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Autor: Schmarsow, August
In: Leipzig: Hirzel (1896); S. 44 - 61; (Königlich-Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften. Philologisch-Historische Klasse: Berichte über die Verhandlung; 48,4.)
 
Der Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde
 
ÖFFENTLICHE GESAMTSITZUNG
VOM 23. APRIL 1896
ZUR FEIER DES GEBURTSTAGES SR. MAJESTÄT DES KÖNIGS

Herr Schmarsow trug vor: »Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde«.
Wer darauf besteht, dass die Architektur in erster Linie nicht als »Kunst körperlicher Massen« ¹), sondern als R a u m g e s t a l t e r i n  zu betrachten sei, und zwar zunächst unbekümmert um die Dauerhaftigkeit ihrer Herstellungsmittel wie um die konstruktive Geschlossenheit ihrer Gebilde, der setzt sich wohl dem Vorwurf aus, einen »subjektiven Einfall von der Struktur und Dauer einer Seifenblase« als aesthetische Offenbarung zu verkündeten, wo es vielmehr darauf ankäme festen wissenschaftlichen Erwerb zu bieten, der auf Thatsachen aus dem Leben der Kunst sich aufbaut. Sei's drum! Es wird jedenfalls noch eine Zeit lang währen, bis man gelernt hat, die geschichtlichen Erscheinungen wie die heutigen Schöpfungen der Baukunst ernstlich wieder unter dem Gesichtspunkt anzusehen, auf den wir als einzig berechtigten Ausgangspunkt Hinzuweisen versucht haben ²); denn die Mehrzahl der Köpfe, der Künstler wie der Historiker, ist anders eingewöhnt und begreift nicht einmal die Tragweite einer so einfachen, fast selbstverständlichen Erklärung.

1) So definiert z. B. Heinrich Wölfflin, »Renaissance und Barock« München 1888. S. 63. vgl. auch dessen Dissertation, »Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur« München 1886.

2) »Das Wesen der architektonischen Schöpfung« (Leipzig. K. W. Hiersemann), meine Antrittsvorlesung vom 8. November 1893, an die sich der folgende, hier nur in vorläufiger Fassung mitgetheilte Versuch unmittelbar anschliesst.

Danach wäre die Architectur eine schöpferische Auseinandersetzung des menschlichen Subjects mit seiner räumlichen Umgebung, mit der Aussenwelt als einem Raumganzen, nach Maassgabe seiner eigensten Natur. Sie kann dabei auf den Menschen nicht allein als »körperliches Wesen« Bezug nehmen, wie man wohl gemeint hat, sondern verfährt nothwendig nach der constitutiven Eigenart des menschlichen Intellects, nach der geistigen ebenso wie der leiblichen Organisation. Und als Ergebniss wird sie die gemeinsame Grundlage zum Vorschein bringen, die Gesetzmässigkeit des räumlichen Daseins, durch die Mensch und Welt für einander sind, - und eben darin liegt der objective wie der subjective Werth ihrer Schöpfungen.
Diese räumliche Auseinandersetzung des menschlichen Subjects mit seiner Aussenwelt muss sich selbstverständlich nach dem Hausgesetz seiner dreidimensionalen Anschauungsform vollziehen, also nach der dreifachen Ausdehnung in die Höhe, in die Breite und in die Tiefe. Das klingt wie eine leere Formel, - aber nur für den, der niemals nach der Entstehung und dem Wachsthum dieser Raumvorstellung gefragt hat. Ihm scheint die Architectur als Kunst damit nur auf die Rechnung der Raumwissenschaft Mathematik angewiesen, und sie selbst wäre nichts weiter als eine Uebertragung in concrete Wirklichkeit von übersichtlichen Einzelfällen, deren Gesetze wir eigentlich schon in der Schule lernen. Wer dagegen auf dem Boden der physiologischen Psychologie die genetische Erklärung für unsere Raumanschauung gesucht hat und den Beitrag der verschiedenen Sinnessphären auch da noch anerkennt, wo die Dreifaltigkeit der Coordinaten schon in unantastbarer Abstractheit dazustehen scheint, dem wird die Aufgabe der  R a u m g e s t a l t u n g  für den bildnerischen Trieb des Menschen keine taube Nuss mehr sein, sondern ein köstliches Pfund, mit dem sich wohl wuchern lässt. Aus der Bedingtheit des organischen Geschöpfes, das sich selbst als Körper im allgemeinen Raum vorhanden findet, aus den Besonderheiten seiner Lage, aus der er zunächst garnicht herauskann oder hinaus zu trachten Veranlassung fühlt, erwachsen dem Menschen die mannigfaltigsten Beziehungen seines räumlichen Daseins und Lebens. Die Auseinandersetzung im Raumgebilde beginnt sicher im wörtlichen Sinn vom eigenen Leibe aus, schon deshalb, weil unsere Gliedmaassen als Werkzeuge bei jeder Gestaltung des Vorhandenen einzugreifen haben. Ort und Stellung dieser betheiligten Organe, der Grad ihrer Beweglichkeit oder ihrer Abhängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zusammenwirkens der Hände an den Armen, der Füsse und Beine im Stehen und Gehen, der Augen an der Vorderseite des Kopfes und die Besonderheiten dieses paarigen Sehapparats, alle diese Verhältnisse bestimmen nicht allein unsere Orientirung im Raum, sondern auch unsere Auffassung und Gestaltung des Raumes in Concreto, Raumvorstellung und Raumbildung arbeiten sich gleichsam in die Hände, klären, verbessern, befestigen sich gegenseitig. Die Anfänge der Kunst liegen weit vor denen der Wissenschaft, und der halb verschwommene Raumgedanke, der zum Antrieb bildnerischer Thätigkeit wird, gewinnt erst im Ausgestalten selber die bestimmte Form, verwandelt sich vielleicht und wächst sich aus zu völlig anderer Erscheinung als der Keim versprechen mochte.
Erst unter den mannigfaltigen und für den Menschen charakteristischen Einschränkungen kann in der Baukunst von den drei Dimensionen der Raumvorstellung die Rede sein. Wir haben uns das Mitwirken dieser specifischen Bedingungen stets gegenwärtig zu halten. Gerade deshalb ist schon die ausgesprochene Neigung zur Regelmässigkeit, wo immer sie auftritt, ein wichtiges Symptom für den Beitrag der menschlichen Geistesart und ihr Wirken aus innerer Nöthigung; wir haben alle Ursache, die Darstellung der Raumgesetze durch des Menschen Kunst in ihrem Werth als besondere Genugthuung des architectonischen Schaffens anzuerkennen.

