreifen müssen, daß jede Baukunst an ihre Zeit gebunden ist und sich nur an lebendigen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit manifestieren läßt. In keiner Zeit ist es anders gewesen.

Deshalb ist es ein aussichtsloses Bemühen, Inhalt und Formen früherer Bauepochen unserer Zeit nutzbar zu machen. Selbst die stärkste künstlerische Begabung muß hier scheitern. Wir erleben immer wieder, daß hervorragende Baumeister nicht zu wirken vermögen, weil ihre Arbeit nicht dem Zeitwillen dient. Sie sind letzten Endes trotz ihrer großen Begabung Dilettanten, denn es ist bedeutungslos, mit welchem Elan das Falsche getan wird. Auf das Wesentliche kommt es an. Man kann nicht mit zurückgewandtem Blick vorwärts schreiten und nicht Träger eines Zeitwillens sein, wenn man in der Vergangenheit lebt. Es ist ein alter Trugschluß fernstehender Betrachter, für die Tragik solcher Fälle die Zeit verantwortlich zu machen.

Das ganze Streben unserer Zeit ist auf das Profane gerichtet. Die Bemühungen der Mystiker werden Episode bleiben. Trotz einer Vertiefung unserer Lebensbegriffe werden wir keine Kathedralen bauen. Auch die große Geste der Romantiker bedeutet uns nichts, denn wir spüren dahinter die Leere der Form. Unsere Zeit ist unpathetisch, wir schätzen nicht den großen Schwung, sondern die Vernunft und das Reale.

Die Forderungen der Zeit nach Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit sind zu erfüllen. Geschieht das großen Sinnes, dann werden die Bauten unserer Tage die Größe tragen, deren die Zeit fähig ist, und nur ein Narr kann behaupten, daß sie ohne Größe sei.

Fragen allgemeiner Natur stehen im Mittelpunkt des Interesses. Der Einzelne verliert immer mehr an Bedeutung; sein Schicksal interessiert uns nicht mehr. Die entscheidenden Leistungen auf allen Gebieten tragen einen objektiven Charakter und ihre Urheber sind meist unbekannt. Hier wird der große anonyme Zug unserer Zeit sichtbar. Unsere Ingenieurbauten sind hierfür typische Beispiele. Riesige Wehre, große industrielle Anlagen und wichtige Brücken entstehen mit der größten Selbstverständlichkeit, ohne daß ihre Schöpfer bekannt werden. Diese Bauten zeigen auch die technischen Mittel, deren wir uns in Zukunft zu bedienen haben.

Vergleicht man die mammuthafte Schwere römischer Aquadukte mit den spinnewebdünnen Kraftsystemen neuzeitlicher Eisenkrane, die massigen Gewölbekonstruktionen mit der schnittigen Leichtigkeit neuer Eisenbetonbauten, so ahnt man, wie sehr sich Form und Ausdruck unserer Bauten von denen früherer Zeit unterscheiden werden. Auch die industriellen Herstellungsmethoden werden hierauf nicht ohne Einfluß bleiben. Der Einwand, daß es sich hier nur um Zweckbauten handle, bleibt ohne Bedeutung.

Verzichtet man auf jede romantische Betrachtungsweise, so wird man auch in den Steinbauten der Antike, den Ziegel- und Betonkonstruktionen der Römer sowie in den mittelalterlichen Kathedralen unerhört kühne Ingenieurleistungen erkennen, und es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß die ersten gotischen Bauten in ihrer romanischen Umgebung als Fremdkörper empfunden wurden.

Erst dann werden unsere Nutzbauten ins Baukünstlerische hineinwachsen, wenn sie bei ihrer Zweckerfüllung Träger des Zeitwillens sind.