Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Redtenbacher, Rudolph
In: Deutsche Bauzeitung - 13 (1879); 39. - S. 197 - 199 | Deutsche Bauzeitung - 13 (1879); 41. - S. 207 - 210 | Deutsche Bauzeitung - 13 (1879); 43. - S. 217 - 220
 
Wie lernt und wie lehrt man die Baukunst?
 
von Rudolf Redtenbacher

Als ich im Sommer 1873 die Meisterpläne in den Uffizien zu Florenz studirte, trat mir nicht allein die längst gehegte Ueberzeugung von der Unvollkommenheit unseres modernen Architektur-Unterrichts wiederum lebhaft vor die Seele, sondern es wurde mir auch klarer, worin diese Unvollkommenheit beruht und wie sie etwa zu beseitigen wäre. Ich schrieb noch in Florenz meine Gedanken nieder, die ich später in etwas umgeformter Gestalt in der "Allgemeinen Bauzeitung" *) zum Abdruck brachte. Dabei äußerte ich den Wunsch, es möchte von anderer Seite das Thema der  P ä d a g o g i k  d e r  B a u k u n s t  in weiterem Sinne erörtert und wenn möglich bei Gelegenheit einer Architekten-Versammlung diskutirt werden, ein Thema, das bei der Zerfahrenheit der Ansichten über Ziele, Mittel, Wege, Methoden und Angriffspunkte des Architektur-Unterrichts sich der Gegenwart geradezu aufdrängt. Leider ist dieser Wunsch bis jetzt unerfüllt geblieben. Es möge daher im Folgenden vor dem größeren Leserkreise dieses Blattes noch einmal die Frage aufgeworfen werden: "W i e  l e r n t  u n d  w i e  l e h r t  m a n  d i e  B a u k u n s t?  Um Wiederholungen zu vermeiden, sei es mir gestattet, zum Theil auf jenen früheren Aufsatz zu verweisen, während manche Fragen hier eingehender behandelt werden sollen. -
_____
*) "U e b e r  A r c h i t e k t u r - U n t e r r i c h t", Jahrg. 77, Heft 1 und 2 der Allgem. Bztg. Man vgl. auch die Besprechung desselben auf S. 461, Jahrg. 77 d. D. Bztg.


Man dürfte darüber im allgemeinen nicht im Zweifel sein, was  L e r n e n  und  L e h r e n  bedeutet. Wann man unter dem ersten Wort nicht das blosse Auswendiglernen verstehen will, so kann man sagen: Lernen bedeutet, seine Fähigkeiten entwickeln, Lehren, diese Entwickelung beschleunigen. Zweck der Entwickelung ist das   K ö n n e n,  welches - auf dem Vorstellen, Wissen, Denken und Erfinden beruhend -  p r o d u k t i v  ist, im Geiste erfindet und die Erfindung verwirklicht. - Das Lernen ist eigene Arbeit, es setzt nicht nur Fähigkeiten voraus, sondern auch den Willen, sie zu entwickeln; das Lehren kann nichts besonderes bezwecken und leisten, als nach bestimmten praktisch bewährten Methoden diese eigene Arbeit des Schülers zu fördern. Die Fähigkeiten, die entwickelt werden sollen, sind
1) die  A n s c h a u u n g,
2) das  G e d ä c h t n i s,
3) der  V e r s t a n d,
4) die  P h a n t a s i e.

Die Kunst beruht vorzugsweise auf der Anschauung; Kunst-Unterricht ist Anschauungs-Unterricht. Unter Anschauung versteht man bekanntlich alles Sinnenfällige, aber die Kunst richtet sich nur auf das Wohlgefällige der Anschauung, im Gegensatz zu dem rein Anschaulichen, der Grundlage der Mathematik. Die Thätigkeit der Phantasie ist ohne Anschauung und ohne Gedächtniss unmöglich; die Phantasie wird gesteigert durch Bereicherung der Anschauung, das Angeschaute muss aber im Gedächtniss haften bleiben, wenn es der Phantasie zu Hülfe kommen soll, und die Phantasie muss durch den Verstand beherrscht werden, um eine bestimmte Richtung zu verfolgen. Die Phantasie soll in der Kunst nicht überhaupt produziren, sondern sie soll nur das Schöne hervor bringen; sie muss daher von der Vernunft geleitet werden, und da sie die Kunst im Zusammenhang mit ihrer historischen Entwickelung weiter führen soll, so kann sie ihr Ziel nur auf Grund eines historischen Wissens erreichen. Der Kunst-Unterricht zerfällt daher in den Anschauungs-Unterricht, die Kunstgeschichte, die Aesthetik und die Uebung im Entwerfen. Die Baukunst, welche nicht blos Kunst ist, sondern Aufgaben des materiellen Lebens verwirklichen soll, bedarf zu ihrer Lehre außerdem die Bau-Wissenschaft, die eben diese materiellen Aufgaben und die Bedingungen ihrer Verwirklichung kennen lehrt. Weil aller Unterricht die genannten vier Fähigkeiten voraus setzt und sich ihnen entsprechend vier verschiedener Methoden bedient, so folgt daraus, dass man sich darüber klare Rechenschaft geben soll, welche der Methoden man in jedem Falle zur Erreichung seiner Lehr-Aufgabe anzuwenden hat und dass man auch den Schüler veranlassen muss, nach der richtigen Methode sein Selbststudium zu betreiben. Ein Verwechseln der Methoden ist aber bei all unserem Unterricht keine allzu große Seltenheit; bald will man durch Worte erklären, was sich nur aus einem Bild erfassen lässt, bald will man Sachen des Gedächtnisses dem Verstand entlocken, bald begeht man den Fehler, Verstandessachen dem Gedächtniss einzuprägen, anstatt das Denken anzuregen, bald das zur Anschauung zu bringen, was die Phantasie aus sich selbst erzeugend gestalten soll. Wollen wir im weiteren Verlauf unserer Darstellung zu positiven Resultaten gelangen, so müssen wir uns über einige Grundbegriffe verständigen und die Aufmerksamkeit auf die jenigen Punkte hinlenken, in denen die meisten Fehler gemacht werden. Wir haben daher jene vier Geistesfähigkeiten im Einzelnen zu besprechen. -

1) D i e  A n s c h a u u n g
ist im engeren Sinn, auf den es hier allein ankommt, eine durch den Gesichtssinn wahrgenommene Vorstellung; sie ist Auffassung, insofern sie als ein Komplex vereinzelter Anschauungen auftritt, die gleichzeitig stattfinden und unter sich in bestimmten Beziehungen stehen. Die Anschauung kann mehr oder weniger  d e u t l i c h  sein, je bestimmter oder unbestimmter alle Unterschiede des Aufgefassten, je klarer oder dunkler die Beziehungen zum Bewusstsein kommen, in welchen die Einzel-Anschauungen sich zu einander befinden. Undeutlich ist eine Anschauung, wenn man ihrer wohl bewusst ist, aber nicht weiss, was man sieht. Formen- und Farben-Gedächtniss erfordern in der Kunst die Deutlichkeit der Anschauung. -  U n v o l l s t ä n d i g  ist eine Auffassung, wenn in ihr nicht alle Anschauungen deutlich zum Bewusstsein gekommen sind, welche sie enthält. -  T ä u s c h u n g e n  der Anschauung beruhen darauf, dass man gleichzeitig Angeschautes auch als stets Zusammengehöriges im Gedächtniss behält und gemeinschaftlich in der Erinnerung reproduzirt - oder, dass man Anschauungen, die sich nicht vereinigen lassen, zu Auffassungen vereinigt. So fasst die ungeschulte Auffassung Nebensächliches und Wichtiges zu einem Bilde zusammen und beurtheilt die Aehnlichkeit zweier Gegenstände rein äußerlich, die irre geleitete Anschauung aber prägt sich falsche Bilder ein. - Die  F e h l e r  des  A n s c h a u u n g s - U n t e r r i c h t e s  können also darin liegen, dass man Vorstellungen, die sich nur durch die Anschauung gewinnen lassen, auf andere Weise hervor bringen will, dass man die Anschauung unvollständig, undeutlich giebt, sie irre führt. Die wichtigsten  H ü l f s m i t t e l,  um die Anschauung und Auffassung zu unterstützen, sind das Zeichnen, die Beschreibung und Erklärung der Objekte. Man zeichnet, um sich die Anschauung richtig und vollständig zum Bewusstsein zu bringen, man beschreibt und erklärt, um sie deutlich zu machen. Aber nur aus der Anschauung der Wirklichkeit kann man eine richtige Vorstellung gewinnen, daher hat unser Architektur-Unterricht insofern eine sehr schwache Seite, als wir diese Anschauung der Wirklichkeit meistens durch Surrogate ersetzen müssen. Die Beschreibung ersetzt und ergänzt die Anschauung durch das Wort, indem sie das Wesentliche wie das Nebensächliche sprachlich kennzeichnet; die Erklärung begründet die Unterschiede beider. Beschreibung und Erklärung müssen die Merkmale geordnet behandeln, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend; beide erreichen ihr Ziel durch Anschaulichkeit und Treue, richten sich aber auf das, was überhaupt oder momentan sich nicht durch Zeichnung deutlich machen lässt. Sie können die Zeichnung niemals ganz ersetzen, werden auch oft genug durch die Zeichnung ganz unnöthig. Man soll daher an Stelle der Anschauung nicht die Beschreibung setzen wollen, wenn jene durch das Bild am besten gewonnen werden kann, und nichts erklären, was sich von selbst versteht. Dieser Grundsatz würde in seiner weitesten Durchführung den Architektur ebenso wie allen Unterricht überhaupt und seine Hülfsmittel wesentlich umgestalten. Da finden wir in einem Lehrbuch eine langweilige und unnöthige Beschreibung einer neben stehenden Abbildung - dort eine langwierige Beschreibung im Vortrage eines Lehrers, der dem Wahn huldigt, nur das sei eine richtige Anschauung, was man sich ohne Abbildung im Geiste vorstellt, - hier wieder eine Abbildung mit ungenügender Beschreibung und Erläuterung, oder eine solche, die dreimal soviel enthält, als man augenblicklich braucht. -

2) D a s  G e d ä c h t n i s s
beruht auf der Fähigkeit unserer Seele, Gedanken und Anschauungen zu reproduziren, also zeitweise der Erinnerung entschwundene Gedanken und Anschauungen zurück zu rufen. Alles Gedachte und Angeschaute lässt sich wieder vorstellen, aber nur das historisch Thatsächliche und die Sprachen sind ausschließlich Sachen des Gedächtnisses. Auf allen übrigen Gebieten ist die Anschauung die beste Stütze des Gedächtnisses und fördert dasselbe mehr, als seine Uebung durch Wiederholung. Diese Thatsache beruht auf unserer Fähigkeit, Assoziationen von Vorstellungen und Gedanken sich ins Gedächtniss zurück zu rufen, und auf ihr wieder beruht nicht nur ein Theil der Mnemonik und alles Unterrichts, sondern auch eine Gefahr für diesen, wenn Gedanken-Assoziationen und solche, von unter sich oder mit Gedanken verknüpften Anschauungen wieder auftreten, die in keinem inneren Zusammenhang mit einander stehen. Aus diesen Eigenthümlichkeiten unseres Gedächtnisses ergiebt sich die Forderung, dasselbe durch die Hülfsmittel der Anschauung zu stärken, aber falsche Anschauungen möglichst zu vermeiden. Franz Mertens hat bekanntlich in seinen chronologischen Tafeln zur deutschen Baugeschichte des Mittelalters mit Erfolg das Gedächtniss durch die Anschauung zu fördern gesucht. Weil das Gedächtniss nicht nur auf Assoziation von Anschauungen sondern auch von Gedanken und Gedankenkreisen, Ideen beruht, die Gedanken aber, um aufgefasst zu werden, klar, ihre Verknüpfungen scharf und in einfachster Weise dargelegt werden müssen, weil ferner das Gedächtniss am stärksten sich nach der Seite des menschlichen Interesses hin entwickelt, welches nicht nur von persönlicher Neigung, sondern auch vom Beruf selbst abhängt, so hat der Architektur-Unterricht wie jeder Unterricht überhaupt nicht nur nach möglichster Klarheit des Vortrags zu streben, sondern auch danach: das  I n t e r e s s e  an der Sache zu erwecken. In dieser Hinsicht sind es aber ganz besonders viele polytechnische, darunter einige Architektur-Fächer, welche, an und für sich trocken, sehr schwer sich interessant behandeln lassen. Andere sehr interessante Gegenstände werden aus Nachlässigkeit und Ungeschick der Lehrer langweilig gemacht, was den Schüler quält und abstumpft, anstatt ihn zu belehren.

