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Autor: Muthesius, Hermann
In: Dekorative Kunst - 10 (1907); S. 177 - 192
 
Die Bedeutung des Kunstgewerbes
 
Eröffnungsrede zu den Vorlesungen über modernes Kunstgewerbe an der Handelshochschule in Berlin

Es könnte vielleicht als ein zufälliges Zusammentreffen angesehen werden, daß die ersten Vorlesungen, die an einer deutschen Hochschule über modernes Kunstgewerbe gehalten werden, an eine Handelshochschule fallen. Was hat das Kunstgewerbe mit der Handelshochschule zu tun?
Und doch ist das Zusammentreffen kein rein zufälliges. Hier laufen vielmehr zwei wichtige moderne Bestrebungen zusammen, die beide im Geistesleben der Gegenwart ihre Rolle spielen. Der Gedanke des Kunstgewerbes sowohl, als das Bestreben des Kaufmannsstandes, sich universell zu bilden, sind Erscheinungen der neuesten Zeit. In beiden Bewegungen betätigt sich ein moderner Geist, beide berühren sich auf der gemeinsamen Basis der Probleme der Gegenwart. Allerdings wirkt auch ein äußerlicher Grund mit. Die alten privilegierten Hochschulen gehen ihren alten Gang; eine moderne Bewegung hat es nicht leicht, sich in ihren festumgrenzten Organismus einzufügen. Ein neues Institut, wie die Handelshochschule jedoch ist beweglich, anpassungsfähig und jugendfrisch genug, um alles der Beachtung zu würdigen, was sie unbefangen als in ihre Interessensphäre fallend erkennt. Auf diese Weise konnte es gerade der Handelshochschule vorbehalten bleiben, zuerst die Bedeutung des Kunstgewerbes zu entdecken und durch Heranziehung in ihr Unterrichtsgebiet zu würdigen.
Worin liegt aber die Bedeutung des modernen Kunstgewerbes? Wie ist es möglich geworden, daß ein so kleines Spezialgebiet, von dem das größere Publikum bis vor kurzer Zeit noch nichts wußte, heute bereits zu einem akademischen Lehrgebiet werden kann? Die Wichtigkeit und Tragweite des Gegenstandes auseinanderzusetzen, soll das Ziel meiner Vorlesungen in diesem Semester sein. An der Hand der Entstehung und der inneren Entwicklung des kunstgewerblichen Gedankens wird sich die Bedeutung, die dem Kunstgewerbe heute schon zukommt, und die ihm in der Zukunft wahrscheinlich in vermehrtem Maße zugesprochen werden wird, logisch entwickeln lassen. Indessen ist es doch vielleicht von Wichtigkeit, in dieser meiner einleitenden Vorlesung das Gebiet, wie es heute vor uns liegt, gleichsam mit dem Scheinwerfer abzuleuchten, um die markantesten Punkte von vornherein zu erkennen und in ihrer Bedeutung zu verstehen. Die Einzeldeduktion wird dann um so sicherere Zielpunkte haben und das Schlußergebnis sich mit größerer Klarheit aufbauen.
Die Bedeutung des modernen Kunstgewerbes ist gleichzeitig eine künstlerische, eine kulturelle und eine wirtschaftliche. Ich nenne die künstlerische zuerst, weil sie gewissermaßen selbstverständlich ist, und weil sich die ganze kunstgewerbliche Bewegung fast bis in die neueste Zeit herein in ihr erschöpfte. Die kulturelle Bedeutung des Kunstgewerbes ist noch nicht so deutlich sichtbar. Die hier tätigen Kräfte fangen eben erst an zu wirken. Und was die wirtschaftliche Bedeutung anbelangt, so liegt diese fast ausschließlich in der Zukunft. Es lassen sich aber vielleicht Hoffnungen aussprechen, die auf Parallelen in der Geschichte fußen.
Die künstlerische Bedeutung des Kunstgewerbes ist in Deutschland aller Welt klar geworden durch eine Dokumentation ersten Ranges, die sich in diesem Sommer abgespielt hat. Soeben haben sich die Pforten der III. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden geschlossen, die aller Welt bekannt gemacht hat, auf welchem Standpunkt das deutsche Kunstgewerbe heute steht. Es ist daher vielleicht angezeigt, diesen Standpunkt in ein paar kurzen Worten zu skizzieren.