I.
Die erste Dimension ist für den Menschen die Höhe; denn sie ist als Dominante seiner aufrechten Gestalt gegeben. Sie ist die Trägerin des Schnittpunktes der drei Coordinaten unserer räumlichen Anschauung, die alle drei klar getrennt und rechtwinkelig auf einander stehend auch in unserem Körper jede für sich hervortreten. Das Höhenlot ist auch die unvermeidlich vorbestimmte Mittelaxe unserer werdenden Weltanschauung. Wir verlegen in sie unwillkürlich den Schwerpunkt unseres Selbst. Aber dieser geistige Centralpunkt unseres Wesens ist nicht der physische Schwerpunkt unseres Leibes. Und fragen wir genauer, wo nun auf der Verticalaxe dieser Mittelpunkt anzusetzen sei, so ergiebt sich eine eigenthümliche Unsicherheit in der Antwort, und lehrt uns, dass die Bedeutung des Höhenlotes sich ausgebildet und befestigt hat, noch ehe die äussere Erscheinung unserer Gestalt oder die innere Organisation uns näher vertraut geworden, so dass wir uns über den Sitz des Lebens Rechenschaft geben. Die empfindliche Mitte, wo wir den Vollzug der Ernährung und der Fortpflanzung, der Athmung und des Blutumlaufes spüren, ist eine ausgedehnte Region, die bald hier bald da dem Mittelpunkt des Gesichtsraumes, zwischen den Drehpunkten beider Augäpfel oder noch mehr drinnen im Kopf gelegen, Cuncurrenz macht. Und erscheint uns, so lange wir ganz Auge sind, der allgemeine Raum wie eine Ausstrahlung aus unserem Haupte ohne Rücksicht auf die Schädeldecke, so merken wir doch bald, wenn auch die übrigen Organe mit reden, wie wirksam und unentbehrlich die Beiträge unserer Tastregion oder die Erfahrungen der Ortsbewegung für das Gesammtergebniss sich herausstellen, mit welchem unabweisbaren Recht auch sie also in der räumlichen Gestaltung mitwirken.
Unsere Vorstellung verlegt alle diese Centralstellen, vom Schwerpunkt des Körpers bis zum Sitz der Intelligenz auf eine Mittelaxe, und dieses ist der Meridian des Menschen, den er überall mit sich herumträgt, sein Höhenlot, - wie jede gerade Linie, ein Ideal. Daraus folgt nun aber für den besonderen Raum, den wir als Umschliessung eines menschlichen Subjectes hinstellen, schon eine wichtige Consequenz: solange er nur als Innenraum gedacht wird, bedarf er keiner sinnlich sichtbaren Mittelaxe, ja die körperliche Ausgestaltung einer solchen wäre ein Hinderniss. Der Raumgedanke des einfachsten Gehäuses für den lebendigen Menschen ist unvollkommen verwirklicht solange ein Träger in der Mitte steht; denn der Bewohner selbst ist der Kern des Raumgebildes, und die freie Ortsbewegung ist sein wesentliches Vorrecht, das ihn vom Todten ebenso wie vom Götterbild unterscheidet.
Die architektonische Schöpfung ist von Anfang an keine Nachahmung des menschlichen Körpers, auch nicht ein Abbild seines Organismus in anderem Maassstab, wie man durch landläufige Vergleiche glauben macht, sondern sie ist ein Correlat des Menschen und zwar seines ganzen Wesens. Das zeigt sich schon im einfachsten Zelte des Nomaden, das wie ein Schirm zusammengeklappt werden kann: die feste Stange in der Mitte der Umwandung verdrängt den Bewohner von der Stelle, die ihm allein gebührt. Erst eine Vorrichtung, die den Mittelplatz frei hält, erfüllt den Anspruch an eine bleibende Umschliessung der Person.
Sowie wir aber »unsere vier Wände«, wie wir das Nothwendigste unserer Wohnung nennen, von diesem Schirmzelt abziehen, sodass die Mittelstange frei aufgerichtet stehen bleibt, so werden wir der Bedeutung inne, die solch ein leibhaftiges Höhenlot für uns hat. Die nackte Verticalaxe, die vor uns aus dem Boden ragt, imponirt uns, wie das Wahrzeichen eines anderen Ich. Sie ist das Symbol einer eigenen Sphäre, der Auszug des Wesentlichsten aus dem Individuum von unserer Art, der aufrechten Menschengestalt. Das heisst, in dieser sichtbaren Verkörperung des Höhenlotes ist der Anfang der Nachbarkunst gegeben, die wir als »Körperbildnerin« bezeichnen.  D i e  p s y c h o l o g i s c h e  W u r z e l  d e s  p l a s t i s c h e n  S c h a f f e n s  l i e g t  i n  d e r  e r s t e n  D i m e n s i o n.
Wer sich das klar gemacht hat, kann die Hauptsache der Architectur nicht mehr an dieser selben Stelle suchen. Die Raumgestalterin lässt die Mittelaxe leer, und sowie an die Stelle des lebenden Bewohners ein Substitut ohne freie Bewegung tritt, hier die Mumie eines Todten, oder die Aschenurne, dort das Standbild eines Gottes, oder ein Fetisch, irgend ein Symbol für das übermenschliche Wesen, so geräth auch die Architectur von selbst von ihrem eigensten und ursprünglichsten Bestreben auf den Weg der plastischen Kunst und gestaltet den Raumkörper als Hülle für das ruhig verharrende Ding, wie für die ewig bestehende Idee, als Monument, auch im Aussenbau als Körper im allgemeinen Raum.