Eine allgemeine Pädagogik der polytechnischen Fächer, deren ausführliche Behandlung mir so dringend nothwendig erscheint, hätte die Frage gründlich zu beleuchten: Wie kann man einen Gegenstand interessant behandeln? - Manche Lehrer würden wohl diese Frage überhaupt für überflüssig halten, weil sie die Langweiligkeit eines Unterrichts für ein nothwendiges Uebel oder sogar für ein pädagogisches Hülfsmittel zur Unterstützung der Gründlichkeit halten und im Interessantmachen desselben eine gefährliche Tendenz zur Spielerei erblicken. Der Schüler soll aber nicht nur überhaupt und gründlich lernen, sondern er soll das innerhalb der möglichst kürzesten Zeit und bei verhältnissmäßig geringster Ermüdung thun. Dies ist zunächst durch ein strenges Auseinanderhalten und dem Zwecke Anpassen der Lehrmethoden möglich, so dass jeder derselben ihr Theil zufällt - durch Klarheit, Schlichtheit und zugleich Lebendigkeit des Vortrags, der fesseln und spannen soll, ohne zu ermüden, der also auch sprachlich korrekt und deshalb womöglich vorher schriftlich ausgearbeitet werden soll. Dies ist ferner möglich durch sorgfältige Auswahl der Beispiele, die das Wort bekräftigen können, endlich durch eine Abrundung des einzelnen Vortrags, der nicht mehr enthalten darf, als der Fassungskraft der Schüler in einem gewissen Zeitmaaß entspricht, welches vom Gegenstand selbst am meisten abhängt; denn der Unterricht soll eben so wenig den Wissensdurst anregen und ihn plötzlich unbefriedigt lassen, als übersättigen. Bei dem Architektur-Unterricht, der fast immer mit Zeichenübungen verbunden wird, dürfte es sich empfehlen, den Vortrag nicht viel über eine Stunde bei zweistündiger, nicht über eine halbe Stunde bei einstündiger Zeiteintheilung des Lehrplanes auszudehnen, und den Rest der Zeit durch spezielle Erläuterungen des Vortrags, Ausführung einzelner Gedanken, Vorbereitungen zu den Zeichenübungen und diese selbst auszufüllen. Auch muss dem Schüler Gelegenheit gegeben werden, sich nähere Erläuterung über die Punkte zu erbitten, die ihm unverständlich geblieben sind. Was dem Interesse am Unterricht ganz besonders hinderlich sein kann, das ist die Unkenntniss seines Inhalts, seiner Methode, seines Verlaufes und Endziels. Man schreitet von Stufe zu Stufe fort und weiss weder, wo hinaus das alles schließlich will, noch was man mit alle dem anfangen soll. Ganz besonders dienlich ist es daher für den Unterricht, wenn der Lehrer die ganze Gliederung desselben, sein  L e h r p r o g r a m m,  vor den Schülern entwickelt. Er gebe ihnen eine Einleitung, Rückblicke und Prospekte an den Zwischenpunkten, schalte praktische Anwendungen des Vorgetragenen ein, kurz, führe seinen Zuhörern den Gang der Sache stets in großen Zügen vor Augen, ehe er zu den Einzel-Abhandlungen übergeht und stelle durch Aufgaben die Probe, ob dieselben den Vortrag aufgefasst haben. -

3)  D e r  V e r s t a n d
Anschauungen und Gedanken, dis sich uns darbieten, oder die wir aus der Erinnerung schöpfen, sind das Kapital, mit welchem der Verstand wirtschaftet. Seine Thätigkeit ist eine  a n a l y t i s c h e,  indem er die aufgefassten Vorstellungs- und Gedankenkreise in ihre zufällig oder aus Gründen zu einander gerathenen Elemente zerlegt, eine  k r i t i s c h e,  insofern er die Vorstellungen und Anschauungen auf ihre Zusammengehörigkeit prüft und eine  s y n t h e t i s c h e,  indem er Zusammengehöriges zu Gesammt-Auffassungen verbindet. Anders ausgedrückt: der Verstand zerlegt und vergleicht, bezieht und urtheilt, schließt und wendet an. Er ist  t h e o r e t i s c h,  d. h. wissenschaftlich, wenn er nach Erkenntniss strebt,  e m p i r i s c h,  wenn er aus der Erfahrung schöpft,  p r a k t i s c h,  wenn er die Erkenntnisse aufs thätige Leben anwendet. Außer der allgemeinen Verstandes-Thätigkeit, wie sie in jedem Denken ausgeübt wird, giebt es zwei Verstandes-Richtungen, welche der Architekt ganz besonders verfolgen muss: das aufs Praktische und das auf den Geschmack gerichtete Urtheil. Als ausübender Architekt ist er Praktiker, als Künstler Aesthetiker. Dies giebt dem Architektur-Lehrer bestimmte Winke für den Unterricht, der bei uns in Deutschland mehr als in anderen Ländern die unangenehme Aufgabe hat, die Vernachlässigung der Anschauung sowohl, als auch des praktischen Verstandes und des Schönheitsgefühls wieder gut zu machen, welche der einseitige, sich fast nur an das Gedächtniss und den reinen Verstand wendende Gymnasial-Unterricht auf dem Gewissen hat und die viel Schuld trägt an unserer auffälligen Unbeholfenheit im thätigen Leben, einem uns überall im Wege stehenden Mangel. Wir Deutschen mögen zwar eine angeborene Neigung zur Grübelei haben, aber die sonderbare Liebhaberei,  d a s  mit dem Verstande heraus klügeln zu wollen, was Sache der  A n s c h a u u n g  ist, zu  d e n k e n,  wo es gar nichts zudenken giebt, und die Eigenschaft, den praktischen Verstand  d a n n  n i c h t  gebrauchen zu können, wenn von ihm Alles abhängt, entspringen doch wesentlich einem Grundfehler unserer  E r z i e h u n g.  Gerade wir im sogen. "Humanismus" Gebildeten leiden vielfach an diesem Mangel und gerade bei längerem Leben im Auslande wird er uns so recht klar. In Italien wie in Holland habe ich viele Menschen gefunden, die nach unsern Begriffen von geringer Bildung oder von mäßigen geistigen Gaben, aber außerordentlich treffend im Urtheil, schlagfertig im Handeln, gewandt und taktvoll im Benehmen waren. Der von Jugend auf geschulten Anschauung und dem lebhaften Verkehr mit Menschen verdanken solche Leute oft eine staunenswerthe Auffassungsgabe und Fertigkeit im praktischen Denken, die in allen Dingen zu rascher That führen und ohne langes Ueberlegen den Nagel auf den Kopf zu treffen befähigen. -

4) D i e  P h a n t a s i e
Man bezeichnet wohl mit Unrecht die Fähigkeit, Anschauungen sich ins Gedächtniss zurück zu rufen, als Phantasie. Die Phantasie ist nicht reproduktiv sondern frei schaffend. Wie der Verstand Begriffe verbindet, urtheilt und schließt, als Geist daher etwas Neues, vorher nicht Dagewesenes hervor bringt, so verbindet die Phantasie Anschauungen zu neuen, vorher nicht vorhandenen Kombinationen. Und wie die geistige Einsicht in das Wesen der Dinge Probleme löst, welche das thätige Leben oder die Wissenschaft uns stellen, also praktisch denkend erfinderisch ist, so löst in ähnlicher Weise die Phantasie Aufgaben, welche das menschliche Gemüth und der Trieb nach einer schönen Gestaltung des Lebens von uns fordert; sie ist künstlerisch gestaltend, erfinderisch. Ohne Anschauungen und Erfahrungen, sowie die Gabe der Erinnerung ist keine Verstandes-Thätigkeit möglich, ohne Anschauungen und Erinnerungen, sowie die Fähigkeit, diese Anschauungen zu neuen Gruppen zu verbinden, keine schöpferische Thätigkeit der Phantasie. Da es sich in der Kunst nicht um eine beliebige Kombination von Anschauungen handelt, so hat die Phantasie sich in ganz  b e s t i m m t e r  Richtung zu entfalten; sie bedarf einer bestimmten Aufgabe und muss ein klares Ziel vor Augen haben; sie muss sich konzentriren und von Zerstreuung ferne halten, so gut wie der Verstand, wenn er arbeitet; sie muss durch die ästhetische Urtheilskraft im Zaume gehalten werden. Der Architekt bedarf sowohl der geistigen wie der künstlerischen Erfindungsgabe; beide müssen während des ganzen Achitektur-Unterrichts genährt und angeregt werden. Die tiefste Einsicht in das Wesen der Architektur und ihre Produktionen kann die Erfindung nicht hervor rufen, sondern nur die vorhandene Natur-Anlage entwickeln helfen, eben so wenig, wie der Geist das Gedächtniss oder die Anschauung und Erfahrung hervor rufen kann. -

Aller Architektur-Unterricht besteht hiernach in baukünstlerischem und bauwissenschaftlichem Unterricht. Er ist zunächst Anschauungs-Unterricht und wird durch Zeichenübungen und Erläuterungen unterstützt. Vergangenen Zeiten fehlte jeder kunstgeschichtliche Hintergrund; sie hatten immer nur ihre eigene Stilrichtung vor Augen und im Auge. Sie konnten den Architektur-Unterricht damit beginnen, dass sie eine Formenlehre ihres üblichen Baustils, verbunden mit Zeichenübungen und sachlichen Erklärungen darboten. Wir heutigen Menschen haben eben diesen, Jenen mangelnden historischen Hintergrund, dagegen keine positiv und direkt überlieferte Stilrichtung. Wir müssen daher den Unterricht anders beginnen, und zwar I. mit einem  a l l g e m e i n e n  A n s c h a u u n g s - U n t e r r i c h t,  der an allen Lehranstalten als Ornament-Zeichnen betrieben, durch Selbststudium auf Reisen und Exkursionen sowie durch Privatarbeiten je nach vorhandener Fähigkeit, Neigung der Schüler und lokalen Bedingungen ergänzt wird. Es folge II. eine  a l l g e m e i n e  F o r m e n l e h r e  d e r  B a u s t i l e  als Einleitung in den weiteren Architektur-Unterricht und als spezieller Anschauungs-Unterricht. Diesem allgemeinen Stilunterricht werde III. eine  a l l g e m e i n e  G e b ä u d e l e h r e  an die Seite gestellt, der IV. eine  s p e z i e l l e  G e b ä u d e l e h r e  nachfolge, während V. das  B a u z e i c h n e n  diesen Kursen parallel läuft. - Da wir zur Herstellung von Gebäuden nicht blos die Kenntniss der Anforderungen des Lebens, welche durch die Gebäude befriedigt und in der Gebäudelehre behandelt werden sollen, sondern auch die Hülfsmittel zu ihrer Befriedigung bedürfen, so ergeben sich drei weitere Zweige des Architektur-Unterrichts: VI. die  L e h r e  v o n  d e n  B a u m a t e r i a l i e n,  VII. die  L e h r e  v o n  d e n  B a u k o n s t r u k t i o n e n,  VIII. die  L e h r e  v o n  d e r  B a u a u s f ü h r u n g. -  Die höhere Stufe des Architektur-Unterrichts, welche im Unterschiede von seinen seither genannten Zweigen eine vorwiegend  k ü n s t l e r i s c h e  Tendenz hat, bedarf IX. der  G e s c h i c h t e  d e r  B a u k u n s t,  X. der  s p e z i e l l e n  S t i l k u n d e  und XI. der  K u n s t g e s c h i c h t e.  Endlich ist XII. das  E n t w e r f e n  während des ganzen Architektur-Unterrichts als Endziel im Auge zu behalten und, vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren fortschreitend, von Anfang an bis zuletzt zu betreiben. -

