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Autor: Van de Velde, Henry
In: Insel-Verl. (1907); S. 101; Leipzig
 
Vom neuen Stil : der "Laienpredigten" II. Teil
 
VORREDE

DURCH die französische Revolution wurde urplötzlich eine langjährige Entwicklung des Geschmacks und des Stils, die der Renaissance ihren Stempel aufgedrückt hatte, abgebrochen. Nach der Revolution beginnt eine unheilvolle Ära, während der die Menschheit allmählich den Geschmack und den Sinn für Schönheit und für Stilgefühl verliert. Die sozialen Bedingungen nach der Revolution waren wenig geeignet, diese Vernichtung des Schönheitssinnes und des Stilgefühls zu verhindern. Die soeben freigegebene Ausübung aller Handwerke und die Einführung des industriellen Betriebes zerrissen alle Bande, die zwischen dem Gegenstand und dem Kunsthandwerker, zwischen dem fabrizierten Objekt und dem Industriellen bestanden hatten. Die unaufhörliche, schnelle Aufeinanderfolge der Moden, deren Wechsel sich nach gar keiner konsequenten Entwicklung vollzieht, schuf um die Welt der Kunsthandwerker und Industriellen eine Atmosphäre, die jede Freude an der Arbeit, jede Vervollkommnung, jede pekuniäre Sicherheit und jedes gegenseitige Vertrauen ausschloß. Nur eine neue Ära, die eines anerkannten, ausgeprägten, allgemeinen Stils, kann diesem Zustand ein Ende machen. Man hat uns oft den Vorwurf gemacht, wir strebten danach, einen Stil zu formulieren und einzuführen, der in Wirklichkeit noch gar nicht existiere. Aber unsere Ungeduld ist deshalb gerechtfertigt, weil wir glauben, die Grundlagen, auf denen sich ein neuer Stil entwickeln kann, erkannt und ein gemeinsames Gepräge in all dem entdeckt zu haben, was zu dem modernen, intellektuellen und materiellen Leben in Beziehung steht. Auf der Grundlage von Bestrebungen, denen die Tendenz nach logischer, vernünftiger Konzeption gemeinsam ist, im Gegensatz zu der phantastischen, sentimentalen Schaffens- und Denkungsart, auf dieser Grundlage glauben wir einen neuen Stil entstehen zu sehen. Wir alle können mit daran arbeiten, wenn wir uns der neuen Disziplin des Schaffens unterwerfen. Unser heißer Wunsch, einen Stil zu besitzen, hat nach Ablauf von zehn Jahren doch Resultate erzeugt. Die Dresdener Ausstellung von 1906 ist eine Art Resumé von dem, was wir als die "Auftakte" bezeichnen könnten, oder als das Stimmen der Instrumente eines Orchesters. Diese Ausstellung hat uns klar und deutlich eins erkennen lassen, - nämlich, daß es an der Zeit ist, uns gegenseitig Opfer zu bringen, damit das Werk vollendet werde, das wir jetzt schon in seiner ganzen Einheit und Herrlichkeit übersehen können. Ein neuer Stil mußte entstehen, und unser Verlangen nach ihm hätte ihn allein schon hervorrufen können. Sobald sich so große und so auffallende Verschiedenheiten zwischen dem zeigen, was das intellektuelle und materielle Leben des modernen Menschen ausmacht, und dem, worin das Leben des prämodernen Menschen besteht, gehört nicht mehr allzu viel Kühnheit dazu, das Kommen eines neuen Stils zu prophezeien. Ein positiver Geist, der der sentimentalen Tendenz der prämodernen Epoche energisch entgegenwirkt, wird uns - besonders in der Architektur und der Ornamentik - von all den Elementen befreien, die aus Sentimentalität sowohl, als aus Bequemlichkeit von den antiken und mittelalterlichen oder den neueren Stilen zurückbehalten und angewendet wurden. Unsere Fähigkeit zur ästhetischen Sensibilität wurde bis an das Ende des 19. Jahrhunderts erstickt. In dem Bereich der Architektur, der Malerei, der Skulptur, der Poesie und der Musik haben wir den Gefühlen alle die höheren und vergeistigteren Empfindungen geopfert, mit denen uns die Sensibilität zu erfreuen vermag. Die Menschheit, die den Genuß an ästhetischer Empfindsamkeit höher stellen wird als den Genuß der Gefühlsempfindungen, wird imstande sein, ein Kunstideal zu erfassen, das Verwandtschaft mit dem griechischen Ideal verspricht. Das ist der Ideengang dieses Buches, das aus vier Vorträgen oder Fragmenten von Vorträgen besteht. Der letzte ist eine Gedankenfolge, die ich auf einer Reise notierte, einer Reise, deren Ziel hieß - Athen!


DIE VERÄNDERTEN GRUNDLAGEN DES KUNSTGEWERBES SEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION

DIE französische Revolution bezeichnet einen Wendepunkt, der die Vergangenheit scharf von der Zukunft trennt. Zwei entgegengesetzte Kräfte, zwei widerstreitende Prinzipien prallten mit rasender Wucht aufeinander: die Aristokratie und die Demokratie. Und überraschend ist die Tatsache, daß allein der Stil auf der Wahlstatt geblieben ist. Heute stehen sich die beiden Prinzipien Aug' in Auge gegenüber. Der Stil war das eigentliche Opfer der siegenden Partei, und durch diesen Sieg schien ihre Wut vollständig gestillt zu sein. Die Revolution vernichtete den Stil des 18. Jahrhunderts, weil die Macht und der Reichtum der führenden Klassen die Demokratie beleidigten. Die Epoche, die aus der Revolution hervorging, trat infolgedessen ohne jeden Stil ins Leben. Eine Epoche ohne Stil ist ein Schiff ohne Steuer, das den Winden preisgegeben ist. Wenn es trotzdem einen Hafen erreicht, so ist es der Hafen des Zufalls, wo es höchstens den erlittenen Seeschaden reparieren kann. Der Empire-Stil und seine Ausläufer, wie der Chippendeal- und Sheraton-Stil in England und der Biedermeier-Stil in Deutschland, waren solche Zufallshäfen. Das Erscheinen Napoleons auf dem Schauplatz der Welt fällt in den Zeitpunkt, wo die Kunst vollkommen brach lag. Das Ziel, das Napoleon sich gesteckt hatte, bildete eine Verwandtschaft zwischen ihm und den Größten einer Epoche, die bis weit hinter das Mittelalter zurückreicht. Seine Rolle bestimmte auch seinen Geschmack; der Imperator mußte den Empire-Stil einführen. Er wußte jeden Widerstand zu brechen, sich alle Energieen zu eigen zu machen, und die Menschheit nahm den Empire-Stil an, wie sie auch irgend eine Art sich zu kleiden oder sich einzurichten angenommen hätte. In dem Stil erkannte die Menschheit den Kaiser, sicherlich nicht sich selbst. Die Ereignisse, die mit rasender Geschwindigkeit aufeinander folgten, ließen ihr übrigens auch keine Zeit dazu. Wenn das Kaiserreich von Dauer gewesen wäre, so hätte es die Individuen und die Charaktere gebildet, und die Beziehungen zwischen den Menschen und den Dingen hätten wieder hergestellt werden können. Aber der Koloß stürzte zu früh. Die Schönheit, die wieder aufgelebt war, brach mit ihm noch schwerer zusammen, als unter dem Beil der Revolution, und plötzlich sehen wir andere Leute und andere Dinge auf der Weltbühne. Die neue, aus französischen Revolution hervorgegangene Welt mit allen Überlieferungen des Geschmacks gebrochen, und die Willkür der neuen Herren, die sie nun wählte; mußte den Geschmack zu den größten, Extravaganzen treiben. Die Harmonie zwischen den Menschen und den Gegenständen war zerstört; und weil die Beziehungen zwischen den Menschen und ihren Charakteren, ihren Gewohnheiten und Lebensarten nun einmal die Regeln des Stils sind, so haben wir, da sie fehlen, gleich nach den Ereignissen der französischen Revolution eine Epoche ohne Stil. Unter allen sozialen Änderungen, die die französische Revolution mit sich brachte, fällt eine wohl am meisten in die Augen: das Geld ist in andere Hände übergegangen und wird folglich auch zu anderen Zwecken als vorher gebraucht. Damit verschwanden alle Handwerke, die ungeeignet schienen, das neue Ziel, d. h. "Reichtum", zu erlangen; und andere, die den Handwerkern, die sie ausübten, nur einen sehr bescheidenen Wohlstand verschafft hatten, wurden mittels neuer Formeln und einer neuen kommerziellen und industriellen Organisation ausgebeutet, einer Organisation, die diese Handwerke den neuen sozialen Bedingungen anpaßte. Gegen eine solche Entwicklung hätte niemand siegreich kämpfen können, und übrigens waren die in Bewegung gesetzten Kräfte mächtig genug, allem zu widerstehen. Die Überzeugung, daß wir uns alle bereichern müssen, liegt in dem Wesen der heutigen Zeit; dieser Gedanke hat die Menschheit zu den wunderbarsten Entdeckungen geführt, und uns ward das ungeheure Glück, sie als die ersten genossen zu haben. Es scheint wirklich, als ob unsere Generation darin besonders bevorzugt sei und ich hege die Überzeugung, daß sie zu großen Dingen ausersehen ist; unter ihnen wird die definitive Festlegung des Stils unserer Epoche wohl eins der glorreichsten sein. Selbst der Gedanke, daß wir uns alle bereichern müssen, ist mir heilig. Wenn man ein wenig nachdenkt, erscheint es natürlich, daß, sobald ein solcher Gedanke die Menschheit überfiel, die sich bis dahin unter dem Druck eines Klassenideals entwickelt hatte, das höchstens einigen unter ihnen erlaubte, sich zu bereichern und über alle materiellen Güter zu verfügen. Wenn man darüber ein wenig nachdenkt, findet man es natürlich, daß nach der französischen Revolution von 1793 die verirrte Menschheit zu den wirksamsten Mitteln griff, um so schnell wie möglich diese Sucht nach Bereicherung zu befriedigen. Aus der Gleichberechtigung Aller folgte, daß alle Mittel zur Anwendung gut schienen, und daß vorzugsweise die gebraucht wurden, die am schnellsten zum neuen Ziele führten. Dieser Augenblick bezeichnet den Umschwung, der zur Herrschaft des Häßlichen führte, etwas derart Häßlichem, daß noch kein Jahrhundert etwas Ähnliches gesehen hatte. Instinktiv fühlten Handwerker und Arbeiter, daß die Schönheit an diesem Jahrhundertende tot war und daß, um das neue Ziel ihrer Existenz erreichen und die neue gebieterische Pflicht der Bereicherung erfüllen zu können, sie nicht mehr daran denken durften, die Wünsche zu befriedigen, die die Menschen nicht mehr hatten. Die Schönheit lag als treuer Diener auf den Leichen derer begraben, denen sie gedient hatte - auf den Leichen derer, die ihrem Kultus wirklich gehuldigt hatten. Dennoch glaube ich, daß die Menschen zur Zeit der französischen Revolution die Schönheit ebensowenig haßten, als sie nach meiner Meinung die Adeligen, Priester und Könige wirklich gehaßt haben. Die französische Revolution war vielmehr ein Ausbruch unbezwingbarer Urkraft, die in die Welt geschleudert wurde, wie wenn ein Wildbach, der durch irgend ein Naturereignis auf einem Gipfel plötzlich entstanden ist, seine wilden tobenden Wasser herabstürzt und Blöcke und Felsstücke mit sich reißt. Die Kultur der antiken Welt verschwand so durch einen Ausbruch von unabwendbaren Kräften. Die Kultur des Mittelalters und der Renaissance stürzte auf dieselbe Weise unter einem neuen Ausbruch von brutalen Kräften zusammen. Nur die Schwachen klagen über diese unabänderlichen Dinge, die Starken staunen im Gegenteil über dieses fruchtbare und machtvolle Wechselspiel. Ganz allein nach Schönheit schreien, während die ganze Menschheit nach Gewinn schrie, und sich einbilden, daß man die Stimme eines einzelnen hören würde, das hieß sich unvernünftigerweise Illusionen hingeben. Und die Unvernunft wäre noch um so größer, wenn man dem, was einen so herrlichen Aufschwung nimmt und so glänzende pekuniäre Erfolge erzielt, nur das gegenüber zu stellen fände, was früher vor dieser Revolution existiert hat. Der englische Ästhetiker Ruskin wagte es trotzdem, den unvernünftigen Vorschläg zu machen, die mittelalterliche Tradition wieder aufzunehmen und die aufgehobenen Innungen, ihre Regeln und Gebräuche wieder einzuführen; Ruskin schlug vor, auf den industriellen Betriebsmodus zu verzichten und die Fabriken zu unterdrücken, weil diese die Landschaften, die er liebte, in Rauch hüllten; Ruskin verwünschte die Eisenbahnzüge, weil sie in dem Augenblick pfiffen, wo er dem Rauschen eines kleinen Baches lauschte.