Doch unsere Betrachtung soll hier beim Innenraum verweilen, und gerade an dieser Stelle zeigt sich der Zusammenhang mit dem menschlichen Wesen, für das die Umschliessung geschaffen wird, in bezeichnendster Weise, sobald wir nach der Abmessung der Höhe fragen, die für den Bewohner frei gehalten wird. Die Verticalaxe des menschlichen Raumgebildes verlangt eine feste Grundlage, die sie nach unten begränzt; sie verträgt keine beliebige Verlängerung unter das Niveau des Erdbodens, auf dem wir alle wandeln, oder der Ebene, die statt seiner untergelegt wird. Jede Beunruhigung dieses menschlichen Körpergefühls stört die Voraussetzungen auch des Raumgefühls, wie wir uns leicht auf durchsichtigem Fussboden oder schwankender Hängebrücke, wie auf künstlichen Vorrichtungen anderer Art überzeugen. Selbst die eigenthümliche Wirkung des Treppenabstieges, ein so kritischer Faktor in der psychologischen Veranstaltung, als die wir den ganzen Innenbau betrachten, erklärt sich zum grossen Theil aus dieser Dissonanz zwischen Tastraum und Gesichtsraum im Gefühl, - eine Art Peripetie. Unser Gesichtsraum mag sich noch so zwingend als innere Kugelfläche herausstellen, die menschliche Raumgestaltung rechnet mit der horizontalen Basis, an die unser Körper gewöhnt ist, wie mit den sonstigen Erfahrungen des Tastraumes. Wir wollen den festen Boden unter den Füssen spüren, auch wo wir in hüpfender, tanzender, springender Bewegung uns auf die Zehen erheben und so auch nach oben einen grösseren Spielraum beanspruchen.
Schon damit sind wir über die gewöhnliche Leibeslänge als praktischen Maassstab der Höhendimension hinausgewiesen. Aber es braucht nicht einmal dieser zeitweilig gesteigerten Lebensäusserung um uns zu lehren, dass wir mit Körpermaass und Augenmaass nicht auskommen, wie die Praktiker wohl meinen. Bei der Schätzung unserer eigenen Höhe täuscht uns gar die Sehgewohnheit: wir rechnen sehr leicht das Stück unseres Schädels über den Augen nicht mit, und die eigene Scheitelhöhe wird erst durch Tastempfindungen geläufig. Aber dieser Widerspruch zwischen Gesehenem und Ertastetem in unserer Vorstellung, der bei Gelegenheit dazu führt, dass wir uns z. B. beim Eintritt in eine Wagenthür den Kopf stossen, der veranlasst andererseits auch den besonderen Werth künstlicher Ueberhöhungen der eigenen Länge durch Kopfschmuck und Helmzier, in die sich das Tastgefühl fortsetzt und eingewöhnt, so dass sie wieder ihrerseits zur Überschätzung der factischen Dimension verleiten¹). Das alles spielt mit, wenn wir nach der oberen Grenze unserer räumlichen Umschliessung suchen. In die nächste Schicht über unserem Kopf reichen wir noch mit den Armen empor. Darüber schätzen wir eine weitere als nothwendigen Luftbehälter für unser Atmen, das uns beengt erscheint, wenn das Auge hier keinen Spielraum für frische Zufuhr sieht. Das Auge selbst, das unserem Luftbedürfniss etwas einreden mag, schätzt im eigenen Interesse den Zutritt des Lichtes, und den weiteren Spielraum für seine Blicke.
¹)Vgl. Lotze, Mikrokosmos II. 208 f. 1896.
Hier ist unläugbar ein Zuwachs über das Maass des menschlichen Leibes hinaus nicht mehr hygienisch allein, sondern aesthetisch bedingt, und hier gerade kennzeichnet sich der Unterschied zwischen dem Schlupfwinkel bei Nacht und der Wohnung bei Tage, spiegelt sich der Uebergang vom zeitweiligen zu dauerndem Aufenthalt, vom flüchtigen Durchgang zur bleibenden Umschliessung des Lebens. Schon hier bietet sich mehr als ein charakteristisches Symptom für die wechselnden Ansprüche verschiedener Zeiten. Wie erdrückend niedrig erscheinen uns die Kemenaten mittelalterlicher Burgen neben ihrer Festhalle, wie befremdend hoch zunächst die Säle, ja die Wohngemächer italienischer Paläste der Hochrenaissance. Wie lehrreich ist der Verzicht auf die gotische Höhe im Kirchenbau, den Brunelleschi vollzieht.
Wo der fühlbare Maassstab der eignen Tastregion aufhört, da tritt der optische Maassstab an seine Stelle, und die Eigenthümlichkeiten des menschlichen Sehorgans bestimmen die aesthetischen Werthe der Grössen mit, bis hinein in die unvermeidlichen Sinnestäuschungen und die voreiligen Fehlschlüsse unserer Vorstellung ¹). Nicht mehr die »Daseinsform«, sondern die »Wirkungsform« entscheidet, und alle mathematisch exakte Abmessung ist werthlos, wo die subjective Perspective des Betrachters mehr noch als Licht und Farbe den Eindruck verwandelt.