Fast keiner dieser Unterrichts-Zweige bedient sich blos der einen oder der anderen Lehrmethode, sondern dieselben kommen abwechselnd sämmtlich zur Anwendung, je nach den Bedürfnissen des Unterrichts. Keines dieser Lehrgebiete wird auch in absolut strenger Sonderung von dem anderen betrieben, sondern sie berühren und durchkreuzen sich vielfach. Das jedoch glaube ich in dem Folgenden deutlich machen zu können, dass jedes der 12 genannten Lehrfächer eine ganz bestimmte Aufgabe verfolgt und zu eigenthümlichen Betrachtungen Veranlassung giebt. Ich will gleichzeitig nachweisen, dass eine strengere Gliederung des Unterrichts, als sie heutigen Tags an den verschiedenen Lehr-Anstalten stattfindet, wünschenswerth ist, nicht minder eine tiefere und weitere Auffassung und ein mehr aufs praktische Leben gerichteter Betrieb. Jene strengere Gliederung muss in Ausscheidung und Vereinigung verschiedener Gegenstände, welche andere Unterrichts-Zweige hemmen und belasten, in einer Konzentration des Unterrichts durch Vermeidung alles Nebensächlichen gesucht werden. Eine tiefere und weitere Auffassung des Unterrichts ist nöthig, indem er im Einzelnen mehr durchdacht und doch zum Ganzen der Baukunst in Beziehung gebracht werden muss; - eine praktischere Behandlung, weil gegenwärtig das, was man zunächst in der Baupraxis braucht, gelehrt wird*) und weil (ähnlich wie beim mathematischen und beim Sprach-Unterricht) das Vorgetragene nur haftet, wenn es stets an instruktiven Beispielen durch Uebungen zum klaren Bewusstsein gebracht wird. -
_____
*) B e r i c h t i g u n g: Im ersten Abschnitt dieses Artikels (No. 39) S. 199, Sp. 2, Z. 10 v. unten lese man: "n i c h t  gelehrt wird", statt "gelehrt wird".


Im Verlauf des Folgenden will ich nunmehr eine Reihe von Betrachtungen über die von mir aufgestellten 12 Kapitel des Architektur-Unterrichts, dem Bedürfniss entsprechend je in weiterer oder knapperer Ausführung, der Begutachtung der Architektur-Lehrer und der Architektur-Studirenden unseres Vaterlandes vorlegen.

(Fortsetzung folgt)


Wie lernt und wie lehrt man die Baukunst?
(Fortsetzung)


I. DER ANSCHAUUNGS-UNTERRICHT

Ein solcher Unterricht soll den Sinn für Formen, für Verhältnisse, für die Licht- und Schatten-Wirkung und für die Farbengebung ausbilden und vervollkommnen. Dies kann nur erfolgen durch  v i e l e s  Sehen guter Kunstwerke, gleichviel, ob sie dieser oder jener Baurichtung angehören. An die Beobachtung, die sich auf alles erstrecken kann, was uns umgiebt, und die Merkmale der Gegenstände zu unterscheiden sucht, schließen sich das Nachbilden und das Zeichnen an. Einen großen Theil des Anschauungs-Unterrichtes, und sogar mit den besten Theil, kann die Schule überhaupt nicht ertheilen, sondern jeder Einzelne muss ihn für sich suchen auf Spaziergängen, Exkursionen und Reisen, welche ihm Gelegenheit zur Naturbeobachtung wie zur Anschauung wirklicher Kunstwerke gewähren. Nichts fördert die Anschauung mehr, als wenn man möglichst viel nach der Wirklichkeit zeichnet, sei es Pflanzen oder Thiere, Gebäude oder Architektur-Theile, Landschaften oder Figuren, Ornamente oder Skulpturen. Jeder Architektur-Lehrer kann daher seine Schüler nicht genug zu unablässigem Zeichnen nach der Wirklichkeit und bei jeder Gelegenheit veranlassen. Das perspektivische Zeichnen nach der Wirklichkeit übt ganz besonders in der Geschicklichkeit, die Verhältnisse richtig wieder zu geben. Um sich im architektonischen Zeichnen zu üben, ist es dagegen nicht unzweckmäßig, was man zeichnet, in geometrische Ansichten zu übertragen; man übt dadurch die Fähigkeit, sich umgekehrt von geometrischen Zeichnungen eine Vorstellung ihrer perspektivischen Wirkung zu machen. Das Zeichnen mit Bleistift bei Studien nach der Wirklichkeit bietet den großen Vortheil, dass man zuerst leicht die Haupt-Verhältnisse in der Zeichnung eintheilen kann, ehe man an die Detail-Ausführungen denkt; es schützt vor groben Verhältniss-Fehlern. Aber auch das Zeichnen mit Feder und Tinte hat hierbei als vortreffliches, praktisches Bildungsmittel sich bewährt. Wenn jeder Strich unauslöschlich fest sitzt, ist man gezwungen, sehr scharf aufzupassen, und erhält bei vieljährigem Betrieb dieses Federzeichnens eine erstaunliche Sicherheit selbst im Treffen der Verhältnisse. Man gewöhnt sich zugleich an ein korrektes Zeichnen und gewinnt bei einiger Sorgfalt reine und unverwischbare Skizzen. Zeichnet man sich mit Bleistift die Haupt-Verhältnisse vor und wischt die Bleistift-Linien später wieder weg, so kann man sich das Federzeichnen natürlich noch bedeutend erleichtern. Zu diesem Selbststudium, welches allen angehenden Architekten aufs dringendste empfohlen werden muss, gehört ganz besonders das Zeichnen architektonischer Details, namentlich der Profil-Gliederungen. Zweckmäßig und höchst lehrreich ist das Aufnehmen eines Bau-Denkmals in allen seinen Theilen. Kann man dasselbe auch aufmessen, um so besser, und am allerbesten ist es, wenn man die Aufnahmen endlich vollständig ausarbeitet. Zum Selbststudium eignet sich ferner auch das Zeichnen nach Pflanzenformen, wie man sie auf jedem Spaziergang sich sammeln kann, endlich das Durchpausen architektonischer und ornamentaler Zeichnungen aus freier Hand, ohne Benutzung eines Lineals oder Zirkels. -

Auf Lehr-Anstalten wird der Anschauungs-Unterricht vorzugsweise als  O r n a m e n t - Z e i c h n e n  betrieben. Er soll dann sowohl den Sinn für Formen und Verhältnisse, für Licht und Farbenwirkung bilden, als auch die Fertigkeit im Zeichnen erzielen. Er behandelt das Linien-Ornament, das Flächen-Ornament und das plastische Ornament. Erster Grundsatz für den Unterricht muss dann sein, stets in  N a t u r g r ö ß e  zeichnen zu lassen, damit man sich nicht nur die Formen und Verhältnisse einprägt und sie beurtheilen lernt, sondern auch sich an die Größe der Wirklichkeit gewöhnt, in welcher die Ornamente je nach Zweck und Material ausgeführt werden. Der Sinn für Verhältnisse des Details kann durch fortwährendes Zeichnen in natürlicher Größe so sehr entwickelt werden, dass sogar das konstruktive Gefühl bis zu einer nahezu absoluten Sicherheit ausgebildet wird. Diesen Vortheil wissen alle Handwerker, Maschinen-Ingenieure etc. auszunutzen, die sich schließlich auch ohne rechnerische Hilfsmittel kaum mehr in den Dimensionen irren, welche sie ihren Gebilden geben wollen. -

Für die Anfangsgründe im Ornament-Zeichnen empfiehlt es sich besonders, mit Kreide an die Tafel, oder mit Kohle auf Papier zu zeichnen. Sehr sicher kann man auf Papier auch mit langen runden Stäbchen von Lindenholz zeichnen, welche, an einem Ende zugespitzt und in Tusche getaucht, nach allen Richtungen einen gleichmäßigen Strich geben, ein in belgischen Zeichen-Schulen übliches Verfahren. Um sich einen bestimmten Maaßtab zu bilden, nach welchem man sofort die relative Größe aller Objekte zu einander beurtheilen kann, die man überhaupt zeichnet, wird es sehr zweckmäßig sein, irgend ein wichtiges Architektur-Detail, das man täglich in Wirklichkeit sieht, etwa von dem Schulgebäude, in Naturgröße, sowie in den verschiedenen üblichen Maaßtäben zu zeichnen, und als Norm für alle vorkommenden Fälle diese Abbildungen stets vor Augen zu behalten. Da man als Architekt in der Regel geometrische Ansichten anfertigt, so ist es zweckmäßig, auch im Unterricht die plastischen Ornamente, Kapitelle etc. in solche geometrische Ansichten zu übertragen, um sich diese Bilder einzuprägen und sie desto leichter aus dem Gedächtniss reproduziren zu können. Ornamente dieser Art soll man aber stets auch in ihrer plastischen Wirkung kennen lernen, daher in den verschiedensten Stellungen abbilden, in denen man sie in der Wirklichkeit sehen wird. Wie ein jonisches Kapitell oder eine gothische Kreuzblume in perspektivischer Ansicht aussieht, kann uns keine geometrische Ansicht lehren. Auch empfiehlt es sich nicht selten, solche Gegenstände in einer Unter- oder Ober-Ansicht auf zu zeichnen, um sich über die Ursachen der perspektivischen Wirkung vollständig Rechenschaft zu geben. Gothische Kreuzblumen beispielsweise sind schwer vollständig zu verstehen, wenn man sie nicht im Grundriss und in der Unter-Ansicht gesehen hat. Ein vortreffliches Hülfsmittel für den Anschauungs-Unterricht, welches einzelne Lehrer mit Erfolg benutzen, besteht darin, dass man aus einer der vielen Sammlungen architektonischer Details irgend welcher Stilarten ausgewählte Proben in Naturgröße übertragen lässt. Es versteht sich von selbst, dass man den Unterricht in diesem, in die Baukunst einführenden Ornament-Zeichnen mit kurzen Erläuterungen begleiten kann und soll, welche dem Schüler das Verständniss der Formen, ihre Bedeutung für die bezügl. Stilrichtung und für die Baugeschichte überhaupt vorläufig klar machen.