Es ist zu bewundern, wie zähe und eigensinnig Ruskin an seinen nutzlosen Klagen festhielt, die wirklich keinen andern praktischen Zweck hatten, als daß sie die Geduld der Künstler und der Fanatiker der Schönheit stärkten und die Zeit, da diese auf die Schönheit warten mußten, verkürzen halfen. Die Künstler nahmen inzwischen heftig Stellung gingen die Industriellen, und dadurch wurde die Schönheit noch mehr aus Gebieten verbannt, über die die Industriellen um so aufmerksamer wachten, als sie überzeugt waren, ihr Ziel, d. h. "Geld zu verdienen", nur dadurch zu erreichen, daß sie die Schönheit ganz systematisch aus dem Bereich ihrer Fabrikation ausschlossen. Das Kapital und die Art und Weise seiner nutzbringenden Anwendung änderten den Grundgedanken der industriellen Wirtschaft derart, daß ihre Basis eine ganz andere wurde. Vor der Abschaffung der Zünfte, welche die Bedingungen festsetzten, die ein Geselle erfüllt haben mußte, ehe er "Meister" werden konnte, und die ihm die moralischen Pflichten dieser Würde auf erlegten, vor der Abschaffung der Zünfte, in denen die französische Revolution nur die Befestigung eines Privilegiums erkennen konnte, das übrigens zu einem wahren Mißbrauch ausgeartet war, konnte den Handwerkern nur der eine Gedanke in den Sinn kommen: den Konkurrenten durch bessere Arbeit zu überbieten. Diese Überzeugung übertrug sich vom Meister auf den Gesellen, vom Gesellen auf den Lehrling; sie gab der Handarbeit den moralischen Wert. Diese Moralität und der Wert der Handarbeit wurden von den führenden Klassen anerkannt, die genau wußten, was sie wollten, und in diesem Wunsche selbst eine Tradition sahen. Nach der Abschaffung des Zunftgesetzes änderten sich die Bedingungen der Konkurrenz derart, daß es nicht mehr darauf ankam, es am besten zu machen und gewissenhaft die von einer Kundschaft bestimmt ausgedrückten Wünsche zu befriedigen; im Gegenteil, die Handwerker wetteiferten nun in der schlechten Massenausführung der Gegenstände, welche die Abnehmer nur deshalb befriedigen konnten, weil sie nicht mehr wußten, was sie wollten. Die absolute Freiheit in der Ausübung der verschiedenen Handwerke zog bald Leute herbei, die das ausnutzten und sich keine Gedanken darüber machten, die Handwerke schlecht zu betreiben, und was früher unmöglich gewesen wäre, wurde jetzt nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Die Gegenstände, die der Handwerker bis jetzt nur auf Bestellung langsam und ehrfurchtsvoll angefertigt, für die er das Material lange vorher vorbereitet und unter vielem andern mit Liebe ausgewählt hatte, die er dem geduldigen Kunden dann endlich ablieferte, der die Langsamkeit, die Sorgfalt und auch den Lohn des Handwerkers ehrte, diese Gegenstände, die den Stempel der Individualität des Handwerkers, sowie auch den des Bestellers trugen, sollten nun im voraus, in Massen von vielen Tausenden angefertigt werden, in rasender Geschwindigkeit mittels Maschinen und in geringem und gefälschtem Material. Sie sollten mit einemmal allen denen als Lockspeise hingeworfen werden, die die ehemalige Mark nur in Pfennigen bezahlen wollten. Von da ab rechnete der Handwerker auf die ursprüngliche Roheit dieser neuen Kundschaft, die sich nicht auf die Feinheiten der Ausführung und des Handwerks verstand, und sah die mächtige Anziehungskraft voraus, die die stete Veränderung und die Billigkeit auf das neue Publikum ausüben würden. Diesem Augenblick und diesen neuen Bedingungen verdanken wir das eigentliche Entstehen der Modenfolge. Seitdem ersetzt die Mode den Stil. Eine solche moralische Atmosphäre vernichtete die Existenz und die Stellung des Handwerkers. Die materiellen Mittel, über die der Handwerker verfügte, Werkzeug, Material und Kapital, genügten bald nicht mehr den Anforderungen des Publikums, das immer schnelleren Wechsel und immer größere Billigkeit verlangte; und so kam es, daß ein Handwerker nach dem andern verschwand. Die sozialen Bedingungen aber, die den Handwerker getötet hatten, waren den Industriellen, die sich auf den neuen Grundlagen entwickeln und breit machen konnten, günstig. Die Basis, auf der die Industrie sich entwickelte, war erfolgreich ohne jede Größe. Ich will ihr keinen Vorwurf daraus machen, ich sage nur, wie es sich verhält. Die Industrie leidet darunter, daß die Schönheit und die Freude, diese beiden guten Feen, nicht an ihrer Wiege gestanden haben. Unter den gegenwärtigen industriellen Betriebsbedingungen kann der Industrielle oder der Fabrikdirektor keine Liebe zu den von ihm fabrizierten Produkten haben. Die Gesetze, welche alle seine Handlungen, alle seine Gedanken beherrschen, sind finanzieller Natur. Heute handelt es sich nicht mehr darum, Gutes und Schönes zu fabrizieren, sondern nur Geschäfte zu machen. Daß der Handwerksmeister sich deshalb in einen Industriellen oder einen Fabrikdirektor verwandelte, wurde für die Güte der Produkte und ihren künstlerischen Wert verhängnisvoll. In der Tatsache, daß keine moralischen Beziehungen, keine Liebe mehr zwischen dem fabrizierten Gegenstand und dem Fabrikanten existieren, liegt eine solche Anomalie, daß bei andern Sachen als Möbeln, Porzellan, Glas, Silberwaren, Stoffen usw. sich das öffentliche Gewissen längst geregt hätte. Es würde gerechte Forderungen aufstellen und von dem Fabrikanten ebensoviel Liebe zu den Sachen, die er herstellt, verlangen, wie man sie von einem Kutscher für sein Pferd, vom Gärtner für die Blumen und die Früchte, die er pflegt, von der Köchin für den Braten oder den Auflauf, den sie bereitet, verlangt. Der Fortbestand dieser moralischen Beziehungen bewirkt es, daß wir uns noch über den Anblick schöner Pferde freuen, uns mit schönen Blumen umgeben und schöne Früchte essen können; diese fortbestehenden moralischen Beziehungen machen die guten Beefsteaks und die gut gelungenen Soufflés; sie machen die guten Kutscher, die guten Gärtner und die guten Köchinnen. Ähnliche moralische Beziehungen wären imstande, gute Industrielle und gute Industrieen zu erzeugen. Wenn ich nicht glaubte, daß es in Zukunft möglich wäre, die moralischen Beziehungen zwischen den Industriellen und Fabrikanten und den Gegenständen, die sie fabrizieren, wieder herzustellen, so müßte ich auf jegliche Hoffnung verzichten, die Schönheit mit den Gegenständen, die zum Gebrauch und zur Verschönerung des materiellen Lebens bestimmt sind, zu versöhnen. Aber gewisse Umstände haben mir doch Hoffnung gemacht. Einmal sehen wir, daß nicht die ganze Industrie mit den althergebrachten moralischen Beziehungen zwischen dem, der produziert, und dem Produkt selbst gebrochen hat, da es in Wirklichkeit nur gerade die Kunstindustrieen sind, die gänzlich dieser Tradition entsagen. Von den kleinen elektrischen Apparaten, den telephonischen und den telegraphischen, den elektrischen Birnen und den elektrischen Instrumenten für Massagezwecke bis zu den großen mächtigen Dampfmaschinen, tragen alle diese Gegenstände das Merkmal einer Eigenschaft, die sich definieren läßt als:  d a s  B e m ü h e n,  e s   s o  g u t  w i e  m ö g l i c h  z u  m a c h e n. Dieses Bemühen gibt ihnen einen unbestreitbaren Zug von Schönheit, einer ewigen Schönheit. Wenn die Entwicklung des Themas, daß das moderne Leben schöne Dinge hervorbringt, deren Wesentliche Eigenschaft genau dieselbe ist wie die, welche das Wesentlichste der antiken Schönheit ausmachte, auch nicht in den Rahmen dieses Kapitels paßt, so hilft mir das Gesagte doch, der Idee mehr Nachdruck zu verleihen, daß, wenn die moderne Industrie in den neuen Zweigen des industriellen Betriebs traditionell sein kann, sie es auch in den Zweigen sein könnte und müßte, welche ehemals die Beschäftigung der Handwerker waren und die jetzt Industrieen geworden sind. Wir haben schon jetzt um uns herum genug schöne Gegenstände, aber wir sind nicht hellsehend genug, sie zu bemerken.

Man behauptet nur zu gern und zu leichtfertig, daß die maschinelle Fabrikation die Ursache sei, weshalb die Erzeugnisse des Kunstgewerbes schlechter geworden sind, und daß der heutige Verfall dieser Erzeugnisse die Folge davon ist, daß wir der Maschine die Ausführung dessen überlassen, was früher mit der Hand gemacht wurde. Ich behaupte, daß der Verfall nicht am neuen maschinellen Betrieb liegt, sondern an dem Geist, der den Betrieb leitet. Ich gebe gern zu, daß die maschinelle Fabrikation der Schönheit einiger Gegenstände schadet, daß ich noch heute das mit der Hand gewebte Tischzeug dem mit der Maschine hergestellten vorziehe, daß ich das mit der Hand getriebene Silber lieber habe, als das mit der Maschine geprägte; aber ich schätze diese mit der Hand ausgeführte Leinwand und Silbergegenstände nur so lange, als die Hände, die sie hervorgebracht haben, von jenem Geist und jener Absicht geleitet werden, es so gut wie möglich zu machen. Dieser Geist und diese Absicht können in den meisten Fällen auch mit der Maschine Vortreffliches erzeugen. Die beiden tyrannischen Gesetze, die Billigkeit und der Export, die auf der Industrie lasten, haben diese sicher eher als das mechanische Werkzeug zum Verfall geführt. Die Industriellen haben sich auf ein viel gewagteres Gebiet begeben, als sie gedacht hatten. Die Gesetze der Billigkeit und des Exports sind keine gesunden Grundlagen, und die Unzufriedenheit der Industriellen findet ihre Erklärung in den immer wachsenden Schwierigkeiten des industriellen Betriebes; die Industrie kann kaum atmen, so fest ist sie in die Zange eingeklemmt. Die Billigkeit und der Export erdrücken sie, und nach welcher Seite sie sich auch wendet, ich meine nach den beiden Richtungen, von denen sie immer ihr Heil erwartet hat, sieht sie nichts anderes als böse Traumgesichter. Die Billigkeit hat das Antlitz eines roten Ungeheuers, das ihr zuruft: "Auf diesem Wege kannst du nicht weiter gehen!" und aus vollem Halse schreit es ihr die Arbeiterforderungen entgegen: Verminderung der Arbeitszeit, Erhöhung der Löhne. Dabei zeigt es die Faust, und die Industrie weiß, daß kein Widerstand möglich ist. Der Export aber hat das Aussehen eines schwarzgelben Ungetüms angenommen; es ist halb Neger, halb Asiate. Es reitet auf Maschinen, die "billige" Produkte erzeugen, die es nach China, Japan, Indien und Persien bringt, die es ins südlichste Afrika und ins entfernteste Patagonien schafft. Ich möchte glauben, daß viele Industrielle zuweilen an die sichere, treue und gefällige Kundschaft denken, für die ihre Großväter arbeiteten, daß sie sich der Namen dieser Kunden, ihres Aussehens, der Ereignisse, die ihr Leben erschüttert oder beglückt haben, erinnern. Was wissen sie heute von ihrer Kundschaft, die die Masse ist, von der Masse, die ihre Kundschaft ist; der hiesigen Masse, der der Nachbarländer, der der fünf Erdteile; der Masse, die sich verliert, sobald man sie gewonnen hat; die wieder unbekannt wird, sobald man sie kennt; der Masse, deren Zahlungsfähigkeit unsicher ist, die aber doch von allen derart begehrt wird, daß die Nationen sich um ihretwillen mit Zolltarifen und auch mit Kanonen bekriegen? Der Industrielle empfindet diese Erinnerungen eher mit Bitterkeit als mit Rührung. Der Glaube ist noch zu fest in ihm eingewurzelt, daß das einzige Heil die Billigkeit ist, und daß er nur abscheuliche, schlecht ausgeführte Sachen, deren er sich selbst schämt, exportieren kann. Ja, ich möchte feststellen, daß die Industrie keinen einzigen Augenblick daran denkt, sich selbst wegen dieses traurigen Standes der Dinge anzuklagen, und daß derjenige unter uns, der versuchen würde, sie zur Vernunft zu bringen und sie davon zu überzeugen, daß das Heil auf einer ganz andern Seite als bei der Billigkeit und dem Export liegt, Aussicht hätte, von ihr als Träumer behandelt zu werden. Unter den Künstlern aber gibt es Träumer dieses Schlages. Sie haben die Hoffnung auf die Rückkehr der Schönheit noch nicht aufgegeben, sie träumen von ihr, aber sie träumen wirklich nur, wenn sie an sie denken. Sonst sind sie wach, aufmerksam und gründlich; die Realitäten begeistern sie, weil jede von ihnen ihre Hoffnungen hebt oder senkt, gleichwie die Welle es mit dem Aste macht, den der Sturm ins Meer geworfen hat. Die einzige Hoffnung auf Erlösung, die für die Industriellen noch möglich ist, ist die, daß wir bald einen "Stil" haben, der ihnen vergönnen wird, etwas Geistesruhe zu genießen; es ist die einzige Hoffnung, die er haben kann, sich der Herstellung eines immer besser werdenden Erzeugnisses zu widmen, es ist die einzige wirkliche Garantie für seine engagierten Kapitalien... Der Gedanke der Einführung eines neuen Stils ist befreiend. Er wird uns von dem Druck der unaufhörlichen, rastlosen Aufeinanderfolge der Moden befreien, durch die das Publikum das Gefühl für guten Geschmack und für Schönheit verloren hat. Sie haben den Industriellen erhebliche Modellkosten und oft großes Risiko verursacht. Hätten die Modelle, um deren Ausnutzung es sich für die Industriellen handelte, den Stempel eines anerkannten Stils getragen, so wäre es möglich gewesen, den Kostenaufwand zu vermeiden, oder aber man hätte ihn der Qualität des Materials und der Ausführung der Gegenstände zugute kommen lassen können. In der industriellen Welt haben diese Kosten und dieses Risiko eine Atmosphäre der Unruhe und Unsicherheit hervorgerufen und tiefe Verstimmung zwischen den Gliedern ein und derselben Korporation. Die Industriellen, die über genügende Geldmittel verfügen und die fähige Künstler beschäftigen oder sich an bekannte Künstler wenden können, zittern bei dem Gedanken, daß ihre Modelle kopiert werden könnten, bevor sie sie als Neuigkeiten auf den Markt gebracht haben, - oder aber, daß man sie nachahme, noch ehe die Modellkosten durch den Verkauf gedeckt sind. Sie blicken verdrießlich auf die kleinen Industriellen, die auf der Jagd sind nach allem, was ihnen vor Augen kommt, und die Kataloge ihrer mächtigsten Konkurrenten erbarmungslos plündern. Auf schamlose Art bestehlen die Industriellen einander, und die Künstler, die im guten Glauben sind, ihre Arbeit einem Einzigen gewidmet zu haben, sehen sie, gegen ihren Willen, von Allen ausgenutzt. Ihre Schöpfungen, augenblicklich von andern in Beschlag genommen, werden auf die denkbar niederträchtigste Weise verdorben, - und die unmittelbare Folge davon ist, daß der Originalentwurf durch die Unmenge wertloser Nachahmungen erstickt wird, bevor er seinen heilsamen Einfluß auf den Geschmack des Publikums ausüben und der Sache dienen konnte, die wohlmeinende Künstler und Industrielle fördern wollten. Diese Lage wird fortdauern, bis wir die Ära eines Stils erreicht, bis wir uns seiner Herrschaft gebeugt haben und bis sie uns zurückgeführt haben wird zu den Grundbedingungen, unter denen allein die Schönheit und der gute Geschmack wieder aufleben können!


DAS STREBEN NACH EINEM STIL, DESSEN GRUNDLAGEN AUF VERNÜNFTIGER, LOGISCHER KONZEPTION BERUHEN

GOETHE meint, in einem Gespräch am 25. Aug. 1829, daß das neunzehnte Jahrhundert nicht einfach die Fortsetzung der früheren sei, sondern zum Anfang einer neuen Ära bestimmt scheine; denn solche großen Begebenheiten, wie sie die Welt in seinen ersten Jahren erschütterten, könnten nicht ohne große, ihnen entsprechende Folgen bleiben, wenn diese auch wie das Getreide aus der Saat langsam wachsen und reifen würden. Goethe erwartet sie nicht früher als im Herbste des Jahrhunderts, das ist in seiner zweiten Hälfte, wenn nicht sogar erst in seinem letzten Viertel. Wir können wohl, ohne zu kühn zu sein, annehmen, daß Goethe unter den "entsprechenden Folgen", von denen er redete, auch das Entstehen eines neuen Stils voraussah! Wie oft ist uns ein Vorwurf daraus gemacht worden, daß wir versuchten, die Fundamentalprinzipien und das Wesen eines Stils zu formulieren, dessen Kommen man nicht einmal bestimmt versprechen könne. Wie oft ist uns vorgeworfen worden, daß wir  b e w u ß t  an dem Entstehen eines Stils schafften. Man pflegt diesem  b e w u ß t e n  V o r g e h e n   unsrerseits gern das sogenannte "spontane Werden" der vorangegangenen Stile gegenüber zu stellen. Und unser Recht, an der Geburt eines neuen Stils mitzuarbeiten, möchte man uns nehmen, indem man dem Publikum die Überzeugung einzuimpfen sucht, die Menschheit brauche gar nicht danach zu streben, das Werden der neuen Stile zu erkennen oder zu beeinflussen; sie habe dabei immer nur eine passive Rolle gespielt! Ich bin überzeugt, daß man das "spontane Werden" der alten Stile bestreiten und gewiß leicht beweisen könnte, daß, wenn die Stile des Altertums nicht durch die magische Kraft des einzelnen entstanden sind, sie hervorgingen aus dem gebieterischen Verlangen, Architektur und Kunstgewerbe in Einklang zu bringen mit dem Geist der Handlungen, Gedanken und Gebräuche der Epoche. Streben wir denn in Wahrheit nach etwas anderem? Und wollen wir aus andern Quellen schöpfen, als aus dem eigentlichsten Wesen, dem Geist, der Moral und den Gepflogenheiten unserer modernen Gesellschaft? Suchen wir wo anders den Anhalt für die Grundlagen und die wesentlichen Eigenschaften des Stils, dessen Entstehen wir so sehnlich erwarten? Warum soll dieses Verlangen nach Stil, d. h. nach Harmonie zwischen den Gegenständen und der Richtung des Intellekts und des Gefühls, früher unbewußt gewesen sein? Ich sehe keinen Grund dafür ein. Höchstens stehen wir jenen Zeiten zu fern, als daß die Handlungsweise der Männer, die das Entstehen der Stile beeinflußt haben, uns bekannt und vertraut sei. Aber die Namen der Propagandisten und Apostel der Stile und Stilnuancen jene Epochen, die der unsrigen direkt vorangingen, Namen wie Semper, Morris und Ruskin kennen wir genau. Man kennt auch den Einfluß, den Berain, Watteau und Boucher auf die Entstehung des Rokoko ausgeübt haben, und man weiß, wie unbedingt Napoleon und die Künstler, die sich um ihn geschart hatten, dem Axiom des spontanen Werdens widersprachen. Es mag heutzutage als Überhebung ausgelegt werden, wenn wir uns eine Rolle anmaßen, die einst nur Menschen ausfüllten, deren Ruf im Lauf der Jahre groß genug geworden, um es heute ganz selbstverständlich erscheinen zu lassen, daß man sie damals mit Ehrfurcht anhörte und ihrer Führung folgte. Welchen Augenblick soll man nun wählen, um zu handeln und um Regeln aufzustellen? Soll man es erst tun, wenn der Stil seine vollständige Entwicklung erreicht hat, oder ist es nicht richtiger, wenn die, welche Einsicht und die Gabe des Voraussehens zu besitzen glauben, den Mut zeigen, das, was sie als die Vorzeichen eines neuen Stils erkannt haben, zu formulieren und zu verkünden, damit das subtile Zarte, das seiner eigenen Natur nach so viel Gefahren ausgesetzt ist, mit der nötigen Sorgfalt und Liebe gepflegt werde? Wenn man uns - mit einiger Aussicht auf Erfolg - das Recht abspräche, diese neuen Regeln aufzustellen und die Richtung und die neuen Eigenschaften des menschlichen Geistes zu erforschen, so müßten wir jede Hoffnung auf die Wiederherstellung einer harmonischen Situation aufgeben, gleich jene, die wir durch die Allmacht der Religionen und Kulte bis dahin genossen hatten. In solchem Falle würde uns nichts anderes übrig bleiben, als uns dem erbärmlichen, schmachvollen Stand der Dinge einer Zeit anzupassen, die jeglichen Begriff von Geschmack, jegliches Verständnis der Stile verloren hat, - wir müßten die Hände in den Schoß legen und auf den Messias, den Gründer einer neuen Religion, harren. Ich weiß wohl: manche Ästheten predigen, man solle das Wunder erwarten und die Hände in den Schoß legen. Aber mir persönlich paßt diese Stellung gar nicht, ich glaube nicht an die Möglichkeit einer neuen Religion, und man muß wohl annehmen, daß ich nicht der einzige bin, der die Untätigkeit verachtet, und der sein mangelndes Vertrauen in das Entstehen einer neuen Religion offen eingesteht, da wir doch mehrere sind, die, ohne sich im geringsten stören zu lassen, daran arbeiten, die Grundlagen eines neuen Stils festzustellen. In dem Kapitel "Prinzipielle Erklärungen" (in meinen "Laienpredigten") habe ich mit besonderem Nachdruck die Tatsache festgestellt, daß unser Geist weniger verderbt ist als unsere Augen, daß er auf jede Beweisführung reagiert, die ihm den Nonsens und die Verirrung in architektonischen und kunstgewerblichen Dingen offenbart, die er bis dahin anzunehmen gewohnt war und wie Erworbenes von anerkannter Berechtigung auf Existenz und Gebrauch betrachtete. Ich erklärte bereitwilligst, daß mein Optimismus und meine Hoffnung auf eine Renaissance der modernen Architektur und des Kunstgewerbes eben auf dem Vorteil basiert, den unser Gehirn vor unsern Augen voraus hat. Um den Beweis für die Wahrheit zu liefern, die ich verkündete, machte ich das Experiment, kunstgewerbliche oder architektonische Gegenstände zu beschreiben, an die sich unsere Augen so gewöhnt hatten, daß sie weder den Nonsens noch die Verirrung in ihnen gewahrten, und über die sich unser Verstand schon seit langem keine Rechenschaft mehr abgelegt hatte.