¹) Vgl. Maertens, Der optische Maassstab 2. Aufl. 1884.


Ueberhaupt geht die ganze Region über unsern Häuptern bei gewissem Abstand von unseren Augen ins Unbestimmte über, und das Unbezeichnete wirkt aesthetisch nicht minder wichtig, wenn auch wesentlich anders, als das Deutliche und Bestimmte. Jede Einschränkung der Freiheit nach der Höhe wird zunächst als Einbusse empfunden, und von »Bezug auf den Menschen als körperliches Wesen« wird man gewiss nicht reden, wenn man sich erinnert, wie lange Einfriedigungen und Umwandungen, schon Meisterstücke entwickelter Architectur, noch unter freiem Himmel bleiben. Weder die Hypaethralcella eines griechischen Tempels noch der Vorhof der altchristlichen Basilika, weder der Kreuzgang des mittelalterlichen Klosters, noch der Cortile des Renaissancepalastes dürfen aus der Geschichte der Baukunst als solcher ausgeschlossen werden. Es ist ein Vorurtheil der einseitig constructiven Auffassung der Architectur, wenn man Dach und Decke für die Hauptsache nimmt ¹), statt die Umwandung schon als Raumgestaltung anzuerkennen.

¹) Vgl. G. Semper, Der Stil, u. Kl. Schrr. passim, Redtenbacher, Tektonik, Wien 1881 p. 230 u. A.


Die Höhenausdehnung allein freilich vermag keine vollgültige Umschliessung des menschlichen Subjects zu bewirken. Das zeigt unser Verhalten bei thurmartigen Gebäuden. Nie dient ein Thurm in seiner ganzen Höhe als Innenraum zum adäquaten Aufenthalt eines Lebewesens von unserer Art. Denkt man sich hinein in solchen Cylinder mit geschlossener Wandung ringsum, so möchte man buchstäblich an den Wänden in die Höhe gehen, d. h. den einzigen Ausweg suchen, der noch übrig bleibt. Damit aber ist gesagt, was hier vor sich geht: der Zwang des Aufblickes verwandelt die erste Dimension in die dritte, die Höhe verliert den Bezug auf die eigene Erfahrung des Menschen und gewinnt als Richtung des Schauens, Denkens, Strebens einen neuen Sinn, den wir erst später verfolgen können.


II.
Wenn die Höhendimension des eigenen Meridians für das menschliche Subject erst über seinem Scheitel für die Ausgestaltung durch die Raumkunst verwerthbar wird, so ergiebt sich eine reiche Ausbeute dieses Faktors im Innenraum überall da, wo die zweite Dimension hinzutritt. Wir kommen damit auf die wichtigste Ergänzung, das Nebeneinander mehrerer Höhenlote, d. h. auf die Breite, die wir vom menschlichen Standpunkt als nächsten Zuwachs über die persönliche Mittelaxe hinaus betrachten. Die zweite Dimension ist sozusagen der selbstverständlichste, geläufigste Bestandtheil der Aussenwelt für uns. Das »ausser« mir beginnt eben mit dem Auftreten eines zweiten Körpers neben mir. Und unser Tastraum wie unser Gesichtsraum bietet sich unseren Organen oder unserer Vorstellung zunächst als Fläche, d. h. als Verbindung der Höhen- und der Breitenausdehnung dar.
Es wäre gewiss lehrreich für die Entstehung des Raumgebildes und für das Verständnis seines Wesens, wenn wir die Gestaltung des Tastraumes für sich ohne Beihülfe des Gesichts von unserm Körper aus beobachten könnten. Dabei würde natürlich die Breite der Schultern und Hüften, darüber hinaus die Thätigkeit der Ellenbogen und endlich die ganze Ausspannung der Arme den wirksamsten Beitrag liefern, der durch die Spreizung der Beine und der Kniee nur sehr bedingte Unterstützung erführe. Jedenfalls dient die Umschreibung dieser Tastregion, wie wir sie etwa im Dunkeln vollziehen würden, zur Aufklärung über den Anspruch des Einzelwesens unsrer Art an das Raumvolumen um sich her. Schon zahlreiche Beziehungen zwischen dem Subjekt und den Dingen neben ihm werden in dieser Berührung, in Stoss und Druck angesponnen, ausgebildet und gefestigt. Lassen wir dann das Auge hineinblicken in diese Sphäre unserer Nachbarschaft, so haben wir wieder das Reich vor uns, mit dem es die Bildnerei als solche zu thun hat¹).

¹) Ich befinde mich mit dieser Bemerkung in gewissem Gegensalz zu Ad. Hildebrand, d. Problem der Form in der bildenden Kunst. Strassburg 1893.