Das, was jedem Betrachter in Dresden zuerst auffallen mußte, war, daß alles, was ausgestellt wurde, von der kleinen Kunststickerei bis zum ausgestatteten Zimmer, eine eigene künstlerische Sprache redete. Diese Sprache hat mit der des alten Kunstgewerbes, wie wir es in den achtziger und neunziger Jahren blühen sahen, nichts mehr gemein. Eine grundsätzliche Aenderung des Zieles ist eingetreten. Die Verwendung der Aeußerlichkeiten der alten Kunststile ist von der Tagesordnung abgesetzt, man bestrebt sich, eine neue, eigene, selbstständige, künstlerische Sprache zu reden. Das ist das Auffallendste an den Erzeugnissen des modernen Kunstgewerbes. Und in diesem Schritte, die ausgetretenen Geleise der letzten Jahrzehnte zu verlassen, die sich in Filtration und Wiederfiltration der historischen Kunst ergingen, ist gewiß eine Großtat des modernen Kunstgewerbes zu erblicken. Nur eine jugendlich bewegte, enthusiastische Zeit konnte diesen Schritt tun. Tatsache ist, daß ein derartiger Neuausgang auf stilistischem Gebiete seit Jahrhunderten nicht genommen worden ist. Als die Renaissance mit den Prinzipien der Gotik brach, herrschte zwar ein ähnliches enthusiastisches Streben nach Neuem, wie wir es heute in der modernen kunstgewerblichen Bewegung beobachten, allein damals hatte man lediglich das Ziel, sich die Formen der eben neuentdeckten Antike anzueignen. Man blickte damals nicht vorwärts, sondern rückwärts. Nun ist zwar auf der Grundlage der antiken Formen, im Zeitalter der Renaissance beginnend, viel Neues entwickelt worden. Verschiedene sich abwechselnde Richtungen haben auf Seitenwegen oder durch Einschlag von anderen Elementen, wie arabischen (Ornamentik der deutschen Renaissance), chinesischen (Rokokokunst) usw. eine zeitlich so festumgrenzte Formensprache erzeugt, daß wir sie heute fast auf bestimmte Jahrzehnte der Kunstgeschichte datieren können. Aber immerhin handelte es sich nur um Modifikationen eines ein für allemal durch die Antike gegebenen Themas. Die selbständigste dieser Modifikationen war die Rokokokunst, ein plötzliches Aufflackern eigenwilliger Gestaltungsziele, das sich noch am ersten mit den revolutionären, alles Bisherige verlassenden Tendenzen des modernen Kunstgewerbes vergleichen läßt. Im modernen Kunstgewerbe jedoch handelt es sich nicht um Einschläge von Motiven vergangener oder anderswo gewachsener Kunstrichtungen, vielmehr ist die grundsätzlich selbständige Gestaltung das Leitmotiv.
Welche Ansicht man nun auch über das Endergebnis dieses Strebens der Vermeidung aller historischen Anklänge haben mag, so steht doch heute schon eins fest: es ist gelungen, auf der Grundlage einer absolut selbstständigen Gestaltung Werke von überzeugender künstlerischer Wirkung zu schaffen. Freund und Feind muß dies anerkennen. Und auch von den Feinden der Bewegung hat niemand zu leugnen gewagt, daß hier eine nationale Großtat von nicht zu unterschätzender Bedeutung vorliege.
So sehr aber auch diese Außenseite der Sache in die Augen fällt, so liegen doch die eigentlichen Triebkräfte der modernen kunstgewerblichen Bewegung nicht ausschließlich oder auch nur vorwiegend in der Gestaltung in neuen, von der historischen Kunst nicht gekannten Formen. Sie sind vielmehr in einer völligen Sinnesänderung zu erblicken, die gegenüber dem kunstgewerblichen Bilden der achtziger und neunziger Jahre eingetreten ist. Damals gestaltete man in Verliebtheit in die alte Kunst. Diese Verliebtheit war gerade so weit entwickelt, um den innigen Wunsch hervorzurufen, ebensolche Werke, wie die alte Kunst sie darbot, zu schaffen. Dieses "ebensolche" bezog sich aber auf die äußere Erscheinungsform der alten Kunstwerke. Und man vergaß dabei, daß diese Erscheinungsform nur ein Ausdruck der in jenen Zeiten tätig gewesenen inneren Einflüsse sein konnte. Man vergaß, daß diese alten Gegenstände eben gerade deshalb so vollendet waren, weil sie eine markante Form der damaligen Bedingungen in geistiger, materieller und sozialer Beziehung war. Man kam nicht auf den Gedanken, daß die geistigen, materiellen und sozialen Bedingungen unserer Zeit total andere geworden waren, und daß man daher, indem man die äußere Erscheinungsform alter Handwerkserzeugnisse imitiert, eigentlich Falsifikate in die Welt setzte. In der Tat beweist der rasche Wechsel der Stilmoden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welcher geringen Beziehung die äußere Form der neugeschaffenen Erzeugnisse zu dem Zeitgeist stand. Man könnte das Kleid dieser Stilerzeugnisse mit Maskeradenkostümen vergleichen, die man nur einen Abend trägt und nach Belieben wechselt.
Das Bestreben, von diesen Maskeradenscherzen loszukommen und sich rein auf die Bedingungen unserer Zeit zu stellen, ist die wichtigste Triebkraft der neuen Bewegung im Kunstgewerbe. Die Bedingungen der Zeit sind zunächst am deutlichsten vorgezeichnet in der notwendig zu verlangenden Gebrauchsfähigkeit. Die Gebrauchsanforderung an alte Möbel und Geräte war vielfach abweichend von den modernen Gebrauchsanforderungen. Die Gestalt der Sitzmöbel hängt mit den häuslichen und gesellschaftlichen Gebräuchen, sowie mit der Kleidermode zusammen. Die Sitte des Essens hat sich gegen frühere Jahrhunderte ungemein verändert; unser Reinlichkeitsbedürfnis ist enorm gesteigert und hat neue Vorrichtungen geschaffen; unser sanitäres Empfinden ist, man kann kaum sagen gesteigert, sondern geradezu neu entstanden. Die Form des Wohnens ist dadurch eine andere geworden. Zu dem früheren Bestand an Geräten ist eine ganze Anzahl neuer hinzugekommen, andere sind in neuer Grundform in weitem Umfange verändert worden, eine gute Anzahl alter Geräte sind dafür außer Gebrauch gekommen.

