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Autor: Pudor, Heinrich
In: Der Architekt - 9 (1903); S. 24 - 25
 
Erziehung zur Eisenarchitektur
 
Den Eiffelturm der Pariser 1889er Weltausstellung darf man von einem gewissen Standpunkt aus als das Wahrzeichen der neuen Zeit ansehen, diesen himmelanstrebenden Bau aus Eisen, Wellblech und Glas, der weder Mauern noch Säulen, sondern nur eiserne Stützen, Rippen, Bänder und Streben kennt.

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Und von demselben Gesichtspunkte aus darf diese Zeit in ihrem Wappenschilde die Eisenschiene führen. Freilich ist der Eisenbau selbst durchaus nicht erst eine Errungenschaft der jüngsten Zeit. In China, wo Seilbrücken schon im III. Jahrhundert bekannt waren, werden eiserne Brücken bereits im XVII. Jahrhundert erwähnt. In Europa ist die älteste gußeiserne Brücke die von Abraham Darby, in den Jahren 1776-1779 nahe bei Broseley über den Severn gebaut. Die zweite wurde von dem großen Telford, dem Erbauer des Kaledoniakanals in Schottland und des Götakanals in Schweden, in Buildwas errichtet, und zwar mit einem Stichbogen von 130 Fuß Spannweite. Telford, der ganz Großbritannien mit eisernen Brücken versah, hatte feinen ästhetischen Sinn. Seine Brücken, besonders die um 1820 gebaute Menaibrücke, wirken in der Bogenkonstruktion künstlerisch. Auf dem Festland wurde die erste eiserne Brücke 1796 über das Strigauer Wasser bei Laasan in Schlesien gebaut. Österreich und Frankreich dagegen besaßen zu Anfang des XIX. Jahrhunderts noch keine eiserne Brücke, und erst im Jahre 1805 wurde überhaupt die erste Eisenschiene gewalzt, während es bis dahin nur Gußeisen und geschmiedete Stäbe gab. Welchen ungeheueren Fortschritt danach die Eisenproduktion gemacht hat, erhellt am besten aus der Tatsache, daß die Roheisenproduktion der Erde, welche Anfang des XIX. Jahrhunderts nur etwa 85.000 Tonnen betrug, heute nahezu 40 Millionen Tonnen erreicht hat. Und zugleich hat die Technik des Eisenbaues enorme Fortschritte gemacht. Für die Kabel von Hängebrücken wurde bis zum letzten Viertel des XIX. Jahrhunderts Eisendraht von höchstens 7000 kg (9 cm) Festigkeit verwendet, heute Gußstahldraht von über 12.000 kg Festigkeit. Die neue Hudsonbrücke bei New York, welche Stützpfeiler in der Höhe des Kölner Domes erhält, wird Bogen von einer Spannweite von 945 m haben - Finlay mußte sich bei der ersten schmiedeeisernen Brücke im Jahre 1796 noch mit 21 m Spannweite begnügen. Die Revolution der Architektur vermöge des Eisens erfolgte aber erst, als dieses auch zum Häuserbau verwendet wurde. Die erste eiserne Halle in großem Maßstabe war der Palast der Industrieausstellung des Jahres 1851, der jetzige Crystal Palace in Sydenham, nach Plänen von Sir Joseph Paxton ausgeführt.

