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Autor: Simmel, Georg
In: Die Zukunft - (1896); S. 204 - 216
 
Soziologische Aesthetik
 
Die Betrachtung des menschlichen Thuns verdankt ihren immer erneuten Reiz der unerschöpflich mannichfaltigen Mischung von gleichartiger, steter Wiederkehr weniger Grundtöne und wechselnder Fülle ihrer individuellen Variierungen, deren keine ganz der anderen gleicht. Auf eine erstaunlich geringe Zahl ursprünglicher Motive lassen sich die Tendenzen, Entwicklungen, Gegensätze der Menschengeschichte zurückführen. Was man von der Dichtung behauptet hat: daß sowohl Lyrik wie Dramatik nur in der wechselnden Ausgestaltung einer eng begrenzten Zahl äußerer und innerer Schicksalsmöglichkeiten bestünden, - Das gilt von jedem Gebiete menschlicher Bethätigung; und je weiter wir die Gebiete fassen, desto mehr schmilzt die Zahl der Grundmotive zusammen, um schließlich bei der allgemeinsten Betrachtung des Lebens fast überall nur in eine Zweiheit zu münden, als deren Kampf, Kompromiß, Kombination zu immer neuen Gestalten alles Leben erscheint. Auf solchen Dualismus von Denk- und Lebensrichtungen, in dem die Grundströmungen des Menschlichen zu ihrem einfachsten Ausdruck kämen, strebt jede Epoche, die unübersehbare Fülle ihrer Erscheinungen zurückzuführen. Nur aber in Symbolen und Beispielen ist jener tiefe Lebensgegensatz alles Menschlichen zu begreifen und jeder großen historischen Periode erscheint eine andere Ausgestaltung dieses Gegensatzes als sein Grundtypus und Urform.

So tauchte am Anfang der griechischen Philosophie der große Gegensatz zwischen Heraklit und den Eleaten auf: für Jenen war alles Sein in ewigem Flusse; in der Mannichfaltigkeit unendlicher Kontraste, die sich unaufhörlich in einander umsetzen, vollzieht sich ihm der Weltprozeß; für die Eleaten dagegen gab es jenseits des trüglichen Sinnenscheines nur ein einziges ruhendes Sein, allumfassend, ungespalten, die absolute, unterschiedslose Einheit der Dinge. Das war die Grundform, die die große Parteiung alles menschlichen Wesens für das griechische Denken annahm und die das Thema für seine gesammte Entwickelung gab. Mit dem Christenthum trat eine andere Ausgestaltung auf: der Gegensatz des göttlichen und des irdischen Prinzips. Allem spezifisch christlichen Leben erschien Dies als der letzte und absolute Gegensatz der Wesensrichtungen, auf den alle Unterschiede des Wollens und Denkens zurückgeführt werden mußten, der aber selbst auf keinen tieferen mehr hinwies. Die Lebensanschauungen der neueren Zeit haben Das zu dem fundamentalen Gegensatz von Natur und Geist weitergeführt. Die Gegenwart endlich hat für jenen Dualismus, der zwischen die Menschen, ja, durch die einzelne Seele seine Furche zieht, die Formel der sozialistischen und der individualistischen Tendenz gefunden. Hiermit scheint wiederum ein letzter typischer Unterschied der Charaktere von Menschen und Einrichtungen ausgesprochen, eine Wasserscheide gefunden, an der ihre Richtungen sich trennen, um dann, doch wieder zusammenfließend, die Wirklichkeit nach den verschiedenen Maßen ihrer Mitwirkung zu bestimmen. Durch alle Fragen des Lebens scheint sich die Linie zu verlängern, die diese Denkweisen trennt und auf den entferntesten Gebieten, an den mannichfaltigsten Materien zeigt sich die Form der Charakterbildung, die sich auf dem sozialpolitischen in dem Gegensatz sozialistischer und individualistischer Neigungen ausprägt. Sie bestimmt nicht weniger die Tiefen rein materieller Lebensinteressen als die Höhen der ästhetischen Weltanschauung.

Das Wesen der ästhetischen Betrachtung und Darstellung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerliche und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten. Dieser Reduktion auf Das, was an ihr bedeutsam und ewig ist, scheint keine Erscheinung sich entziehen zu können. Auch das Niedrigste, an sich Häßlichste, läßt sich in einen Zusammenhang der Farben und Formen, der Gefühle und Erlebnisse einstellen, der ihm reizvolle Bedeutsamkeit verleiht; in das Gleichgiltigste, das uns in seiner isolirten Erscheinung banal oder abstoßend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch Dies als Strahl und Wort der letzten Einheit aller Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt und für die jede Philosophie, jede Religion, jeder Augenblick unserer höchsten Gefühlserhebungen nach Symbolen ringen. Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den Schönheitwerthen der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer Pantheismus, jeder Punkt birgt die Möglichkeit der Erlösung zu absoluter ästhetischer Bedeutsamkeit, aus jedem leuchtet für den hinreichend geschärften Blick die  g a n z e  Schönheit, der  g a n z e  Sinn des Weltganzen hervor.

