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Autor: Pudor, Heinrich
In: Der Architekt - 8 (1902); S. 1 - 3
 
Zur Ästhetik der Eisenarchitektur
 
von Dr. Heinrich Pudor (Berlin)
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Man hört heute oftmals die Ansicht ausgesprochen, dass in unseren modernen Bahnhofsbauten, Markthallen, Brückenbauten und Maschinenhallen mehr moderne Kunst stecke, als in den modernen Kirchen, Palastbauten und Regierungsgebäuden. Das ist insofern richtig, als in jener Eisenarchitektur der Geist der Moderne, auf Technik und Maschinenbau beruhend, sich ausspricht, in dieser letzteren Steinarchitektur dagegen Reste von abgegrabenen Culturperioden in Erscheinung treten. Der Eisenarchitektur gehört die Zukunft - soviel ist sicher. Eine andere Frage ist die, ob ihr die Gegenwart in dem Sinne gehört, dass sie schon heute stilarchitektonisch, also künstlerisch mitreden darf. Und diese Frage muss verneint werden. Die Eisenarchitektur ist bisher lediglich technischer, maschineller Art. Sie beobachtet nur technische Gesetze und kennt nur technische Werte. Wenn wir in der Steinarchitektur nur architektonisches Wissen und Benützung verjährter Stilformen finden, so begegnen wir in der Eisenarchitektur noch nicht einmal dem Versuche, die Gesetze der Kunst auf den Eisenbau anzuwenden. Dort herrscht das Kunst-Wissen, hier das technische Wissen, dort fehlt es an Originalität, hier am künstlerischen Maßstab, und hier wie dort mangelt es am künstlerischen Können.

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Das, was uns an den modernen Eisenbauten imponiert, ist das Technische, nämlich die Spannweite der Bogen, die Tragkraft des Eisens, das Netzwerk der Rippen, die Durchsichtigkeit des Baues, nicht aber irgend etwas Künstlerisches, sei es nun die Art, wie die Stützen die Last des Gewölbes in sich aufnehmen, oder die Verbindung der eisernen Glieder. Offenbar eben ist das künstlerische Moment überhaupt noch nicht in das Bewusstsein des Ingenieurs getreten: er hat noch nicht daran gedacht, noch nicht sich bemüht, künstlerische Gesetze in der Eisenarchitektur walten zu lassen. Die Eisenarchitektur war für ihn Technik und Mechanik, aber nicht Kunst. Selbst das, was bei dem Wahrzeichen der modernen Eisenarchitektur, bei der Tour Eifel, die Phantasie gefangen nahm, war nicht irgend welches künstlerische Moment, sondern die Besiegung technischer Schwierigkeiten, die ungeheure Höhe dieses auf einem Gerippe, so luftig wie ein Spinnengewebe aufgeführten Baues, das in der Höhe meterweit dem Winde entsprechend hin- und herschwanken konnte und doch gegen jeden Einsturz oder jede Bedrohung, der Tragkraft des Eisens zufolge, gefeit war, ja, man hätte höchstens den Vorwurf machen können, als ob die eisernen Stützen immer noch zu stark waren, als ob der Tragkraft des Eisens noch immer nicht genug zugemuthet war.