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Heute sind uns die eisernen Bahnhofshallen, Markthallen, Maschinenhallen schon etwas so Alltägliches geworden, daß leider die meisten Menschen "achtlos durch die Hallen schreiten" und die Eisenarchitektur keines Blickes würdigen, während doch die moderne Zeit von der alten sich kaum durch etwas anderes so sehr unterscheidet, wie eben durch diese Eisenarchitektur. Aber die Architektur ist im allgemeinen das moderne Stiefkind, das selbst in den Kunstausstellungen und Kunstzeitschriften zu kurz wegkommt. Desto mehr erscheint das notwendig, was der vortreffliche Pädagoge Urbach seinen Schülern empfahl: "Macht die Augen auf, wenn Ihr auf der Straße seid, rennt nicht bei den Häusern vorbei, ohne sie anzusehen, prägt Euch ein, wie sie ausschauen, wie sie gebaut sind." Und zumal erscheint dies notwendig bezüglich der Eisenarchitektur, die uns allen noch nicht so recht in Fleisch und Blut übergegangen ist und die doch in allerjüngster Zeit auch auf den Geschäftshausbau angewendet wird. Vor allem muß man sich über die grundsätzliche Verschiedenheit des Eisen- und Steinbaues klar werden. Ob nun die älteste Architektur Höhlenbau in Stein oder Pfahlbau in Holz war, so hat jedenfalls die Steinarchitektur, als sie überhaupt erst einmal ästhetische Formen annahm, diese samt und sonders von dem Holzbau entlehnt; von der Säule, dem Gebälk, dem Giebel bis zu der Sima und Tropfenregula. Bei dem Eisenbau sind es ganz neue Prinzipien, die zur Anwendung kommen. Bei dem Steinbau haben wir es mit Massen zu tun, bei dem Eisenbau mit Rippen. Der Steinbau kennt sozusagen nur Fleisch, massives Fleisch, das den Raum umkleidet. Der Eisenbau dagegen kennt in sich selbst gar kein Fleisch, sondern nur Knochen und Rippen. Beim Steinbau muß die Mauer, die gemauerte Fleischmasse, nicht nur füllen, sondern tragen. Hier lag ein Mangel der Steinarchitektur vor. Selbst der Quader ist eigentlich Fleisch, Füllmaterial, nicht Knochen, nicht Tragschiene, wie beim Menschen das Schienbein. Die Säule zwar erscheint wie geschaffen dazu, zu tragen, und hat mit Ausfüllung nichts zu tun. Aber für die modernen architektonischen Aufgaben im Warenhaus-, Bahnhofshallen-, Maschinenhallen-, Brücken-, Markthallenbau genügt diese Säule nicht mehr, um die bedeutenden Tragaufgaben zu erfüllen. Die Eisenschiene vertritt ihre Stelle. Professor Dr. Weyrauch hat ausgerechnet, daß die Britanniabrücke heute weniger als die Hälfte Eisengewicht erfordern wurde, als vor 50 Jahren. Daraus kann man schließen, wie bedeutend bei dem heutigen Stand der Technik erst die Tragkraft des Eisens über die des Steines sein muß. In der Tat ist die zulässige Druckspannung des Eisens zirka 40- bis 125mal größer als diejenige besten Betons bis gewöhnlichen Mauerwerkes. Man wird also darauf hingewiesen, den Eisenbau für alle in größerem Maßstabe zu errichtenden Bauten anzuwenden. Und niemals hat es in der Architektur eine größere Umwälzung gegeben als diese. Das Wahrzeichen der antiken Architektur war die  S ä u l e.  Das Wahrzeichen der kommenden Architektur wird die  E i s e n s c h i e n e  sein. Und die alte Architektur hat sicherlich ihren Höhepunkt in der Säulenarchitektur, in der Säulenordnung gehabt. In der Folgezeit, als die Säule wegfiel und als statt der Säule die Mauer zu tragen hatte, war eben schon Füllmaterial als Tragmaterial verwendet - man hatte es gewissermaßen mit molluskenartigen Fleischgebilden ohne Knochen und Rippen zu tun. Der Pfeiler dagegen, welcher die Säule ersetzte, war nur eine Art Surrogat, weder gewachsen, im vulkanischen Feuer gebrannt wie die Säule, noch gegossen oder geschmiedet wie das Eisen. Zwar versuchte die Gotik vermöge der Strebepfeiler und besonders der Strebebogen eine neue Art von Traggliedern zu schaffen, aber diese Strebebogen sind eigentlich nicht im Charakter des Steines gedacht und sind weit einfacher mit Hilfe des Eisens auszuführen. Die Mauer aber ist für den gotischen Stil lediglich Füllung, Füllmaterial. Das Konstruktive des gotischen Stiles ist durchaus nicht aus dem Geiste des Steinmateriales erdacht. Vielmehr kann man, wenn man an dieses System von Gewölberippen, Strebebogen und Strebepfeilern denkt, die Gotik eine Art cachierter Eisenarchitektur nennen. Und trotzdem haben wir sie heute noch immer nicht - ich meine - die  E i s e n k i r c h e.  Aber darauf kommen wir später zurück. Es zeigt sich nämlich beim Eisenbau eine große Schwierigkeit. Wir sagten, die Eisenschiene ist der Knochen und der Eisenbau ist Rippenbau. Wie aber nun die Füllung bewerkstelligen? Mit Stein? Oder ist eine Füllung gar nicht notwendig? Der letztere Fall tritt in der Tat ein bei allen Bauten, welche nicht dem Wohnen, sondern dem Verkehre und der Industrie dienen, also bei Bahnhofsbauten, Maschinenhallen, Markthallen, Brückenbauten, Warenhäusern. Auch für Volksbadeanstalten gilt das Gleiche, wogegen die neue Berliner Stadtbauverwaltung ihre neuen Volksbadeanstalten zum Teil im Palazzostil aufgeführt hat.