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Die Umbildung unserer Lebensgewohnheiten ist noch in fortwährendem Wechsel begriffen.
Will man also den Bedingungen der Zeit gerecht werden, so ist es zunächst nötig, den Einzelbedingungen jedes Gegenstandes gerecht zu werden. Und so bildete es von vornherein den Hauptinhalt des modernen Kunstgewerbes, sich den Zweck eines jeden Gegenstandes zunächst einmal recht deutlich klarzumachen und die Form logisch aus dem Zweck zu entwickeln. Sobald aber der Sinn nur einmal von der äußerlichen Nachahmung der alten Kunst abgelenkt war, sobald die Realität erfaßt war, gesellten sich sogleich noch andere notwendige Forderungen hinzu. Jedes Material stellt für die Bearbeitung seine besonderen Bedingungen. Stein erfordert andere Dimensionen und andere Formen als Holz, Holz wieder andere als Metall und von den Metallen Schmiedeeisen andere als Silber. Zu der Gestaltung nach dem Zweck kam also die Gestaltung nach dem Charakter des Materials, und mit der Rücksicht auf das Material war gleichzeitig die Rücksicht auf die dem Material entsprechende Konstruktion gegeben. Zweck, Material und Fügung geben dem modernen Kunstgewerbler die einzigen Direktiven, die er befolgt.
Das Ergebnis ist freilich nicht immer ein solches, daß die Form des neu zu bildenden Gegenstandes durch die Rücksicht auf diese drei Gestaltungsgrundsätze restlos bestimmt wäre. Denn es tritt zwischen den Verstand und die Hand des Bildners das menschliche Gefühl. Und es tritt ganz besonders dazwischen bei Werken, die gefällig wirken sollen. Vielleicht kann der Ingenieur das Gefühl ausschalten, obgleich auch hieran zu zweifeln ist. Jedenfalls wäre es völlig absurd, von einem künstlerischen Gestalter zu verlangen, daß er das Gefühl und in seinem Gefolge die Phantasie unterdrückte, um in mathematisch-logischer Folge Formen zu entwickeln. Der Gefühlseinschlag ist auch beim modernen Kunstgewerbe vorhanden und zwar in hohem Maße, vielleicht sogar in höherem Maße, als es beim alten Kunstgewerbe der Fall war. Aber es ist doch ein Unterschied, ob der Gefühlseinschlag sich von dem Bestreben leiten läßt, das äußere Aussehen alter Kunstwerke zu erreichen, oder ob er unabhängig von historischen Reminiszenzen auftritt. Jedenfalls ist in der Befolgung der eisernen Grundsätze der Gestaltung nach dem Zweck, dem Material und der Konstruktion ein Bollwerk gegeben, das davor behütet, in historische Sentimentalität und damit in Unsachlichkeit zu verfallen.

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Die Bildung nach historischen Reminiszenzen brachte beinahe mit Notwendigkeit eine Verletzung dieser drei Grundsätze mit sich. Das beweist das Kunstgewerbe des Zeitalters der Stilimitationen, das heißt also hauptsächlich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Zeit ist mit ihren rasch wechselnden Stilmoden gleichzeitig die Zeit der schlimmsten Verirrungen in sinnwidrigem Aufputz und in Materialvortäuschungen aller Art. Surrogate und Imitationen feierten ihre Triumphe. Holz wurde in gepreßter Steinpappe imitiert, Stein in Stuck, wenn nicht in Zinkblech, Bronze in Zinnguß. Man hatte alles Gefühl für die einfachsten Regeln des Anstandes in dieser Beziehung verloren. Und weshalb? Vorwiegend deshalb, weil man in die äußere Form vernarrt war und sie infolge jener historischen Sentimentalität über alles liebte. Ueber die Auffassung jener Jahrzehnte sind heute zwar die Anhänger des modernen Kunstgewerbes hinweg, nicht aber die Allgemeinheit. Publikum und niederes Gewerbe sind noch durchaus in ihr befangen. Das beweist z. B. deutlich der deutsche Stubenmaler, der es als höchsten Gipfel seiner Kunst betrachtet, Pappe oder Mauerputz wie Nußbaumholz anzustreichen oder eine Zinkbadewanne mit Malerei zu überziehen, die täuschend Marmor imitiert.
Die Perhorreszierung dieser Imitationen und Surrogate wurde das Leitmotiv des neuen Kunstgewerbes. Keine Imitation irgend welcher Art, jeder Gegenstand wirke als das, was er ist, jedes Material trete in seinem eigenen Charakter in die Erscheinung. So arbeitete sich einer der bedeutungsvollsten Grundsätze der gewerblichen Gestaltung heraus: der der inneren Wahrhaftigkeit. Und in seinem Gefolge marschierte sogleich der von ihm abhängige Grundsatz der werklichen Gediegenheit. Denn die Gediegenheit ist nichts anderes als die äußere Kundgebung der inneren Wahrhaftigkeit. An der Hand der einfachen Logik ist auf diese Weise ein Prinzip wieder zur Geltung gebracht worden, das im Getriebe der industriellen Produktion des 19. Jahrhunderts fast verloren gegangen war. Allerdings sprachen bei diesem Verlorengehen noch andere, nämlich wirtschaftliche und soziale Umstände mit. Immerhin aber gebührt der mächtig sich entfaltenden kunstgewerblichen Bewegung das Verdienst, die Gediegenheit der gewerblichen Erzeugnisse als allererste Anforderung in den Vordergrund gerückt zu haben.