II.  ALLGEMEINE FORMENLEHRE DER BAUSSTILE

Als Einleitung in das Studium der Baukunst dürfte an allen Lehr-Anstalten eine allgemeine Formenlehre der Baukunst sich empfehlen, welche den Zweck hätte, die wichtigsten Eigenthümlichkeiten der Baustile mitzutheilen und durch gute Abbildungen zur Anschauung zu bringen. Alle Architekturen der Vergangenheit haben allgemeine und besondere Merkmale; auf diese muss aufmerksam gemacht, ihre Entstehung muss begründet, ihre historische Entwickelung dargestellt werden. Während die  S t i l k u n d e  die verschiedenen Baurichtungen an ihren Merkmalen erkennen lehrt, hat die  M o n u m e n t e n k u n d e  die wichtigsten Bau-Denkmäler, an denen sie sich entwickelt haben, zu erwähnen. Dieser deskriptive Theil des Unterrichts bedarf der kritischen Beleuchtung, welche die Formen aus konstruktiven, ästhetischen und historischen Gründen erklärt, sowie der Darstellung ihrer geschichtlichen Entwickelung, die deutlich erkennen lässt, was jeder einzelne Baustil für die Baukunst überhaupt geleistet hat, was also an ihm von bleibendem Werth ist und was an ihm nur eine vorübergehende, historische Bedeutung hat.

Ein derartiger allgemeiner stilistischer Unterricht kann natürlich nur von einem Lehrer ertheilt werden, der der Ueberzeugung ist, dass keine Baukunst der Vergangenheit einzig und allein die Schönheit in ihrem ganzen Umfang hervor gebracht, sondern dass jede nur einen Theil derselben geschaffen hat, dass wir also aus  a l l e n  Baurichtungen der Vergangenheit zu lernen und selbst wieder ein Stück der Schönheit in der Kunst zur Darstellung zu bringen haben. Diese Voraussetzung allein kann vor einseitiger Ueberschätzung irgend eines Baustils schützen; sie muss von selbst aus der Betrachtung entspringen, dass nach Ablauf einiger weiterer tausend Jahre sich doch wohl ein eben so reicher Entwickelungs-Verlauf der Baukunst zeigen wird, wie wir ihn heute hinter uns liegen, dass dieser Entwickelungs-Verlauf durch die Aufgaben bedingt ist, welche jede Zeit dem Menschen stellt, dass er von der Kenntniss der Kunstmittel abhängt, welche uns die Vergangenheit zubrachte und dass er durch die allgemeinen irdischen Verhältnisse in eine bestimmte Bahn gezwungen ist. Als Ergebniss einer solchen Auffassung der Baukunst der Vergangenheit wird sich für jede Zeit ein ganz deutlicher Kern dessen heraus schälen lassen, was die Architektur in summa für die Menschheit geleistet hat und was an rein Historischem, also in praktischer Hinsicht Veralteten bei Seite geschoben werden kann.

Die Methode eines solchen Stilunterrichts würde also als eine historisch-kritische zu bezeichnen sein, die alle Vorliebe für diese oder jene Baurichtung ausschließt und nur danach fragt, was jede Stilweise für ihre nächstfolgende und für's Ganze geleistet hat. Dies würde keineswegs damit unverträglich sein, dass man aus praktischen Gründen an einer Lehr-Anstalt diese oder jene Baurichtung ganz besonders pflegt. Die möglichste Vertiefung in eine der Gegenwart am nächsten stehende Bauweise, wie z. B. die Renaissance, ist als Grundlage für die spätere künstlerische Produktion unumgänglich nöthig und schützt eben so wohl vor einem wilden Eklektizismus, wie wir ihn noch nicht lange hinter uns haben, als sie ein vernünftig eklektisches Verfahren zulässt. Alle Zeiten der Vergangenheit verfuhren eklektisch, aber stets unter der Voraussetzung einer bestimmten Stilrichtung, an die sie sich anschlossen; niemals aber bestand ein Eklektizismus an und für sich, wie ihn unsere nächste Vergangenheit herauf beschwören wollte.

Der Umfang einer solchen allgemeinen Stilistik würde sich von selbst dadurch ergeben, dass man, um ein abgerundetes Ganzes zu bieten, den Stoff auf das Wesentliche beschränken, dieses aber in klarster Gliederung vortragen müsste, so dass sich als End-Ergebniss ein klares Programm für eine  a l l g e m e i n e  G e b ä u d e l e h r e  fest stellen ließe. Zur möglichsten Konzentration des Vortrags versuche man die zur Erläuterung des Wortes nöthigen Zeichnungen an der Wandtafel  v o r  der Unterrichts-Stunde durch Schüler und zwar nach genauen Zeichnungen in bestimmtem Maaßtab auftragen zu lassen. Dieser Gedanke, der sich auch für andere Unterrichts-Zweige empfiehlt, von wesentlicher Bedeutung aber gerade für den Architektur-Unterricht ist, lässt sich folgendermaßen begründen. Es handelt sich hier natürlich nicht um flüchtige Erläuterungs-Skizzen, welche man während des Vortrags macht und wieder weglöscht, sondern um solche, die gerade die Anschauung bilden sollen. Die Anschauung soll aber, damit sie gebildet wird, durch nichts gestört, nicht verdorben werden dadurch, dass sie Falsches dem Gedächtniss einprägt. Was also für die Anschauung gezeichnet werden soll, muss in den Formen und Verhältnissen  r i c h t i g  gezeichnet werden. Wollte das der Lehrer selbst thun, so wäre es für ihn ein großer Zeitverlust; wollte man nur durch Wandtafeln die Gegenstände zur Anschauung bringen, was für gewisse Vorträge ganz zweckmäßig ist, so würde der große pädagogische Werth, den das Zeichnen in großem Maaßtab für den Schüler hat, geopfert.

Wäre beispielsweise in einer Reihe von Vorträgen der dorische Stil zu behandeln, so würden Gesammt-Ansichten, Interieurs, Grundriss-Schemata, erläuternde perspektivische Bilder, wie sie unsere Lehrbücher der Kunstgeschichte enthalten, durch Wandtafeln vorzuführen sein, da weder die Zeit genügt, um diese Bilder von einem Vortrag zum andern an die Tafel zu zeichnen, noch der pädagogische Werth eines solchen Zeichnens ein großer ist, weil diese Abbildungen vorwiegend zur Erläuterung dienen. Die architektonischen Details dagegen, die Kapitell-Formen, die Zusammenstellung eines ganzen Gebälkes, die Profil-Gliederungen und Ornamente müsste man alle in Naturgröße von Schülern an die Tafel zeichnen lassen, weil gerade dieses Zeichnen die Anschauung fördert. Nach dem Vortrag würde dann das Reduziren der Details etwa im Maaßstab 1 : 5 oder 1 : 10, und die Zusammenstellung einer ganzen Säulen-Ordnung eines Tempels in den verschiedensten Ansichten auf dem Papier den Inhalt des Zeichen-Unterrichts bilden, der den Vorträgen parallel zu laufen und die zeichnerische Fertigkeit anzustreben hat. Gegenstände von rein kunsthistorischem Werth wären aus einem solchen Stilunterricht vollständig auszuscheiden und in die Vorträge über Baugeschichte zu verweisen, bei welchen die erforderlichen Zeichnungen zum Theil ebenfalls durch Schüler anzufertigen wären. Die ganz anderen Zwecken dienende  s p e z i e l l e  Stillehre, die ich unter No. X anführte, gehört erst in die höheren Kurse des Unterrichts.

Ein ausgeführtes Programm dieses allgemeinen Stilunterrichts brauche ich hier nicht zu geben; es wird sich mit Benutzung vorhandener Lehrbücher leicht aufstellen lassen, wenn man sich stets fragt, was ist das  W e s e n t l i c h e  der Sache, was lässt sich als Unwesentliches beiseite lassen. Wesentlich ist aber, wie schon früher gesagt, die  r i c h t i g e  Anschauung in Bezug auf Form und Verhältnisse, die  v o l l s t ä n d i g e  Anschauung, welche durch alle nöthigen Ansichten eines Objekte wie durch Erkenntniss seines Zusammenhangs mit anderen zu gewinnen ist, die Anschauung nur des  F o r m v o l l e n d e t e n,  die  k o n s t r u k t i v e  Begründung, die  c h r o n o l o g i s c h e  Reihenfolge und die  h i s t o r i s c h e  Datirung der Gegenstände, sowie natürlich ihre  B e n e n n u n g. -


III. ALLGEMEINE GEBÄUDELEHRE

Aehnlich wie die Stillehre zerfällt auch die Gebäudelehre, welche die Voraussetzung für allen Unterricht im Entwerfen bildet und zunächst auch zum Aufzeichnen von Gebäuden Anleitung geben muss, in eine allgemeine und in eine spezielle. Die allgemeine Gebäudelehre, welche das vorträgt, was alle Gebäude-Arten betrifft, sucht die Frage zu beantworten: Wie kommen Gebäude zu Stande? Die spezielle Gebäudelehre frägt: Wie sollen Gebäude bestimmter Art gestaltet werden? Die Tendenz beider ist eine praktische, sie richtet sich nur auf die heutigen Tags gebräuchlichen Gebäude und kümmert sich weder um die Gebäude, welche frühere Zeiten errichteten noch darum, wie sie errichtet wurden; da aber die Gegenwart auf der Vergangenheit fußt und aus der Vergangenheit lernt, so schöpft auch die Gebäudelehre ihr Material aus der Baukunst der Vergangenheit wie aus derjenigen der Gegenwart. Ihre praktische Tendenz leitet sie stets auf drei Gesichtspunkte hin - auf die  F o r m,  wie sie sich aus den materiellen Bedingungen aller Baukunst ergiebt, auf die  K o n s t r u k t i o n,  die auf der Zusammenfügung der Einzeltheile unter dem Prinzip der Schwere beruht und auf die  ä s t h e t i s c h e  E r s c h e i n u n g. -

Die allgemeine Gebäudelehre ist eine architektonische Formenlehre, die aus allen Baustilen der Vergangenheit schöpft aber nur das allgemein Gültige, für alle moderne Gebäude Passende auswählt. Wie kommt ein Gebäude zu Stande? Antwort: durch Umschließung von Räumen mit Wänden, Decken, Böden. Die Wände bedürfen der Licht-Oeffnungen und der Thüren, die Decken außer den Wänden der freien Stützen; die Räume müssen unter sich verbunden werden, sowohl in horizontaler Richtung durch Nebeneinanderstellung als auch in vertikaler durch Uebereinanderstellung. Da jene drei Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, Festigkeit und Schönheit zu beobachten sind, so ist eine allgemeine Gebäudelehre nichts anderes als die allgemeine Tektonik der Baukunst, und ihr Programm lässt sich etwa folgendermaßen gliedern:

A. D i e  B i l d u n g  d e r  W ä n d e.  a) Mauerwerk: Haustein, Backstein etc. b) Holzwände: Block-, Riegel- und Bretterwände
B. D i e  D e c k e n b i l d u n g.  a) Flachdecken, b) Gewölbe sowie die durch sie bedingten Strebebögen und Strebepfeiler, c) Kombinirte Decken
C. F u ß b ö d e n.  a) Pflaster, b) Estrich, c) Dielung
D. M a u e r - O e f f n u n g e n
E. S t ü t z e n.  a) Säulen , b) Pfeiler, c) ihre Verbindung mit Gebälken und Bögen
F. Ra u m v e r t h e i  l u n g  i n  h o r i z o n t a l e r  R i c h t u n g
G. S t o c k w e r k s b a u

Man wird aus dieser Programm-Skizze für eine allgemeine Gebäudelehre leicht erkennen, was mit ihrer Durchführung bezweckt werden soll. Dieselbe wird eine lange Reihe von Aufgaben besprechen und ihre möglichen Lösungen vor Augen führen, also zeigen, wie die künstlerische Gestaltung aus den Konstruktions-Prinzipien sich ableiten lässt, wenn eine bestimmte Aufgabe vorliegt und die Mittel zu ihrer Lösung gegeben sind. Sie unterscheidet sich von der Baukonstruktionslehre darin, dass sie die Konstruktion stets nur soweit berührt, als sie zur Anschauung kommt, von der Stillehre darin, dass diese die Aufgabe jener für bestimmte Baustile spezialisirt. Man wird kaum daran zweifeln können, dass eine solche allgemeine Gebäudelehre möglich ist und dass sie äußerst lehrreich für den Schüler sein kann, wenn sie in richtiger Weise betrieben wird. Wie schon erwähnt, muss sie mit Zeichenübungen verbunden werden und kann zugleich als der erste Unterricht im Entwerfen betrachtet werden. Die in dieser Beziehung zu stellenden Aufgaben sind aber keine, zusammengesetzten, sondern einfache, elementare Probleme, und der Unterricht soll darin bestehen, dass er Anleitung giebt, dieselben in der verschiedenartigsten Weise je nach den verschiedensten Bedingungen zu lösen. Ich verweise hier auf einen ähnlichen Unterricht, wie er wohl zur Blüthezeit der Renaissance betrieben wurde und von dem wir durch Serlio's Werk über die Baukunst namentlich im vierten und sechsten Buch eine Vorstellung bekommen.