Jede Wahrnehmung des Gesichtssinnes wird noch durch eine oder mehrere Ergänzungen der niedern Sinne bestätigt oder verbessert. Zwischen den Dingen und uns besteht überall ein greifbarer Zusammenhang als Körper im nämlichen Raum, und zwischen der äussersten Ausbreitung unsrer Fingerspitzen und der Mittelaxe des eignen Leibes, wo jede Berührung gleichsam ans Leben geht, liegen verschiedene Zonen der Annäherung, deren Gegenbild im Raume wir ebenso als einwärts oder auswärts liegende Grade der Beziehungen, des fühlbaren Zusammenhangs anerkennen. Hier lernen wir auch unsern Körper als Bestandtheil der Aussenwelt von jedem Mittelpunkt darin unterscheiden, erfahren auch an ihm die Verschiedenheit seines Aeussern und seines Innern, und fassen die Breite selbst als Erstreckung vom Höhenlot nach beiden Seiten gegen auswärts zu.
Aber die Blicke des Auges dringen bald über diesen Umkreis hinaus und werfen sich immer erfolgreicher als entscheidende Instanz auf für alle Aesthetik des Raumes. Indess auch auf die Breite des Sehfeldes in bequemem Abstand wenden wir die Mittelaxe unsrer eignen Person an, wie auf die Breite des Tastraumes zwischen unsern Händen. Vor jedem Objekt der Aussenwelt stellen wir uns so auf, um vor allen Dingen die vertikale Trennungslinie einzulegen, die es in grader Richtung vor uns hin in zwei Theile spaltet und ruhen nicht eher, als bis eine befriedigende Abwägung beider Theile, d. h. zwei Hälften erreicht sind. Von der Mitte aus vollzieht sich die Diremtion nach beiden Seiten, und die Erstreckung dieser beiden Hälften in der Horizontale ist eigentlich die Breite, die wir als zweite Dimension von der ersten aus gewinnen.
Wollen wir aber diese Breite nicht subjektiv von uns aus, sondern objektiv in ihrer Ganzheit von einem Ende bis zum andern ermessen, so müssen wir uns an sie hingeben, indem wir wenigstens in der Vorstellung unsern festen Standpunkt verlassen, und uns nicht in die Mitte vor uns, sondern an den einen Endpunkt versetzen. Es ist die Vorstellung einer Ortsbewegung erforderlich, es vollzieht sich, wenn auch nur imaginär, doch deutlich, ein successiver Vorgang. Wird die Durchverfolgung des Fixationspunktes von einem Ende zum andern so intensiv; dass sich mimetische Reflexreize einstellen, oder ist die Strecke so gross, dass wir sie vom gegebenen Standort aus nicht absehen können, so stellt sich wohl wirkliche Drehung oder gar Ortsbewegung bei uns selber ein. In diesem Verfolg von einem Ende bis zum andern verwandelt sich aber die  B r e i t e  in die  L ä n g e,  d. h. eigentlich auch hier die zweite Dimension in die dritte, weil eine ausgesprochene Richtung die Oberhand gewinnt, die ohne fühlbare Bewegungsvorstellung nicht vollzogen werden kann, grade so wie vorhin im Aufblick von unten nach oben am Höhenlot empor.
Erst die Weite des schweifenden Blickes giebt auch der zweiten Dimension ihre volle Lebenskraft, d. h. wenn das Auge in freiere Bewegung übergeht und im Spiel seiner Muskeln auch die Association mit Erfahrungen andrer Sinnesregionen herausgefordert wird. Mit dem Wechsel seiner Richtung erwächst die Forderung eines grösseren Abstandes von Grenze zu Grenze, von links nach rechts, und fühlbar wächst zwischen ihnen die Wirkung der Höhe, die neben uns aufsteigt. Die beiden Ausdehnungen der Fläche werden zur Augenweide, an der auch die Seele sich ausweitet und erquickt.
Wenden wir aber den Blick durch seitliche Drehung des Kopfes oder Oberkörpers oder gar des ganzen Leibes rechtwinklig auf eine oder die andre Seitenfläche, so vertauschen wir ja unvermerkt die zweite Dimension mit der dritten, d. h. die Breite wird zur Tiefendistanz, sowie sich mit ihr die Bewegungsvorstellung des vordringenden Blickes verbindet. Mit dem Abstand der Parallelebenen links und rechts wächst auch die Funktion der dritten Axe, die zunächst als Möglichkeit gegeben in Seitenblicken fühlbar wird. So etwa im Mittelschiff einer Basilika, mit den Arkadenreihen links und rechts. Im Auseinanderrücken der Seitenwände schafft der Urheber des Raumgebildes auch hier die Richtungsaxe, in der sein Schauen wie sein Gehen sich vollzieht, und die bevorzugte Ausstattung unserer Vorderseite macht ihre Rechte geltend, mit allen treibenden Mächten, die hier vereinigt sind.