Die verschiedenen Beschreibungen, die auf solche Weise zum erstenmal seit langer Zeit wieder in unser Gehirn drangen, gaben Anlaß zu unwiderstehlichem Gelächter, so komisch wirkte die maßlose Unsinnigkeit dieser Dinge. Aber trotzdem das Gelächter meiner Zuhörer offenbar den Nonsens bestätigte und trotzdem diese Bestätigung anscheinend alle diejenigen überzeugt hatte, welche diese Beschreibungen mit angehört oder gelesen, - trotzdem kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß jene, die anscheinend so plötzlich belehrt und auf den Weg der logischen und vernünftigen Auffassung zurückgeführt waren, daß jene sofort wieder ihren alten Götzen huldigen und ihrem Gehirn die Kontrolle über all das übertragen werden, was ihre Augen einst schön fanden und wieder zu lieben bereit waren! Die Tendenz, die unsere Schaffenskraft dazu führt, dasjenige aus der Sentimentalität zu schöpfen, was sie im Bereiche unseres Verstandes, im Verein mit ästhetischer Sensibilität, finden müßte, diese Tendenz hat in der geschichtlichen Entwicklung der Stile mehrere Male die Hoffnungen zerstört, die man auf das Entstehen eines Stils berechtigterweise setzen konnte, der seine Entwicklung im Sinne einer vernünftigen, überlegten Auffassung der Dinge erreichen würde! So oft sind Hoffnungen erweckt und wieder vernichtet wie die, welche die ersten schönen Februartage jedes Jahr ins uns erwecken, und die der zurückkehrende Winter jedesmal mit rauher Kälte zerstört. Es ist ein endloser Konflikt, und vielleicht ist es unvernünftig, sich der Hoffnung hinzugeben, daß wir über das triumphieren werden, was bisher noch immer die Vernunft irre gemacht hat. - Die elementarste Vorsicht gebietet uns deswegen, der Vernunft den Garten der Gefühle und Empfindsamkeiten zu verschließen. In ihm hat man die Wahl zwischen viel zu viel einschmeichelnden, unwiderstehlichen Attraktionen, und wollte man darin mit der Illusion umherirren, dort Werke schaffen zu können, deren Vernunft und Logik von graziösen, gefühlvollen und pathetischen Motiven umkränzt sein würden, so müßte man schon blind sein und Vernunft und Logik nicht mehr von Wahnsinn unterscheiden können! Die Geschichte der Kunst liefert uns für diese unheilvolle Illusion eine Menge Beispiele und das Schauspiel der Aufeinanderfolge ganzer Perioden, in denen diese Illusion solche Verheerungen verursachte, daß wir noch heute mit ihren Wirkungen erblich belastet sind. Nur eine strenge Disziplin kann uns den Weg zum Stil bahnen. Ihre Regeln beziehen sich auf alles, was man überhaupt zu Architektur und Kunstgewerbe im weitesten Begriff rechnen kann; sie haben schon den Geist der meisten Künstler der gegenwärtigen Generation durchdrungen. Ich habe zu verschiedenen Malen versucht, die Regeln zu formulieren: "Du sollst die Form und die Konstruktion aller Gegenstände nur im Sinne ihrer elementaren, strengsten Logik und Daseinsberechtigung erfassen. Du sollst diese Formen und Konstruktionen dem wesentlichen Gebrauch des Materials, das du anwendest, anpassen und unterordnen. Und wenn dich der Wunsch beseelt, diese Formen und Konstruktionen zu verschönern, so gib dich dem Verlangen nach Raffinement, zu welchem dich deine ästhetische Sensibilität oder dein Geschmack für Ornamentik - welcher Art sie auch sei - inspirieren wird, nur insoweit hin, als du das Recht und das wesentliche Aussehen dieser Formen und Konstruktionen achten und beibehalten kannst!" Man braucht solche Prinzipien nur auszusprechen, um sie geltend zu machen. Sind sie fähig, einen neuen Stil ins Leben zu rufen, dessen Entwicklung in keiner Weise gehemmt und dessen Rechte auf Phantasie und künstlerische Sensibilität in keiner Weise beschränkt sein würden? Bewiesen ist, daß diese Prinzipien fruchtbar sind. Unter den alten Stilen liefert der griechische Stil den schlagendsten Beweis einer normalen Entwicklung. Und gerade sie ist die Folge einer strikten Anwendung dieser Prinzipien; in keiner Weise haben die strengen Gesetze des griechischen Stils zu schwer auf der kostbarsten und zartesten Phantasie gelastet, und die künstlerische Sensibilität wurde nie weniger gehemmt, wurde nie stärker angeregt, besaß nie größere Möglichkeiten zur Anwendung raffiniertester Feinheiten! Ebenso hat der gotische Stil, der sichtlich auf demselben Prinzip basiert, seinen Höhepunkt in Kathedralen und Domen erreicht. Wann hätte wohl die Phantasie ihr Spiel freier getrieben, und wo wäre ein hemmender Einfluß in den Grundrissen und Raumverteilungen zu spüren? Und hemmt irgend etwas die Feinheiten der Linie, der Farbe und des Helldunkels, das die kunstreichen und unerschöpflichen Baumeister des Mittelalters in ihren Bauten anstrebten? Die Prinzipien, die wir als Regel vorschlagen, sind nicht unfruchtbar, und wenn man uns auch oft vorgeworfen hat, wir führten die Architektur und das Kunstgewerbe in eine Sackgasse, so kann uns das nicht weiter berühren. Hinter diesen Prinzipien gewahren wir ein offenes und freies Feld. Und wir fügen niemandem ein Unecht zu, wenn wir danach streben, allen eine strenge Disziplin aufzuerlegen. Solche Disziplin ist nicht neu, sie ruht auf dem Grunde des menschlichen Geistes, und sie lockert sich nur periodisch. Wenn wir entschlossen sind, nie mehr das anzuwenden, was wir als unsinnig eingesehen haben; wenn wir entschlossen sind, uns eine logische Auffassung alles dessen anzueignen, was wir als unlogisch erkannt haben, dann arbeiten wir an der Entstehung eines neuen Stils, seien wir Laien, Künstler oder Handwerker! Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß  A l l e,  A l l e  am neuen Stil mitarbeiten können! Bei beinahe allen Berufen gibt es überlieferte Formen von Gegenständen, die der Handwerker, ohne nachzudenken, immer wieder macht, weil er schon lange daran gewöhnt ist. Nicht nur der Architekt ist schuldig, der den Gebrauch architektonischer Details und Ornamente fortsetzt, die gar keinen Sinn mehr haben und die sich in keiner Hinsicht mehr rechtfertigen lassen. Auch der Tischler ist schuldig, der auf Rücken und Armlehnen seines Sessels Löwenköpfe anbringt, zwischen deren Zähnen man einen Metallring eingelassen hat; er ist schuldig, weil er ohne Kontrolle ein Ornament anbrachte, das einst auf den Paneelen der Tür einen gewissen Sinn, eine gewisse Bedeutung dadurch hatte, daß man an dem Ring ziehen und damit anklopfen konnte. Der Goldschmied ist schuldig, der unentwegt fortfährt, Löffel und Gabel zu prägen, die, obgleich sie heutzutage aus einem Stück hergestellt werden, doch klar und deutlich den Stempel der früheren Herstellungsweise tragen, d. h. aus zwei Teilen bestehen: einst setzte man nämlich den Stiel und die Laffe des Löffels zusammen und die Zinken an den Stiel der Gabel. Die Beweggründe, die einst vorhanden waren und dieses "Zusammensetzen" rechtfertigten, sind heutzutage nicht mehr vorhanden, und die Zeiten liegen fern, wo die Laffe des Löffels und die Zinken der Gabel aus einem andern Material bestanden als die Stiele. Aber dieses "Zusammensetzen", das nur eine unumgängliche Konstruktionsbedingung war, hat sich in dem Gehirn des Publikums und der Handwerker so mit der Form des Löffels und der Gabel identifiziert, daß man heutzutage Gegenstände aus einem Stück prägt, die den Eindruck des "Zusammengesetztseins" erwecken sollen, und die dadurch ihr hauptsächlichstes Ornament erhalten. Wie kommt es, daß ein solches "Nachleben" nicht zur Überlegung anregt und nicht sofort die Vernunft zur Empörung reizt? Wie kommt es, daß man die Aufmerksamkeit erst darauf lenken muß?

Es ist noch nicht lange her, daß wir die Behauptung geltend machten, es sei unsinnig, daß man bei den meisten Kronleuchtern und Beleuchtungskörpern die Form des Behälters, der bei dem Gebrauch von Öl oder Petroleum unentbehrlich war, als Ausgangspunkt für die Konstruktion von Gasbeleuchtungen beibehalten habe. Es sei unsinnig, daß die, welche sich endlich von dem Joch der Form des Lampenbehälters bei den Gaskronleuchtern freigemacht und die Daseinsberechtigung der Rohre in ihrer verschiedenen organischen Art und Weise betonen, jetzt fortfahren, dieselben Konstruktionen für den Gebrauch von Elektrizität zu benutzen, deren eigentlichste und eigenste Natur darin besteht, durch Drähte und nicht durch Rohre geleitet zu werden. Und an wie viel mehr Beispielen könnte ich ähnliche Fehler gegen den eigentlichen Sinn und die Daseinsberechtigung der Dinge nachweisen! Auf allen Gebieten der menschlichen Arbeit, in allen Handwerken gibt es noch solch ein "Nachleben", und es sind nur wenig Handwerker, die nicht über dem Sinn dessen, was sie schaffen, eingeschlafen sind! Der Schneider; der fortfährt, Knöpfe auf die Ärmel und auf den Rücken unseres Gehrocks zu setzen, der fortfährt, die Kragen einzuschneiden, huldigt dem alten Schlendrian und denkt nicht daran, daß einst der Sinn dieser Knöpfe sich rechtfertigte, zu der Zeit nämlich, da wir unsere Ärmel rafften, die Schöße unseres Gehrocks zurückschlugen, Gehrock und Jackett bis an den Hals hinauf zuknöpften. Die Unsinnigkeiten, die die Schneiderinnen und Putzmacherinnen begehen, sind zahllos und unbeschreiblich, und unter dem Gewerbe der Männer lassen sich mit ihnen in dieser Hinsicht nur die Tapezierer vergleichen! Ihre Fehler sind ebenso zahllos und unbeschreiblich. Es würde sich der Mühe lohnen, alle Abirrungen der Formen und Ornamente auf zuzählen, gerade weil die Mitarbeit eines Jeden am neuen Stil darin besteht und in dem Augenblick beginnt, wo er sich Rechenschaft ablegt über den Sinn und die Daseinsberechtigung der Formen und Ornamente der Gegenstände, die er schafft, ausführt oder benutzt! Es ist also nicht paradox, wenn ich behaupte, daß alle Handwerker, alle Gewerbe, alle Arbeiter, auf was für einem Gebiet der menschlichen Tätigkeit es auch sei, an der Entstehung des neuen Stils mithelfen können. Der Architekt sowohl als der Tischler, der Goldschmied, der Schneider, der Schuster, der Tapezierer, die Schneiderin und die Putzmacherin; der Bäcker, der über die Form der "Weißbrötchen", der Kaufmann, der über die verschiedenen Behälter nachdenkt, in denen er Käse und Konserven zum Kauf anbietet, der Friseur, der sich den Sinn der Haartrachten und des Schnurrbartschnittes klar macht: sie alle arbeiten daran, die wesentlichen Formen alles dessen, was im Leben vorkommt, wiederzufinden. Diese Formen sind nämlich hinter undurchdringlichen Masken versteckt, und alle früheren Stile haben dazu beigetragen, ihre Undurchdringlichkeit zu erhöhen. Der Renaissancestil wurde auf den gotischen Stil gepfropft, Barock und Rokoko haben das ihrige zur Vervollständigung der Maske getan, und das Empire und der Empirestil haben gleichfalls zur Entstellung beigetragen. Nur wenige unter uns haben noch eine klare Vorstellung von der wesentlichen Form und Konstruktion eines Schrankes, eines Tisches, eines Bettes oder eines Lehnsessels. Diese Gegenstände stellen sich nicht zuerst als Nutz- und Zweckform dar, sondern etwa als Adlerklauen, die große Kugeln umkrallen, als geschnitzte Delphine, die ihren Schwanz zurückbiegen, um eine Platte zu tragen, als Tempel mit Säulenhallen und simulierten endlosen Galerien, als Kähne, von Schwänen gezogen und von geflügelten Amoretten zum Gefilde der Seligen geleitet, oder als ein Wirrwarr von Gesträuchen, Wurzeln und Rachen phantastischer Tiere. Aber glücklicherweise ist dies doch schon die Anschauungsweise vergangener Zeiten; heutzutage haben wir die Masken abgenommen und fangen an, in das wahre Gesicht der Dinge zu schauen. Die Einsicht, daß das eine "Maskerade" ist und daß man sich ebensogut lächerlich machen würde, mit alten architektonischen Elementen weiter zu bauen, als im Kostüm Louis XV. oder im Empirekostüm auf unseren von elektrischen Bahnen, Fahrrädern und Automobilen belebten Straßen zu erscheinen, die Einsicht ist durchgedrungen. Der monumentale gesunde Menschenverstand Goethes stellte das Lächerliche dieser Dinge bloß und erfand das Wort "Maskerade". In einem Gespräch mit Eckermann über den neuesten Geschmack, ganze Zimmer in altdeutscher und gotischer Art einzurichten und in einer solchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen, äußerte er: "In einem Hause, wo so viele Zimmer sind, daß man einige derselben leer stehen läßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei- oder viermal hineinkommt, mag eine solche Liebhaberei hingehen, und man mag auch ein gotisches Zimmer haben, so wie ich es ganz hübsch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein chinesisches Zimmer hat. Allein sein Wohnzimmer mit so fremder und veralteter Umgebung auszustatten, kann ich nicht loben; es ist immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in keiner Hinsicht wohltun kann, vielmehr auf den Menschen, der sich damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn so etwas steht in Widerspruch mit dem lebendigen Tage, in welchen wir gesetzt sind, und wie es aus einer leeren und hohlen Gesinnungs- und Denkungsweise hervorgeht, so wird es darin bestärken. Es mag wohl einer an einem lustigen Winterabend als Türke zur Maskerade gehen, allein was würden wir von einem Menschen halten, der ein ganzes Jahr in einer solchen Maske sich zeigen wollte? Wir würden von ihm denken, daß er entweder schon verrückt sei oder daß er doch große Anlage habe, es sehr bald zu werden." Wahrlich, das Wort eines Weisen unter Weisen! Es stammt aus dem Jahre 1827. Wie es möglich sein konnte, daß dieses Wort erst nach nahezu einem Jahrhundert einen Widerhall fand, erklärt Goethe selbst: "Aber Sie werden bei weiterem Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen fähig sind, sich auf den Fuß dessen zu setzen,  w a s  s e i n  m u ß."  Und weiter sagt er in den Gesprächen mit Eckermann: "Es ist nie daran zu denken, daß die Vernunft  p o p u l ä r   werde.

Leidenschaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft wird immer nur im Besitze einzelner Vorzüglicher sein." Gerade die Leidenschaften und Gefühle sind es aber leider, die alle architektonischen und dekorativen Elemente am Leben und damit dem ungerechtfertigten und unvernünftigen Gebrauch, gegen den wir ankämpfen, erhalten. Es ist nicht gerade ermutigend, wenn Goethe behauptet, die Vernunft könne niemals populär werden! Und doch glaube ich persönlich an Offenbarungen, wie jene, welche uns auf einmal mit schlagender Gewalt von der Unsinnigkeit einer Sache überzeugen! Gibt es heutzutage wirklich noch einen Menschen, welcher mit dem heutigen, d. h. mit dem modernen Leben Kontakt hat und der das Verschwinden von Säulen, Giebeln, Karyatiden, Konsolen, Türmen, Zinnen und Schießscharten, dem ganzen ornamentalen Kram der Blumengehänge und Girlanden, Urnen und Obelisken, Masken und Fabeltieren bedauern könnte? Kann ein vernünftiger Mensch wirklich bedauern, daß wir das Haus von dem Türmchen befreit haben, das jetzt gar keinen Sinn mehr für uns hat? Jetzt, wo wir unsern Nachbar nicht mehr beobachten brauchen, aus Angst, daß er eines schönen Tages mit bewaffneter Hand unser Haus angreift; jetzt, wo wir Wege und Fahrstraßen nicht mehr zu überwachen haben! Kann ein vernünftiges Wesen bedauern, daß wir seinem Haus Veranden angebaut haben, die keine kleinen Tempel mehr sind, mit Säulen und feierlichen Stufen, auf deren beiden Seiten rätselhafte Sphinxe thronen? Welcher vernünftigeMensch möchte wohl auf einem Balkon stehen, dessen Karyatiden sein Gewicht absichtlich übertreiben, um eine Muskulatur zur Schau tragen zu können, deren Anblick wahrhaftig nicht mit der Erscheinung des Herrn im Überrock und der Dame im Strohhut harmoniert, die sich hinter der Brüstung ergötzen? Daß aber den Leuten heutzutage solcher Nonsens in die Augen fällt, ist das Resultat unserer Arbeit während der letzten fünfzehn Jahre. Es war ein fortgesetzter Kampf gegen die Sinnlosigkeit und gegen die Gewissenlosigkeit, mit der Künstler und Publikum sich darein fügten. Schritt für Schritt haben wir das Terrain erobern müssen. Aber was haben wir auf dem gewonnenen Boden eigentlich wachsen sehen? Durch die Ausstellung in Dresden im vorigen Jahr haben wir rechtzeitig einen Überblick darüber bekommen! Sie hat mit einem Schlage alles in den Schatten gestellt, was  v o r  dieser Ausstellung im Sinne eines neuen Stils geschaffen worden war. Sie hat die Aufmerksamkeit derjenigen, die sich mit dieser Frage beschäftigen, gefesselt, so daß sie nahe daran waren, das Wesen und das Schicksal des neuen Stils mit dem Gelingen und der Physionomie der Ausstellung selbst zu verwechseln. Ein Teil des Publikums wird der Meinung sein, sie habe den Charakter des neuen Stils bestimmt und geweiht; während wir behaupten, daß sie kaum etwas dazu beigetragen hat, ihn zu fördern und seine Entwickelung zu begünstigen, vielmehr in ihr die ernstesten Gefahren erkannt haben, die seine Ausbildung bedrohen. Die Dresdener Ausstellung war offenbar rückschrittlich. Statt daß wir unsere ehemaligen Waffenbrüder an unserer Seite und mutig zur Zukunft schreitend fanden, sahen wir, wie sie auf Wegen wandelten, die nach Damaskus führen oder in die fernen Provinzen, wohin sich unsere Großmütter und Großtanten zurückgezogen hatten. In dem offiziellen Katalog der Dresdener Ausstellung wurde gesagt, daß die Verwirklichung der Prinzipien einer rationellen und konsequenten Konstruktion und der unbedingten Echtheit des Materials die  g e m e i n s a m e   A b s i c h t  aller Aussteller bildet, Leitsätzee, die ich schon vormehr als fünfzehn Jahren aufgestellt hatte. War dies wahr? Hätte ich es gelesen, bevor ich die Ausstellung besuchte, so würde ich mir wirklich eingebildet haben, daß wir ein geordnetes, planmäßiges Zusammenwirken konstatieren und daß wir wirklich dem neuen Stil gegenübergestellt sein würden! Denn besteht nicht der Stil gerade in einer  a l l g e m e i n e n  A b s i c h t , - welcher Art sie auch sei? Und kann man sich dabei die innere Bewegung desjenigen vorstellen, der sich sagt: hier handelt es sich um die Sache, die sein Schicksal besiegelt und die seinen Lebenszweck ausmacht? Aber welcher Täuschung gibt man sich hin, wenn man glaubt, daß wirklich irgendwelche Absicht die sämtlichen Werke durchdrungen habe! Wohl ist der Buchstabe befolgt, - aber der tiefe, einfache Sinn dessen, woraus diese allgemeine Absicht bestehen muß, blieb der Mehrzahl verborgen. In dem offiziellen Katalog ist von einer allgemeinen Absicht die Rede, welche "eine Aufgabe zu lösen versucht, nicht nach vorhandenem Rezept, sondern nach einem Rezept, das sich ergibt aus drei Bedingungen": dem  W e s e n  d e s  Z w e c k e s,  dem der Raum dient, dem  W e s e n  d e r  M a t e r i a l i e n,  die in ihm verwandt wurden, und dem  W e s e n  d e s  M e n s c h e n,  d e r  i h n  s c h u f !

Aber in Wirklichkeit brachte die Dresdener Ausstellung im Gegenteil alle Konzessionen ans Tageslicht und lieferte den Beweis, daß, was die wahre Physionomie des Stils ausmachen muß, für alle Aussteller bis auf drei oder vier Ausnahmen nur toter Buchstabe geblieben war! Außer diesen Ausnahmen, die mehr oder weniger erfolgreich bestrebt sind, nach diesem Rezept - übrigens ein sehr häßliches Wort - zu schaffen, gibt es nur Figuranten, die mit dem "Rezept" kokettieren. In dieser Art von Koketterie waren die meisten Aussteller miteinander verwandt, und da die Verwandtschaft schon seit ungefähr zehn Jahren besteht, hatte man Zeit genug gehabt, ein gewisses "Niveau" zu erreichen, ein gewisses "Genre" zu schaffen. Der Vorgang ist folgender: Ausschließlich alte, bekannte konstruktive und ornamentale Elemente werden verwendet, aber derart, daß sie, obwohl ins "Verschwommen-Weichliche" umgewandelt, immer noch erkennbar sind. Das Knochengerüst, das diese Schöpfungen aufrecht erhält und vor dem Zusammenbruch bewahrt, besteht darin, daß sie die Illusion von bekannten Formen erwecken: frühere Säulen, Kapitäle, Konsolen usw. Um diesen Kern, um diese Illusionen herum liegt eine Wüstenei anderer Formen und Ornamente, die weder organische noch symbolische Bedeutung haben. Ihr Genre ist einfach ekelhaft, und man könnte gar kein besseres Beispiel finden, um zu beweisen, wie unvergleichlich viel schöner alle architektonischen Elemente und Formen der vorangegangenen Perioden in ihrer primitiven und charakteristischen Form sind. Man wird in der Vorliebe, die man vielleicht für die alten Stile hegt, durch den Anblick dieser ohnmächtigen Kundgebungen bestärkt, und selbst diejenigen finden Geschmack an den alten Stilen, die ihn bisher nicht hatten, die ihm vielmehr Mißtrauen entgegenbrachten. Jedermann muß einsehen, daß es nicht notwendig ist, weiter in der Entartung der alten Stile fortzufahren. Wir glaubten uns am Ende dieser Art von Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko, die zum kraftlosen, entarteten und blöden Ausdruck herabgesunken sind, weil sie fortgesetzt von Künstlern und Handwerkern, die niemals in ihnen ihre wesentliche Schönheit erkannt, mißbraucht wurden. Was einst schön, gesund, stark, zweckentsprechend und geistvoll gewesen, sank zum schauerlichsten Zerrbild herab. Wenn damit Ehrfurcht bewiesen werden soll, daß die alten Stile noch um eine Stufe erniedrigt werden, so wollen wir doch Anderen diese Art von Pietät überlassen. Unsere Ehrfurcht wollen wir dadurch beweisen, daß wir das erhabene Alte in Ruhe lassen und daß wir uns einem jeden derartigen Beweis von Ehrfurcht mit aller Kraft widersetzen. Und das tun wir sicher am würdigsten, wenn wir danach streben, etwas ebenso Gesundes, Starkes, Zweckmäßiges und Geistvolles zu schaffen, und wenn wir bestrebt sind, aus denselben Quellen zu schöpfen wie die alten Stile, d. h. aus den intellektuellen, moralischen und sozialen zeitgenössischen Strömungen und aus den Anforderungen, welche die Sensibilität der Epoche stellt. Diese Figuranten verderben mit demselben Eifer die Formen und Ornamente, die wir erfanden, als die Elemente, die ihnen von den alten Stilen zwischen die Finger kamen. Die Handhabung bleibt dieselbe und besteht darin: dem, was wir erfunden und geschaffen haben, gerade genug von seinem ursprünglichen Aussehen zu lassen, um den unleugbaren Beweis liefern zu können, daß etwas Neues, etwas Ungewohntes in ihm steckt! Das Publikum hat Geschmack bewiesen, indem es von diesen Kompromissen nichts wissen wollte. Zum großen Teil hat es sich der Gruppe Biedermeier und Neo-Biedermeier angeschlossen, deren offenbare Absichten das Publikum weniger beunruhigten als die der kleinen Künstlergruppe, die dem wahren Programm des neuen Stils treu geblieben sind. Der Fall "Rückkehr zum Biedermeier" ist augenblicklich an der Tagesordnung, und ich möchte ihn sowohl wie die Laune des Publikums einmal analysieren. Daß diese Epoche faszinierend auf so viele Künstler wirkt, beweist nicht etwa, daß sie unseren Bestrebungen, einen neuen Stil zu schaffen, offenen Widerstand entgegensetzen. Anscheinend geschieht es wirklich aus guter Absicht, wenn diese Schule aus den Quellen der Zeit unserer Großeltern und Urgroßeltern schöpft und wenn sie auf den Geschmack dieser Epochen schwört. Mir wird es nicht schwer, an die besten Absichten Anderer zu glauben. Diese Künstler handeln nur so aus wohlüberlegter Vorsicht; das Gefühl der Vorsicht ist bei jedem von ihnen verschiedenartig und bedingt nicht etwa, daß bei einem jeden eigennützige Berechnung vorliegt. Ihre Absichten bewegen sich gerade im "juste milieu", und es gibt Naturen, auf die der geringste Ausdruck von Leidenschaft oder Tollkühnheit instinktiv abstoßend wirkt, andere, die vor jedem Überschreiten der gewohnten Schranken zurückschrecken, wieder andere, die sich vor dem geringsten Abenteuer, auf welchem Gebiete es auch sei, fürchten. Aber solche Naturen gab es von jeher.

Daß nicht sie es waren, die den gotischen Stil schufen und die der "Renaissance" Leben gaben, brauche ich wohl nicht erst zu betonen, denn diese und andere Stile besitzen gerade das, was jenen Naturen widerstrebt: Leidenschaft, Tollkühnheit, Schrankenlosigkeit und Abenteurerlust! Man kann es mir glauben: in den kritischen Momenten, als diese Stile entstanden, hielten sich jene Charaktere fern; denn Fernbleiben ist ihnen zur zweiten Natur geworden! Aber da die Entwickelung der Stile sich zu jener Zeit weniger geräuschvoll und unauffälliger vollzog, und ohne daß Ausstellungen dazu benutzt worden wären, fühlten sich diese Charaktere zu irgend welchen öffentlichen Bekenntnissen nicht veranlaßt. Die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage fühlt sich Jeder verpflichtet, öffentlich aufzutreten, und die Äußerungen so leidenschaftsloser, vorsichtiger, gemessener und gewohnheitsliebender Naturen können nur von der äußersten Vorsicht eingegeben sein! Am liebsten hätten sie sich gar nicht ausgesprochen, aber sie standen zwischen zwei Feuern: Einesteils befand sich ihr ästhetisches Gefühl in Gefahr, von den Ausschreitungen vergewaltigt zu werden, denen sich die Tapezierer und Dekorateure in ihrer Verirrung hingaben, und die alles, was je an ungesundem Geschmack und Schaffen existiert hatte, übertrafen! Andernteils sahen sie sich bedroht durch die abenteuerlichen Experimente der Neuerer, die diesem schimpflichen Zustand ein Ende machen wollten und mit lautem Kriegsgeschrei zum Angriff stürmten! Die vorsichtigen Naturen kamen dann ganz von selbst dahinter, daß sie in der Vergangenheit einen Ersatz finden konnten für das, was wir in der Zukunft suchen wollten. In einer Vergangenheit, die noch nicht fern lag, die noch nicht ganz vergessen war und die man leicht mit Hilfe der Antiquitätenhändler neu aufleben lassen konnte! "Laßt euer verderbliches Treiben," verkündeten sie auf der einen Seite, "der gute Geschmack ist tot; kehrt zurück zu der Religion eurer Großeltern." Auf der andern Seite predigten sie Ruhe und Mäßigung und sprachen: "Ihr wollt einen Stil, dem eine gesunde, vernünftige Auffassung der Dinge eigen ist; ihr wollt die elementare Grundform aller Dinge wiederfinden, - diesen Stil besitzen wir ja in der Vergangenheit; er ist traditionell, er ist national! Also gebt euch zufrieden und laßt ab von eurem Forschen! Friede wird dann herrschen und jede Aufregung vorüber sein. Bringen wir euch nicht euer Ideal in einer milden, gemäßigten Form? Und glaubt ihr nicht, daß ihr gerührt sein werdet von der Unschuld und Sentimentalität jener Zeit? Dieser Stil erweckt in uns die kindisch-kostbaren Erinnerungen an Romanleidenschaften, nach deren berühmtem Muster wir während unserer Schuljahre schwärmten." Sicherlich hat er dasselbe an sich, was es einem nicht leicht macht, die Rührung zu unterdrücken, welche man verspürt, wenn man ganz alte Tanten besucht, die sich in so weit abgelegene Provinzen zurückgezogen haben, daß man sie kaum noch auf der Landkarte finden kann. Sie leben da in Interieurs, wo liebevolle Pflege und aufmerksame, fortgesetzte Sorgfalt allen Gegenständen eine solche Intensität verleihen, daß ein Tisch, ein Sessel, eine Teekanne und eine Tasse zehnmal mehr Tisch, Sessel, Teekanne und Tasse zu sein scheinen! Ich verstehe deshalb ganz gut, daß Leute für den Biedermeier-Stil schwärmen und sich in einer solchen Umgebung wohl fühlen. Aber man kann sich diese Leute nicht anders als abgebraucht oder müde vorstellen. Man denkt doch nicht ans Verzichten, solange man im Besitz seiner vollen Kraft, seiner Leidenschaften und seiner Sinne ist! Und wer noch mit vollen Zügen aus der goldenen Schale des Lebens trinken darf, schlürft nicht Kamillen- oder Fliedertee aus großen, goldgeränderten Tassen. So kann ich mir nicht vorstellen, wie sich ein Biedermeier-Interieur mit dem rauhen Beruf des Offiziers vertragen soll, oder in welcher Beziehung er zu der nervösen Rastlosigkeit des Journalisten steht! Ich begreife auch nicht, wodurch eine Biedermeier-Einrichtung den modernen Rechtsanwalt an sein Heim fesseln könnte, dessen Beruf von ihm die Fähigkeit verlangt, sich in alle Dramen und Leidenschaften des modernen Lebens, des Handelswesens und der Industrie versetzen zu können! Oder wodurch sich ein Bankier, ein Ingenieur oder ein Fabrikdirektor von diesem Stil angezogen fühlen könnte!