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Und auf diesem Gebiete liegt vielleicht ihr fruchtbarster Beruf und ist vielleicht ihre weitreichendste Bedeutung zu erwarten.
Aber hier ist auch der Kampf mit den bestehenden Zuständen der härteste. Denn sobald man irgendwo, sei es auch nur auf gewerblichem Gebiete, die Grundsätze der Wahrhaftigkeit und Gediegenheit aufstellt, wird die ganze Lebensauffassung der Generation berührt. Nur der stellt Gediegenheitsansprüche, dessen Charaktereigenschaften dahin entwickelt sind. Die gewerbliche Produktion des 19. Jahrhunderts ist gerade deshalb von der Gediegenheit abgetrieben worden, weil die konsumierenden Kreise ihrerseits nichts auf Gediegenheit gaben. Im Kampf der Gesellschaftsklassen um die Vorherrschaft entstand die gesellschaftliche Prätension. Der zur Bedeutung gelangende Bürgerstand empfand ein Prunkbedürfnis, das er nur mit äußerlichen, wenig kostspieligen Mitteln befriedigen konnte, das er aber für nötig hielt, um mit den von früher her bevorzugten Ständen zu konkurrieren, wenn nicht sie zu überbieten. Das war für den Bürger ein ganz neuer Zustand. Die Prätension, die Sucht mehr zu scheinen, als man ist, ist in den bürgerlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts geradezu zur Gewohnheit geworden; wir leben so in ihr, daß wir gar nicht mehr empfinden, wie sehr sie vorhanden ist. Aber wir können sie uns deutlich vergegenwärtigen, wenn wir das Zimmer eines heutigen besser situierten Bürgers mit dem eines solchen des 18. Jahrhunderts vergleichen, etwa das Zimmer eines modernen Berliners mit dem eines solchen zur Zeit Chodowieckis, oder die Inneneinrichtung einer in der "Woche" abgebildeten Bühnengröße mit den Zimmern im Goethehause in Weimar. Es ist nicht nötig, die Details auszumalen, jeder kann sie sich selbst ins Gedächtnis rufen. Hier Protzerei, dort äußerste Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit, hier ein mit unechtem Prunk, mit Surrogaten vollgepfropftes Zimmer, dort äußerste, anständigste Zurückhaltung, hier eine imitierte, eine Talmi-Aristokratenkunst, dort die unverschleierte bürgerliche Gesinnung.

Leider beherrscht diese auf gesellschaftlicher Prätension beruhende Ausstattung der Wohnräume des Hauses unsere ganze deutsche Gegenwart, und eine mit Imitationen und Surrogaten arbeitende Kunstindustrie liefert das Material dazu. Und hier ist der Punkt, gegen den das moderne Kunstgewerbe ankämpft und ankämpft bis aufs Messer. Hier sind noch Berge zu stürmen und Festungsmauern einzureißen. Wird das Ziel erreicht werden? Diese Frage zu beantworten ist heute schwer. Aber eins ist klar: das Kunstgewerbe hat hier eine erzieherische Aufgabe von eminenter Bedeutung vor sich. Und es überschreitet hier bereits die Grenzen, die ihm nach populärer Auffassung zugeschrieben werden, es wird mehr als Kunstgewerbe, es wird ein kulturelles Erziehungsmittel. Das Kunstgewerbe hat das Ziel, die heutigen Gesellschaftsklassen zur Gediegenheit, Wahrhaftigkeit und bürgerlichen Einfachheit zurückzuerziehen. Gelingt ihm das, so wird es aufs tiefste in unser Kulturleben eingreifen und die weitesten Folgen ziehen. Es wird nicht nur die deutsche Wohnung und das deutsche Haus verändern, sondern es wird direkt auf den Charakter der Generation einwirken, denn auch die Erziehung zur anständigen Gestaltung der Räume, in denen wir wohnen, kann im Grunde nur eine Charaktererziehung sein, die die prätentiösen und parvenuhaften Neigungen, die zu der heutigen Zimmerausstattung geführt haben, unterdrückt.
So führt die Verfolgung der eigentlichen Grundsätze, auf denen die neue kunstgewerbliche Bewegung aufgebaut ist, von selbst zu einer Erweiterung, zur kulturellen Bedeutung des Kunstgewerbes. Aber auch auf dem eigentlich künstlerischen Gebiete sehen wir bereits, wie die anfänglich schmal gesteckten Grenzen des Kunstgewerbes an sich überschritten werden. Von der eigentlichen kunstgewerblichen Idee, der geschmackvollen Gestaltung der Handwerkserzeugnisse ausgehend, ist das Kunstgewerbe bereits zur Umgestalterin unserer Wohnung geworden. Es ist im Begriffe, eine neue Wohnungskultur heraufzuführen. In dieser Richtung liegt heute das eigentliche Ziel seines Wirkens. Von der Gestaltung des Innenraums aus bis zur Gestaltung des Wohnhauses, in welchem der Innenraum auftritt, ist aber nur ein Schritt. Und tatsächlich läßt sich heute schon beobachten, wie der Hausbau, zunächst der Bau des kleineren Landhauses, von dem vom Kunstgewerbe ausgehenden Gedanken beeinflußt wird. Die eben angetretene neue Bewegung im Hausbau kann im ganzen dahin definiert werden, daß an die Stelle der aufgeputzten, mit allerhand historischem Formenkram überladenen Villa ein einfaches Haus tritt, das sich an die ländlichen Baumotive anschließt und nach logisch sachlichen Grundsätzen aufgebaut ist. Dieser Wechsel in der baulichen Gesinnung ist aber derselbe Wechsel, der aus dem alten, mit historischen Formen arbeitenden Kunstgewerbe zum neuen auf sachliche Grundlage gestellten Kunstgewerbe geführt hat.