Damit aber hat das Einzelne die Bedeutung verloren, die es gerade als Einzelnes und im Unterschiede gegen alles Andere besitzt. Denn nicht so läßt diese sich bewahren, daß man etwa sagte, die überall gleich mögliche ästhetische Formung und Vertiefung der Dinge lasse der inhaltlichen, qualitativen Verschiedenheit ihrer Schönheiten vollen Raum, sie bedeute nur ästhetische Gleichwerthigkeit, nicht Gleichartigkeit, sie hebe nur die Unterschiede des Ranges auf diesem Gebiete auf, aber nicht die der Farben und Töne, der Sinne und Gedanken, des Allegro und des Adagio. Diese Vorstellung, die die Reize der ästhetischen Allgleichheit und Alleinheit mit denen des ästhetischen Individualismus versöhnen will, thut doch dessen Forderung nicht ganz Genüge. Denn gerade die Rangordnung der Werthe, der Aufbau des Bedeutsamen über das Gleichgiltigere, die organische Steigerung und Entwickelung, die aus dem Stumpfen das Beseelte, aus dem Rohen das Feine herauswachsen läßt, giebt den Gipfeln dieser Reihe einen Hintergrund, eine Höhe und Leuchtkraft, die bei ästhetischer Gleichwerthigkeit der Objekte von keinem unter ihnen erreicht wird. Für sie ergießt sich ein gleich heller Glanz über alle Dinge, der zwar das Niedrigste dem Höchsten gleichstellt, dafür aber auch das Höchste dem Niedrigsten. An Unterschiede sind unsere Empfindungen geknüpft, die Werthempfindung nicht weniger als die des Haut- oder Wärmesinnes. Wir können nicht immer auf gleicher Höhe wandeln, wenigstens nicht auf der höchsten, die uns in unseren besten Augenblicken zugänglich ist; und so müssen wir die Erhebung des Niedrigsten in die ästhetische Höhe mit dem Verzicht auf jene Aufschwünge bezahlen, die nur seltene, vereinzelte sein können und sich nur über den Untergrund einer tiefer gelegenen, dumpferen und dunkleren Welt erheben. Aber nicht nur diese Bedingtheit alles Empfindens durch den Unterschied, die wir als abzustreifende Fessel und Unvollkommenheit unseres Wesens empfinden mögen, knüpft den Werth der Dinge an ihren Abstand von einander: auf eben diesem Abstand an und für sich ruht ein Schönheitwerth. Daß die Welt nach Licht und Finsterniß geschieden ist, daß ihre Elemente nicht Gleichwerthigkeit formlos in einander verschwimmen, sondern jedes in einem Stufenbau der Werthe seine Stelle habe zwischen einem höheren und einem tieferen, daß das Rohere und Niedere den Sinn seiner Existenz darin finde, Träger und Hintergrund des Feinen, Hellen, Hohen zu sein: Das ist an sich ein höchster ästhetischer Reiz und Werth des Weltbildes. So scheiden sich unversöhnliche Wege: Der, dem tausend Tiefen lohnen, um der einen Höhe willen, und der den Werth der Dinge in ihrem Gipfel findet, von dem er zurückstrahlend allem Niederen seinen Sinn und sein Werthmaß zutheilt, - er wird nie den Anderen verstehen, der aus dem Wurm die Stimme Gottes reden hören will und den Anspruch jedes Dinges, so viel zu gelten wie das andere, als Gerechtigkeit empfindet. Und wer das Schauspiel der Gliederung und Abstufung, der Formung des Weltbildes nach dem Mehr oder Minder ihrer Schönheit nicht entbehren mag, - Der wird nie in einer inneren Welt leben mit dem Anderen, der die Harmonie der Dinge in ihrer Gleichheit sieht, so daß Reiz und Häßlichkeit des Anblickes, thörichtes Chaos und sinnvolle Form nur verhüllende Gewänder sind, hinter denen er überall die selbe Schönheit und Seele des Seins sieht, nach der sein Gemüth dürstet.
Hier nach einer Versöhnung zu suchen, nach einem Begriff und Theorie, die diese Gegenrichtungen der Werthgefühle als verträgliche und in einer höheren Strebung zusammenlaufende demonstrirt, weil in vielen Seelen thatsächlich beide mit getheilten Rechten herrschen: Das ist so viel wie: den Gegensatz von Tag und Nacht hinweg beweisen, weil es eine Dämmerung giebt. Hier stehen wir an den Quellen alles Menschlichen, die je nach den Gebieten, durch die sie fließen, die ungeheuren Gegensätze des politischen Sozialismus und Individualismus, der pantheistischen oder atomistischen Erkenntniß, der ästhetischen Ausgleichung oder Differenzirung aufblühen lassen. Diese Quellen selbst, diese letzten Wesensrichtungen, können wir nicht mit Worten bezeichnen; nur an jenen einzelnen Erscheinungen, die sie in ihrer Lenkung der empirischen Lebensinhalte, gleichsam in der Mischung mit diesen, ergeben, kann man sie erkennen oder wenigstens auf sie hinweisen als auf die unbekannten Kräfte, die die Materie unseres Daseins zu ihren Formen gestalten, ewig unversöhnt und eben dadurch jede der anderen den frischen Reiz erregend, der dem Leben unserer Gattung seine Rastlosigkeit, seinen Kampf, sein Schwingen zwischen Gegensätzen verbürgt, so daß die Befriedigung des Einen den kräftigsten Ansturm des Anderen lockt. Und hierin allein liegt, was man ihre Versöhnung nennen könnte: nicht in dem öden Nachweis, daß sie sich auf eine begriffliche Einheit reduziren lassen, sondern darin, daß sie sich in  e i n e r  Gattung von Wesen, ja, in jeder einzelnen Seele fortwährend begegnen und bekämpfen. Denn Das eben ist die Höhe und Herrlichkeit der Menschenseele, daß ihr lebendiges Leben, ihre unbegriffene Einheit, in jedem Augenblick die Kräfte in sich wirken läßt, die an sich doch aus völlig unvereinbaren Quellen nach völlig unvereinbaren Mündungen fließen.