Wenn diese Leute Vorliebe für den Biedermeier-Stil an den Tag legen, so zeugt das einfach von Perversität oder Ermüdung, tödlicher Ermüdung von aller heutigen Berufsarbeit, die ihren Mann mit Peitschenhieben vorwärts treibt, immer weiter nach der Zukunft hin! Ich fürchte sehr, daß die Anziehung, die der Biedermeier- und Neo-Biedermeier-Stil auf das Publikum und auf gewisse Künstler ausüben, ein Phänomen dieser allgemeinen Ermüdung ist. Mir scheint, die Künstler haben es satt, auf einem Wege zu suchen, der ihnen mehr Fehltritte, Kritik und Sorgen als Erfolge bringen muß, - und das Publikum ist müde, unsere verschiedenartigen Versuche, kindliche, mutige und widersprechende Versuche, zu verfolgen und auf das vollendete Werk zu warten. Die Rückkehr zum Biedermeier ist ein Kompromiß, ein Kompromiß, der die Entwickelung des neuen Stils bedroht, weil der Gedanke im Publikum Wurzel fassen könnte: der Biedermeier- und Neo-Biedermeier-Stil seien imstande, die Bedingungen zu erfüllen, die wir an den "neuen Stil" knüpfen, und machten das Maximum aus, welches das Publikum dem Gedanken der Vernunft und der Idee eines neuen Stils einräumen will. Gegen diese Feigheit müssen wir energisch protestieren. Es wird schwieriger sein, das Publikum jetzt der Idee eines neuen und modernen Stils um einen Schritt näher zu bringen, als es früher vermocht zu haben, einen großen Sprung zu machen und seine Vorliebe für die schmählichsten Kompromisse und für die unerhörtesten Konzessionen aufzugeben. Deshalb fordert die Idee des neuen Stils von jetzt an mehr Rezeptivität als Aktivität von uns, und es wäre jetzt wohl am notwendigsten, die Rezeptivität zu pflegen und sie über all die Ereignisse, Entdeckungen und Faktoren zu unterrichten, die das Leben unausgesetzt verändern und die einer prämodernen, alten Art des Lebens, Denkens und Empfindens ein modernes Leben - eine Art und Weise, modern zu leben, zu denken und zu empfinden - gegenüberstellt. Es ist durchaus wünschenswert, daß ein Jeder herbeiträgt, was er als das moderne Leben auffaßt und empfindet, - aber dann müßte alles das zu einem großen Ganzen zusammengesetzt werden! Wollte man an dieser Möglichkeit zweifeln, so hieße das an der Intelligenz und an der Aufrichtigkeit der Künstler zweifeln, die unaufhörlich und unermüdlich an der Entwickelung des neuen Stils arbeiten. Wollte man die Möglichkeit leugnen, daß sie in bezug auf den Wert und die Existenzberechtigung der Elemente, die ein jeder von ihnen beiträgt, untereinander einig sein könnten, so bedeutete das, man könne von den Künstlern nicht erwarten, was man von den Männern der Wissenschaft verlangt, nämlich Ehrlichkeit, Vorsicht und fortwährende Aufmerksamkeit für ihr Werk. Es mag wohl ein kühner Vorschlag sein, an einen Jeden unter uns, an Behrens, Albin Müller, Olbrich, Pankock, Riemerschmidt und van de Velde, das Verlangen zu richten, daß er die Werke der Anderen anerkennen und studieren, und daß er die guten Eigenschaften seiner Waffenbrüder - denn wir sollten uns doch lieber für Waffenbrüder als für Gegner halten - schätzen und annehmen solle. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo die Persönlichkeit eines jeden der Künstler, die zu der Entstehung des neuen Stils beigetragen haben, zur Reife gelangt ist. Das, was uns an einer jeden Persönlichkeit gefallen oder mißfallen kann, hat seinen präzisesten Ausdruck gefunden, und man muß annehmen, daß das, was diesen zehn Jahren des Suchens und der Kämpfe widerstanden und sie überdauert hat, ein gewisses Recht auf Weiterleben und auf Beachtung besitzt. Im Grunde handelt es sich um die Grazie und Eleganz des einen, - die geistvolle Phantasie der Konzeption und Ausführung, die raffinierte, feierliche Weihe oder den rhythmischen, sinnenfreudigen Trieb des anderen. Und keine dieser Eigenschaften widerspricht der nächsten. Die Idee des neuen Stils verlangt von uns, daß wir sie zum Gemeingut Aller machen und gemeinsam von ihnen Gebrauch machen sollen. Die Stunde der Gefühle, die in folgender Anekdote lächerlich gemacht wird, liegt fern. Sie ist erfunden, war aber überall in Umlauf und erzählt, daß in einer Künstlerkolonie einer der Künstler feierlich bei dem fürstlichen Schutzherrn Klage führte, ein Kollege habe ihm sein Ornament gestohlen, und daß, als er sein Eigentum beschreiben sollte, er es als Kreis oder Dreieck definierte. In Dresden hat die Stunde der Einigkeit geschlagen. Ich kann bezeugen, daß ich sie vom Glockenstuhl eines Turmes habe läuten hören, bemerkbar für alle, welche nach Dingen ausschauen, die noch nie geschaffen wurden, und vernehmbar für die, die sich danach sehnen, den Schall von Worten zu hören, die noch nie gesprochen wurden.


DER NEUE STIL
Es ist ein erhöhtes Griechentum, was uns entgegenkommt. (Goethe, 1808.)

IM Laufe der vergangenen neunzehn Jahrhunderte haben wir nichts Logisches oder Vernünftiges erkannt, angenommen und erworben, es sei denn mit Gewalt und Kampf. Was wir heutzutage besitzen, ward uns mehrere Male entrissen, nachdem wir es schon teilweise besessen hatten. Eine atavistische Abhängigkeit, die deutlich vom Gefühl gekennzeichnet war, von einem Glauben und einer Moral des Gefühls, drang bis in diejenigen Künste, deren ureigenstes Wesen ihnen verbietet, sentimental zu sein, drang bis in die Architektur und bis in das Kunstgewerbe. Je weiter die Architektur ihre Entwickelungskurve ausdehnt, desto mehr sucht sie sich der Logik, mit der die antike Tradition sie durchdrungen hatte, zu entledigen und sich rückhaltlos der Welt sentimentaler Phantasien hinzugeben. Die logische Struktur der frühgotischen Kunst sucht allmählich zu verschwinden oder wenigstens sich zu verstecken. Und wir werden in der Baukunst bald die Periode erreichen, wo z. B. das Kapitäl und die Basis der Säule nicht mehr Kapitäl und Basis sind, sondern wo sie alles tun, um ihre Bestimmung zu verbergen, - wo sie Grasbüschel, Früchte und menschliche Wesen sind und auch als solche angesehen werden wollen! Wo die Säule nicht mehr sie selbst ist, nicht mehr danach strebt, einfach ihre Funktion zu verdeutlichen, sondern wo sie den Glauben erwecken will, daß sie sich ihrer entledigt, indem sie sich zu winden, anzulehnen, einzunisten, sich zu koppeln oder zu gruppieren scheint. Zum äußersten gesteigert, griffen diese Mißbräuche die eigentlichste Bedeutung der architektonischen Elemente, eines nach dem andern, an; der Elemente, die man bald nicht mehr zu der Funktion anwenden wird, die man noch kurz vorher von ihnen verlangte, wohl aber noch zu den verschiedenen Darstellungen, deren Träger sie werden mußten. Die Renaissance entdeckte eine Menge neuer architektonischer Elemente, die sie übrigens keineswegs um des Organischen willen schätzte, das die Antike in ihnen erkannt hatte, sondern um der noch nie dagewesenen sentimentalen Darstellungen willen, die an ihnen hafteten. Und die fortschreitende Ausscheidung jeder Logik steigert sich bis zu dem Augenblick, wo wir die beiden Stile Barock und Rokoko erreicht haben. Beide tun ihre Abneigung gegen alle Logik ganz öffentlich kund; sie streben nach andern Zielen! Sie treiben eine wahre Verschwendung mit den prunkvollsten und prächtigsten Ornamenten, die je unsere Augen erblickt haben, und suchen dadurch unsere Sinnlichkeit zu erregen. So schlugen wir einen Weg ein, auf dem uns keine Macht der Welt vor dem verhängnisvollen Zusammenbruch hätte bewahren können, weil keine Logik Maßhalten und Selbstbeherrschung forderte. Hier sieht man, wohin die ausschließliche Anwendung der Gefühle und Empfindungen führen kann, und daß die Stile ebenso gezwungen sind, sich nach der Vernunft zu richten, wie wir armen Sterblichen! Und wäre nicht die französische Revolution hereingebrochen, und hätte sie nicht das, was von Barock und Rokoko übrig geblieben war, mit einem Schlage brutal beiseite gestoßen, so wären sie beide langsam zum unvermeidlich erbärmlichen Ende gelangt. Das, was die französische Revolution ihnen entgegenzustellen versuchte, kam dann erst unter der Herrschaft des Empire zu charakteristischem Ausdruck. Und es ist wichtig, daß wir uns darüber klar werden, was eigentlich der Empirestil war; denn neuerdings zeigt das Publikum wieder großes Interesse für ihn und seine Ausläufer. Der Empirestil wurde zu einer wirkungsvollen und heilsamen Kur, indem er dem öffentlichen Geschmack eine strenge Disziplin auferlegte. Es bedurfte der ganzen Anziehungskraft der Idee des Kaiserreichs und der Rolle des Imperators, um den Geist und den Geschmack der Menschheit zu einer weniger gefühlvollen, nüchternen Auffassung der Dinge zu führen und zu Schaffensregeln, die Heilung brachten, weil sie kalt und überlegt waren und eine logische Auffassung des architektonischen und kunstgewerblichen Schaffens voraussetzten.

Auch konnten die symbolischen und römischen Elemente, deren sich der Empirestil bediente, nicht lange verbergen, was sie in Wahrheit waren: schmarotzerhaft, untauglich und ganz unzeitgemäß. Sie waren diesem schlichten und durchdachten Stil buchstäblich ebenso unorganisch angeklebt wie die vergoldeten Embleme und Beschläge den Möbeln, die vergoldeten Kapitäle den Säulen der Stutzuhren und Wäscheschränke. Und als Napoleon von der Weltbühne verschwand und mit ihm das Vorbild von Eigenschaften der Kraft und des Willens, die, hätten sie ihren Einfluß länger ausüben können, die Bildung des neuen Typus "Mensch" beschleunigt und damit bewirkt hätten, daß wir durch diesen Korsen "Amerikaner" geworden wären: als Napoleon von der Weltbühne verschwand, da zerfielen die Ornamente, deren Symbole sinnlos geworden, von selbst. Es blieb ein Stil, von einer Schlichtheit, einer Demut, einem ruhigen Intellekt, der uns ebenso rührt wie der Anblick eines neugeborenen Tieres! Man kann einen Stil gar nicht ehrlicher, biederer und kleinlicher ersinnen! Auf ihm lastet der Druck schauerlicher Revolutionserinnerungen, die lähmende Angst vor der Strafe, die all denen drohte, welche einigen Luxus entfalteten, all denen, die Neigung hatten, sich durch seine sinnlichen Genüsse locken zu lassen. So wie die Nachwüchse des Empirestils uns heutzutage erscheinen, geben sie uns den Beweis, daß schwache Intelligenzen unter gewissen Umständen nicht davor zurückschrecken, zu der Logik ihre Zuflucht zu nehmen und an ihr einen momentanen Stützpunkt finden, aber dennoch unfähig sind, sich durch sie befruchten zu lassen. So kann die Liebe wohl die blassen Wangen eines bleichsüchtigen jungen Mädchens röten; aber das bedingt noch nicht die feierliche Entwickelung zur Mutterschaft! Die Vernunft machte die Wangen des Biedermeier-Stils erröten, aber sie ließ ihn unbefruchtet. Die wirksame Berührung blieb aus. Seitdem hat noch nichts die Macht des Logisch-Konzipierens und das Bewußtsein, daß in ihm eine Kraft, der Keim zu einem neuen Stil liegt, erweckt. Der Begriff dessen, was Architektur und das Kunstgewerbe sein müssen, verwirrt sich mehr und mehr, und gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts sind wir beim vollständigen Blödsinn gelandet. Zu der Stunde, da wir auftraten, jung und ungeduldig, unsere Schaffenskraft zu betätigen, ungeduldig, von den Älteren die Kunst zu erlernen, wie wir unsere Kräfte verdoppeln könnten, wie wir mit ihnen haushalten könnten, um sie dauernd zu erhalten: zu der Stunde hörten wir, daß niemand daran dachte, ein neues Schaffen in dem Bereich der Architektur und des Kunstgewerbes von irgend jemandem zu erwarten. Wir hörten, es sei gar nicht nötig, unsere Schaffenskräfte zu verdoppeln, da doch schon seit langer Zeit niemand mehr Gebrauch von ihnen machte, daß es daher auch ganz unnötig sei, mit Kräften hauszuhalten, die man ja gar nicht zu besitzen brauchte! "Es genügt, nachzuahmen und zu kopieren," sagten unsere Lehrer. - "Man muß nachahmen und kopieren," sagten nach ihnen ihre Schüler, die zu wenig Unbefangenheit besaßen, um zu erkennen, daß durch diese gemeinschaftlichen, elenden Feigheiten sowohl die Architektur als auch das Kunstgewerbe dem Blödsinn verfallen waren. Meine Generation hat zu Beginn ihres Mannesalters den Alp gekannt, unter Menschen von getrübter Intelligenz geführt zu werden, die mit den organischen Elementen der Architektur spielten wie Kinder mit Bauklötzen, die Säulen und Bögen, Giebel und Gesimse aufeinandersetzten ohne irgend welchen Sinn, ohne irgend welchen Grund, ohne irgend welche Konsequenzen.

Wir empfinden noch heute mit Grauen, in einem Irrenhaus geweilt und der stumpfsinnigen Beschäftigung der Leute zugeschaut zu haben, deren Gehirn gelähmt war, und die eigensinnig, wie nur Irre eigensinnig sein können, darauf bestanden, auf allem, was ihnen unter die Finger kam, eine Fülle und Überfülle von nackten Frauen und von Blumen anzubringen. Es war das Grauen vor einem solchen Alp, vor solchen Frauenleibern und Blumen; es war das Grauen vor einer solchen Kunstrichtung und die Angst vor einer solchen Zukunft, der auch wir entgegensahen, die uns dazu trieb, Fenster und Türen aufzureißen und nach Vernunft zu schreien, auf daß sie uns befreie! Im allgemeinen aber weiß das Publikum nichts von dem Drama unserer Kindheit und unserer Jugend. Auf unserer Kindheit lastet die düstere Langeweile der Häuser, darin wir aufwuchsen, in denen auch nicht ein einziges Stück die Fähigkeiten und Eigenschaften besaß, die den Dingen die Macht verleihen, ebenso wie lebende Wesen ein Fluidum von Sympathie und Zuneigung auszustrahlen. Auf unserer Kindheit lastet die lähmende Überfülle von Dingen, von denen auch nicht ein einziges uns fröhlich stimmen konnte, von denen uns kein einziges spontan und selbstverständlich diente, mit der Selbstverständlichkeit, mit der uns unsere Eltern mit Fürsorge, Liebe und Naschwerk überhäuften und mit der unsere Dienstboten die Speisen regelmäßig und einfach auf den Tisch setzten. Das drückte auf unsere Kindheit, daß die Dinge nicht danach strebten, uns ihren Sinn und ihre Bestimmung zu enthüllen; daß wir sie nie wie Freunde oder treue Diener angesehen haben, denen wir eine tiefe und unendliche Dankbarkeit hätten widmen können, hätten sie uns je das Gefühl eingeflößt, daß sie uns liebten, daß sie etwas Unentbehrliches und Nützliches für uns bedeuteten. Auf unserer Jugend lastete unausgesetzt die Häßlichkeit der Schulsäle und Wohnungen, eine Häßlichkeit, die nagt und zehrt wie das Laster; eine Häßlichkeit, die Herz, Gehirn und Fleisch anfrißt; eine Häßlichkeit, die uns ebenso anwidert wie der Schmutz der Großstädte, der uns am Fleisch, am Herzen und am Gehirn haftet. Und so machten wir uns befleckt und besudelt auf den Weg. Die elterliche Fürsorge hat uns wohl vor manchen Krankheiten geschützt, aber die der Häßlichkeit hatte man uns unbarmherzig eingeimpft! Es ist gleichsam ein Wunder, daß wir uns aus den Trümmern einer Religion herausgearbeitet haben, die mit berechnender Demut die Vernichtung all unserer Sinne bewirkte und zur Verneinung des irdischen Glückes, zur Verneinung der Augenfreude und der Schönheit des menschlichen Körpers führte. Es ist ein Wunder, daß wir uns von den Trümmern einer Moral befreiten, die sich hinter eine Religion verschanzte, welche lehrte, man könne sich nach Schluß der Abrechnung von allem Bösen loskaufen,

... daß wir uns aus den Trümmern einer unbarmherzigen und grausamen Gerechtigkeit herausgearbeitet haben, - "einer Tochter des Zorns und der Furcht", wie Anatole France sagt,
... aus den Trümmern einer auf Hypothesen und metaphysischen Zerlegungen aufgebauten Wissenschaft
... aus den Trümmern einer bis zur Perversität degenerierten Kunstauffassung, die ausgesucht für solche Malerei und solche Skulptur eine Vorliebe hegte, denen gerade die unentbehrlichsten Qualitäten fehlten: die Qualitäten des Materials, der Form, der Linie, der Farbe und des Rhythmus!