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Die wenn auch unbewußte Beeinflussung vom Kunstgewerbe aus ist augenscheinlich. Und die einfachen Gedankengänge des Kunstgewerbes sind im Begriffe, sich noch weiter in die Architektur hinein zu erstrecken. Die veränderte Strömung im Landhausbau ist nur der Anfang gewisser vereinfachender Tendenzen in der Architektur überhaupt. Bei der enormen Wichtigkeit, die der Architektur im Kulturbilde einer Zeit zukommt, kann man sagen, daß erst dann, wenn die Grundsätze des Kunstgewerbes auf das ganze große Gebiet der privaten und öffentlichen Baukunst ausgedehnt sind, die wahre Mission des Kunstgewerbes erfüllt sein wird.
Daß die mit so großer Energie einsetzende kunstgewerbliche Bewegung auch auf den Gebieten der Malerei und Skulptur Parallelen findet, sei hier nur angedeutet. In der Malerei ist das neuerdings wieder auftauchende Bestreben zu nennen, im Sinne des alten strengen Wandgemäldes zu komponieren. Wir treffen hier auf einen stark ausgesprochenen Zug unserer Zeit, der in gleicher Weise in der Plakatkunst, in den graphischen Künsten, in der Illustration wie in einem Teile der Malerei zu bemerken ist. Und in der Skulptur läßt sich erfreulicherweise in neuerer Zeit ebenfalls ein Zug zum straffen Stilisieren, zum Lapidaren beobachten, der die bisherige Genrerichtung und Theaterpose verläßt. Das erfreulichste Zeugnis dafür ist vielleicht das neue Bismarckdenkmal in Hamburg.
Zieht so die neue Bewegung, die sich zuerst als rein kunstgewerbliche Bewegung zu erkennen gab, bereits in allen Künsten ihre Kreise, so daß man heute schon sagen kann, daß sie zu einer allgemeinen Kunstbewegung geworden ist, so ist auf der anderen Seite doch nicht zu verkennen, daß die Bewegung bisher eine fast ausschließlich intellektuelle war, und daß sie sich im besonderen im Wirtschaftsleben unserer Zeit noch nicht wesentlich bemerkbar macht. Die Bewegung ist von intellektuellen Kreisen ausgegangen und bisher von ihnen getragen worden, und ihre Fortpflanzung hat von Intellekt zu Intellekt stattgefunden. Auf einem Gebiete, das nicht nur künstlerisch, sondern auch gewerblich ist, wird es aber vor allem darauf ankommen, daß die neue Bewegung auch die gehörigen wirtschaftlichen Geleise findet. Hier beginnen die Schwierigkeiten. Sie haben sich scheinbar gerade neuerdings vermehrt, wo die materiellen Vertreter des Kunstgewerbes, das heißt, die Fabrikanten und Händler, laute Protestkundgebungen gegen die neue Bewegung und ihre Träger, gegen die Dresdener Kunstgewerbeausstellung und gegen die Kunstgewerbeschulen von sich gegeben haben. Bekanntlich ist eine Demonstration mit Hunderten von Unterschriften an die verbündeten Regierungen eingereicht worden. Man könnte nun annehmen, daß hierin eine ernstliche Bedrohung des kunstgewerblichen Gedankens zu erblicken sei, daß gewissermaßen ein Gegner entstanden sei, der mit seiner wirtschaftlichen Macht die künstlerischen Anläufe im Gewerbe zerstören und vernichten könnte. Solche Befürchtungen müssen indessen wesentlich zusammenschrumpfen, wenn man bedenkt, daß die kunstgewerbliche Bewegung eine aus dem Geistesleben der Zeit entstandene, aus einer inneren Notwendigkeit hervorgegangene Bewegung ist, während die Proteste der Gegner aus rein pekuniären Beweggründen entstanden sind. In diesen Protesten ist nichts weiter zu erblicken, als die Aeußerung des Unbehagens darüber, daß neue Ideen, die von Jahr zu Jahr mehr Macht im Geistesleben des Volkes gewonnen haben, den bisherigen Geschäftsbetrieb der kunstgewerblichen Produktion aufgerüttelt, man könnte sagen angerempelt haben. Die Antwort darauf sind die Proteste. Im Grunde sind sie nur ein erfreuliches Zeichen, daß die Bewegung, die sich bisher auf einen kleinen Kreis von Intellektuellen beschränkte, jetzt immer mächtiger an die Pforten der kunstindustriellen Fabrikation schlägt und ihren Unterbau da, wo er morsch ist, gefährdet. Die Protestler sind jene Elemente, die sich in dem alten Betrieb wohlfühlen, nach welchem der Fabrikant angeblich sich nach dem Geschmack des großen Publikums richtete und das große Publikum die albernen Stilmoden willig hinnahm, mit dem der Fabrikant seine Abnehmer unterhielt. Plötzlich fängt dies Abnehmerpublikum an, selbstständig zu denken; es ist angeregt und aufgerüttelt durch die Erzeugnisse der Künstler, es hat Ausstellungen gesehen und wundervolle, harmonische Innenräume erblickt, die von Künstlern herrühren. Und es zweifelt nun an dem Rat, den ihm bisher der Fabrikant und Händler gab. Es ist nur natürlich und menschlich verständlich, daß der Fabrikant und der Händler zunächst diese Unbequemlichkeit bekämpfen werden. Aber, daß solche Proteste und Angriffe einer großen geistigen Zeitströmung gegenüber verhallen müssen, ist ebenso klar.