Am Anfang aller ästhetischen Motive steht die Symmetrie. Um in die Dinge Idee, Sinn, Harmonie zu bringen, muß man sie zunächst symmetrisch gestalten, die Theile des Ganzen unter einander ausgleichen, sie ebenmäßig um einen Mittelpunkt herum ordnen. Die formgebende Macht des Menschen gegenüber der Zufälligkeit und Wirrniß der blos natürlichen Gestaltung wird damit auf die schnellste, sichtbarste und unmittelbarste Art versinnlicht. So führt der erste ästhetische Schritt über das bloße Hinnehmen der Sinnlosigkeit der Dinge hinaus zur Symmetrie, bis später Verfeinerung und Vertiefung gerade wieder an das Unregelmäßige, an die Asymmetrie, die äußersten ästhetischen Reize knüpft. In symmetrischen Bildungen gewinnt der Rationalismus zuerst sichtbare Gestalt. So lange das Leben überhaupt noch triebhaft, gefühlsmäßig, irrationell ist, tritt die ästhetische Erlösung von ihm in so rationalistischer Form auf. Wenn Verstand, Berechnung, Ausgleichung es erst durchdrungen haben, flieht das ästhetische Bedürfniß wiederum in seinen Gegensatz und sucht das Irrationale und seine äußere Form, das Unsymmetrische.

Die niedrigere Stufe des ästhetischen Triebes spricht sich im Systembau aus, der die Objekte in ein symmetrisches Bild faßt. So brachten z. B. Bußbücher des sechsten Jahrhunderts die Sünden und Strafen in Systeme von mathematischer Präzision und ebenmäßigem Aufbau. Der erste Versuch, die sittlichen Irrungen in ihrer Gesammtheit geistig zu bewältigen, erfolgte so in der Form eines möglichst mechanischen, durchsichtigen, symmetrischen Schemas; wenn sie unter das Joch des Systems gebeugt waren, konnte der Verstand sie am Schnellsten und gleichsam mit dem geringsten Widerstande erfassen. Die Systemform zerbricht, sobald man der eigenen Bedeutsamkeit des Objektes innerlich gewachsen ist und sie nicht erst aus einem Zusammenhang mit anderen zu entlehnen braucht; in diesem Stadium verblaßt deshalb auch der ästhetische Reiz der Symmetrie, mit der man sich die Elemente zunächst zurechtlegte. Man kann nun an der Rolle, die die Symmetrie in sozialen Gestaltungen spielt, recht erkennen, wie scheinbar rein ästhetische Interessen durch materielle Zweckmäßigkeit hervorgerufen werden und umgekehrt ästhetische Motive in die Formungen hineinwirken, die scheinbar der reinen Zweckmäßigkeit folgen. Wir finden z. B. in den verschiedensten alten Kulturen die Zusammenschließung von je zehn Mitgliedern der Gruppe zu einer besonderen Einheit - in militärischer, steuerlicher, kriminalistischer und sonstigen Beziehungen -, oft so, daß zehn solcher Untergruppen wieder eine höhere Einheit, die Hundertschaft, bilden. Der Grund dieser symmetrischen Konstruktion der Gruppe war sicher die leichtere Uebersichtlichkeit, Bezeichenbarkeit, Lenksamkeit. Das eigenthümlich stilisirte Bild der Gesellschaft, das bei diesen Organisationen herauskam, ergab sich als Erfolg bloßer Nützlichkeiten. Wir wissen aber ferner, daß diese Bedeutung der "Hundert" schließlich oft nur noch zur Konservirung der bloßen Bezeichnung führte: jene Hundertschaften enthielten oft mehr, oft weniger als hundert Individuen. Im mittelalterlichen Barcelona z. B. hieß der Senat die Einhundert, obgleich er etwa zweihundert Mitglieder hatte. Diese Abweichung von der ursprünglichen Zweckmäßigkeit der Organisation, während doch zugleich deren Fiktion festgehalten wurden, zeigt den Uebergang des blos Nützlichen in das Aesthetische, den Reiz der Symmetrie, der architektonischen Neigungen im sozialen Wesen.