Darin besteht der geheimnisvolle Zauber des perspektivischen Durchblicks. Für das Auge bietet sich zunächst im ruhenden Fernbild nur ein Nebeneinander in der Fläche dar, aber die erneute Innervation bringt den Anreiz vorwärts zu dringen mit dem Blick, wie wir in freier Umgebung draussen gewohnt sind, und ein paar Lokalzeichen genügen, auch die Bewegungsvorstellungen aufzurufen, die das  »H i n t e r e i n a n d e r«  in Vollzug setzen.
Mit diesem Ausdruck stossen wir auf eine Grenze, wo die Sprache einen bemerkenswerthen Unterschied statuirt, indem sie die örtlichen Bezeichnungen umkehrt. Die Distanzschicht liegt v o r uns, aber  h i n t e r  ihr, heisst es, beginnt der andre Raum, vielleicht die Aussenwelt, jenseits meines eignen Raumes. Das heisst, die menschliche Raumvorstellung rechnet nicht allein mit dem menschlichen Körper als materieller Unterlage, sondern unterscheidet auch die Aussenwelt als Gegensatz zu diesem Körper. Der allgemeine Raum, den ich als Raumganzes objektiv anerkenne, beginnt erst in einem gewissen Abstand des Sehfeldes, nämlich von dem Uebergang an, wo unser Doppelauge aus dem konvergirenden Sehen in die Parallelstellung übergeht. Das ist auch die Grenze ungefähr für unsern Tastraum. Erst wo das konvergirende Sehen nicht mehr allein dem Tastsinn zu Hülfe kommt, die Existenz der ertasteten Objekte auch beschauend feststellt, auf jeden Gegenstand unser Höhenlot applicirt und so auch die Breite des Körpers und seine Dicke abtastet, sondern wo das Augenpaar selbständig für sich arbeitet; - erst, wo wir mit einem Blick die Erscheinungsobjekte als einheitliche Fläche wahrnehmen, erst da liegt uns die Distanzschicht gegenüber,  h i n t e r  der der allgemeine Raum der Aussenwelt anfängt. Das ist das Specialgebiet zunächst für die Gesichtsvorstellungen. Und hier drückt sich unsre Sprache so aus, als kehre dieser auswärtige Raum uns sein Angesicht zu und stehe uns gegenüber. Die Gegenstände im  T a s t r a u m  liegen  v o r  uns oder  h i n t e r  uns, von unserm Leibe aus gerechnet, die Gegenstände unsres jeweiligen  G e s i c h t s r a u m e s   liegen alle vor uns, in näherem oder fernerem Abstand; aber wir sagen »sie liegen hinter einander«. Also von der Grenzlinie des eigentlichen Sehfeldes ab unterscheiden wir die unserm Körper nähere Schicht als  V o r n,  die entferntere als  H i n t e n,  sprechen von  V o r d e r-  u n d  H i n t e r g r u n d  eines Bildes, kehren also die Richtung sozusagen um. Wir unterscheiden unsre Körpervorstellung von der Vorstellung des Raumes; er wird uns Gegenstand, Gegensatz, Objekt ausser uns. Oder übertragen wir unsre eigene Orientirung auf die Körper da draussen und unterscheiden wie an uns auch an ihnen eine Vorder - und eine Rückseite? - Aber weshalb dann die Annahme, dass sie uns alle die Vorderseite zudrehen? - Ich führe dieses Symptom aus unsrer Muttersprache, die für uns dichtet und denkt, nicht an, um ein philologisches Interesse zu befriedigen, sondern weil ich überzeugt bin, dass sich ein ursprüngliches Empfinden darin ausprägt, eine Auffassung räumlicher Beziehungen, die unsre Beachtung verdient und bei naiver Raumgestaltung als lebendiges Gefühl mitwirkt. Ich vermag die Wichtigkeit dieser Erscheinung nicht stärker zu betonen, als indem ich, an dieser Grenzfläche zwischen Innenraum und Aussenwelt angekommen, die Behauptung ausspreche: d i e  p s y c h o l o g i s c h e  W u r z e l  d e s  m a l e r i s c h e n  S c h a f f e n s  l i e g t  i n  d e r  B r e i t e n d i m e n s i o n,  -  das Nebeneinander der Dinge im Raum ist ihr Ausgangspunkt, und der Schein nur des Hintereinander auf der Fläche ihr Endziel.