IV. DIE SPEZIELLE GEBÄUDELEHRE

Sie behandelt die verschiedenen Arten der Gebäude, ihre Bedürfnisse und ihre Eintheilung; sie giebt Anleitung, aus den Bedürfnissen die Größe der Räume sowie ihre Vertheilung abzuleiten. Natürlich kann dieses Gebiet auf einer Lehr-Anstalt nicht in seinem ganzen Umfang vorgetragen werden, sondern nur in seinen wichtigsten Theilen; das Wohnhaus vor allem, seine Räume, seine Disposition vom einfachsten bis reichsten Beispiel, von der kleinsten Arbeiterwohnung an bis zum größten Palast ist hier zu behandeln, wie dies theilweise schon in vortrefflicher Weise, namentlich in Verbindung mit dem Bauzeichnen und Entwerfen, geschieht. - Seinem Umfang nach hat der Vortrag die Eintheilung von Wohngebäuden, den inneren Ausbau derselben, soweit er nur dem Bedürfniss genügen soll, sowie deren Ausschmückung zu lehren. Die Disposition der  G r u n d r i s s e  steht in erster Linie; die Gewandtheit im Austheilen derselben muss ganz besonders durch praktische Uebung gefördert werden. Es sei mitgetheilt, was die Lehrer verschiedener Anstalten hierin für zweckmäßig erachteten. Für frei stehende Wohngebäude, namentlich die Villa, muss die Austheilung des Grundrisses von Innen nach Außen geschehen, für eingebaute Wohnhäuser von der Façaden-Eintheilung nach Fenster-Axen ausgehen. Für den Unterricht im Entwerfen ist es zweckmäßig, stets ganz bestimmte Grundstücke aus dem Plan der Stadt auszuwählen, in welcher der Unterricht geleitet wird, und sich streng an die gegebene Situation zu halten. Für reifere Schüler eignet es sich, nicht nur größere Wohnhäuser für eine oder mehre Familien entwerfen zu lassen, sondern komplizirtere Bedingungen anzunehmen, wie sie in jeder Stadt vorkommen: ungewöhnlich geformte Bauplätze, Wohnhaus-Eintheilungen, wie sie für bestimmte Geschäftszweige oder Lebensberufe der Einwohner erforderlich sind, endlich Komplexe von mehren Wohnhäusern auf einem bestimmten Platz zum Vorwurf zu nehmen. Sehr instruktiv kann auch die Aufgabe des Umbaues bestehender, aber mangelhaft eingetheilter Wohngebäude für den Unterricht sein. Auch in Betreff der öffentlichen Gebäude halte ich es immerhin für möglich, dass in einer kurzen Uebersicht das Wesentliche derselben vorgetragen und der Schüler auf die Benutzung der technischen Litteratur soweit hingewiesen werden kann, dass er selbst mit Leichtigkeit Programme für irgend welche Gebäude schriftlich ausarbeiten lernt. Der sehr bedauerlichen, fast absoluten Vernachlässigung der schriftlichen Arbeiten an den Bauschulen könnte gerade nach dieser Richtung hin mit Erfolg entgegen gearbeitet werden, wenn man mit Hülfe von Litteralien Aufsätze über die Erfordernisse bestimmter Gebäude-Arten ausarbeiten ließe. Ein Vortrag über die Einrichtung kleiner Schulen zum Beispiel kann sehr lehrreich sein, noch lehrreicher aber ist es, sich selbst aus verschiedenen Aufsätzen etc. eine Zusammenstellung des Wissenswerthesten über einen solchen Gegenstand zu machen.


V. DAS BAUZEICHNEN

In den meisten Lehr-Anstalten wird ein besonderes Bauzeichnen betrieben, welches sich vom Zeichnen der Baukonstruktionen dadurch unterscheidet, dass es zwar diese berücksichtigt, aber den Zweck hat, Gebäude im Zusammenhang zeichnen zu lernen und die zeichnerische Fertigkeit nach den verschiedenen Darstellungs-Methoden zu üben. Hier seien die letzteren zunächst erwähnt und zwei, während der Zeit der Renaissance geübte Darstellungs-Arten empfohlen. Die erste besteht in einem Skizziren von Grundriss-Schematen, bei welchem man nur die Disposition der Räume im richtigen Verhältnisse wiedergiebt, die Mauern durch gleich dicke oder je nach der Mauerstärke verschieden dicke Striche andeutet und die Fenster, Thüren, Treppen an ihrer richtigen Stelle anbringt. Solche Skizzen-Grundrisse wurden häufig als erste Entwurfs-Skizzen angefertigt und einzelne Meister, wie Lorenzo Donati von Siena, waren unerschöpflich im Erfinden solcher Grundriss-Dispositionen. Die zweite, sehr lehrreiche und praktische Zeichen-Methode, die "skenographische", wie sie Vitruv nennt, besteht darin, dass man die geometrische und parallel-perspektivische Ansicht in einer Figur vereinigt. Dieses skenographische Zeichnen ist namentlich für die Darstellung von Profil-Gliederungen sehr geeignet und lässt sich in der Weise einheitlich durch führen, dass man alle Profile in größerem Maaßtab, z. B. ein_fünftel.JPG (845 Byte) bis ein_zehntel.JPG (847 Byte) Naturgröße geometrisch zeichnet; die Vorder-Ansicht derselben perspektivisch, indem man die Linien nach einem Fluchtpunkt zieht, der einer Unter-Ansicht (bei Basen, Sockeln etc. Ober-Ansicht) von 45° entspricht und die Figur durch die Kontur eines Diagonal-Schnittes des Profils unter 45° begrenzt, welche die Ausladung desselben an der Ecke veranschaulicht. So erhält man in einer Figur das Bild und die perspektivische Wirkung eines Profils, z. B. Haupt-Gesimses, und wird genau beurtheilen können, ob es in den Verhältnissen günstig ist oder nicht und wo man ab- und zugeben darf. Die Meister der Renaissance haben mit besonderer Vorliebe solche in einem Minimum von Zeit herstellbare skenographische Bilder von Gesims-Gliederungen entworfen, um sich deren Wirkung zur Anschauung zu bringen, wie z. B. aus Serlio's Architektur-Werk zu ersehen ist.

Was die Ausstaffirung der Zeichnungen anbelangt, so sei darauf hingewiesen, dass die an der Akademie in Wien vorzugsweise geübte Schraffir-Methode bei einiger Gewandtheit des Zeichners wohl als die wenigst zeitraubende betrachtet werden kann und unter der Voraussetzung, dass man stets mit ganz schwarzer Tusche zeichnet, mit den einfachsten Mitteln die größte plastische Wirkung sowohl, als die feinsten Abstufungen zwischen Licht und Schatten erreichen lässt. Sie verleiht den Zeichnungen eine, architektonischen Gegenständen ganz besonders entsprechende stramme Haltung, lässt eine malerische Behandlung zu, die besonders durch die Andeutung der Textur der Baumaterialien erhöht wird und ergiebt nahezu unverwüstliche Zeichnungen. -

Gewiss ist es sehr zweckmäßig, wenn man das eigentliche Bauzeichnen damit beginnt, irgend ein Gebäude in Grundrissen, Aufrissen und Durchschnitten kopiren zu lassen, wie das an den meisten Bauschulen geschieht. Nur würde sich der Zweck dieses Zeichnens, dass man überhaupt die Darstellungs-Arten von Bauzeichnungen kennen lernt, vollkommener erreichen und der Unterricht ebenso lehrreicher, wie anziehender gestalten lassen, wenn man nicht  b l o s  kopiren, sondern nach der Wirklichkeit aufnehmen und die Aufnahme ausarbeiten ließe.
Es sei gestattet, folgenden Vorschlag der Begutachtung zu empfehlen: Man beginne das Bauzeichnen damit, dass man das ganze Schulgebäude durch die Schüler aufmessen und aufzeichnen lässt, nicht nur die Grundrisse, Durchschnitte und Façaden, sondern auch den ganzen inneren Ausbau desselben. Soweit die Konstruktionen nicht sichtbar sind, hat der Lehrer das Nöthige zu ergänzen und zu erläutern. Man lasse ferner einige wichtige Details der Façade in Naturgröße zeichnen, damit der Schüler sich schon im Anfang daran gewöhnt, die Größen-Verhältnisse zu beurtheilen. Nichts ist förderlicher für den Unterricht, als Aufnahmen von Gebäuden zu machen. Gerade das Schulgebäude aufzunehmen, hat aber den großen Nutzen, dass man sich dasjenige zum vollen Bewusstsein bringt, was man stets vor Augen hat.

Von Gebäuden, welche sonst noch für das Bauzeichnen besonders instruktiv sind, ist neben dem eigenen Wohnhaus der Bahnhof einer Stadt zu nennen, weil man außer dem Schulhaus wohl diesen von allen Gebäuden am häufigsten zu sehen Gelegenheit hat, und, weil in der Regel die Baupläne, nach denen er ausgeführt wurde, unschwer in den Besitz der Lehr-Anstalt gelangen können. Da der Grundgedanke aller meiner Vorschläge über Architektur-Unterricht der ist, stets und so viel als nur irgend möglich, die Anschauung der Wirklichkeit in den Vordergrund zu stellen, so halte ich es für sehr zweckmäßig, dass die Lehr-Anstalten sich möglichst vollständige Pläne der besten Gebäude ihrer Stadt auf irgend welche Weise zu verschaffen suchen sollten - sei es durch Ankauf oder dadurch, dass sie dieselben durch Schüler anfertigen lassen. Auch empfiehlt es sich unter allen Umständen, dass man die so oft von einem Schüler gestellte Frage: "wie soll ich das machen" nicht einfach beantwortet, sondern ihn durch eigene Anschauung der Lösung eines ähnlichen Problems sich die Antwort selbst holen lässt.

Für den Unterricht im Bauzeichnen dürfte es sich endlich um des praktischen Nutzens willen empfehlen , so viel wie möglich die Zeichnungen als Werkrisse zu behandeln, nach denen man direkt bauen kann, so dass der Schüler auf der Lehr-Anstalt schon den praktischen Büreau-Betrieb kennen lernt und nicht als unbeholfener Lehrling in die Praxis kommt. Unter Umständen halte ich es für zweckmäßig, dass man selbst größere Gebäude, die dem Schüler zugänglich sind, mit vertheilten Rollen so durcharbeiten lässt, wie wenn sie erst ausgeführt werden müssten. Auch die Ausarbeitung mustergültiger Konkurrenz-Projekte im Sinne ihrer Ausführbarkeit könnte für den Unterricht instruktiv sein. Bei solchen Arbeiten mit vertheilten Rollen, nach dem Muster des Büreau-Betriebes könnte der Einzelne, um ein Ganzes zu gewinnen, die Zeichnungen seiner Kollegen durch Pausen sich verschaffen. -


VI. DIE BAUMATERIALIEN-LEHRE

Ich kann über dieselbe mich kurz fassen und beschränke mich auf die Bemerkung, dass die Eigenschaften, das natürliche Vorkommen, die Gewinnung, die Herstellung der künstlichen, sowie endlich die Bearbeitung der natürlichen Baumaterialien zu behandeln sind. Dieser Unterricht ist theils naturhistorisch, theils technologisch.