Die Tendenz zur Symmetrie, zu gleichförmiger Anordnung der Elemente nach durchgehenden Prinzipien, ist nun weiterhin allen despotischen Gesellschaftsformen eigen. Justus Möser schrieb 1772: "Die Herren vom General-Departement möchten gern Alles auf einfache Regeln zurückgeführt haben. Dadurch entfernen wir uns von dem wahren Plane der Natur, die ihren Reichthum in der Mannichfaltigkeit zeigt, und bahnen den Weg zum Despotismus, der Alles nach wenigen Regeln zwingen will." Die symmetrische Anordnung macht die Beherrschung der Vielen von einem Punkt aus leichter. Die Anstöße setzen sich länger, widerstandsloser, berechenbarer durch ein symmetrisch angeordnetes Medium fort, als wenn die innere Struktur und die Grenzen der Theile unregelmäßig und fluktuirend sind. So wollte Karl V. alle ungleichmäßigen und eigenartigen politischen Gebilde und Rechte in den Niederlanden nivelliren und diese zu einer in allen Theilen gleichmäßigen Organisation umgestalten; "er haßte", so schreibt ein Historiker dieser Epoche, "die alten Freibriefe und störrischen Privilegien, die seine Ideen von Symmetrie störten." Und mit Recht hat man die egyptischen Pyramiden als Symbole des politischen Baues bezeichnet, den die großen orientalischen Despoten aufführten: eine völlig symmetrische Struktur der Gesellschaft, deren Elemente nach oben hin an Umfang schnell abnehmen, an Höhe der Macht schnell zunehmen, bis sie in die eine Spitze münden, die gleichmäßig das Ganze beherrscht. Ist diese Form der Organisation auch aus ihrer bloßen Zweckmäßigkeit für die Bedürfnisse des Despotismus hervorgegangen, so wächst sie doch in eine formale, rein ästhetische Bedeutung hinein: der Reiz der Symmetrie, mit ihrer inneren Ausgeglichenheit, ihrer äußeren Geschlossenheit, ihrem harmonischen Verhältniß der Theile zu einem einheitlichen Centrum wirkt sicher in der ästhetischen Anziehungskraft mit, die die Autokratie, die Unbedingtheit des einen Staatswillens auf viele Geister, ausübt. Deshalb ist die liberale Staatsform umgekehrt der Asymmetrie zugeneigt. Ganz direkt hebt Macaulay, der begeisterte Liberale, Das als die eigentliche Stärke des englischen Verfassunglebens hervor. "Wir denken", so sagt er, "gar nicht an die Symmetrie, aber sehr an die Zweckmäßigkeit; wir entfernen niemals eine Anomalie, blos weil es eine Anomalie ist; wir stellen keine Normen von weiterem Umfang auf, als es der besondere Fall, um den es sich gerade handelt, erfordert. Das sind die Regeln, die im Ganzen, vom König Johann bis zur Königin Viktoria, die Erwägungen unserer 250 Parlamente geleitet haben." Hier wird also das Ideal der Symmetrie und logischen Abrundung, die allem Einzelnen von einem Punkte aus seinen Sinn giebt, zu Gunsten jenes anderen verworfen, das jedes Element sich nach seinen eigenen Bedingungen unabhängig ausleben und so natürlich das Ganze eine regellose und ungleichmäßige Erscheinung darbieten läßt. Dennoch liegt auch in dieser Asymmetrie, dieser Befreiung des individuellen Falles von der Präjudizirung durch sein Pendant, ein ästhetischer Reiz neben all ihren konkreten Motiven. Dieser Oberton klingt deutlich aus den Worten Macaulays heraus; er stammt aus dem Gefühl, daß diese Organisation das innere Leben des Staates zum typischsten Ausdruck und in die harmonischste Form bringe.

Am Entschiedensten wird der Einfluß ästhetischer Kräfte auf soziale Thatsachen in dem modernen Konflikt zwischen sozialistischer und individualistischer Tendenz sichtbar. Daß die Gesellschaft als Ganzes ein Kunstwerk werde, in dem jeder Theil einen erkennbaren Sinn vermöge seines Beitrages zum Ganzen erhält; daß an Stelle der rhapsodischen Zufälligkeit, mit der die Leistung des Einzelnen jetzt zum Nutzen oder zum Schaden der Gesammtheit gereicht, eine einheitliche Direktive alle Produktionen zweckmäßig bestimme, daß statt der kraftverschwendenden Konkurrenz und des Kampfes der Einzelnen gegen einander eine absolute Harmonie der Arbeiten eintrete - : diese Ideen des Sozialismus wenden sich zweifellos an ästhetische Interessen und - aus welchen sonstigen Gründen man auch seine Forderungen verwerfen mag - sie widerlegen jedenfalls die populäre Meinung, daß der Sozialismus, ausschließlich den Bedürfnissen des Magens entsprungen, auch ausschließlich in sie münde; und die soziale Frage ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische.*)

*) Eine ästhetische übrigens auch in der Bedeutung der unmittelbaren Sinnesempfindung von Angenehmem und Unangenehmem, nicht nur in der der Formenschönheit. Die eigentlich ästhetischen Unannehmlichkeiten, wie sie der typische "Gebildete" bei körperlicher Berührung mit dem Bolke empfindet, an dem "der ehrwürdige Schweiß der Arbeit" haftet, dürften schwerer überwindlich sein als die Abneigung, auf Hummern, Lawn-Tennis und Chaiselongues zu verzichten.