III.
Die erste und die zweite Dimension, hatten wir gesagt, vermögen sich mit Hülfe der Bewegungsvorstellung in die dritte zu verwandeln, ,ja sie müssen es unwillkürlich, sobald diese psychische Macht hinzutritt. Die wirkliche Ortsbewegung erst und ihre Erinnerungsbilder beleben das Flächenbild und lösen das Nebeneinander im Raum in ein Nacheinander auf.
Wie unser pochendes Herz in schnellem Tempo, unser Ein- und Ausathmen schon in regulirbarem Wechsel innerhalb fühlbarer Grenzen, so hilft auch unser pendelnder Gang, das mehr oder minder schnelle Sichablösen der beiden Beine, bei unsrer Kontrole des Nacheinander in Raum und Zeit. Die dritte Dimension ist die fast ausschliessliche Inhaberin dieses wichtigen Faktors, der Ortsbewegung, sie die Richtungsaxe Image3.gif (2607 Byte) für alle unsere Bewegungen. Sie erst bringt die Ausdehnung zum unmittelbaren Erleben, zum unläugbaren Gefühl, zum vollen Bewusstsein. Die Entfernung kann ich abtasten und abschreiten, den Raum vor mir kann ich Stück für Stück zurücklegen, nachdem ihn meine Augen schon im Voraus durchmessen, und vorbereitet, die Einzelheiten wieder in ihren Gesammtraum einzuordnen bereit sind. Die Länge der Tiefenaxe bedeutet für das anschauende Subjekt das Maass der freien Bewegung im vorhandenen Raume so nothwendig, wie der Mensch eben gewohnt ist vorwärts zu gehen und zu sehen, - und so viel ich beim Weitervordringen im Raum »zurücklege« wie wir sagen, so viel hört auf, unmittelbar für mich zu wirken. Was hinter uns liegt entbehrt eines hochwichtigen Merkmals der Wirklichkeit: es ist nicht mehr »vor handen«, - so lehrt der Augenschein, und bei allem retrospektiven Bemühen werden wir dieses Gefühl nicht los: der Vergangenheit fehlt für immer die voll überzeugende Eigenschaft der Gegenwart, wie die Zukunft immer erst kommen soll oder auf unser eignes Kommen wartet, uns entgegenwartet.
Kein Faktor der Wirklichkeit scheint uns so ausschliesslich an die Ortsbewegung gebunden als die Ausdehnung in die Weite hinaus; nach welcher Himmelsrichtung wir das Antlitz kehren, da liegt für uns die Welt. Erst mit der weitern Erstreckung wenigstens Einer Bewegungsaxe gewinnt das Gehäuse die Anwartschaft, für eine Wohnung des Lebenden zu gelten, in der man sich nicht gefangen fühlt, sondern nach eigener Wahl sich aufhalten möge. - Die beiden Seitenwände sind eben nur Seitenstücke, Nebensachen, die das Auge nur streift, wenn auch das Gefühl sie gegenwärtig weiss. Das dazwischen vor uns liegende ist die Hauptsache, der eigentliche Gegenstand, das Gegenstück der Eingangswand. Und diese vierte unsrer vier Wände, die wir hinter uns postuliren, spielt eine eigenthümliche wechselnde Rolle, die wieder die Bedeutung gegenseitiger Beziehungen charakterisirt. Sind wir im Innenraum, so schauen wir nur nach vorn, und die Eingangswand hinter uns interessirt uns nur wie ein Schatten. Sie ist fast nur der negative Gegensatz der vor uns liegenden Tiefe, und soviel wir auch von dieser zurücklegen, die Wand in unserm Rücken scheint uns zu folgen, wie ein Schild der uns deckt. Aber am Ende des Raumes, etwa am Hochsitz angekommen, gewinnt bei der Umkehr auch der Eingang und Abschluss seine doppelte Bedeutung, und wenn irgendwo der Innenraum sein Antlitz nach Aussen kehrt und sich anschickt, schon den ankommenden Beschauer auf den Inhalt, der ihn drinnen erwartet, vorzubereiten, dann wird diese Seite zur Fassade, wo sich die Raumgestalterin wieder zur Körperbildnerin verkehrt. Im Aussenbau tritt die Front gar oft nicht als Chorführer nur, sondern als Protagonist auf, und bildet, wie der menschliche Urheber selbst, eine ausgesprochene Vorderseite, im Gegensatz zur bescheidenen Kehrseite aus. Auch da ist erkennbar, wie Architektur und Plastik sich unterscheiden.
In der Tiefendimension allein und der ganzen an ihr sich hinziehenden Raumentfaltung begreifen wir die Wohlthat einer architektonischen Veranstaltung durch Menschenhand, den Werth der Raumgestaltung an sich. In der wirklichen Durchführung eines eigenen Raumgebildes empfangen wir mit aller Klarheit und Konsequenz die dreidimensionale Raumanschauung, wie keine alltägliche Erfahrung der Wirklichkeit sonst sie zu geben vermag. Es ist eine geistige Auseinandersetzung mit der sonst so fremden, unübersichtlichen, unverständlichen Aussenwelt, die uns mit tausend durcheinanderlaufenden Erscheinungen bedrängt. An der Hand der Architektur begreifen wir die innere Gesetzmässigkeit unserer subjektiven Auffassung wie der objektiven Ausdehnung des Raumes, begreifen wir die eigentliche Triebfeder der Kunst, die solche Darstellung des Raumes in Vollzug bringt. Hier darf behauptet werden, was zum Verständnis ihrer Stellung zu den Nachbarkünsten Plastik und Malerei noch fehlt:  d i e  P s y c h o l o g i s c h e  W u r z e l  d e r  A r c h i t e k t u r  l i e g t  i n  d e r  d r i t t e n  D i m e n s i o n.
Die Herstellung der wirklichen Raumtiefe, die das menschliche Subjekt als Bewohner oder Besucher in sich aufnimmt, bleibt die Hauptsache. Ein weiter Weg der fortschreitenden Entwicklung liegt zwischen den flüchtigen, leicht gefügten Gebilden des Nomaden und den dauerhaften fest gegründeten Monumenten der Kulturstaaten. Immer deutlicher ist sich die Raumgestalterin bewusst geworden, dass sie die bleibende Grundlage alles Bestehenden, die unverrückbare Fassung ewiger Werthe zu schaffen berufen wird. Daher die absichtliche Hervorkehrung des Konstitutiven und Beseitigung alles verwirrenden Nebenwerks, die abstrakte Krystallisation einer örtlich und zeitlich weit auseinanderliegenden Reihe von Erfahrungen. Aber die Tiefendimension ist stets Anfang und Endziel ihres Schaffens, wo sie ihrem eigensten Wesen getreu bleibt.
Hier werden Ergebnisse unseres anschaulichen Denkens verarbeitet, um unmittelbar wieder zur Vorstellung des Betrachters zu sprechen, wird in künstlerischer Thätigkeit eine unschätzbare Bereicherung unserer Erkenntnis bewährt. In dem Erleben des Einklangs der Realität mit unserer eigenen geistigen Organisation liegt ohne Zweifel ein werthvolles Mittel, die Gewissheit des Daseins zu bestärken, im Wechsel des Geschehens das Gefühl der Kontinuität des Seins zu erhalten, die schillernde, schwankende, verschwimmende Einheit des Selbstbewusstseins in beharrlicher Bestimmtheit zu fassen. In dieser Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Schauplatz seiner Welt, in der Objektivirung der gemeinsamen Konstitution aus eigenem Antrieb, wird zugleich eine Erquickung aus dem Urquell der Wirklichkeit und eine Eindämmung des übersprudelnden Stromes üppiger Subjektivität gewonnen. Also grade im Vordringen der Richtung in die Weite liegt der Fortschritt des eigensten Wachsthums dieser Kunst, liegt der Werth, den sie zu bleibendem Genuss zu bringen trachtet und allein zu bieten weiss.
Die Tiefendimension repräsentirt denn auch im menschlichen Raumgebilde, dem bescheidensten wie dem grössten, gewöhnlich die Lebensaxe, um die sich das System von innern Zwecken herumordnet, das der Bau zur Einheit zusammenschliesst. Die mannichfaltigen Beziehungen zur eigenen Thätigkeit, wobei das Vorwärtssehen, das Vorwärtshantiren, das Vorwärtsgehen irgendwie mitwirken, sind die natürliche Veranlassung gerade an sie den Vergleich solches Raumgebildes mit einem menschlichen Organismus zu knüpfen ¹). Aber grade hier geht der Vergleich mit dem menschlichen Körper in die Brüche. Schon das Übergewicht der dritten Dimension, der Lebensaxe des Raumgebildes, die sich vom Erdboden und von der horizontalen Lage gar nicht oder doch nur widerstrebend und nicht ohne Einbusse los macht, sollte zu denken geben ²).