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Und ähnlich bei der die Phantasie nicht minder gefangennehmenden Maschinenhalle der 1889er Pariser Ausstellung. Auch hier war das, was Bewunderung erregte, etwas Technisches, nämlich die ungeheure Spannweite der Bogen und die daraus sich ergebende Großräumigkeit der Halle. In dieser Beziehung war der Glaspalast der Londoner Weltausstellung des Jahres 1856, also der jetzige Crystal Palace das Vorbild und eigentlich das erste Monumentalwerk des modernen Eisenbaues. Aber hier wie dort fehlt es an jedem künstlerischen Element. Sobald man von der Spannweite der Bogen und dem Netzwerk der eisernen Rippen abstrahiert und sein Augenmerk auf tiefer liegende Dinge (Constructionsfragen, Verbindung der Stützen, Aufnahme der Traglast und Vermittlung der letzteren, Ausbildung der stützenden Pfeiler und Verbindungsglieder etc.) richtet, sieht man nicht nur Misslungenes und Verfehltes und künstlerisch Unbefriedigendes, sondern absoluter Mangel an jeder künstlerischen Tendenz tritt zutage. Beispielsweise kann man an modernen Bahnhofshallen häufig bemerken, wie die eisernen Balken, welche eine ganze großräumige Halle tragen, da, wo sie die stützende Mauerwand erreichen, auf Consolen sitzen, die so groß sind, dass man ihnen allenfalls zutraut, irgend eine Porträtbüste zu tragen. Es ist ja wahr, dass die Last dieser Rippen nicht eigentlich von diesen Consolen getragen wird, sondern von den Mauerwänden, in die sie sich einsenken, dann aber kommt es darauf an, dem auch äußerlich Ausdruck zu verleihen und es unserem, so fein empfindenden Auge zu erkennen zu geben, wo die Stützen ruhen, was stützt und was trägt, was die Last überträgt und vermittelt. Und daran eben fehlt es: an der Sichtbarmachung der constructiven und statischen Gesetze. Und der Grund ist der, dass diese constructiven Gesetze beim Eisenbau ganz andere sind, als bei der Steinarchitektur, dass man daher die Formen der letzteren auf erstere nicht anwenden konnte, oder, wenn man es doch that, Fiasco machte. Vergleichen wir die Steinhalle (Steingewölbe) mit der eisernen Halle. Bei jener kommt die Last des Gewölbes auf die ganze Breitseite der Mauern zu liegen. Bei dieser, wo es sich also um Rippen, in die das Netz des Gewölbes zerlegt ist, handelt, kommt die Last  m e h r  a u f  P u n k t e  a l s  a u f  F l ä c h e n  zu ruhen, nämlich auf die Punkte, in denen das Ende einer Rippe den stützenden Pfeiler erreicht. Dieses constructive Moment muss nun äußerlich zum Ausdruck gebracht werden. Darin liegt das, was die Bau-Kunst ausmacht. Und man darf nicht etwa denken, dass der Eisenbau weniger mit Bau-K u n s t  zu thun habe, als der Steinbau, nein, eher verhält es sich umgekehrt. Zum mindesten stellt der Eisenbau constructive und tektonische Aufgaben in weit reinerer Form, als der Steinbau. Aber um diese zu lösen, bedarf es des Schaffens aus dem Empfinden heraus, bedarf es des Zurückgehens zur Quelle, bedarf es des echten und originalen Empfindens.

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Eine Art Fingerzeig bietet höchstens der gothische Gewölbestil, bei welchem ebenfalls nicht die Mauerfläche die Stütze bildet, Aber hier sind es die Ecken, in denen sich die Last des Gewölbes sammelt, während es bei dem Eisenbau einzelne Punkte ebensowohl der Mauerflächen als der Ecken sind. Und wie dies Verhältnis zum Ausdruck zu bringen, darüber war man in Verlegenheit. Die ganze Mauer als Stützfläche zu behandeln, gieng nicht an, denn diese bildet eben nicht in allen ihren Punkten die Stütze. Statt nun bestrebt zu sein, äußerlich diejenigen Punkte zum Ausdruck zu bringen, welche die Last in sich aufnehmen, im übrigen aber die Mauerfläche leicht und luftig zu behandeln, gieng man schematisch vor und führte starke Mauern auf, die lediglich da, wo die Enden der eisernen Rippen aufsitzen, Consolen tragen. Und diese kunstlose Bauweise erstreckte sich bis ins einzelnste. Man sehe sich eine beliebige eiserne Brücke an und forsche darnach, wie die einzelnen Glieder verbunden sind, wie das stützende und gestützte und wie das vermittelnde und übertragende Glied behandelt ist. Man sehe zu, ob man einen im entferntesten künstlerischen Versuch der Belebung, Schmückung und Gestaltung der einzelnen Glieder findet. Nein, nur Schienen, Nägel und Nieten kennt die Eisenarchitektur. Und erst recht kam sie in Verlegenheit bei der Anlage des Außenbaues. Denn hier wurde die Schwierigkeit erhöht dadurch, dass eine Verbindung mit der Steinarchitektur eingegangen werden musste. Man braucht nur das Äußere einer beliebigen Bahnhofshalle anzuschauen, um auch hier über die völlige Rathlosigkeit und Hilflosigkeit nicht im Zweifel zu sein. Und zwar ist das Bild hier noch unerquicklicher deswegen, weil man hier die überlieferten Formen der Steinarchitektur früherer Zeiten planlos adoptierte.