Die rationelle Organisation der Gesellschaft hat, ganz abgesehen von ihren fühlbaren Folgen für die Individuen, einen hohen ästhetischen Reiz; sie will das Leben des Ganzen zum Kunstwerk machen, wie es jetzt kaum das Leben des Einzelnen sein kann. Je zusammengesetztere Gebilde unsere Anschauung zu umfassen befähigt ist, desto entschiedener wird die Anwendung der ästhetischen Kategorien von den individuellen, sinnlich wahrnehmbaren zu den sozialen Gebilden aufwärts schreiten. Es handelt sich hier um den gleichen ästhetischen Reiz wie den, den die Maschine auszuüben vermag. Die absolute Zweckmäßigkeit und Zuverlässigkeit der Bewegungen, die äußerste Verminderung der Widerstände und Reibungen, das harmonische Ineinandergreifen der kleinsten und der größten Bestandtheile: Das verleiht der Maschine selbst bei oberflächlicher Betrachtung eine eigenartige Schönheit, die die Organisation einer Fabrik in erweitertem Maße wiederholt und die der sozialistische Staat im allerweitesten wiederholen soll. Dieses eigenthümliche, auf Harmonie und Symmetrie hingehende Interesse, in dem der Sozialismus seinen rationalistischen Charakter zeigt und mit dem er das soziale Leben gleichsam stilisiren will, tritt rein äußerlich darin hervor, daß sozialistische Utopien die lokalen Einzelnheiten ihrer Idealstädte oder -staaten immer nach dem Prinzip der Symmetrie konstruiren: entweder in Kreisform oder in quadratischer Form werden die Ortschaften oder Gebäude angeordnet. In Campanellas Sonnenstaat ist der Plan der Reichshauptstadt mathematisch abgezirkelt, eben so wie die Tageseintheilung der Bürger und die Abstufung ihrer Rechte und Pflichten. Dieser allgemeine Zug sozialistischer Pläne zeugt nur in roher Form für die tiefe Anziehungskraft, die der Gedanke der harmonischen, innerlich ausgeglichenen, allen Widerstand der irrationalen Individualität überwindenden Organisation des menschlichen Thuns ausübt, - ein Interesse, das, ganz jenseits von den materiell greifbaren Folgen solcher Organisation, sicher auch als ein rein formal ästhetisches einen nie ganz verschwindenden Faktor in den sozialen Gestaltungen bildet. Wenn man die Anziehungskraft des Schönen darein gesetzt hat, daß seine Vorstellung eine Kraftersparniß des Denkens bedeute, das Abrollen einer maximalen Anzahl von Vorstellungen mit einem Minimum von Anstrengung, so erfüllt die symmetrische, gegensatzfreie Konstruktion der Gruppe, wie der Sozialist sie erstrebt, diese Forderung vollkommen. Die individualistische Gesellschaft mit ihren heterogenen Interessen, mit ihren unversöhnten Tendenzen, ihren unzählige Male begonnenen und - weil nur von Einzelnen getragen - eben so oft unterbrochenen Entwickelungreihen: eine solche Gesellschaft bietet dem Geiste ein unruhiges, sozusagen unebenes Bild, ihre Wahrnehmung fordert fortwährend neue Innervationen, ihr Verständniß neue Anstrengung; während die sozialistische, ausgeglichene Gesellschaft mit ihrer organischen Einheitlichkeit, ihrer symmetrischen Anordnung, der gegenseitigen Berührung ihrer Bewegungen in gemeinsamen Centren dem beobachtenden Geist ein Maximum von Wahrnehmungen, ein Umfassen des sozialen Bildes mit einem Minimum von geistigem Kraftaufwand ermöglicht, - eine Thatsache, deren ästhetische Bedeutung viel mehr, als diese abstrakte Formulirung verräth, die psychischen Verfassungen in einer sozialistischen Gesellschaft beeinflussen müßte. Symmetrie bedeutet im Aesthetischen Abhängigkeit des einzelnen Elementes von seiner Wechselwirkung mit allen anderen, zugleich aber Abgeschlossenheit des damit bezeichneten Kreises; während asymmetrische Gestaltungen mit dem individuelleren Rechte jedes Elementes mehr Raum für frei und weit ausgreifende Beziehungen gestatten. Dem entspricht die innere Organisation des Sozialismus und die Erfahrung, daß alle historischen Annäherungen an sozialistische Verfassung immer nur in streng geschlossenen Kreisen stattfanden, die alle Beziehungen zu außerhalb gelegenen Mächten ablehnten. Diese Geschlossenheit, die sowohl dem ästhetischen Charakter der Symmetrie wie dem politischen Charakter des sozialistischen Staates eignet, hat zur Folge, daß man angesichts des nicht aufzuhebenden internationalen Verkehrs allgemein betont, der Sozialismus könne nur einheitlich in der ganzen Kulturwelt, nicht aber in irgend einem einzelnen Lande zur Herrschaft kommen.