1) Mit zweifelhaftem Recht beruft sich Wölfflin, Prolegomena S. 24 f. auf Kant, als ob dieser durch den Vergleich mit einem »thierischen Körper« schon das was er »System« nennt mit »Organismus« gleichzusetzen gewillt wäre. (Die Architektonik der reinen Vernunft, Methodenlehre III.)

2) Wer den Vergleich beim Wort nimmt kommt vom menschlichen viel eher auf den thierischen Organismus, und zwar der Vierfüssler, Reptilien, Würmer, bei denen die Axe des Wachsthums horizontal liegt.


Die entwickelte Raumkomposition, die wir nur successiv im Durchwandeln der Theile zu erleben und im Zusammenhang zu erfassen vermögen, vergleicht sich schon durch den zeitlichen Verlauf der Anschauung nur mit einer musikalischen Komposition, oder einer Dichtung, womöglich der Aufführung einer Symphonie oder gar eines Dramas. Hat doch der perspektivische Durchblick durch weitere und weitere Raumtheile schon diesen Vollzug, wenigstens in der Vorstellung des Betrachters, zur Folge: er kann jeden Augenblick mehr und mehr in eine Reihe verschiedener Eindrücke aufgelöst werden, die doch fühlbar in Zusammenhang stehen, einer aus dem andern sich entwickeln und wieder im Ganzen aufgehen, aber nicht ohne dass Leben und Bewegung in uns angeregt, eine Bereicherung fliessender Erinnerungsbilder in uns zurückgelassen wäre. Die Verkettung der Bilder erweckt die Analogie kausaler Beziehungen und verlockt die Phantasie in poetisches Wechselspiel. Das ruhende Dasein der Form erfüllt sich mit Leben und die Grenzen der Gegenwart scheinen das Unendliche zu streifen.
Haben wir so die drei Dimensionen des menschlichen Raumgebildes nach einander in ihrem Werth zum schaffenden und geniessenden Subjekt zu betrachten versucht, so musste doch ihr Zusammenhang unter einander und ihre Untrennbarkeit im Raumganzen sich überall bemerklich machen. Der ästhetische Werth der einzelnen Ausdehnung wird stets durch die Verbindung mit den beiden andern erst im Einzelfall seinen besondern Sinn empfangen. Jede dieser Axen hat ihr eigenes Gestaltungsprincip: in der ersten Dimension waltet die Proportionalität, in der zweiten die Symmetrie, und in der dritten das Moment der Richtung (wie Gottfried Semper es genannt hat) oder des Rhythmus (wie ich es nennen möchte, weil die successive Auffassung, die Bewegungsvorstellung das Entscheidende ist). Jedes dieser Gestaltungsprincipe verleiht der Ausdehnung, in der es waltet, einen besondern Charakter. Aber auch hier bewährt sich die Einheit des Raumganzen, indem die beiden ersten im Stande sind, sich in die dritte zu verwandeln, sobald die Auffassung des ruhigen Beharrens, die der Raum mit seinen klar begrenzten Formen zunächst herausfordert, von der Auffassung des lebendigen Entstehens abgelöst oder zeitweilig verdrängt wird, indem das menschliche Subjekt wie allem Objektiven gegenüber das Recht des Lebenden geltend macht. Dann erscheint die Höhe als Wachsthum von unten nach oben, die Breite als Entfaltung nach links und rechts, die Tiefe als fortschreitende Bewegung nach vorn mit der Möglichkeit rückläufiger Wiederholung bis zum Anfang der hinter uns liegt; - d. h. in lauter menschlichen Beziehungen, von denen die Mathematik nichts wissen will.
Das Verhältnis der drei Axen zu einander und das Vorwalten der einen oder der andern mit dem bestimmenden Charakter ihres Gestaltungsprincipes zu verfolgen, wäre also der Gegenstand eines andern reichen Kapitels vom Werth der Dimensionen, das in der geschichtlichen Entwicklung der Baukunst die mannichfaltigste Erläuterung findet. Hier sei am Schluss der heutigen Betrachtung nur auf einen entscheidenden Gesichtspunkt hingewiesen, der die wichtigsten Thatsachen aus dem Leben der Kunst; nicht allein der Architektur, sondern auch ihrer Nachbarinnen Plastik und Malerei zu erklären hilft. Wir haben die Wurzel der architektonischen Schöpfung in der dritten Dimension gefunden; damit ist die Tiefenaxe als die Dominante jeder ihrem Wesen treuen Raumgestaltung anerkannt. Das Vorwalten einer andern Dimension, wie der Höhe hier, der Breite da, würde auch ein unverkennbares Hinneigen zum Wesen einer Nachbarin bedeuten; denn die psychologische Wurzel der Plastik suchten wir in der ersten, die der Malerei in der zweiten Dimension. Wird also das Höhenlot zur Dominante eines Bauwerks erhoben, wie in jedem Thurm oder in Centralkirchen, dem Ideal des Gotteshauses in der Renaissance, da verräth sich in dieser Axenverschiebung auch das Vorwalten einer plastischen Tendenz; - wird aber im andern Falle die Tiefe nicht nur, sondern auch die Höhe dem Streben in die Breite geopfert, wie in Schlossanlagen und Lusthäusern des Rococo mit ihrer flächenhaften Dekoration, da zeugt die zweite Dimension mit urkundlicher Sicherheit für die malerische Auffassung und Vorliebe der ganzen Zeit. In S. Peter zu Rom halten Bramante und Michelangelo an der Höhenaxe als Dominante fest, dann folgt die Concurrenz der Horizontale im vorgelegten Langhaus, endlich mit den Colonnaden Bernini's der Uebergang in die Breite, d. h. die Betonung der drei Dimensionen nach einander bestimmt das Schicksal der Baukunst durch Jahrhunderte hin. Die Symptome bleiben in diesen Erscheinungen verwickelter Kulturzustände die nämlichen, schlagend einfachen, wie in den leichtesten Gebilden ihrer unentwickelten Anfangszeit. Das Verhältniss der Dimensionen zu einander, das Vorherrschen der einen oder der andern entscheidet über den Charakter: wenn im Zelt des Nomaden die wimpelbekrönte Mittelstange nicht mehr das absolute Regiment des Einzelnen verkündet, wenn das Höhenlot sich neigt, und in die Tiefenaxe legt, so sind die Zustände verändert, die seine Schirmwand birgt, das Dasein des Einzelnen bewegt sich zu reicherem Leben und bethätigt sich fruchtbar im Zuwachs. Wo die Richtung nach vorwärts von der Entfaltung nach den Seiten überboten wird, wo die zweite Dimension statt der ersten oder dritten sich breit macht, da dehnt sich das Leben drinnen lässig und friedlich über den Boden hin, haftet immer inniger an der Scholle und wuchert ungestört, wie unbekümmert um selbstgezogene oder fremdher aufgenöthigte Schranken, in üppigem Gedeihen. Die Energie der Thätigkeit wie die Straffheit des Zusammenhalts werden vergessen.
Dass in den Nachbarkünsten der Wechsel der Dimensionen ebenso das innerste Wesen einer abweichenden Richtung offenbart, liegt darnach auf der Hand. Malerei, die das Höhenlot als Dominante wählt, kommt nothwendig zur Vorliebe für plastische Erscheinung; die Einzelgestalt, sei es ein Mensch, ein Baum; ein Fels, ein Architekturstück, gewinnt die Oberhand vor aller übrigen Verwerthung der Fläche. Strebt sie dagegen ausschliesslich nach dem Tiefenschein, so wetteifert sie mit der Baukunst und wird mit allem Aufwand perspektivischer Täuschung zum Prospekt. Die Plastik, die in die Breite geht, wird ins Relief gedrängt, und die Verlängerung der dritten Dimension über das Volumen des vorhandenen Stoffes hinaus, führt auch sie zur Perspektive, zum Verfahren der Architektur oder zur Zerstörung des Eigensten, der Körperfülle, in optischer Verkürzung.
Wer also den Werth der Dimensionen in den Künsten räumlicher Anschauung nicht erkannt hat, der treibt auch auf dem Meere der Kunstgeschichte ohne Kompass umher und kann ihr gewiss nicht als guter Steuermann dienen.