Einer Kunstauffassung, die für all das eine Vorliebe hegte, was als Literatur eine mit Schachteln voll sentimentaler Erinnerungen, Puderbüchsen und Musikdosen gefüllte Seele umschmeicheln konnte; eine Vorliebe für all das, was als Musik den Lippen und den Fingern des bleichen Pensionsmädchens das schwächliche, endlose Schmachten spießbürgerlicher Leidenschaften entlocken konnte. Zwischen der jetzigen und der vorangegangenen Periode herrschen absolute Meinungsverschiedenheiten in bezug auf die fundamentalsten Begriffe: Religion, Moral, Recht und Gericht; absolute Meinungsverschiedenheiten über das eigentliche Wesen der Kunst und der Genüsse, die wir von ihr erwarten. Die erste Bedingung scheint mir also bereits erfüllt, durch die ein neuer Stil ins Leben gerufen wird, die Bedingung, daß von den Menschen neue moralische und physische Eigenschaften verlangt werden. Die Gefühle bedingten die Moral der vorangegangenen Periode, - was sie in der Kunst genoß, war das Gefühl! Die Logik und die Vernunft bedingen die Moral der modernen Periode. Was sie in der Kunst genießt, beruht auf dem logischen und vernünftigen Gebrauch des Materials und der Mittel, die jeder Kunst eigen sind. Und diese beiden verschiedenen Richtungen sind einander so entgegengesetzt wie Osten zu Westen, die Endziele einander so ungleich Wie der Orient dem Okzident. Die Bedingungen des materiellen Lebens haben sich so ungeheuer geändert, daß ein Mensch, der vor knapp hundert Jahren gelebt hat und jetzt plötzlich auferstände, sich gewiß nicht auch nur einen Tag lang der neuen Atmosphäre anpassen könnte. Die modernen Erfindungen, die Anwendung von Dampf und Elektrizität brachten mehr als eine allmähliche und oberflächliche Umwälzung; sie bewirkten einen plötzlichen und fundamentalen Umsturz. Und durch die veränderte Atmosphäre, die die modernen schöpferischen Ideen hervorgerufen hatten, ebenso wie durch die fundamentale und logische Umwandlung der Art und Weise, unsere materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, wurde ein neuer "Typ" Mensch geboren. Ein Typ, der so grundverschieden ist von dem der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, daß ich um die Erlaubnis bitte, die beiden Typen benennen zu dürfen: den modernen und den prämodernen Menschen. Der moderne Mensch wäscht, badet, kleidet und wärmt sich anders als der prämoderne Mensch; er liest, arbeitet, geht und reist anders und sucht sich auf andere Art zu zerstreuen. Der prämoderne Mensch badete, aß und arbeitete sentimental, indem er es liebte, ein hygienisches Sprichwort auf seinem Handtuch oder seinem Badeteppich zu lesen, ein lustiges Distichon auf seinem Bierseidel, provozierende Reime auf seinem Ofen, gemalte Blumen auf seinem Tischgeschirr und moralische Sprüche in seinem Arbeitszimmer. Der prämoderne Mensch arbeitete sentimental, weil er die Arbeit als eine Buße auffaßte; er reiste sentimental, weil ihm die gemessenen und langsamen Fortbewegungsmittel, die ihm zur Verfügung standen, Mußestunden genug ließen, um sich lyrischen Herzensergießungen hinzugeben. Auch seine Zerstreuungen waren sentimental, weil er in allem, was er las, in allem, was ihm auf dem Theater oder an anderer Stelle geboten wurde, immer das heraussuchte, was ihm die großen Leidenschaften an möglichst unlogischer und belangloser Romantik darboten. Der moderne Mensch wäscht, badet und kleidet sich vernünftig, insofern als er alle Utensilien und Instrumente, die er zu seiner Toilette braucht, im Sinne der angemessensten und logischsten Form vervollkommnet hat, er ißt vernünftig, denn er verbannt systematisch die Gläser in Form von Blumen oder Vögeln von seinem Tisch, die Jardinieren in Form von Schwänen, Amorettenreigen oder Tänzerinnen, er verbannt den gefühlvollen, zoologischen Fruchtaufsatz, der eine oder mehrere Giraffen vorstellt, die alle ihre langen Hälse vergebens nach den Früchten recken, die hoch oben zwischen Palmenblättern hängen. Der moderne Mensch kleidet sich vernünftig, was man auch dagegen sagen mag, und seit kurzer Zeit trägt die Frau entsetzliche Säcke, weil sie im Grunde vernünftiger konstruiert sind als die Kleider, die die Mode und die Schneiderinnen bevorzugen. Der moderne Mensch reist vernünftig, weil er dabei weniger Zeit verliert, weil er nicht durch Hunger und kaum von Müdigkeit in den Zügen zu leiden hat, die ihm Gelegenheit geben, in einem Speisewagen zu essen und in einem Bett zu schlafen.

Der moderne Mensch sucht mit Vorliebe vernünftige Zerstreuungen, denn er sucht in den Büchern, die er liest, und in dem, was ihm auf dem Theater oder anderswo geboten wird, immer die psychologischen Probleme, deren Endresultate ebenso herausgearbeitet sind wie im Verfahren einer lebendigen, meisterhaften Mathematik. Wenn wir uns alle die Dinge vorstellen, die dem Menschen dazu dienen, seinen Körper zu pflegen, sich auszuruhen, sich zu nähren und zu kleiden, zu reisen und sich zu zerstreuen; könnten wir der modernen Zahnbürste die prämoderne Zahnbürste gegenüberstellen; könnten wir den Nagelpolierer, die Kämme, die Waschschüssel, die Badewanne, das Bett, das Tischgeschirr, die Gabel und den Löffel, die Pfeife, den Spazierstock und die Schlittschuhe, die Wagen, die Kleider, die Möbel und das Haus des modernen Menschen mit denselben Gegenständen des prämodernen Menschen vergleichen, so würden wir sehn, daß man die Formen aller dieser Gegenstände gar nicht mehr miteinander vergleichen kann. Sie rufen zwei verschiedene Welten hervor, die wenig Grund haben, sich einander zu nähern, die im Gegenteil viele Gründe haben, einander zu bekämpfen. Ist es aber nicht besser, daß man sich deutlich darüber ausspricht und daß dann Jedermann Stellung nehmen kann, je nachdem er die Überzeugung hat, daß sich alles nach den Gesetzen des Gefühls regelt, erklärt und rechtfertigt oder sich nach den Gesetzen der Vernunft und nach Vernunftgründen richtet? Man muß vorderhand kategorisch sein, denn die Krankheit ist gar zu schlimm, und wir wollen uns ja von ihr heilen. Später können wir sehn, ob es möglich sein wird, weniger streng zu sein. Es war ungewöhnlich, daß wir die Entstehung eines neuen Stils mit so leidenschaftlichem Kampfesmut begleiteten, soviel Überlegung, soviel gewissenhafte Anstrengung und fleißiges Studium daransetzten, als ob es steh um eine Sache handelte, deren Aufkommen nur davon abhinge. In dieser Überlegung und dieser Gewissenhaftigkeit sahen manche gerade Zeichen der Vergeblichkeit des Bemühens, einen neuen Stil herauf zuführen. Aber ist nicht bewiesen, daß nicht auch ein großer Teil von Gewissenhaftigkeit zum Aufblühen der vorangegangenen Stile beigetragen hat, mir scheint es leicht, den Beweis des Gegenteils zu erbringen. Bis jetzt konnten die Stile aufeinander folgen, ohne daß der, welcher seinen Teil als Neuankommender beanspruchte, seinem jemaligen Vorgänger den Vorwurf der Häßlichkeit hätte machen dürfen. Und infolgedessen konnte der Kampf weder so überlegt, noch so bitter und erbarmungslos sein! Ich stelle mir die Umwandlung des Barock ins Rokoko ohne jeden Stoß und wie eine ganz harmonische Entwicklung vor, und ich glaube z. B. nicht, daß die Pietät, welche die Väter und Mütter der Rokoko-Generation für die Möbel ihrer Eltern hegten, ihre Kinder zur Empörung reizte. Trotzdem waren die Kinder nicht ehrerbietiger und ihren Eltern nicht mehr ergeben, als wir. Aber die Barockmöbel waren eben nicht ohne Schönheit für sie, während die Möbel, die unsere Eltern liebten, für uns ohne jede Schönheit sind. Auf Abscheu kann man auch weiterbauen! Und sobald sich ein solcher Abscheu unserer bemächtigt hat, müssen wir uns, je nachdem unser Geschmack und unser Charakter mutig oder feige sind, entweder vor- oder rückwärts wenden. Um der Gegenwart zu entfliehen und der gegenwärtigen Häßlichkeit, zogen Ruskin und Morris unsere Blicke auf die Schönheit alter Dinge; aber damit begrenzten sie die Nutzanwendung ihrer Vorschläge und die Wirkung ihrer Schöpfungen, die nur von den jungen Leuten der englischen Gesellschaft, die wie Ruskin und Morris in Oxford erzogen worden waren, verstanden und genossen werden konnten; nur von denen, die wie sie auf den Genuß und das Verständnis dessen vorbereitet waren, was die Umgebung und das Leben der englischen Universitäten ihnen an Auserlesenem und Verblichenem zu genießen boten. Um der Häßlichkeit zu entfliehen, zog Viollet-Leduc unsere Blicke auf die Schönheit alter Dinge. Man muß sich den vollständigen Verfall des französischen Geschmacks während der Herrschaft des zweiten Kaiserreichs ins Gedächtnis rufen und die krankhafte Geistesabwesenheit für alles, was nicht Lustbarkeiten oder Tuilerien war, um zu verstehen, wie wenig Aussicht er hatte, gehört zu werden, wie wenig Aussicht, den Geschmack in eine absolut entgegengesetzte, als die zur Zeit herrschende Richtung leiten zu können.

Man muß sich die Tendenz des deutschen Geschmacks vorstellen und das Niveau, auf das die Kunst in Deutschland zu der Zeit gesunken war, als Semper gegen den herrschenden Geschmack Stellung nahm und seine Theorien entwickelte, um sich den geringen Widerhall, den seine Lehre fand, erklären zu können. Jetzt scheint uns die Lehre Sempers umso schlagender, als wir sie als solche annehmen und sie weniger in seinen Bauwerken suchen. Es ist Semper nicht gelungen, seinen Theorien entsprechende und überzeugende Außenformen zur Seite zu stellen. Er verkündete das Prinzip, das wir heute in allen Äußerungen des modernen Geistes und des modernen Wesens erkennen: das fundamentale Prinzip von der unvermeidlichen Notwendigkeit aller Konstruktionen, aller Formen, aller Gegenstände, das fundamentale Prinzip der modernen Auffassung, die nichts zuläßt, was nicht so wäre, wie es sein muß, was nicht als das erschiene, als was es erscheinen muß! Die Formen aber, die überzeugend sind, weil sie so sind, wie sie sein müssen; neu, weil sie vernünftig und überlegt sind; die selbstverständlichen und bestimmten Formen einer rationellen und konsequenten Architektur und eines Kunstgewerbes, das nach absoluten Formen und Konstruktionen sucht, diese Formen hat Semper trotz seines Versprechens der Welt nicht geben können. Sie sind in jedem Gehirn verborgen, in jedem Gehirn, dessen Mechanismus nicht gestört und nicht gehemmt ist durch die Einwirkungen zu eingehender archäologischer Kenntnisse oder zu starker phantastischer Vorstellungen. Man werfe das schwächste Andenken an alte architektonische Elemente, die geringste Sentimentalität in das Uhrwerk des Gehirns, und sofort wird es unfähig sein, normal und logisch zu funktionieren. Das Gehirn, das auf der Suche nach absoluten Formen ist, kann sich ebensowenig durch sentimentale Erinnerungen und Anregungen zerstreuen oder beeinflussen lassen, wie das, welches wissenschaftliche Endlösungen sucht. Ich gestehe, daß ich keinen Grund einsehe, warum derjenige, der danach streben würde, alle Probleme auf dem Gebiete der Baukunst und des Kunstgewerbes mittels der Vernunft zu lösen, in einer Sackgasse enden müßte. Jede vernünftige und überlegte Sache trägt doch ihre Entwicklung und ihre Endlösung in sich. Hieße das wirklich die Kunst in die Enge treiben, wenn man die Zeit eines Künstlers gerade solange in Anspruch nähme, als nötig wäre, um sich über die Grundbestimmung der Elemente und über die Natur der Materialien, die er gebraucht, zu unterrichten, um ihn zu fragen, warum er sie anwendet, und warum er sie so und nicht anders anwendet? Worauf es ankommt, ist, daß derjenige, der sich einer solchen Disziplin unterworfen hat, außerdem noch mit der Sensibilität und Empfänglichkeit begabt ist, die den Künstler auszeichnen. Es ist nicht gesagt, daß der Weg, der strikt vorgezeichnet und ohne Abwege ist, notwendigerweise in eine Sackgasse führen muß. Die Höhen, die das Tal einschließen, leiten den Gebirgsbach zum reichen, breiten Strom, und der Strom muß seinen Weg durch eine Reihe der verschiedensten Landschaften nehmen - durch liebliche und feierliche, durch lachende und ernste, durch flache und steinige -, ehe er die mächtigen Wasser des Meeres erreicht! So ist es mit dem künstlerischen Schaffen und mit der künstlerischen Empfindung, die von Prinzipien geleitet sind, durch die sie durch fortgesetztes Verfolgen derselben Richtung zum Stil gelangen. Noch vor zehn oder zwölf Jahren hatten wir keine Ahnung von dem, was wir heute "den modernen Stil" zu nennen pflegen, und der Wunsch, einen modernen Stil zu besitzen, hatte sich auch noch nicht sehr intensiv gezeigt. Wenn auch Einige unter uns auf den inferioren Zustand aufmerksam machten, in dem wir uns - den vorangegangenen Jahrhunderten gegenüber - befanden, so lag in diesem Vorwurf die Naivität, daß jedes Jahrhundert seinen eigenen Stil besitzen müsse. Wir hatten uns daran gewöhnt, von einem Stil des 17. Jahrhunderts, von einem Stil des 18. Jahrhunderts zu sprechen; und wir schienen es zu entbehren, nun nicht in der Serie fortfahren zu können. Da wir am äußersten Ende des 19. Jahrhunderts angelangt waren, war keine Zeit mehr zu verlieren, und diejenigen, die die Idee eines neuen Stils beschäftigte, wurden, wenn sie auch bis dahin keinerlei Ungeduld gezeigt hatten, auf einmal unruhig und fieberhaft erregt. Die Eisenkonstruktionen, die Forth-Brücke, die große Maschinenhalle der Pariser Ausstellung von 1889 und der Eiffelturm profitierten von dieser Ungeduld und wurden seither für das angesehen, was sie in der Tat sind: Äußerungen einer neuen Architektur. Der Streit, der in bezug auf sie und in bezug auf die neu angeregte Idee einer neuen Architektur entstand, hatte aber eine ganz falsche Richtung eingeschlagen. Das Publikum und die Ästhetiker, die gegen die Eisenkonstruktion Stellung nahmen, beschäftigten sich ebenso wie die Verteidiger der Eisenkonstruktion nur mit der einen Frage: Ist es möglich, die Eisenkonstruktion schön zu gestalten oder nicht? Alle schienen die Vorstellung zu haben, es hinge von dieser einzigen Bedingung ab, ob sie uns dazu verhelfen würde, einen neuen Stil zu schaffen. Aber die Schönheit ist nicht absolute Bedingung für die Idee des Stils. Stil und Schönheit sind zwei klar voneinander getrennte Begriffe, sie hängen nicht voneinander ab, - ja sie können sich sogar gegenseitig ausschließen. Nach Schönheit trachten, heißt nicht nach einem Stil trachten! Schöne Dinge schaffen, heißt noch nicht einen Stil schaffen! Um zu einem Stil zu gelangen, bedarf es eines verbindenden Elementes und einer einheitlichen Richtung. Der Stil behält sich alle die Eigenschaften, die eine Familie besitzt, vor; es gibt schöne Familien und es gibt häßliche Familien, es gibt schöne Stile, aber es gibt ebensogut auch häßliche Stile.