Und in der Tat sind unsere modernen Bahnhofshallen und Markthallen, mit Ausnahme des Sockels, durchgängig aus Eisen, Wettblech und Glas gebaut. Bei einigen Bahnhöfen gibt es allerdings noch Stützmauern. Aber hier ist man infolgedessen in Verlegenheit geraten, wie man Eisen und Stein verbinden soll, und das Ergebnis ist in dieser Beziehung unbefriedigend. Eher reüssiert hat man da, wo man, wie in Berlin z. B. an den Stadtbahnhöfen der Friedrichsstraße, des Alexanderplatzes etc., auch die Stützmauern fallen ließ, und der richtige Weg wird zweifellos der sein, mit Ausnahme der Postamente, durchgehend in Eisen zu bauen. Wie aber nun bei den  G e s c h ä f t s h ä u s e r n?  Hier hat man sich bisher damit begnügt, die Stützen und Tragbalken von Eisen herzustellen und hat es im übrigen bei der Steinarchitektur gelassen. Auch hier trat aber alsdann wieder die Schwierigkeit hervor, wie man Stein und Eisen verbinden sollte. Man muß sich in der Tat über die prinzipielle Frage klar werden, ob überhaupt der Eisenbau organisch eine Verbindung mit dem Steinbau verträgt. Und an diese Frage ist mit großer Vorsicht heranzutreten. Eisen wird geschmiedet und gegossen, der Stein wird gehauen. Hierin liegt schon ein Gegensatz, der die Möglichkeit einer Verbindung ausschließt. Dazu kommt, daß der Stein an und für sich ein viel zu massiges Material ist, um lediglich als Füllung beim Eisenbau verwendet werden zu können.  D e r  S t e i n  w i l l  s e l b s t  w i e d e r  g e t r a g e n  s e i n.  Hier dagegen kommt es auf ein Material an, das lediglich füllt, weder trägt, noch getragen wird. Ferner, was noch wichtiger ist, braucht der Eisenbau zur Füllung nicht Massen, sondern Flächen. Für die Auffüllung des Knochen-, Rippen- und Netzwerkes eines Eisenbaues paßt der massige Stein so wenig als für ein Spinnengewebe. Wir brauchen ein weit durchsichtigeres Material. Wir brauchen ein Material, das gegossen wird, oder das geschmiedet wird wie das Eisenblech, oder geblasen wird wie das Glas. Das Glas, nicht nur als dünne Fensterscheibe, sondern auch als fußdickes Steinglas, scheint ein Material zu sein, das in den Rippenbau und das Netzwerk des Eisens paßt. Auch von diesem Gesichtspunkt aus gewährt die Leipziger Straßenfront des Tietzschen Warenhauses in Berlin, das im Innern ein Eisengerippe und außen ein Glasrahmenwerk zeigt, volle Befriedigung. Die Pfeiler im Innern sind freilich noch viel zu massig und zudem mit Mauerwerk umkleidet. Aber man ist hier wenigstens schon klug genug gewesen, die eisernen Stützen, wie die Natur es bei den höheren Organismen mit den Knochen macht, ins Innere zu verlegen. Das ist ein Vorteil, erstens in ästhetischer Beziehung.