VII. und VIII. BAU-KONSTRUKTIONSLEHRE UND BAU-AUSFÜHRUNG

Auch über diese beiden Kapitel will ich mit wenigen Worten hinweg gehen, da ich über den ersten Gegenstand mich schon in meinem früheren Aufsatz ausgesprochen und weil ich hier vorzugsweise die  k ü n s t l e r i s c h e  Seite des Architektur-Unterrichts im Auge habe. Auch für den Konstruktions-Unterricht dürfte es sich empfehlen, Aufnahmen nach der Wirklichkeit zu machen, Details von Holzverbindungen und dergleichen an die Tafel in Naturgröße zeichnen zu lassen, um das konstruktive Gefühl auszubilden. Dass dieser Unterricht einer gründlichen Revision bedarf und wissenschaftlich korrekter betrieben werden muss, habe ich ebenfalls schon in jenem Aufsatz angedeutet. - Ein gediegener Vortrag über die Bauführung fehlt sonderbarer Weise an den meisten Lehr-Anstalten, trotzdem man von jedem angehenden Bauführer die Kenntniss der Grundbegriffe seines Amtes sollte voraus setzen können. Die Führung der Arbeits-Journale, die Behandlung der Kosten-Anschläge, die Reihenfolge der Arbeiten und ihr Ineinandergreifen etc., die eigene Anschauung von Thun und Treiben auf dem Bauplatz sollte man kennen lernen, ehe man als Bauführer fungirt, theils durch den Vortrag, theils durch fleißiges Besuchen von im Gang befindlichen Bau-Ausführungen, damit man sich nicht der Beschämung aussetzt, keinen einfachen Bauzaun oder eine Wächterbude, entwerfen zu können, nachdem man vielleicht schon Kirchen und Paläste projektirt hat - ein recht häufig vorkommendes Ereigniss im Leben angehender Architekten - damit man ferner mit Arbeitsleuten umzugehen weiss und nicht das Gefühl hat, dass sie einem in allem Nothwendigsten überlegen sind. Nichts ist für einen jungen Bauführer peinlicher, als das Gefühl der Unsicherheit, Nichts beruhigender, als wenn man sich mit dem Polier richtig zu stellen weiss.


IX. DIE GESCHICHTE DER BAUKUNST

Wenn ein Theil derselben auf die spezielle und allgemeine Stilkunde vertheilt wird, so wird sich die Geschichte der Baukunst ohne Weitschweifigkeit leicht behandeln lassen. Ein Theil dessen, was ich über diesen Gegenstand zu sagen hätte, habe ich in meinen "Aphorismen über Baugeschichtschreibung" im Jahrgang 1878 der Allgemeinen Bauzeitung ausführlich behandelt und kann hier kurz darauf verweisen; einen andern Theil kann ich bei Gelegenheit einiger Bemerkungen über den Unterricht in der Kunstgeschichte aussprechen. Es sei hier nur kurz wiederholt, dass die Baugeschichte wie alle Geschichte in chronologischer Reihenfolge vorgetragen, dass nicht ein Bauwerk neueren Datums vor demjenigen eines älteren behandelt werden soll, falls nicht dieses in einem anderen Gedankengang eingereiht wird, als derjenige, den man momentan vorträgt - dass die historisch kritische Methode in den Vordergrund zu stellen und das Bauwerk vor allem nach seinem Werth als  K o m p o s i t i o n  zu beurtheilen ist, wonach diese Baugeschichte einen wesentlich anderen Charakter erhält, als wenn man sie blos von der Formvollendung des Details abhängig macht - dass endlich die vielen Varianten um ein und dasselbe Thema, welche in der Baukunst zur Ausführung kamen, nur vorübergehend zu beachten sind und dass jede Tendenz zu einer Stilbevorzugung aus der historischen Darstellung auszuschließen ist. -

(Schluss folgt)


WIE LERNT UND WIE LEHRT MAN DIE BAUKUNST?
(Schluss)


X. DIE SPEZIELLE STILKUNDE

Von keiner größeren Lehr-Anstalt für Architektur kann dieser Unterrichts-Zweig, der in seiner Vollständigkeit die Antike, die Renaissance und das Mittelalter umfasst, entbehrt werden. Antike und Renaissance müssen  a l l e  Schüler, welche höhere Ziele verfolgen, gründlich kennen lernen; die mittelalterliche Baukunst diejenigen, welche besondere Neigung zu ihr haben. Es ist hier einem viel verbreiteten Vorurtheil gegenüber zu treten, als sei die Kenntniss der mittelalterlichen Baukunst für denjenigen unnöthig, der sich ganz an die Renaissance oder an die Antike anschließt. Das ist sehr unrichtig. Ein Sichvertiefen in die Baukunst des Mittelalters hat für den Vertreter jeder Richtung einen klärenden Einfluss. Man beurtheilt die Antike und Renaissance vorurtheilsfreier, wenn man auch jene kennt; denn es ist eine gründliche Auffrischung für die künstlerische Empfindung, wenn man sich zeitweise auf einen ganz anderen als den gewöhnlichen Standpunkt zu stellen weiß. Ganz dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt für den Gothiker. Wenn dieser nicht auch die Antike und die Renaissance beherrschen kann, wird er nur zu sehr ins Starre und Verknöcherte hinein gerathen. Noch ein zweites Vorurtheil will ich hier erwähnen, welches namentlich in der Berliner Schule herrschend geblieben ist: dass nämlich die Antike, als die originale Kunst, der Renaissance an Kunstwerth und pädagogischer Bedeutung unbedingt überlegen sei. Auch diese Meinung ist unrichtig. Was man durch das Studium der Renaissance gewinnt, kann man unmöglich aus der Antike schöpfen, weil beide Kunst-Richtungen im Prinzip und in der Tendenz verschieden sind. Die Renaissance glaubte freilich, nur das unverfälschte Original wieder entdeckt zu haben, die wahre Kunst, von welcher die römische Kunst nur eine Nachahmung oder ein Abglanz sei, in Wirklichkeit aber ist sie der griechischen Baukunst, welche sie nicht kannte, in sehr vielen Dingen weitaus überlegen. Dieser Gedanke ist in meinen genannten Aufsätzen, sowie in einem dritten "Ueber die Baubestrebungen der Gegenwart" im Jahrg. 1877 der Allgem. Bauztg. genügend weiter ausgeführt, so dass ich ihn hier nur zu berühren brauche.

Als pädagogische Grundlage und als Einführung in die Architektur überhaupt wäre das spezielle Studium der Antike dringend nöthig; nur darf dabei nicht übersehen werden, dass es dabei nicht blos darauf ankommt, die Formenwelt der griechischen Architektur sich dem Gedächtniss einzuprägen und sie etwa nach der Bötticher'schen oder einer anderen Theorie zu begründen, sondern vielmehr darauf, verstehen zu lernen, wie unter einfachen Verhältnissen und bei einfachen Aufgaben eine architektonische Komposition sich gestaltete. Wenn man den Sinn für die Schönheit der Verhältnisse im Ganzen wie im Detail gründlich schulen will, wozu sehr viele Zeit gehört, so muss das schon bei dem ersten Unterricht, bei dem Studium des antiken Baustils geschehen. Dazu genügt aber nicht, dass man einige hübsche Blätter mit kupferstichartiger Präzision durchführt, sondern ein griechischer Tempel muss wie ein Projekt ausgearbeitet werden, alle Details müssen in Naturgröße an der Tafel gezeichnet und dann erst in verkleinertem Maaßtab in die Zeichnung auf dem Papier reduzirt werden. Beim Zeichnen selbst sollte man endlich einmal rationell verfahren und sich ganz auf die dem Zeichen-Material entsprechenden Darstellungs-Arten beschränken. Die Meister der Renaissance haben es vortrefflich verstanden, mit den einfachsten Hülfsmitteln vorzüglich klar und wirkungsvoll zu zeichnen. Unsere Lehr-Anstalten sollten sich ausnahmslos die Photographien dieser Meister-Pläne und Studien kommen lassen als Vorbilder, wie man das Studium der Antike und das Zeichnen praktisch betreibt. Um ferner schon in diesem grundlegenden Unterricht, bei welchem man nebenbei die Behandlung von Grundrissen, Durchschnitten etc. lernen kann, das Verständniss für die Komposition zu erwecken, sollten auch die reicheren Anlagen der Antike, Thermen, Theater, Paläste und dergleichen durchgearbeitet werden, wobei - was sich bei jedem Stilunterricht empfiehlt - die Restauration unvollendeter oder nur theilweise erhaltener Bauwerke mit in den Kreis der Aufgaben hinein gezogen werden kann. Größere Aufgaben können mit vertheilten Rollen bearbeitet werden, so dass alle Details in Naturgröße von verschiedenen Schülern an die Tafel gezeichnet werden und der einzelne die Zusammenstellung des ganzen Gegenstandes in kleinerem Maaßtab übernimmt.

Die Formenwelt der römischen Säulen-Ordnungen kann man vollständig überspringen und sie nach den viel vollendeter durchgebildeten Ordnungen der Renaissance kennen lernen. Die Lehrbücher von Serlio und Palladio, deren deutsche Ausgaben man in modernem Deutsch wieder auffrischen sollte, geben sehr viele praktische Anhaltspunkte, um sich in die Renaissance einzuleben. Auch Leon Battista Alberti's Architektur-Werk verdient durchstudirt zu werden (d. h. von Architektur-Lehrern). Die Ordnungen der Renaissance sind als pädagogisches Hülfsmittel außerordentlich nützlich, namentlich zur Ausbildung des Sinnes für Verhältnisse im Großen und Kleinen; selbst nur sehr wenige Werke der Antike, die griechische nicht ausgeschlossen, kommen den besten Werken der Blüthezeit italienischer Renaissance in der Vollendung der Verhältnisse gleich. Das mag manchem orthodoxen Neuhellenisten als eine zu kühne Behauptung erscheinen; wer jedoch - vorurtheilsfrei und blos auf seine Augen sich verlassend - die Werke der Antike und Renaissance vergleichend neben einander stellt, wird von dem Zutreffenden dieser Meinung gewiss sich überzeugen. Ich habe an anderen Orten nachzuweisen versucht, dass, weil die Lichtstärke der Sonne von Athen zu der unseres Norden, etwa Berlins, im Sommer sich wie 3 : 2, im Winter sogar wie 2 : 1 verhält, in Griechenland und bei Verwendung des hellen Marmors alle Detail-Formen vollständig anders behandelt sein müssen, wie bei uns, die wir außerdem stets dunklere Materialien verwenden, und dass aus diesem Grunde alle von Griechenland nach unserm Norden übertragenen Formen theils flau, theils hart wirken müssen. *)
_____
*) Vergl. Aphorismen zur Baugeschichtschreibung.