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Besonders dankbare Aufgaben sind der modernen Eisenarchitektur beim Warenhausbau gestellt. Denn bei diesem kommt es einerseits darauf an, große, helle Räume herzustellen, und anderseits bedeutende Tragkraft zu entwickeln. Beiden Aufgaben vermag der Eisenbau in hervorragender Weise gerecht zu werden. Und mechanisch und technisch genommen löste man diese Aufgaben vortrefflich. In Verlegenheit war man auch hier nur bei der Frage der Verbindung des Eisenbaues mit dem Steinbaue. Mauerflächen konnte man hier, der großen Fenster wegen, nicht brauchen. Statt deren gab es Pfeiler und Stützen. Diese Menge großer Pfeiler aber hatte eine starke einseitige Betonung der Verticalen zur Folge, zumal man diese Pfeiler durch schwere steinerne Ummantelung noch mehr ins Auge fallen ließ und sich nicht bemühte, die Horizontale zu betonen, damit diese der Verticalen nur annähernd das Gleichgewicht halte. So sehen denn diese modernen Warenhäuser gewöhnlich aus,  w i e  K i r c h e n,  d i e  n u r  b i s  a u f  d i e  S c h i f f e  f e r t i g  g e w o r d e n  s i n d,  d e r e n  P f e i l e r  a b e r  a u f  T h ü r m e,  d i e  s i e  t r a g e n  s o l l e n,  a n g e l e g t  s i n d.  Man kann thatsächlich bei diesen Warenhäusern häufig Pfeiler sehen von einer Stärke, wie bei der Façade des Mailänder Domes oder dem Langschiff des Kölner Domes. Und man versteht diese Dichtigkeit der Pfeiler hier um so weniger, als nirgends angedeutet ist, dass sie die Last ganzer Stockwerke in sich aufnehmen. Dagegen müsste an den Punkten, bei denen die horizontalen Schienen in die verticalen Stützen übergehen, die Verbindung äußerlich zum Ausdruck gebracht sein, damit das Auge der Construction nachfühlen kann; auf solche Weise allein würde aus der Technik Kunst. Ein noch schwererer Fehler, den man begangen hat, ist der, dass man die eisernen Stützen nach außen verlegte, statt nach innen. Aber ebenso wie die Natur, mit der alleinigen Ausnahme der Crustaceen, das Knochengerüst nach innen verlegt hat und es nach außen mit Fleisch und Blut bekleidet hat, muss auch der Architekt, der in Eisen baut, das  G e r i p p e  n a c h  i n n e n  v e r l e g e n,  andernfalls wir stets fragen würden, wo denn der Thurm sei, den die Pfeilermassen tragen sollen. Kommt dagegen das Eisengerüst nach innen zu liegen, bieten sich für die Gestaltung des Äußeren ganz neue und äußerst dankbare Aufgaben. Die schweren Mauerflächen werden überflüssig, und für Licht und Luft, für Fleisch und Blut, für Fenster und Zierwerk ist reichlich Gelegenheit gegeben.