Und im übrigen kann man heute schon darauf hinweisen, daß es keineswegs geschäftlich aussichtslos ist, sich in den Dienst der modernen Bewegung zu stellen. Eine Anzahl von kunstgewerblichen Produzenten, die logisch und konsequent diesen Weg verfolgt haben, ist zu glänzender wirtschaftlicher Entwicklung gelangt. Es sei hier nur an die "Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst" erinnert, die aus kleinsten Anfängen sich im Verlaufe von acht Jahren zu einem Betriebe entwickelt haben, der Hunderte von Tischlern beschäftigt und Millionen umsetzt. Allerdings gehört eins dazu: daß der Produzent nicht nur mit seiner Berechnung, sondern auch mit seinem Herzen bei der neuen Bewegung ist. Dann wird aber der Erfolg nicht ausbleiben. Ja man kann sagen, daß den Fabrikanten, die nicht Proteste gegen die neue Bewegung unterschreiben, sondern sich ihr als Anhänger anschließen, die Zukunft gehören wird. Denn sie gehen mit der geistigen Bewegung der Zeit, während die anderen den fruchtlosen Versuch machen, sich gegen sie anzustemmen.
Jedenfalls ist die Lösung der wirtschaftlichen Seite des neuen Kunstgewerbes die dringendste Frage der Zeit. Sie ist nicht einfach damit erledigt, daß die kunstgewerbliche und kunstindustrielle Produktion nun statt der Sachen in historischen Stilen solche im sogenannten neuen Stile macht.

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Diesen Versuch hat sie bereits unternommen, indem sie als neuesten ihrer Stile den Jugend- und Sezessionsstil ausgab. Und sie hat diesen Stil bereits wieder gegen Empire- und Biedermeierstil umgewechselt. Die im neuen Kunstgewerbe liegenden Gedanken sind aber zu ernst, um sich in dieses leichtfertige Spiel mit Stilmoden einreihen zu lassen. Es kommt in der kunstgewerblichen Bewegung gar nicht auf den sogenannten modernen Stil an. Einen solchen zu proklamieren war überhaupt eine leichtfertige Uebereilung. Ein Stil entsteht nicht von heute auf morgen und kann nicht erfunden werden, sondern er ist das Ergebnis einer ernststrebenden Zeitepoche, die sichtbare Aeußerung der inneren geistigen Triebkräfte der Zeit. Sind diese Triebkräfte echt, so wird ein echter, das heißt ein originaler, nachhaltiger Stil entstehen, sind sie leichtfertig und oberflächlich, so wird etwas Aehnliches entstehen wie die wechselnden Stilimitationen der letzten fünfzig Jahre. Welcher Stil aus den jetzigen ernsten Bestrebungen des modernen Kunstgewerbes herauskommen wird, ist heute nicht abzusehen. Er kann nur vorausgeahnt werden. Es ist nicht unsere Aufgabe, den Stil gewaltsam aus unserer Zeit herauszupressen, sondern es liegt uns lediglich daran, mit voller Hingabe und Aufrichtigkeit so zu gestalten, wie wir es vor unserem besten Wissen und Gewissen verantworten können. Der Stil ist nicht etwas, was man vorwegnehmen kann, sondern er ist die große Zusammenfassung des aufrichtigen Strebens einer Zeitepoche. Es wird die Aufgabe der Nachwelt sein, herauszufinden, welchen Stil unsere Zeit hatte, das heißt, welche gemeinsamen Merkmale in den vollwichtigsten und ernstesten Bestrebungen der Besten unserer Zeit zu entdecken sind.