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Denn wenn die eisernen Stützen außen liegen, ist eine einseitige starke Betonung der Vertikalen die Folge, und zudem tritt aufs neue wieder die Verlegenheit in der Verbindung des Eisens und Steines hervor. Über die Betonung der Vertikalen suchen diejenigen Architekten, welche nachdenken, zwar auf alle mögliche Weise hinwegzukommen, indem sie die Horizontale durch stark vorspringendes Dach, breite, friesartige Gesimse, attikaartige Fensterbrüstungen etc. betonen - neuerdings hat ein Architekt in einem Warenhaus der Potsdamerstraße sich dadurch helfen wollen, daß er die breiten Vertikalschienen mit zierlichen Pilastern bekleidete - aber konstruktiv bleibt die starke Betonung der Vertikalen unter allen Umständen bestehen, sobald man eben die eisernen Stützen außen anordnet, wie es die Natur versuchsweise bei den Krustaceen gemacht hat. Und auch die andere Schwierigkeit der Verbindung des Eisens mit dem Stein, die immer nur eine gezwungene sein kann, bleibt vorhanden. Zweitens bedeutet die Innenanlage der Träger Ersparnis an Stützmaterial. Denn wenn die eisernen Stützen nach außen liegen, wird ihre Tragkraft nur nach innen, nicht nach außen, gewissermaßen nach drei Dimensionen, nicht nach vier Dimensionen hin verwendet. Wer daher die eisernen Stützen innen anlegt, braucht etwa ein Drittel weniger Stützmaterial, als wer sie außen anbringt. Die ökonomische Frage ist aber auch hier entscheidend. Mithin müssen wir uns bei den Geschäftshäusern dazu entschließen, einmal das eiserne Gerippe nach innen zu verlegen und zweitens durchgehends in Eisen, Glas und Blech zu bauen - die einzigen festeren Materialien, die vielleicht noch, aber mehr als Ziermaterialien, angewendet werden könnten, scheinen uns Schamotte, Terracotta, Fayence, Steingut und für Schmuckglieder selbst Majolika zu sein. Das Gleiche gilt für den  W o h n h a u s b a u.  Will man sich dazu entschließen, zehnstöckige Mietskasernen zu erreichen, so würde sich als Material das Eisen immer noch mehr als der Stein empfehlen. Erstens einmal konstruktiv. Denn Eisen trägt besser, wie wir sahen, als Stein. Zweitens in hygienischer Beziehung. Mit Hilfe des Eisens lassen sich derartig helle und hygienisch einwandfreie Wohnungen herstellen, wie sie ein kaiserliches Gesundheitsamt sich nicht besser wünschen könnte. Drittens in ökonomischer Beziehung. Die Wohnungen werden billiger werden. Und endlich können derartige Mietkasernen, wenn sie aus Eisen erbaut werden, auch in ästhetischer Beziehung weit befriedigender wirken als Steinbauten.

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Die nächste Aufgabe der Zukunft aber ist die  E i s e n k i r c h e.  Sie ist die große Sehnsucht schon so manchen Ingenieurs seit manchen Jahren. Aber noch immer scheinen wir nicht reif dazu zu sein. Denn wenn man erst einmal Kirchen aus Eisen baut, dann ist der Sieg des Eisenbaues entschieden. Aber es handelt sich nur um Vorteile. Es dauerte auch einige Zeit, ehe man es wagte, die Kirchen elektrisch zu beleuchten. Wenn man dagegen die Frage vorurteilsfrei - aber dazu gehört Mut, intellektueller Mut - betrachtet, muß man sagen, daß gerade zum Kirchenbau das Eisenmaterial wie geschaffen ist. Denn hier eben handelt es sich um die bedeutendsten Tragaufgaben. Mit welchem Materiale aber könnte man diese Aufgaben besser erfüllen als mit Eisen? Wir sahen schon oben, daß der gotische Stil, der gewiß nicht zu den schlechtesten gehört, besonders was den Kirchenbau betrifft, streng genommen, und zwar konstruktiv, nicht aus dem Steinmaterial komponiert ist, sondern sich weit besser - wir denken nur an das Konstruktive, nicht an Maßwerkverzierungen - für das Eisenmaterial eignet. In der Tat können wir heute nur ahnen, welche herrlichen Eisenbauten uns noch die Architektur bescheren wird. Der Eiffelturm ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Michelangelo in der Peterskirche und Bär in der Dresdner Frauenkirche haben das starre, massige Material des Steines bezwungen und Dome geschaffen von wunderbarer Raumgröße und Perspektive. Die künftigen Eisenarchitekten werden den Vorsprung haben, daß sie von Haus aus mit einem Materiale arbeiten, das für Raumentwicklung und Perspektive gewachsen zu sein scheint. Sie werden uns ein Himmelsgewölbe in Eisen bauen und Perspektiven in Rippen und Netzwerk schaffen, die in der Natur kein Vorbild haben. Man fürchte sich nicht vor den Eisenkirchen. Auch das Eisen hat Gott wachsen lassen, und wenn Gott im Stein lebt, so lebt er auch im Eisen.

Heinrich Pudor