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Endlich darf der Architekt, der in Eisen baut, niemals das oberste künstlerische Gesetz vernachlässigen: aus dem Charakter des Materials heraus die Formen zu entwickeln. Dahingegen sehen wir heute da, wo eiserne Basen, Consolen, Capitäle, Träger, Stützen und Verbindungsglieder zur Ausführung kommen, dass sie in Stein, nicht in Eisen gedacht sind, weil man nämlich einfach die Formen der Steinplastik auf das Eisen übertragen hat, anstatt aus dem Charakter des Eisenmaterials heraus neue Formen zu finden. Wird doch das Eisen gegossen und geschmiedet, "der Stein dagegen gehauen". War es nicht geradezu frevelhaft, die Steinbauformen auf den Eisenguss zu übertragen? Aber hier berühren wir einen Krebsschaden des gesammten künstlerischen Schaffens unserer Tage, besonders des Kunstgewerbes, dass wir nämlich zu wenig  a u s  d e m  G e i s t e  d e s  M a t e r i a l s  h e r a u s  die Formen entwickeln. Indessen wird dieser Übelstand heute ziemlich allgemein als solcher erkannt, nicht nur von Männern, wie Ruskin, sondern auch von Eckmann und van de Velde. Welche großen und außerordentlich dankbaren Aufgaben der Eisenarchitektur noch harren, mag nur angedeutet werden. Wir verlangen heute für die Innenräume in erster Linie Luft und Licht und Großräumigkeit; diesen Forderungen zu genügen, ist aber der Eisenbau am meisten angethan. Man wird einst drei Phasen architektonischen Baues unterscheiden, desjenigen in Holz, desjenigen in Stein und endlich desjenigen in Eisen. Perspectivisch wirkt von diesen drei Stilen am meisten der Eisenbau, weil das Eisen die größte Tragkraft besitzt und daher den geringsten Flächenraum in Anspruch nimmt, sodass der Raum selbst am luftigsten gestaltet werden kann. Dem Holzbau war es um die Intimität der Räume zu thun, er feierte daher die größten Triumphe in der Innenarchitektur. Dem Steinbau war es um kraftvolle Massen zu thun; er triumphierte im Palastbau; und was den Kirchenstil anbetrifft, schuf der kraftvolle romanische Stil mehr aus dem Charakter des Materials heraus, als der gothische Stil, der die Massen in Zierwerk auflöste. Die Halle dagegen, mit Bogen von gewaltigster Spannweite und einem Gerippe wie von Spinnenfäden, bringt uns erst die Eisenarchitektur. Aber keiner der beiden anderen Stile hat die gleichen Schwierigkeiten zu überwinden wie die Eisenarchitektur. Holz und Stein architektonisch zu verbinden war nicht annähernd so schwer, als das Eisen mit dem Stein und mit dem Holz zu verbinden. Als die Baukunst in ihrer geschichtlichen Entwickelung zu dem Punkte gekommen war, bei dem es galt, von der Holzarchitektur zur Steinarchitektur überzugehen und jene mit dieser zu verbinden, nahm man einfach die vom Holzbau überlieferten Formen in die Steinarchitektur hinüber: sogar der Mutulisims geht im letzten Grunde auf die Sichtbarmachung der Balkenköpfe beim Holzbau zurück, und man wird wenig Formen in der Steinarchitektur finden, die nicht aus dem Holzbau sich heraus entwickelt haben. Die Eisenarchitektur dagegen kann nicht das thun, was die Steinarchitektur that, die überlieferten Formen des Holz- und Steinbaues herübernehmen. Denn wie schon oben betont: das Eisen wird gegossen und geschmiedet, nicht gehauen und nicht gesägt. Die Eisenarchitektur muss daher wohl oder übel daran denken, neue Formen aus dem Geiste des Eisenmaterials heraus zu schaffen. Zugleich giebt eben dieser Umstand die Entschuldigung für das bisherige Fiasco des künstlerischen Eisenbaues bezüglich der Einzelformen. Noch niemals wohl hat es eine Kunst so schwer gehabt, als die moderne Eisenarchitektur. Der beste Rath, den man einstweilen der Eisenarchitektur in der eben besprochenen Richtung geben kann, ist der, dass sie die künstlerischen Formen daher nimmt, wo das gleiche Material zur Anwendung kommt, nämlich aus dem Kunstgewerbe, soweit dieses mit guss- und schmiedeeisernen Arbeiten zu thun hat. Hier wird man manche brauchbare Formen finden, die sich mit Erfolg auch in der Architektur verwenden lassen, zum mindesten da, wo es sich um Ausschmückung, Verbindung der einzelnen Glieder, Abschlüsse, Bekrönungen, Basen, Capitäle und Consolen handelt. Bietet doch überhaupt die moderne schmiedeeiserne Technik hervorragende Leistungen kunstgewerblicher Thätigkeit. Die Art, wie bisher die großen Eisenwerke den kunstgewerblichen Theil ihrer Aufgabe erfüllen, ist wenig erfreulich. Ob man nun die neue Schwebebahn Elberfeld-Barmen oder die neue Berliner elektrische Hochbahn oder irgend einen Laternenpfahl oder eisernen Brückenpfeiler ansieht, immer tritt einem entweder Kunstverwirrung oder Kunstlosigkeit entgegen. Kann man doch sogar Laternen sehen, bei denen den Pfahl einfach eine Eisenschiene bildet. Und leider empfinden viele Menschen diese künstlerische Öde nicht einmal. Dagegen ist dringend zu fordern, dass die großen Eisenwerke kunstgewerbliche Künstler anstellen, welche nicht  n u r  z e i c h n e n,  sondern auch  f o r m e n  und  p l a s t i s c h  e m p f i n d e n  gelernt haben, und dass sie sich bemühen, nunmehr, da wir über das Kindheitsalter der Eisentechnik hinaus sind, nicht nur technisch und mechanisch, sondern auch künstlerisch befriedigende Leistungen zu geben.  D e n n  a u c h  d i e  E i s e n a r c h i t e k t u r  g e h ö r t  i n  d a s  B e r e i c h  d e r  b i l d e n d e n  K ü n s t e,  z u m  m i n d e s t e n  i s t  d i e s  d e r  W e g,  d e n  s i e  i n  Z u k u n f t  z u  n e h m e n  h a t.