Von diesem Streben sind unsere heutigen Führer in der kunstgewerblichen Bewegung beseelt, und es ist daher zu erwarten, daß sie, ohne daß sie es wollen, den Stil unserer Zeit entwickeln, einfach, indem sie ernst vorwärts streben und ihrem inneren Drange folgen. Das Beste, was die materielle Produktion unserer Zeit tun kann, ist, sich diesem ernsten Streben anzuschließen. Das bedeutet freilich eine Sinnesänderung von prinzipieller Bedeutung. Denn der kunstindustrielle Produzent lehnte es bisher grundsätzlich ab, ethische oder moralische Ziele mit seinem Geschäft zu verquicken, das er nach seiner eigenen Angabe lediglich auf die angeblichen Anforderungen des Publikums zuschnitt. Das Resultat waren Dinge, die nach viel aussahen und nichts kosteten. Denn auf diese Dinge biß das Publikum in großem Umfange und in allen Schichten an. Durch diese Praxis der Industrie und das Daraufeingehen des Publikums ist eine gegenseitige Demoralisierung sowohl der Produzenten als der Abnehmer eingetreten. Denn welchem Fabrikanten kann es Freude machen, sein Leben in der Produktion von Schund hinzubringen, und welcher Abnehmer kann sich auf die Dauer über Sachen freuen, die nichts taugen? Hier muß ein völliger Wandel eintreten, und dieser Wandel muß beim Fabrikanten beginnen. Dieser braucht nur die anständigen Grundsätze, die er als Privatmann hat, auf sein Geschäft zu übertragen; so wie er als Privatmann nicht unanständig handelt, so darf er als Geschäftsmann nicht unanständig produzieren, das heißt, nicht Sachen herstellen, die Imitationen und Surrogate sind, Sachen also, die nach mehr aussehen, als sie sind. Wie derartige Grundsätze sehr wohl Allgemeingut eines Volkes werden können, das weiß jeder, der englisches Leben und englische Anschauungen kennt. Der englische Fabrikant steht fast durchweg auf dem Standpunkte, seiner besten Ueberzeugung zu folgen und nur gediegene Sachen zu produzieren. So sehr auch die deutsche gewerbliche Produktion durch ihre vielgerühmte Anpassungsfähigkeit in den letzten Jahrzehnten in die Höhe gekommen ist, so ist doch diese Anpassungsfähigkeit auf Gebieten, die sich mit dem Kunstgewerbe und der Kunstindustrie berühren, sehr vielfach direkt zum Unheil geworden.
Glücklicherweise ist in neuerer Zeit in breiteren Schichten auch des deutschen Volkes jener Zug nach der Gediegenheit allgemeiner geworden, der in England zu den Selbstverständlichkeiten gehört, ein Umstand, der allerdings mit dem vermehrten Wohlstand des Volkes nicht unwesentlich zusammenhängt. Hier berührt sich nun wieder der Zug der Zeit mit den Grundprinzipien der kunstgewerblichen Bewegung. Keine Imitation irgend welcher Art, und jeder Gegenstand gebe sich als das; was er ist! Würde sich hierin die produzierende Industrie der kunstgewerblichen Bewegung anschließen, so wäre ein ungeheurer Schritt vorwärts getan. Denn es liegt auf der Hand, daß durch die Produktion von nicht genügend gediegenen Gegenständen bei aller darauf verwendeten Arbeit der Rohstoff nicht so ausgenützt wird, wie er ausgenützt werden könnte, also einmal ein kolossales Nationalvermögen im Rohstoff verschwendet und zweitens unnütze Arbeit angesetzt wird. Billige Sachen sind im letzten Ende in jeder Beziehung kostspieliger als teure.

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Eine solche industrielle Produktion würde freilich aufhören müssen, mit den schlechten Instinkten des Publikums zu rechnen; sie müßte mit den guten rechnen. Aber sie würde selbst bei anfänglichem Mißerfolg eine Tat von ungeheurer Tragweite tun. Denn sie würde durch Hebung der Qualität der deutschen Arbeit zugleich das Ansehen der deutschen Produktion auf dem Weltmarkte heben. Die Qualität der deutschen Arbeit hat sich ja in den letzten Jahrzehnten ständig gehoben. Sie ist auf einzelnen Gebieten der nationalen Produktion musterhaft, ja einzig in der Welt. Es sei nur an das Gebiet der optischen und wissenschaftlichen Instrumente erinnert. Auf dem kunstindustriellen Gebiete jedoch ist gerade die deutsche Produktion noch tief im Rückstande. Denn hier fehlte es an den wichtigsten zwei Qualitäten, die für die kunstindustrielle Produktion in Frage kommen, an selbständigem Geschmack und an überlegener nationaler Kultur. Hier hat die deutsche Produktion fast nichts getan, als den Richtungen anderer Länder nachzulaufen; sie hat ihre pekuniären Erfolge damit eingeheimst, daß sie die Originalleistungen anderer Völker nachahmte und billiger herstellte. So lohnend dieser Betrieb vom rein pekuniären Standpunkte aus auch ausgefallen sein mag, ehrenvoll ist er für Deutschland nicht gewesen.
Zunächst blieb freilich kaum etwas anderes übrig, um überhaupt auf dem Weltmarkte als Produzent aufzutreten. Aber die starke geistige Bewegung, die wir in den letzten zehn Jahren im Kunstgewerbe erlebt haben, kann das Mittel an die Hand geben, diesen Zustand zu ändern. Denn hier ist zum ersten Male eine selbständige deutsche Leistung aufgetreten, die sich sehen lassen kann, hier ist etwas erzeugt, was selbständigen Geschmack und eine vom Ausland unabhängige nationale künstlerische Kultur verrät. Freilich kann nicht gehofft werden, daß die Folgen auf dem Weltmarkte schon von heute auf morgen sichtbar werden. Gerade der Kaufmann weiß, wie sehr das Renommee im Absatz von Waren mitspricht. Das erste, was zu tun ist, ist, das allgemeine deutsche künstlerische Renommee zu heben. Und das wird keine leichte Aufgabe sein. Denn in künstlerischen Dingen traut uns das Ausland bis heute noch fast nichts zu. So schrecklich und unnational es für den Deutschen klingen mag, jeder Mensch, der eine ausreichende Kenntnis des Auslandes hat, weiß, daß wir heute weder in der Malerei, noch in der Bildhauerei mitzählen.