Die Renaissance hat mit feinerem Auge, als die Römer, die von diesen vorgenommene, den Beleuchtungs-Verhältnissen entsprechende Umformung der Detailverhältnisse aufs äußerste raffinirt, so dass wir im Norden uns getrost an sie anschließen können, ohne fürchten zu müssen, weniger vollendet zu bauen als die Griechen, deren Architektur ohne Berücksichtigung dieser Beleuchtungs-Verhältnisse ganz unverständlich bleibt. - Auch für das Studium der Renaissance gilt dasselbe, was für dasjenige der Antike und des Mittelalters gültig ist, dass man sich in die  K o m p o s i t i o n  vertiefen, sich Rechenschaft geben soll, welches Problem der Künstler und mit welchen Mitteln er es gelöst hat. Das Studium des mittelalterlichen Baustils gewährt den außerordentlichen Vortheil, dass man die Bauwerke nicht  b l o s  aus Abbildungen, mit Hülfe des Vortrags und der Zeichenübungen kennen lernen braucht, sondern sie aus der Wirklichkeit, aus eigener Anschauung und durch  A u f n a h m e n  studiren kann. Man sollte sich nirgends die Gelegenheit zu solchen Aufnahmen entgehen lassen; sie sind von unschätzbarem Werth, wenn sie richtig betrieben werden. Sie gewähren nebenbei die erfrischende Annehmlichkeit, dass sie theilweise auf Studienreisen, an fremdem Orte und in freier Natur gemacht werden, die künstlerischen und geistigen Fähigkeiten gleichmäßig in Anspruch nehmen und von den mannichfaltigsten anregenden Eindrücken begleitet sind. Es sei hier, um nicht zu wiederholen, was ich an anderer Stelle ausgesprochen habe, nun das kurz noch einmal erwähnt, dass man meiner Ansieht nach selbst bei der Aufnahme von Werken der deutschen Renaissance und der Barokzeit ungemein  v i e l  lernen kann, ja dass ich mir von einer Aufnahme der Schinkel'schen Bauten in Berlin oder der Klenze'schen in München unbedingt mehr verspreche, als alle bisher an der Berliner Bau-Akademie betriebene Doktrin über die griechische Architektur den Schülern beibringen konnte. Dass ich unter Aufnehmen nicht die übliche Bildchenmacherei verstehe, sondern das Aufmessen und Auftragen des Objektes nach Maaßen und bis ins Detail brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Die Leistungen der Wiener Bauhütte können für solche Arbeiten als Muster dienen.

Ebenso sei nur beiläufig bemerkt; dass die Studien über mittelalterlichen Stil nicht auf den nebensächlichen Flitterkram, sondern auf den Kern der Sache, der in erster Linie in der Konstruktion begründet ist, gerichtet sein müssen. Mindestens müsste der Unterricht so weit führen, dass man alle mittelalterlichen Gewölbkonstruktionen richtig zu entwickeln und zu zeichnen versteht, dass man in den Stand gesetzt wird, kleinere Restaurations-Bauten, wie sie jedem Beamten als Aufgabe vorkommen können, fehlerfrei und im Geiste des Mittelalters durchzuführen und dass man überhaupt, was ja jeder gute Unterricht leisten wird, zum Selbstarbeiten, Selbststudium angeregt wird, welches das ersetzen muss, was der vielleicht wegen Zeitmangel abgekürzte Unterricht nicht leisten kann. Im Allgemeinen kann man sagen, dass gründliche Stilstudien das beste Förderungsmittel für das Vertiefen in die Kunst, für die spätere Gewandtheit, sich in dieser frei zu bewegen und für eine ausgebildete Anschauung sind. -


XI. EINE ÜBERSICHT DER KUNSTGESCHICHTE

Die Kunstgeschichte, wie sie bis jetzt entwickelt ist, leidet an manchen Mängeln, die gerade im Unterricht möglichst vermieden werden sollen; der Vortragende ebenso wenig wie der Zuhörer kennt die meisten Kunstwerke, von denen die Rede ist, aus eigener Anschauung, und der historische Zusammenhang derselben ist - trotz aller der vielen höchst verdienstlichen Arbeiten, welche auf diesem Gebiet gemacht wurden - noch viel zu wenig erforscht. Der Vortragende kommt daher nur zu leicht in die Lage, dem Zuhörer ein ganz unrichtiges Bild der Sache einzuprägen und ihm Urtheile aufzuoktroyiren, welche dieser gelegentlich der eigenen Anschauung, die ihm vielleicht später gegönnt ist, wieder über Bord werfen muss. Der Lehrer ist ferner in der Regel viel zu wenig künstlerisch begabt, um den Werth des Kunstwerks als Komposition richtig zu erkennen, von welchem doch alles Uebrige abhängt und redet daher von diesem und jenem, nur von der Hauptsache nicht. Er ist selten in der Lage, die materiellen Bedingungen richtig zu beurtheilen, unter welchen das Kunstwerk entstanden ist, die Technik desselben zu verstehen und den Gegenstand selbst gründlich zu kennen, den die Plastik und Malerei abbildet oder die Lebenszwecke, welchen die Bauwerke dienen. Es wird endlich die Kunstgeschichte viel zu sehr von dem Zusammenhang mit der Kostümkunde und dem Kunstgewerbe losgelöst, in denen doch bei allen Völkern ein gutes Theil des Kunstsinnes sich dokumentirt, zu wenig in den Rahmen der Kulturgeschichte eingefasst, oder diese einseitig nur nach den idealen, nicht nach den realen Bestrebungen der Völker beurtheilt. Diese Mängel, die mehr oder weniger allen unseren Werken über Kunstgeschichte anhängen, sind für den Unterricht doppelt gefährlich, weil sie zu einer vorurtheilsvollen Grundvorstellung über die Entwickelung der Kunst führen. Es kommt bei einem im Rahmen einer knappen Uebersicht zu haltenden Vortrage über die Kunstgeschichte weniger darauf an, dass man dem Gedächtniss eine möglichst große Masse von Details einprägt, sondern eben darauf, dass man die Kunst im Zusammenhang mit der Kultur-Entwickelung der Menschheit kennen lernt. Dass es unmöglich wäre, den reichen Stoff in dem Umfang eines ein- oder zweijährigen Lehrkursus vollständig vorzutragen, ohne dass man sich ins Detail verliert, wird wohl Niemand behaupten wollen.


XII. DER UNTERRICHT IM ENTWERFEN

Wenn ich zum Schlusse meiner Bemerkungen den Unterricht im Entwerfen von privaten und öffentlichen Bauten kurz besprechen will, so muss ich abermals an das erinnern, was ich in meinem früheren Aufsatz über denselben Gegenstand gesagt habe. Gerade über dieses schwierigste aller Einzel-Gebiete des Architektur-Unterrichts gehen die Ansichten am meisten auseinander und gerade hier ist eine Einigung unter den Architektur-Lehrern am meisten erwünscht. Ich habe meine Ansicht früher in dem Satz zusammen gedrängt, dass auf unseren Lehr-Anstalten viel zu viel Entwürfe gemacht werden, diese aber zu oberflächlich. Eine ganze Menge dankbarer Aufgaben zur Einleitung in den Unterricht im Entwerfen bieten sich in den fehlerhaften Anordnungen, wie sie in unseren Städten auf Schritt und Tritt uns begegnen; fehlerhafte oder der Verbesserung fähige Grundriss-Anlagen, die einer Neubearbeitung sich darbieten, enthalten in Fülle unsere Publikationen und Zeitschriften. Mangelhafte Verhältnisse und Vertheilungen der Massen, Ueberfüllungen mit Schmuck, zu wenig ausgebildete Motive, falsche Konstruktionen u. s. w. erblicken wir bei jedem Spaziergang auf den Straßen. Der Schüler muss angehalten werden, nicht blos in der Schule, sondern auch außerhalb derselben sein Urtheil zu schärfen und auf alle diese Dinge Acht zu haben.

Eindrucksvoller als jede theoretische Erörterung wird es sein, wenn ich an dieser Stelle eine Schilderung des musterhaftesten und erfolgreichsten Unterrichts im Entwerfen zu geben versuche, der wohl in Deutschland betrieben wird, desjenigen nämlich, welchen Professor  N i c o l a i  Jahrzehnte lang an der Kunst-Akademie zu Dresden geleitet hat. Die Schüler kommen größtentheils aus einem unteren Vorbereitungs-Kurse in nicht allzu großer Anzahl jährlich in das Nicolai'sche Atelier; die meisten von ihnen haben früher das Maurer- oder Zimmermanns-Gewerbe praktisch betrieben und kommen daher mit weniger theoretischen Studien als praktischen Anschauungen in diesen Unterricht, um sich künstlerisch auszubilden.
Der Zuwachs an Schülern von anderen deutschen Ländern außer Sachsen ist sehr gering, und so hat man es denn mit einem sehr homogenen Material an Schülern von vorwiegend gleichartigen Lebenszielen zu thun, die nur sehr selten nach dem Staatsdienst hinlenken und denen es daher niemals um Erfüllung einer Form, sondern lediglich um die Sache zu thun ist.
Entsprechend der aus diesen Verhältnissen entspringenden praktischen Tendenz wird der ganze Unterricht im Entwerfen nur innerhalb bestimmter Grenzen ertheilt und erstreckt sich nicht über den Wohnhausbau und kleinere öffentliche Gebäude hinaus. Das Normale ist, dass ein Schüler 2 Jahre im Atelier bleibt und in diesen beiden Jahren sich soweit ausbildet, dass er sofort alle jene Bauten, die man für gewöhnlich einem praktischen Baumeister in kleineren Städten überträgt, nicht nur entwerfen, sondern auch ausführen kann. Einzelne begabtere und bemittelte Schüler bleiben vielleicht 3-4 Jahre im Unterricht und entwerfen in den letzten beiden öffentliche Gebäude oder reichere Wohnhäuser, Aufgaben, die in den Bereich eines Stadt-Architekten fallen können; sie betheiligen sich wohl auch an kleineren öffentlichen Konkurrenzen und arbeiten die Entwürfe an der Akademie aus oder bewerben sich bei Stipendien-Konkurrenzen für eine Studien-Reise nach Italien um den Preis, der von Zeit zu Zeit an der Akademie ausgeschrieben wird.

Die Kunstrichtung des Meisters Nicolai, welche auf seine Jünger übertragen wird, ist eine strenge und edle Hoch-Renaissance, die am meisten sich der Bauweise Baldassare Peruzzi's vergleichen lässt und allen Werth auf die Mustergültigkeit der Verhältnisse eines Baues im Ganzen wie in allen seinen Theilen legt, nach einer maaßvollen Verwendung des Schmuckes, einer angemessenen Konzentration desselben auf die seiner am meisten bedürftigen Theile trachtet und nach seiner Formvollendung im Geiste der Blüthezeit der Renaissance strebt. Dies Ziel zu erreichen, ist jedoch nur möglich, wenn ein Entwurf in allen seinen Theilen künstlerisch durchgearbeitet wird und alle Details in Naturgröße gezeichnet werden; die Durchführung dieses Gedankens beschränkt aber wegen der knappen Studienzeit von 2 Jahren von selbst die Anzahl der Entwürfe, welche in dieser Zeit ausgearbeitet werden können, auf höchstens vier. Die Grundrisse werden zunächst aus freier Hand, aber mit Benutzung eines Maaßtabs skizzirt und erst, wenn die ganze Eintheilung und die Dimensionen der Räume gut zusammen stimmen, genau aufgezeichnet, alle Mauerstärken den üblichen Baumaterialien entsprechend angegeben, die Thüren, Fenster und die Rauchröhren berücksichtigt. Endlich wird der Plan in größeren Maaßtab übertragen, in welchem außer den schon genannten Dingen auch die Thürzargen und die Thüren selbst angegeben werden, damit man sich über ihr Auf- und Zuschlagen vollständig Rechenschaft giebt.