Nun aber zeigt sich die Geltungweite der ästhetischen Motive darin, daß sie sich mit mindestens der gleichen Kraft auch zu Gunsten des entgegengesetzten sozialen Ideals äußern. Die Schönheit, die heute thatsächlich empfunden wird, trägt noch fast ausschließlich individualistischen Charakter. Sie knüpft sich im Wesentlichen an einzelne Erscheinungen, sei es in ihrem Gegensatz zu den Eigenschaften und Lebensbedingungen der Masse, sei es in direkter Opposition gegen sie. In diesem Sich-Entgegensetzen und Isoliren des Individuums gegen das Allgemeine, gegen Das, was für Alle gilt, ruht großentheils die eigentlich romantische Schönheit, - selbst dann, wenn wir es zugleich ethisch verurtheilen. Gerade daß der Einzelne nicht nur das Glied eines größeren Ganzes, sondern selbst ein Ganzes sei, das nun als Solches nicht mehr in jene symmetrische Organisation sozialistischer Interessen hineinpaßt, - gerade Das ist ein ästhetisch reizvolles Bild. Selbst der vollkommenste soziale Mechanismus ist eben Mechanismus und entbehrt der Freiheit, die, wie man sie auch philosophisch ausdeuten möge, doch als Bedingung der Schönheit erscheint. So sind denn auch von den in letzter Zeit hervorgetretenen Weltanschauungen die am entschieden individualistischsten: die des Rembrandt und die Nietzsches, durchweg von ästhetischen Motiven getragen. Ja, so weit geht der Individualismus des modernen Schönheitempfindens, daß man Blumen, insbesondere die modernen Kulturblumen, nicht mehr zum Strauße binden mag: man läßt sie einzeln, bindet höchstens einzelne ganz lose zusammen. Jede ist zu sehr Etwas für sich, sie sind ästhetische Individualitäten, die sich nicht zu einer symmetrischen Einheit zusammenordnen; wogegen die unentwickelteren, gleichsam noch mehr im Gattungtypus verbliebenen Wiesen- und Waldblumen gerade entzückende Sträuße geben.

Diese Bindung der gleichartigen Reize an unversöhnliche Gegensätze weist auf den eigenthümlichen Ursprung der ästhetischen Gefühle hin. So wenig Sicheres wir über diesen wissen, so empfinden wir doch als wahrscheinlich, daß die materielle Nützlichkeit der Objekte, ihre Zweckmäßigkeit für Erhaltung und Steigerung des Gattunglebens, der Ausgangspunkt auch für ihren Schönheitwerth gewesen ist. Vielleicht ist für uns Das schön, was die Gattung als nützlich erprobt hat und was uns deshalb, insofern diese in uns lebt, Lust bereitet, ohne daß wir als Individuen jetzt noch die reale Nützlichkeit des Gegenstandes genössen. Diese ist längst durch die Länge der geschichtlichen Entwickelung und Vererbung hinweggeläutert; die materiellen Motive, aus denen unsere ästhetische Empfindung stammt, liegen in weiter Zeitenferne und lassen dem Schönen so den Charakter der "reinen Form", einer gewissen Ueberirdischheit und Irrealität, wie sich der gleiche verklärende Hauch über die eigenen Erlebnisse vergangener Zeiten legt. Nun aber ist das Nützliche ein sehr Mannichfaltiges, in verschiedenen Anpassungperioden, ja, in verschiedenen Provinzen der selben Periode oft von entgegengesetztestem Inhalt. Insbesondere jene großen Gegensätze alles geschichtlichen Lebens: die Organisation der Gesellschaft, für die der Einzelne nur Glied und Element ist, und die Werthung des Individuums, für das die Gesellschaft nur Unterbau sei, gewinnen in Folge der Mannichfaltigkeit der historischen Bedingungen abwechselnd die Vorhand und mischen sich in jedem Augenblick in veränderlichsten Proportionen. Dadurch sind nun die Voraussetzungen gegeben, auf die hin sich die ästhetischen Interessen der einen sozialen Lebensform so stark wie der anderen zuwenden können. Der scheinbare Widerspruch: daß der gleiche ästhetische Reiz der Harmonie des Ganzen, in dem der Einzelne verschwindet, und dem Sich-Durchsetzen des Individuums zuwächst, erklärt sich ohne Weiteres, wenn alles Schönheitempfinden das Destillat, die Idealisirung, die abgeklärte Form ist, mit der die Anpassungen und Nützlichkeitempfindungen der Gattung in dem Einzelnen nachklingen, auf den jene reale Bedeutung nur als eine vergeistigte und formalistische vererbt worden ist. Dann spiegeln sich alle Mannichfaltigkeiten und alle Widersprüche der geschichtlichen Entwickelung in der Weite unseres ästhetischen Empfindens, das so an die entgegengesetzten Pole der sozialen Interessen die gleiche Stärke Des Reizes zu knüpfen vermag.

Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile läßt sich als eine Folge der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältniß, hinter der kühlen Fremdheit der Außenwelt verräth sie uns die Beseeltheit des Seins, durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie läßt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich jenem seinen bläulichen Duft, der sich um ferne Berge spinnt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Vertheilung auf die Mannichfaltigkeit der Anprüche an das Kunstwerk, giebt jedem Kunststil sein eigenes Gepräge. Im Naturalismus, in seinem Gegensatz zu aller eigentlichen "Stilisirung", scheint, zunächst die Nähe der Objekte zu überwiegen. Die naturalistische Kunst will aus jedem Stückchen der Welt seine eigene Bedeutsamkeit herausholen, während die stilisirende eine vorgefaßte Forderung von Schönheit und Bedeutsamkeit zwischen uns und die Dinge stellt. Aus dem Boden der unmittelbaren Eindrücke von Wirklichkeit ist alle Kunst genährt, wenn sie auch zur Kunst erst da wird, wo sie über diesen Boden hinauswächst; sie setzt eben einen innerlichen, unbewußten Reduktionsprozeß voraus, um uns von ihrer Wahrheit und Bedeutsamkeit zu überzeugen; bei der naturalistischen Kunst ist diese Reduktion kurz und bequem. Sie verlangt deshalb keine so entschiedene und weitreichende Selbstthätigkeit des Genießenden, sondern vollzieht seine Annäherung an die Dinge auf dem direktesten Wege. Daher nun auch der Zusammenhang, den die naturalistische Kunst vielfach - wenn auch natürlich nicht im Geringsten nothwendig - mit sinnlicher Lüsternheit aufweist. Denn das ist der Punkt, von dem aus am Schnellsten und Unmittelbarsten eine Aufrüttelung des gesammten inneren Systemes stattfinden kann: das Objekt und die subjektive Reaktion darauf stehen hier am Nächsten zusammen.

Dennoch entbehrt auch der Naturalismus nicht eines sehr feinen Reizes der Fernwirkung der Dinge, sobald wir auf die Vorliebe achten, mit der er seine Gegenstände im alltäglichsten Leben, im Niedrigen und Banalen, sucht. Denn für sehr empfindliche Seelen tritt die eigenthümliche Entfernung des Kunstwerkes von der Unmittelbarkeit der Erfahrung gerade dann besonders hervor, wenn das Objekt uns ganz nahe steht. Für weniger zartes Empfinden bedarf es, um es diesen Reiz der Distanz kosten zu lassen, einer größeren Ferne des Objektes selbst: stilisirt-italienische Landschaften, historische Dramen; je unkultivirter und kindlicher das ästhetische Gefühl ist, desto phantastischer, der Wirklichkeit ferner, muß der Gegenstand sein, an dem das künstlerische Bilden zu seinem Effekt kommt. Feinere Nerven bedürfen dieser gleichsam materiellen Unterstützung nicht; für sie liegt in der künstlerischen Formung des Objektes der ganze geheimnisvolle Reiz der Distanz von den Dingen, die Befreiung von ihrem dumpfen Druck, der Schwung von der Natur zum Geist; und um so intensiver werden sie Das empfinden, an je näherem, niedrigerem, irdischerem Materiale es sich vollzieht.

Man kann vielleicht sagen, daß das Kunstgefühl der Gegenwart im Wesentlichen den Reiz der Distanz stark betont, gegenüber dem Reiz der Annäherung. Und es weiß sich diesen nicht nur auf dem angedeuteten Wege des Naturalismus zu verschaffen. Vielmehr bildet diese eigenartige Tendenz, die Dinge möglichst aus der Entfernung auf sich wirken zu lassen, ein vielen Gebieten gemeinsames Zeichen der modernen Zeit. Ihm gehört die Vorliebe für räumlich und zeitlich entfernte Kulturen und Stile an. Das Entfernte erregt sehr viele, lebhaft auf- und abschwankende Vorstellungen und genügt damit unserem vielseitigen Anregungbedürfniß; doch klingt jede dies er fremden und fernen Vorstellungen wegen ihrer Beziehunglosigkeit zu unsern persönlichsten und materiellen Interessen doch nur schwach an und muthet deshalb den geschwächten Nerven nur eine behagliche Anregung zu. Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene Reiz des Fragmentes, der bloßen Andeutung, des Aphorismus, des Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns "wie aus der Ferne", die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicherheit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen. Der literarische Stil des Jahrhunderts, dessen letzte Raffinements in Paris und Wien ausgebildet sind, vermeidet die direkte Bezeichnung der Dinge, faßt sie nur an einem Zipfel, streift mit dem Worte nur eine Ecke, der Ausdruck und die Sache decken sich nur mit irgend einem möglichst abgelegenen Stückchen. Es ist die pathologische Erscheinung der "Berührungsangst", von der hiermit ein niederer Grad endemisch geworden ist: die Furcht, in allzu nahe Berührung mit den Objekten zu kommen, ein Resultat der Hyperästhesie, der jede unmittelbare und energische Berührung ein Schmerz ist. Daher äußert sich auch die Feinsinnigkeit, Geistigkeit, differenzirte Empfindlichkeit so überwiegend vieler moderner Menschen im negativen Geschmack, Das heißt: in der leichten Verletzbarkeit durch Nicht-Zusagendes, in dem bestimmten Ausschließen des Unsympathischen, in der Repulsion durch Vieles, ja oft durch das Meiste des gebotenen Kreises von Reizen, während der positive Geschmack, das energische Ja-Sagen, das freudige und rückhaltlose Ergreifen des Gefallenden, kurz die aktiv aneignenden Energien große Fehlbeträge aufweisen. Der Naturalismus in seinen groben Formen war ein verzweifelter Versuch, über die Distanz hinwegzukommen, die Nähe und Unmittelbarkeit der Dinge zu ergreifen; kaum aber war man ihnen ganz nahe, so konnten die empfindlichen Nerven schon ihre Berührung nicht mehr vertragen und scheuten zurück, als hätten sie glühende Kohlen angefaßt. Das gilt nicht nur von der Reaktion in der Malerei, die durch die schottische Schule vermittelt wurde, und in der Literatur, die vom Zolaismus zum Symbolismus führte; es gilt auch von wissenschaftlichen Tendenzen: so, wenn der Materialismus, der die Wirklichkeit unmittelbar zu greifen glaubt, vor "neu-kantischen" oder subjektivistischen Weltanschauungen zurückweicht, die die Dinge erst durch das Medium der Seele brechen oder destilliren lassen, ehe sie zu Erkenntnissen werden; so, wenn sich über der spezialistischen Detailarbeit in allen Wissenschaften der Ruf nach Zusammenfassung und Verallgemeinerung erhebt, die sich in überschauende Distanz von aller konkreten Einzelnheit stelle; so, wenn in der Ethik die platte "Nützlichkeit" vor höher aufblickende, oft religiösen, von der sinnlichen Unmittelbarkeit weit abstehenden Prinzipien zurücktreten muß.