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Unsere Maler, die wir in Deutschland für Heroen halten, sind im Ausland nicht einmal dem Namen nach bekannt, während die französischen Impressionisten auf der ganzen Welt gesucht werden. Und selbst der kunstliebende Ausländer würde auf Befragen keinen einzigen deutschen Bildhauer nennen können, während die Namen MEUNIER und RODIN auf der ganzen Welt ihren Klang haben. In der Architektur gelten wir als die zurückgebliebenste aller Nationen, wie denn überhaupt nach dem Urteil des Auslandes der deutsche Geschmack auf der denkbar tiefsten Stufe steht. Der deutsche Ruf ist hier so tief gesunken, daß deutsch und geschmacklos fast identische Begriffe sind. Es hat keinen Zweck, dies zu verschleiern. Es ist nötig, der nackten Tatsache ins Gesicht zu sehen. Und wir können das heute um so mehr, als wir jetzt durch unsern kunstgewerblichen Aufschwung in die Lage kommen, Märtyrer unseres schlechten Rufes zu werden. Denn unstreitig ist gerade in den Leistungen des neuen deutschen Kunstgewerbes etwas erstanden, was das Urteil des Auslandes über uns im Sturm umzubilden berufen ist. Die deutsche kunstgewerbliche Ausstellung in St. Louis wirkte auf alle Welt wie eine Offenbarung, und man kann sagen, es spricht sich jetzt bereits auf der ganzen Welt herum, daß in Deutschland plötzlich eine wundervolle Blüte im Kunstgewerbe ersteht. Allein auf der Grundlage eines solchen Renommees kann sich eine Hebung der kunstgewerblichen Ausfuhr anbahnen. Nur wenn man nach uns fragt, und nach dem fragt, was wir Eigenes leisten, werden wir eine Stellung in der Kunstindustrie einnehmen, die sich auf dem Weltmarkte in einer respektvollen Achtung äußert.

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Denn die Rolle, die wir mit Imitationen französischer Möbel spielen, wird immer nur eine solche zweiten Ranges sein. Bestimmend für eine erste Rolle ist nur der der Leistung innewohnende ideale Eigenwert, der Kulturwert. Aus der Kulturtat heraus, die das französische Kunstgewerbe in der Zeit von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. geleistet hat, erklärt sich die maßgebende, ja dirigierende Rolle, die Frankreich auf dem kunstgewerblichen Markte bis heute einnimmt. Und daß England am Ende des 18. Jahrhunderts, als es seine bahnbrechende, für die bürgerliche Kultur ausschlaggebende Möbelkunst entwickelte, bis zu einem gewissen Grade auf dem Weltmarkte mitsprechen konnte, verdankt es ebenfalls lediglich seiner selbständigen nationalen Leistung. Auch der neuere kunstgewerbliche Einfluß Englands auf dem Weltmarkte ist belehrend genug. Nur dadurch, daß England eigenes gab, wurden seine Stoffe, seine Teppiche, seine Möbel in den letzten zwanzig Jahren zu etwas, was auf dem Weltmarkte eine eigene Note darstellte. Der kommerzielle Erfolg marschiert im Gefolge solcher beherrschenden inneren Werte. Es wird auf der Welt Niemandem etwas geschenkt. Kleine Vorteile lassen sich auf Seitenwegen erreichen, große nur durch große Qualitäten. Sind diese aber zur Genüge vorhanden, so folgt nicht nur Lohn, sondern auch Macht und Freiheit. Bei großen künstlerischen Qualitäten wird es einem Lande leicht, im Kunstgewerbe als Führer aufzutreten, in Freiheit sein Bestes zu entwickeln und es der Welt gleichsam aufzuzwingen. Die Produktion braucht dann nicht mehr ängstlich den Modelaunen nachzuspüren, sie kann den Geschmack diktieren. Das tut Frankreich bis heute auf vielen Gebieten.
Ob der Weg, den das neuere deutsche Kunstgewerbe eingeschlagen hat, jemals zu einer ähnlichen weitreichenden Bedeutung führen wird, wie das alte französische Kunstgewerbe, vermag heute niemand vorauszusagen. Es liegt aber im deutschen Interesse, dies zu erhoffen und alle Kraft auf die Weiterentwicklung der glücklich gemachten Anfänge zu verwenden. Das neue Kunstgewerbe, das bereits seine engeren Grenzen überschritten hat und zu einer allgemeinen deutschen Kunstbewegung geworden ist, ja, das im Begriff ist, zu einer allgemeinen Kulturbewegung zu werden, muß, wenn es weiter wächst, auch seine wirtschaftlichen Folgen ziehen. Und von diesem Standpunkte aus wird es hauptsächlich meine Aufgabe sein, in meinen folgenden Vorlesungen seinen bisherigen Entwicklungsgang zu schildern.

LESEFRÜCHTE:

Deine Kunst sei dir der Weg, mit dem du dich durch deine Zeit suchst und zur Höhe findest, dein Leben sei Deine Kunst. Wer sich nicht selbst und seinem ganzen Dasein als schaffender und gestaltender Künstler gegenübersteht, verfällt. Was du nach außen geben kannst, freilich, sind immer Bruchstücke, und wenn dir das Höchste glückt . . . Doch wenn sie echt sind, werden sie in anderen wieder volles Leben reifen. Cäsar Flaischlen