Zur Uebung werden möglichst viele Grundrisse entworfen und die wichtigsten am Orte vorkommenden Fälle bedacht; auf alle die feinen Unterschiede wird aufmerksam gemacht, welche bei der Eintheilung von Grundrissen in Betracht kommen, je nachdem ein Haus zum Selbstbewohnen oder zum Vermiethen, ein Stockwerk für eine oder zwei Familien bestimmt, das Haus in einer besseren oder gewöhnlicheren Lage befindlich, mit Verkaufsläden verbunden ist oder nicht. Die Grundrisse werden so vollkommen durchgeführt, dass sie stets die bestmögliche Lösung der Aufgaben sind und man direkt nach ihnen bauen könnte. Für die Durchführung eines Projekts wird einem Schüler entweder eine bestimmte Aufgabe gestellt, oder unter mehren von ihm bearbeiteten Grundrissen wird einer der geeignetsten ausgewählt, oder endlich, alle Schüler betheiligen sich an einer gemeinsamen Aufgabe, welche mehre Lösungen zulässt und die jeder Schüler für sich zu lösen sucht, so dass verschiedene Grundriss-Varianten eines und desselben Problems zur Ausarbeitung kommen.

Nach dem der Grundriss im wesentlichen festgestellt ist, werden in kleinem Maaßstab Façaden-Skizzen entworfen, die noch gar nichts enthalten, als eine Andeutung der Mauer-Oeffnungen, sowie die Höhe und die Ausladung der Sockel-, Gurt- und Hauptgesimse, und die einzig und allein dazu bestimmt sind, die Verhältnisse im Großen zu reguliren. Bei freistehenden Wohnhäusern werden auf einem Blatt der Anzahl der Façaden entsprechende Façaden-Skizzen gezeichnet, damit man sich überzeugen kann, ob ein an einer Seite angeordneter Gurt oder Sockel etc. sich mit den Motiven der anderen Façaden, z. B. der Hausthür, einer Veranda, einer Balkon-Anordnung, einem Erker etc. gut vereinigen lässt. Sind diese Verhältniss-Skizzen fest gestellt, von denen in keiner Weise mehr abgewichen wird, so werden sie in verschiedenen, stets verdoppelten Maaßstäben vergrößert aufgetragen, im ersten die Fensterumrahmungen, etwaige Verdachungen etc. in ihren Haupt-Verhältnissen angegeben, im zweiten Maaßstab die einzelnen Motivgruppen, die zusammen gehören, in einem noch größeren (der nach dem alten sächsischen Ellenmaaß ein_zwölftel.JPG (849 Byte)Naturgröße entsprach) jedes Motiv für sich. Endlich wird von dem Fenster des Parterregeschosses, oder, wenn dieses ein Kaufladen sein soll, von demjenigen des ersten Stockes das Umrahmungs-Profil ausgewählt und in Naturgröße mit Kohle an der Staffelei auf gewöhnliches grobes Papier gezeichnet. Zu einem solchen Naturprofil wird eine sehr instruktive theoretische Erörterung beigefügt, wie vom kleinen bis zum großen Bau das Grundmaaß des Fenster-Profiles innerhalb gewisser Grenzen wachsen und vom einfachen bis zum reichsten Bau seine Formgebung variiren kann. Alle möglichen und den verschiedensten Verhältnissen genügenden Fenster-Profile werden dann in Naturgröße entworfen, mit größter Sorgfalt jedes Plättchen und jeder Karnies, jeder Viertelstab und jede Hohlkehle in ihrem Zusammenstimmen abgewogen und so schon am einfachsten Beispiel dem Schüler eine Vorstellung davon gegeben, welcher Mühe und welches geübten Auges das Durcharbeiten eines Entwurfes bedarf, will man das Vollendete erreichen. Eine solche Sammlung von Fenster-Profilen bleibt für den ganzen Unterricht als Vorbild und Grundlage stets vor Augen des Schülers, jeder zeichnet sie auf und kopirt sie nicht blos, sondern muss sich über jeden Strich Rechenschaft geben, den er macht.

Ist das erste Profil in Naturgröße entworfen, so wird es genau in die ein_zwölftel.JPG (849 Byte)Detailzeichnung übertragen, und nach ihm die Fenster-Verdachung, Sohlbank, Konsole etc. in eben solcher Weise abgestimmt, zuerst nach dem Gefühl im Kleinen gezeichnet, dann wieder in Naturgröße, wieder reduzirt, bis das ganze Fenster mit allen seinen Details in absoluter Uebereinstimmung mit dem ersten Profil steht. Das Fenster wird jetzt in die kleineren Maaßstäbe übertragen und nach ihm die nächste Gruppe von Motiven bearbeitet, Sockel und Gurt, die Fenster des nächsten Stockwerks und endlich das Hauptsims. So wird allmählich ein ganzer Façadenstreifen von einer Fenster-Axe bis zur andern durch unablässiges Entwickeln vom Kleinen ins Große und wieder Zurückführen ins Kleine bearbeitet, nach ihm die Varianten der gegebenen Motive, wie sie besondere Verhältnisse verlangen, gruppirte oder reicher gestaltete Mittel- oder Eckfenster, endlich besondere Motive wie Hausthüren, Erker etc. und mit dem letzten Haustein-Detail in Naturgröße, welches gezeichnet und in die verschiedenen Blätter reduzirt ist, sind auch alle früheren Detail-Blätter, Façaden vollendet und am ganzen Bauprojekt kein Missverhältniss mehr vorhanden, welches anfangs in der Bleistift-Skizze noch enthalten sein konnte. Alle Details stimmen aufs Beste überein, weil sie mit der äußersten Sorgfalt auf ein Grundprofil in ihren Verhältnissen bezogen sind.

In gleicher Weise folgt nun die Bearbeitung sämmtlicher Schmiedeisen-Arbeiten, Tischler-Arbeiten an den Façaden; die Balkon-Gitter, Fenster-Brüstungen von Metall, die Hausthür- und die Fenster-Kreuze bis auf das Schildchen zur Anbringung der Hausnummer, der Klingelzug, die Dachfenster, Schornsteine, kurz Alles, was in der äußeren Erscheinung des Baues die Gesammtwirkung beeinflusst - aller Façadenschmuck, wie Friese, dekorative Füllungen, Sgraffito und derartige mögliche Bereicherungen des Baues, die nicht in erster Linie seinen Werth als Kunstwerk ausmachen - wird jetzt erst entworfen. Der Bau soll zuerst durch sich selbst ästhetisch am vortheilhaftesten erscheinen, auch ohne Schmuck. Nichts am ganzen Bau ist irgend woher kopirt, sondern alles entworfen, und damit die Schüler, welche die Varianten eines Grundgedankens bearbeiten, die unerschöpfliche Fülle an Motiven kennen lernen, welche aus ihm sich durch kleine Aenderungen der Bedingungen entwickeln lassen, damit sie die Bereicherung des Baues nicht in beliebigem Wechsel, sondern in einer Steigerung der Motive erstreben, ist der Lehrer darauf bedacht, die Aufgabe in allen ihren Theilen selbst so durch zu denken, dass auch alles zur Entwickelung kommt, was im Keim in ihr enthalten sein kann.

Das End-Ergebniss eines Semesters besteht in so vielen ausgearbeiteten Projekten, als Schüler da sind und jedes Projekt könnte nicht nur direkt gebaut werden, sondern würde als musterhaft, selbst wenn es noch so einfach ist, jeder Stadt zur Zierde gereichen. Jeder Schüler arbeitet ein einfaches, frei stehendes und ein eingebautes Wohnhaus, sowie ein reicheres Beispiel dieser beiden vorkommenden Fälle in den 2 Jahren vollständig aus, dazwischen viele Grundriss-Studien, kleinere Tages-Aufgaben, interessante Motive des inneren Ausbaues, kleinere Entwürfe, wie Brunnen, Denkmal-Sockel und dergleichen. In einem Album werden Kopien der lehrreichsten oder schönsten Entwürfe für die nachfolgenden Schüler aufbewahrt. Die Atelier-Genossen suchen sich durch Pausen das ganze Material an instruktiven und gefälligen Einzelnheiten ihrer Kollegen zu gewinnen. Das Spezifische dieses Unterrichts, welches von der Persönlichkeit des Lehrers als Mensch wie als Künstler abhängt, lässt sich weder durch Worte bezeichnen, noch anderswo nachahmen. Ich kann nur meine Ueberzeugung dahin bekennen, dass die Schule Nicolai's für den Unterricht im Entwerfen und für das Studium der Renaissance in Deutschland ihres gleichen nicht hat. Trotz einer gewissen Einseitigkeit, welche leicht in späteren Jahren sich ausgleichen lässt, ist sie durch Gründlichkeit, durch die vortreffliche Schulung der Anschauung und des Sinnes für die Schönheit der Verhältnisse, durch die Fernhaltung alles schablonenmäßigen Arbeitens ein unschätzbarer Gewinn für Jeden, der sie genossen hat, und manche ihrer Methoden lässt sich auf andere Verhältnisse übertragen und noch ausbilden. Wer aus dieser Schule auf Baubüreaus übergeht, hat da nicht erst zu lernen; er leistet fast immer mehr, als die Schüler anderer Lehr-Anstalten und selbst der wenigst Begabte ist noch irgendwie verwendbar. -

Man wird leicht bemerken, dass ich in meinen Betrachtungen über Architektur-Unterricht stets die Methode dieses Nicolai'schen, als durchaus praktisch bewährten Unterrichts in den Vordergrund stellte und auf alle Lehrfächer ausgedehnt wissen wollte, die sich ihrer bedienen können. Geschieht dies, so kann der Unterricht im Entwerfen viel reichhaltiger sich gestalten, als dies in Dresden der Fall war, weil der Schüler von Anfang an allmählich die Sicherheit des Auges und Gefühls sich erwirbt, die in den höheren Kursen und bei größeren Aufgaben nothwendig ist. Die fatale Neigung zur Bildchenmacherei, die allen Anfängern eigen ist und die Ungeduld, mit seinem vermeintlichen Kompositionstalent glänzen zu wollen, verliert sich ganz von selbst, wenn das Detail-Studium von Anfang an betrieben, die Disponirungsgabe durch die Analyse ausgeführter Kunstwerke gereift und durch vieles Skizziren von Grundrissen geschult wird. Das Streben, alles Kopiren bei den Entwürfen zu vermeiden und alle Architektur-Motive aus der Aufgabe heraus zu entwickeln, aus den Forderungen, welche der Zweck des Bauwerks und aus den Bedingungen, welche Baumaterial und Konstruktion zu seiner Verwirklichung stellen, macht das Entwerfen erst interessant und hat zum Ergebniss, dass auch wirklich neue Gedanken verwirklicht werden, und Schöpfungen im wahren Sinne des Wortes entstehen. Leider sind unsere modernen Bauten zum großen Theil nicht solche, sondern nur Arrangements schon hundertmal dagewesener Motive, die man zusammen setzt, wie man aus beliebiger Aneinanderreihung von Wörtern Sätze bilden könnte. -

Möchten diese Zeilen dazu Anregung geben, dass man sich allerseits über die Mängel des seither betriebenen Architektur-Unterrichts klar zu werden sucht. Mancher hier ausgesprochene Gedanke wird vielleicht für unpraktisch oder unrichtig gehalten werden, mancher mag es auch sein. Aber nur zu leicht glaubt man einerseits, weil es lange Zeit so oder so getrieben wurde, so sei das auch gut, andererseits wird man bei dem Streben, den rechten Weg zu finden, manchmal im Unklaren tasten und muss durch Irrthümer zur Wahrheit kommen. Das diene zu meiner Entschuldigung! -