Schließlich ist der Streit, ob ein Ding, ob ein Werk schön oder häßlich sei, immer erfolglos. Es gibt keine Worte, die Schönheit zu definieren, kein Argument, sie nachzuweisen, und der Streit um die Eisenkonstruktion, der sich nur um die Frage: Ist sie schön oder nicht? drehte, verursachte, daß man übersah, worauf es im Grunde am meisten ankam, nämlich, daß sie von einem neuen Konstruktionsprinzip, von einem neuen Gesetz durchdrungen war. Wir waren auf dem Weg, der uns zu einem Stil führen mußte, lange ehe wir erkannt hatten, in welcher Richtung er uns führte. Solche Werke, wie sie uns die Eisenkonstruktion vorführte, hätten uns die Augen öffnen müssen über das Prinzip, das sie mit einer Klarheit offenbarte, wie es noch kein anderer Stil in so überzeugender Weise getan hatte. Die Eisenkonstruktion ließ wirklich die logische Auffassung und den Sinn der Konstruktion zutage treten, die sich seit der dorischen Kunst noch nie so nackt, so mächtig und so schön vor unseren Blicken gezeigt hatten. Und beide, die logische Auffassung und der konstruktive Sinn, erscheinen mir seitdem wie zwei schöne griechische Körper, die in wundervoller Nacktheit emporsteigen aus der abgelegten Hülle der Sentimentalität, die zu ihren Füßen niederfällt... Seit dem Beginn der christlichen Ära war ihr Anblick unseren Augen entzogen. Die Wißbegierde und das Verlangen, das die Renaissance kundgab, war keine naive Begierde, kein naives Verlangen. Erst mit dem Beginn der modernen Ära und mit der Entdeckung der Eisenkonstruktion wurde unsere Wißbegierde und unser Verlangen in bezug auf Architektur und Kunstgewerbe naiv und mächtig! Die Hingabe eines nackten Körpers bedeutet die Hingabe von Kräften, aus denen selbst ein Greis neues Leben schöpfen kann, und unserer Menschheit wird eine solche Hingabe dargebracht! Eine Hingabe von Begriffen, die uns in ihrer Nacktheit so herrlich erscheinen, daß es ein Verbrechen wäre, die niedergefallenen Gewänder aufzuheben! Diese wunderbaren Geschöpfe wollen frei auf neuen Bahnen wandeln! Und wäre es nicht wirklich ein Verbrechen, die zurückzuhalten, die nach der Zukunft trachten, deren Natur es ist, zu ihr hinzustreben und ihren Körper und ihre Formen frei und schön zu entwickeln? Die Eisenkonstruktion erschien absolut frei von dem, was die Archäologen mit dem "Nachleben", die Naturwissenschaftler mit "Rudimenten" bezeichnen. Aber der menschliche Verstand ist so langsam und so unfähig, sich gerade von diesen nachlebenden Formen loszumachen, daß, trotzdem uns das Eisen so deutlich offenbart hatte, es wolle von allen sentimentalen Abirrungen frei bleiben, wir es doch nicht unterlassen konnten, Säulen mit korinthischen, byzantinischen und gotischen Kapitälen aus Eisen zu gießen und aufzustellen. Der Streit um die Frage: "Ist die neue Architektur schön?" zog sich unglaublich in die Länge und verhinderte uns zu erkennen, wie wir allmählich zu einem Stil gelangten, der als der erste nicht von der Erbsünde belastet war. Man soll trotzdem nicht die Rolle überschätzen, die die Eisenkonstruktion in der Entwicklung der Architektur gespielt hat, und man soll nicht behaupten, daß sie allein die Architektur der Zukunft begründen wird. Aber es ist nicht mehr daran zu denken, das Joch des grundlegenden Prinzips dieser dem Metall angepaßten Konstruktionsart abzuschütteln oder eine andere Richtung als die, welche dies Prinzip uns vorschreibt, einzuschlagen. Es setzt dem menschlichen Gehirn bestimmte Grenzen, und dieses wird sich zufrieden geben müssen, nicht über sie hinaus zu suchen. Es setzt unsere Erfndungskraft wie einen Eisenbahnzug auf Schienen in Bewegung. Und sie liefe dieselbe Gefahr wie ein Zug, wollte sie von ihren Gleisen abweichen, und gleich ihm bedarf sie der Gleise, um zum Endziel zu gelangen. Man hat uns den Vorwurf gemacht, daß wir das Dogma der "rationellen Schönheit" aufgestellt hätten. Doch ist es mit diesem Vorwurf wie mit so vielen andern: er hält keiner gründlichen Untersuchung stand. Wir haben unstreitig alle nur möglichen Anstrengungen gemacht, um die Auffassung der Nützlichkeit aus dem Mißkredit und der Verachtung, in die sie gefallen war, herauszuholen;

... wir haben sie unstreitig gegen den Hochmut und gegen die Art und Weise verteidigt, die die Sentimentalität ihr gegenüber angenommen hatte;
... wir haben unstreitig mit innigem Behagen die Bilanz der Sentimentalität gezogen, ihren Bankerott konstatiert und den Vorschlag gemacht, dem rationellen Schaffen das Amt zu übertragen, das die Sentimentalität so schlecht ausgefüllt hatte.

Aber was die Behauptung anbetrifft, wir wären der Ansicht, daß alles, was vollkommen nützlich, auch vollkommen schön ist, so liegt zwischen dieser Behauptung und unserer wahren Ansicht der ganze Unterschied, der zwischen dem liegt, was wir wirklich sind, und dem, was unsere Gegner aus uns machen möchten. Der vollkommen nützliche Gegenstand, der nach dem Prinzip einer rationellen und folgerichtigen Konstruktion geschaffen wurde, erfüllt die erste Bedingung der Schönheit, erfüllt eine unentbehrliche Bedingung der Schönheit; und dadurch, daß wir diese unentbehrliche Bedingung forderten, bestimmten wir allerdings den Unterschied zwischen der modernen Schönheit und der prämodernen und mittelalterlichen Schönheit. Mir erscheint es unmöglich, daß wir heutzutage noch einem Gegenstand Schönheit zusprechen, der sichtlich nicht die seinem Gebrauch entsprechende Form hat, dessen Form sich nicht von all dem freigemacht hat, was ihr eigentliches Sein und ihre Bestimmung verleugnet. Und wenn wir öffentlich bekennen, daß diese Eigenschaft ein conditio sine qua non der modernen Schönheit ist, so sind wir doch nicht so blind, um nicht zu fühlen, daß die moderne Schönheit, um wirklich Schönheit zu sein, sich auch auf Sensibilität stützen muß. Auf die Art von Sensibilität, die ihre Wirkung beim Betrachten der Linien und ihrer Verhältnisse, der Farben und ihrer Verhältnisse zueinander ausübt - beim Betrachten der Verhältnisse nebeneinander oder gegenübergestellter Materialien von gleicher oder verschiedener Natur. Die Gesetze und die Bedingungen der Schönheit währen ewig, jedoch die Verhältnisse der Linien zueinander, der Farben zueinander und des verschiedenen Materials zueinander kann man verschiedenartig empfinden. Aber die Natur dieser Sensibilität bleibt dieselbe. Sie schöpft aus dem Mächtigsten und Reinsten, was in uns ruht: aus der Wollust, mit der wir uns selbst in direkte Verbindung mit allem setzen, was das innerste Wesen aller Dinge ausmacht: mit dem Rhythmus. Durch die Wollust, mit der wir die Verhältnisse der Linien, der Farben und des Materials empfinden, sind wir zum Begriff der Schönheit in der Architektur gelangt, wie weit sie auch von der modernen Architektur entfernt war. Durch die Wollust, mit der wir die Verhältnisse der Töne und Worte, ihre Akzente und ihre Folge empfinden, sind wir zur Schönheit in der Musik und der Poesie gelangt, wie weit sie auch von der modernen Musik und Poesie entfernt war. Und niemals haben wir das Gefühl der Befremdung und des Entferntseins empfunden, wie wir es im Bereich der Gefühle verspürt hätten. Auf dem Wege der Gefühle hätten wir niemals die antike Kunst, die heidnische Seele gefunden; wir hätten niemals die Schönheit gefunden, der wir als moderner Schönheit huldigen. Denn die Gefühle, die die Menschen des alten Ägyptens und Griechenlands zum Handeln veranlaßten, sind für uns wenig verständlich. Aber die Sensibilität der Ägypter und Griechen ist im Gegenteil keiner Epoche so verwandt und so ähnlich, wie der unsrigen; und ich denke, es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß die antike Kunst erst seit kurzer Zeit wahrhaft verstanden und geschätzt wird. Man muß das Gefühl kennen, das einen beim Anblick der Linie jenes eisernen Schiffsschnabels erbeben ließ, den Krupp im Jahre 1902 in Düsseldorf ausstellte, um dieses selbe Beben beim Anblick der Profillinie des Rhamses-Kolosses, der im Wüstensand von Memphis ruht, zu verspüren. Man muß den Reiz der fieberhaft erregten Linie der Grisetten von Guys, der Tänzerinnen von Degas und der geisterhaften Erscheinungen Lautrecs genossen haben, um die fieberhaft-sinnliche Erregung der Linien der Silhouetten zu genießen, die in Flachrelief in langer Folge einherschreiten auf den Steinwänden der unterirdischen Gräber des Mastaba von Ti zu Sakkara. Man muß die aufrichtige, gebietende Schönheit der einzelnen Teile der Maschinen tief empfunden haben, - dieser riesigen Maschinen, die mit feierlicher, weihevoller Gebärde die elektrischen Akkumulatoren laden, um die göttliche Harmonie und den vollkommenen Rhythmus des Parthenon zu empfinden. Unsere Sensibilität ist derjenigen der antiken Künste verwandt.

Das mag paradox klingen und noch paradoxer, wenn ich von moderner Heiterkeit sprechen würde; aber Sie werden darüber nachdenken; und da Sie wohl keinen Einwand finden werden, der gegen das Verlangen zu machen wäre, daß die Dinge so seien, wie sie sein sollten, so werden sie bald selbst den Wunsch bekennen, nicht nur Dinge, sondern auch Menschen um sich herum zu sehn, die so sind, wie sie sein sollen. Das würde die Kraft und die Schönheit der zukünftigen Welt und Gesellschaft ausmachen, wenn alle Personen, die auf der Weltbühne sind, urwüchsig, wahrhaftig und sensibel wären. Nach alledem, was wir soeben auseinandergesetzt haben, erscheint es klar, daß in bezug auf die Auffassung aller Werke der Architektur und des Kunstgewerbes der moderne Stil mit dem griechischen Stil seine Richtung im Sinne der Logik gemein haben wird, - ebenso aber auch seine Fähigkeit, die raffinierteste Sensibilität zu erregen. So hat das, was nur wie eine Vorliebe, wie eine vorübergehende Zuneigung erscheinen konnte, eine Daseinsberechtigung, die an die Basis und an die Grundprinzipien des modernen Stils reicht. Und wir haben Grund, uns mit dieser Verwandtschaft vertraut zu machen, und werden uns gewiß auf der Suche nach Formen begegnen, wenn wir ähnliche Probleme zu lösen und ähnliches Material zu verwenden haben. Es ist ja unvermeidlich, daß Operationen der Vernunft, die den gleichen Gegenstand behandeln, auch zu ziemlich gleichen Endresultaten führen müssen, und ich sehe nicht ein, durch was sich die Form einer Vase, eines Glases oder irgend eines andern Gegenstandes, den die Antike ebensogut kannte wie wir, und der nach den Gesetzen einer rationellen und konsequenten Konstruktion geschaffen war, durch was sich diese Form von der unsrigen unterscheiden sollte, es sei denn durch die Sensibilität, die uns dazu treibt, andere Verhältnisse, andere Einbiegungen und Wölbungen der Linie, andere Farben und Ornamente zu wählen, als die Künstler der antiken Welt. Die Sensibilität ist von ausgesprochen veränderlicher Natur, und die Ursache ihrer Variationen umfaßt die ganze Charakteristik des Menschen einer Epoche und was ihn von einer andern Epoche unterscheidet. Jede Epoche hat ihre Sensibilität für sich, die sich in allem ausspricht, in Politik, Wissenschaft und Kunst. Jede Epoche hat ihren Rhythmus, der alles durchdringt. Ohne das ist eben keine Epoche. Man hat in unserer Sensibilität eine gewisse Erschöpfung, eine gewisse Müdigkeit erkennen wollen, und in dem modernen Rhythmus eine gewisse Mattigkeit und Entkräftung. Nun, die Sache steht so: wir verlegen den Akzent der Linie an eine andere Stelle, legen den Akzent der Farbenfolge anders, als die vorangegangenen Epochen. Die Hand, die die Linie zieht, überschreitet den Punkt des normalen, vollkommen abgewogenen Akzents, wie ihn die Antike anwandte. Das moderne Auge versetzt den Augenblick des normalen Akzents der Farben-Aufeinanderfolge, ebenso wie das moderne Ohr dazu neigt, das zu genießen, was man noch lange "Dissonanzen" nennen wird. Die Hand und das Auge verlegen den Akzent weiter und tiefer, als man ihn bisher zu setzen gewohnt war. Es ist alles, absolut alles, was das moderne Leben ausmacht, was den neuen Rhythmus und neue Harmonien bestimmt. Der neue Rhythmus bedingt die Stellungen der Herren, die im Salon die Arme tiefer kreuzen und tiefer ausgeschnittene Westen tragen, wie die Haltungen der Damen, die die Büste und die Taille tiefer tragen und so den akzentuierten Teil ihrer Silhouette verlegen. Ebenso fühle ich in den Gegenständen und Blumen, die unser Raffinement wieder auffand oder neu entdeckte, den neuen Rhythmus und dieselbe Nuance des Akzents: die Narzissen und Jonquillen, von denen Oskar Wilde in seinen "Intentions" sagt, daß sie "griechische Objekte aus der besten Zeit seien", die Alpenveilchen, die Iris und die Orchideen. Der Flachbogen der Eisenkonstruktion, der Brücken, der Bahnhofs- und Ausstellungshallen ist über unserer Epoche ausgespannt. Er bedingt die Möglichkeiten des modernen Rhythmus ebenso wie der Parallelismus der geraden Linie den Rhythmus der griechischen Kunst bedingte, und der Bogen und der Spitzbogen den Rhythmus der romanischen und der gotischen Kunst!

Wir, die wir das Gesetz aufstellten, daß "die Linie eine Kraft ist", konnten das nicht übersehen. Ich glaube, daß wir von nun an einen modernen Stil besitzen werden, ebensogut wie ich glaube, daß wir von nun an eine moderne Schönheit besitzen; aber ich muß hinzufügen, daß wir bis jetzt nur unserer Wenige sind, die sie erkennen, und daß wir bis jetzt uns noch wenig einig sind darüber, was der neue Stil, was die moderne Schönheit sein wird! Wenn wir gewissen Kunstschriftstellern glauben wollten, so hätten wir heutzutage die Wahl zwischen mehreren modernen Stilen; das hieße aber "Nehmen" oder "Lassen" und würde genau die Wichtigkeit der Überlegenheit einer politischen Partei über die andere haben, oder von Pferden, die sich um die Gunst des sportliebenden Publikums streiten. Am Start: Jugendstil, Sezessionsstil, Belgischer Stil, Wienerstil. Am Ziel: Die Kunstschriftsteller und Industriellen, alle aus den verschiedensten Gründen unruhig und erwartungsvoll. Inzwischen geht das Rennen seinen Gang - einige Pferde haben sich schon die Beine gebrochen. Übrigens ist das das Aktuelle an der Sache und das, was am wenigsten in Betracht kommen kann. Es vollzieht sich eine vollständige Umwälzung in dem künstlerischen Entstehungsprozeß der Architektur und der Kunstgewerbe, der, von allen romantischen Gefühlen befreit, sich von selbst den Normen rationeller und konsequenter Konstruktionen, den Gesetzen einer neuen Ornamentik, welche die wichtigste Ureigenschaft der Linie entdeckte, anvertraut. In ihr erkannte die neue Ornamentik eine Kraft, welche wie jede andere Kraft wirkt, bestimmte Konsequenzen nach sich zieht und sich gewissen Gesetzen unterwerfen muß. Ein Prinzip und ein Rhythmus haben die neuen Formen und die neue Ornamentik durchdrungen. Man darf in dem heutigen Kampf zwischen dem, was das Publikum irrtümlicherweise noch "Jugendstil" nennt, dem "Sezessionsstil" und dem "Wiener oder belgischen Stil" nur einen Konflikt verschiedener Richtungen sehen. Und man müßte sich freuen, daß der Kampf ein ziemlich erbitterter ist und daß jede Richtung ihre Anrechte, an der Bildung der Stile teilzunehmen, mit gewisser Heftigkeit verteidigt, daß jede danach strebt, sich den größtmöglichen Anteil zu verschaffen. Diese Richtungen sind die Immer-Gleichen; sie sind es, die alle Stile mit fortgerissen haben. Sie haben die drei erkannt: die Vernunft, das Gefühl und die Sensibilität. Die Vernunft liegt in der Richtung "grade aus"; zu beiden Seiten liegen die Richtungen des Gefühls und der Sensibilität. Zwischen dem magnetischen Punkt, den die Vernunft inne hat, und den Himmelsgegenden Gefühl und Sensibilität gibt es viele Gradationen: auf seiten der Sensibilität unter andern die Sinnlichkeit, auf seiten des Gefühls alle die aufeinanderfolgenden Abstufungen. Es ist die Kurve, die von dem gesunden und natürlichen Lyrismus zum überschwänglichen und unersättlichen Pathos reicht.
Die Vernunft vermag die beiden Richtungen, die ihr zu beiden Seiten nahe sind, zu durchdringen, aber sie kann nicht zu den äußersten Abstufungen gelangen. Und genau an der Stelle, an der ihre Kraft des Durchdringens aufhört, fängt das Abirren ebensowohl der Stile, die sich nach der Sensibilität, als der Stile, die sich nach dem Gefühl richten, an. Jenseits dieser Stelle lauert Schwindel und Zusammenbruch! Die Sensibilität ebensogut wie das Gefühl führen, sobald sie sich selbst überlassen sind, zum Nichts, in dem alle Konzeptionen, die sich von der Vernunft losgelöst haben, untergehen. Der moderne Stil hat seinen Kurs gerade auf die Vernunft genommen. Er hat anfänglich kalte, gefahrlose Gewässer durchkreuzt, jetzt hat sich sein Kurs geändert und er nimmt mit großer Zuversicht die Richtung der Sensibilität. Die Gewässer sind warm und mild, die Ufer verführerisch und voll Sonnenschein! Wir segeln mit der zauberhaften Vorstellung, als könnten wir nach der erlösenden Reise um den neuen Erdteil einen ungekannten, traumschönen, griechischen Archipel entdecken!