An mehr als einem Punkte unserer Kultur macht sich diese Tendenz auf Distanzirung beherrschend fühlbar; dabei ist es selbstverständlich, daß ich damit ein bestimmt empfundenes, also qualitatives, inneres Verhältnis zu den Dingen meine, das ich nur, weil es keinen direkten Ausdruck dafür giebt, auf das quantitative der Distanzirung zurückführe, das nur als Symbol und Annäherung gelten kann. Die Auflösung der Familie hängt damit zusammen, die Abneigung gegen "Familiensimpelei", das Gefühl unerträglicher Enge, das das Gebundensein an den nächsten Kreis so oft im modernen Menschen weckt und ihn so oft in tragische Konflikte verwickelt. Die Leichtigkeit des Verkehrs in die größeren Fernen hin verstärkt diese "Berührungangst". Der "historische Geist", die Fülle der inneren Beziehungen zu räumlich und zeitlich ferneren Interessen, macht uns immer empfindlicher gegen die Chocs und die Wirrnisse, die uns aus der unmittelbaren Nähe und Berührung der Menschen und der Dinge kommen. Als eine Hauptursache jener Berührungsangst aber erscheint mir das immer tiefere Eindringen der Geldwirthschaft, das die naturalwirthschaftlichen Verhältnisse früherer Zeiten mehr und mehr zerstört, - wenn auch dieses Zerstörungswerk noch nicht völlig gelungen ist. Das Geld schiebt sich zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Waare, als eine vermittelnde Instanz, als ein Generalnenner, auf den erst jeder Werth gebracht werden muß, um sich weiterhin in andere Werthe umsetzen zu können. Seit der Geldwirthschaft stehen uns die Gegenstände des wirthschaftlichen Verkehres nicht mehr unmittelbar gegenüber, unser Interesse an ihnen bricht sich erst in dem Medium des Geldes, nicht ihre eigene fachliche Bedeutung, sondern wie viel sie, an diesem Zwischenwerth gemessen, werth sind, steht dem wirthschaftenden Menschen vor Augen; unzählige Male macht sein Zweckbewußtsein auf dieser Zwischenstufe Halt, als auf dem Interessencentrum und dem ruhenden Pole, während alle konkreten Dinge in rastloser Flucht vorübertreiben, belastet mit dem Widerspruch, daß doch eigentlich sie allein definitive Befriedigungen gewähren können und dennoch erst nach ihrer Abschätzung an diesem charakterlosen, qualitätlosen Maßstab ihren Grad von Werth und Interesse erlangen. So stellt uns das Geld mit der Vergrößerung seiner Rolle in eine immer gründlichere Distanz von den Objekten, die Unmittelbarkeit der Eindrücke, der Werthgefühle, der Interessirtheit wird abgeschwächt, unsere Berührung mit ihnen wird durchbrochen und wir empfinden sie gleichsam nur durch eine Vermittelung hindurch, die ihr volles, eigenes, unmittelbares Sein nicht mehr ganz zu Worte kommen läßt.

So scheinen sehr mannichfaltige Erscheinungen der modernen Kultur einen tiefen psychologischen Zug gemeinsam zu haben, den man in abstrakter Weise als die Tendenz zur Distanzvergrößerung zwischen dem Menschen und seinen Objekten bezeichnen kann und der auf ästhetischem Gebiet nur seine deutlichsten Formen gewinnt. Und wenn damit wieder Phänomene und Epochen wie die naturalistischen und die sensualistischen abwechseln, in denen gerade ein festes Sich-Anpassen an die Dinge, ein Einschlürfen ihrer ungebrochenen Realität, herrschend wird, so darf Das nicht irre machen; denn gerade die Schwingungen zwischen beiden Extremen beweisen die gleiche Neurasthenie, der schon jedes für sich allein entstammte. Eine Zeit, die zugleich für Böcklin und den Impressionismus, für Naturalismus und Symbolistik, für Sozialismus und Nietzsche schwärmt, findet ihre höchstens Lebensreize offenbar in der Form der Schwankung zwischen den extremen Polen alles Menschlichen; ermatteten, zwischen Hypersensibilität und Unempflindlichkeit schwankenden Nerven können nur noch die abgeklärteste Form und die derbste Nähe, die allerzartesten und die allergröbsten Reize neue Anregungen bringen.

Georg Simmel