GEDANKENFOLGE FÜR EINEN VORTRAG

Es gibt kein dem französischen Wort "fantaisie" genau entsprechendes deutsches Wort. Der Sinn des deutschen Wortes "Phantasie" entspricht dem französischen "imagination". Nun ist es aber nicht die Phantasie, gegen die ich Stellung nehme, sondern gegen die Auffassung der Dinge, die das Gegenteil ist von der wirklichen, unmittelbaren, vernünftigen. Die eine führt dazu, die wesentliche und vollkommene Form der Dinge zu finden durch Betrachtung ihrer Bedeutung, ihres Zweckes, ihrer Bestimmung, des Materials, aus dem sie gemacht sind, und dessen eigenen Qualitäten und Schönheiten. Die andere führt dazu, aus einer Jardiniere einen Schwan mit ausgebreiteten Flügeln zu machen und aus einer Standuhr einen Teller, auf dem zwölf Austern die zwölf Stundenzahlen vorstellen, während Gabel und Messer die beiden Zeiger bilden. Im Sinne solcher Erfindungen und der Gestaltung einer Sache durch Elemente, die dieser ganz fremd sind und an deren Erfindung allerdings die Phantasie Anteil hat, in diesem Sinne verstehe ich das französische Wort "fantaisie". Welches Wort soll man aber im Deutschen gebrauchen, um diese Art von Erfindungen zu bezeichnen. Ich lasse diese Frage offen. WER ein Problem rein verstandesmäßig und vernünftig aufgreift, von dessen Gedankenfolge gilt die Vermutung, daß sie in dem Geistesleben auch fremder Nationen und Rassen verwandten Gedankenketten begegnen wird. Wer die Kräfte seiner Phantasie wirken läßt, von dessen geistiger Betätigung gilt die Gewißheit, daß sie ausschließlich innerhalb der eigenen Nation und Rasse im vollen Umfang gewürdigt werden wird. Was die logische Reflexion auf eine einheitlich und allgemein gültige Gesetzmäßigkeit zurückgeführt hat, das erfährt durch die Betätigung der Phantasie eine unendlich gewandelte Mannigfaltigkeit. Die Wirkung des Verstandes reicht bis ans Ende der Welt; die Äußerungen der Phantasie werden kaum über die Landesgrenzen hinaus verstanden und gewürdigt. Wessen Wille nun auf die Gesamtheit abzielt, dem bleibt keine Wahl, er läßt die Kräfte des Verstandes, der Vernunft wirken. Phantasie in der Kunst - Phantasiegebilde der Kunst. Ich genieße sie wie Pralinés zum Five o'clock, wie die Konversation der Dame, die sie mir anbietet, wie ihre Worte, denen ich mit der überzeugtesten Miene der Welt folge, mit einer Miene, die doch nichts sagen will, als daß all das mir vollkommen gleichgültig ist. Meine Wirtin erwartet es nicht anders; sie weiß, daß Pralinés und Konversation so genossen werden wollen. Problem: Leben wir noch in einer Zeit, wo die Menschheit sich von Pralinés und von Tee-Konversation nährt oder aber, was das gleiche bedeutet, von Phantasiegebilden der Kunst? Wenn ich die Phantasie in der Kunst mit Näschereien und mit der Konversation hübscher Frauen vergleiche - und zu andern gehe ich nicht zum Tee -, so ist damit gesagt, daß ich persönlich dieser Phantasie und selbst den willkürlichen Phantasiegebilden der Kunst nicht allen Wert abspreche, aber ich glaube, daß die Menschheit von heutzutage weniger differenziert fühlt und daß sie keine Tees besucht. Wer zuviel Zucker ißt, der muß bald zum Zahnarzt, so hat man mich immer wieder gelehrt, als ich noch Kind war; und da hat mich die Furcht vor dem Zahnarzt gepackt und ich bin vernünftig geworden. Infolgedessen bediene ich mich der Phantasie in der Kunst und aller Phantasiegebilde ebensowenig als des Zuckers. Zwei Stück im schwarzen Kaffee: genau der Zusatz an Phantasie, den eine vernünftige Konzeption eines Problems gestattet.

Phantasie = Zucker,
Vernunft = schwarzer Kaffee.
Vernunft-schwarzer Kaffee.

Ich sehe da gegen die Vernunft den Einwand machen, der gegen den schwarzen Kaffee sich erhebt. Aber der französische Gelehrte Letourneau hat den Nachweis erbracht, daß der Genuß von Kaffee die Rasse verfeinert. Die Vernunft hat den Menschen verfeinert, noch ehe er den Kaffee kannte. Sie ist beim Kinde schon da, ehe sie ihm den Genuß aufregender Getränke gestattet. Vernünftig konzipieren: das ist alt und ist neu. Es führt zu den letzten Konsequenzen und nicht zum "juste milieu". Der Stil, der sich bemüht, vernünftig zu konzipieren, ist modern; die Konzeption der Antike war keine andere. Ob die Griechen wohl gerne Pralinés gegessen haben und ob sie wohl zum Five o'clock gegangen sind? Jedenfalls haben sie die Konversation der Damen, die sie besuchten, ebensowenig ernst genommen, wie wir heute. Kunst und Geist der Antike sind nur dem zugänglich, der sich ihnen auf dem Wege der reinen Vernunft naht. Ihre einfachen Konzeptionen waren auf uns ohne Wirkung geblieben, und wir haben sie erst erkannt, als wir selbst anfingen, vernünftig zu konzipieren. Wer den Zauber vernünftiger Konzeption zu genießen weiß und die Schönheit solcher Konzeption erkennt, den treibt es hin zur Antike und hin nach Griechenland. Er macht sich auf als moderner Mensch, im Flanellanzug, mit gelbem Koffer und gelben Stiefeln, und dieser Stempel des Modernen geleitet ihn wie die Hoteletiketten auf seinem Gepäck. Sie künden, von wannen der Wanderer kommt. Die Reise dahin ist keine grade; sie macht einen Haken, einen Umweg, der ins Mittelalter führt; auf halbem Wege. Gotik: erster Spiegel, in dem unsere vernünftige Konzeption der Dinge reflektiert, von dem aus dann das Bild nach den silbernen Spiegeln des griechischen Archipels geworfen wird. Das Mittelalter griff die Probleme mit den Kräften der Vernunft auf. Da aber geschah es, daß auf diesem Willen zur Vernunft und auf dieser Gabe, die Dinge vernünftig zu erfassen, eine tausendjährige Tradition lastete voll finsterer religiöser Gebräuche. Ein dreieiniger Gott, eine jungfräuliche Mutter und ein Paradies, in dem eben so viele Heilige und Engel wohnten als Teufel und böse Geister in einer Hölle, durch dieses Dickicht mußte sich die Vernunft zur Klarheit ringen. Gotische Dome, Rathäuser, Belfriede; alles das scheint ebenso vernünftig konzipiert zu sein wie die geklöppelten Spitzen jener Epoche. Wie durch diese der Faden von Anfang bis zu Ende durchschlägt, so erscheint in allen Teilen des Bauwerks die Vernunft gleich lebendig. Um die Nadel und um die Masche der Spitze spinnt und schlägt sich der Faden; um die Nägel des heiligen Kreuzes und um die geweihten Symbole spinnt und webt die Vernunft des gotischen Meisters der Dome. Wie konnte der christliche Baumeister gerade zwischen sich und seine Vernunft seinen Gott und seine Religion stellen? Das ist der Splitter, der sich in das Räderwerk klemmt, und es genügt ein Strohhalm, die Maschine zum Stillstand zu bringen. Kathedralen und Rathäuser; durchaus vernünftige, klar durchdachte Organismen inmitten eines wirbelnden Geschehens, dessen Erinnerung mit diesen Organismen verwachsen ist. Voller Vernunft, und geglättet die Steine; man denke an Amiens. Voll der Wirkung der Zeit und des Reichtums der alten Legende; man denke an Chartres und Reims, an Rouen und Paris. Das Spiel von Licht und Schatten, das in diesem Gestein der Kathedralen zittert und lebt, teilt sein Leben dem Stein mit und mehr noch den göttlichen steinernen Gestalten, all diesen gläubigen Königen und ihren frommen Königinnen. Seitdem wirkt die Kathedrale wie ein Buch. Sie ist es, die da belehrt und unterrichtet alle die, die nicht lesen können. Sie selbst verschwindet immer mehr, sie löst sich auf und der wunderbare Kern, der in ihr lebt, erstickt. Das düster lastende Grau unseres Himmels hat sie zur Unvernunft getrieben. Tausende von steingemeißelten Gottheiten, von Heiligen und Aposteln, von klugen und törichten Jungfrauen vermögen in unserem unglückseligen Okzident nicht so viel als ein einziger Lichtstrahl in jenen gesegneten Landen, in Attika und in Ägypten. Da drunten ist das Spiel von Licht und Schatten wie das selige Haschen und Fliehen gelber und blauer Schmetterlinge. Bei uns ist das Spiel von Licht und Schatten wie der rote Frachtkahn auf einem schwarzen Kanal. Die Kunst der Gotik, sagte ich es nicht schon? ist auf halbem Wege. Das Ziel ist die konsequente Entwicklung der Vernunft und das wunderbare Spiel liebestrunkener Schmetterlinge. Brennerbahn; Schlafwagen; Wildlederhandschuhe; dunkler Flanell; Koffer und Schuhe aus hellgelbem Leder. Mailand und Genua.

Es gibt vernünftigere Dome als den von Mailand; aber es gibt kein schlagenderes Beispiel für ein Phantasiegebilde der Kunst. Der Mailänder Dom. Wie eine große Muschel, von phantastischer Woge mitten hineingeworfen in die Stadt. Ich begreife, welche Aufregung solches Ereignis in dieser Bevölkerung hervorrufen mußte; mit welchem Kultus sie solches Geschenk umgab. Hier in diesem wundersamen Werk fanden all ihre Träume von tausend und einer Nacht Körper und Gestalt, ihre Träume von dem Reichtum und der Wollust des Orients. Seit jenem Tage gelangte all ihr Entzücken neu zum Leben beim Anblick dieses Domes. Jeden Morgen erschimmert er neu und hell wie rosa Perlmutter; jeden Morgen neut sich das Fest und weckt das Gedenken des Wunders; auf dem Platz, den der Dom beherrscht und den er machtvoll beschattet, wirbelt in weicher, dunstiger Luft ein Reigen tanzender Mädchen mit Blumen, ein Schwarm von flatternden Schmetterlingen und goldig leuchtenden Käfern. Jeden Mittag wird silbern der Dom. Um die Blumenparterre des Platzes zieht strahlend in Weiß ein Hochzeitszug, mit Prinzen hell in silberner Rüstung, mit Pferden gepanzert in leuchtendem Stahl, mit Prinzessinnen und fröhlichen Narren, licht gekleidet in seidiges Gelb. Jeden Abend wird amethysten das Farbengewand des gewaltigen Doms; und unter der mächtig verklingenden Kuppel eines ernsten, goldigen Himmels zieht in Schwarz und in tiefem Violett ein Leichenzug mit der sterblichen Hülle eines Helden, der da fiel in einer jener Schlachten aus den Tagen der Sforza, der Visconti und des Lodovico Moro. Vor dem gewaltigen Anblick des Doms läßt so, neu jeden Tag, der Mailänder seine Träume aufleben, seine Feste und seine Trauer. Nur so kann man den Dom, nur so dessen Äußeres genießen. -
Pralinés und Five o'clock. Neue Gesichter, neue Umgebung. An Deck mit Amerikanerinnen von ausdrucksvollem Profil, dessen Elemente besagen, daß solches Auge wirklich sieht, daß solche Nase vibriert und atmet, daß solcher Mund zu küssen weiß. Weniger Pralinés und mehr Tee. Der Rhythmus ihrer Sprache erhöht die Eindringlichkeit der Konversation; aber zerstreuter nur noch höre ich dem zu, was sie sagen. -

Inseln sehe ich wachsen... Wie der Körper, der seiner Hüllen sich entkleidet, so enthüllen die Inseln sich meinem Blick; wo sie dem Wasser entsteigen, da leben und atmen sie gleich Frauenleibern. Bis zur Unwahrscheinlichkeit, daß sie anderes noch sein könnten, wecken diese Inseln die Erinnerung an lebende Körper von Frauen. Jedesmal, da ich neu deren eine erscheinen sehe, ergreift es mich wie Schrecken und innere Bestürzung, so wie der erste Fischer gefühlt haben muß, der sich hinaus wagte in die Weite des Meeres. Er war es, der die Kunde brachte, daß er Venus gesehen, die dem Meere entstieg. Mir ist es, als höre ich, wie er erzählt von dem Wunder, das er draußen geschaut, und dem im Kreise voll Staunen lauschen, die ängstlich seiner Wiederkehr geharrt. Was der Fischer berichtet, bestätige ich; Venus war es, nicht die Inseln von Hydra oder Ägina. Die Zuverlässigkeit aber aller mythologischen Legende kann ich in Zukunft aus eigenem Erleben bestätigen; und was der Decksteward dort erklärt, daß da drüben die Inseln Levitha, Kinaro, Amorgo und Naxos in Sicht kommen, das alles ist eitel Lug und Trug. Wie die Rücken gigantischer Tiere, so wachsen die Erscheinungen aus dem Meere. Schweigend folgen sie eine der andern; willens, unsere Nähe zu fliehen und ihre Reise fortzusetzen bis weit ab von unserer insolenten Neugierde. Zwischen einer jeden von ihnen schimmert goldig zu uns herüber ein Strom funkelnden Lichts. Sie selbst dunkler, wirklicher, uns näher. Diesen Reichtum werfen sie uns zu wie einen Tribut, daß wir ihre Reise und deren Mysterium nicht stören sollen. Den ersten Kontakt mit der Antike erlebte ich in Syrakus: drei starke dorische Säulen vom alten Minervatempel, eingefügt in die äußeren Mauern der Kirche San Giovanni. Für mich verkörpern sie die Antike selbst, wie sie gefesselt lebt in der Gegenwart; in dieser Gegenwart, die an sie sich klammert, ohne Verständnis, ohne Ehrfurcht, kaum mit lebendigem Nutzen. Wie drei Helden sind sie mir erschienen; wie das Dreigestirn: Adel, Kraft, Vernunft, daraus dieser Stil sich gebildet. Wie sie, und lebendig wie sie, trotzdem alles, das sie gefesselt hält, längst schon gestorben, lebt es durch die Jahrhunderte hin gebunden und gefesselt im Kerker. Frei würden sie sein, die Helden, seit langem, und zum zweiten Male, trüge die Menschheit nicht immer wieder mit gleicher dumpfer Geduld in all die Bauwerke, die sie seit dem Tode der antiken Schönheit errichtet, den stupiden Kitt ihrer langweiligen, kraftlosen und feigen Gedanken hinein, ihrer schwächlichen, scheinheiligen, verderbten Gewöhnung. Gefangen und gefesselt ist in dem Leben unserer Tage die Vernunft, wie die dorischen Säulen in jener Kirche San Giovanni in Syrakus. Und stündlich noch werden Kinder geboren, die langweilig sein werden und kraftlos, feige, schwach, scheinheilig und verderbt. Jedes von ihnen wird seinen Teil von Kitt herbeischleppen zu dem Bauwerk unserer Tage, jedes wird helfen, dessen Dauer zu verlängern. -

Auf den Stufen des griechischen Theaters in Syrakus. Der Geist, daraus die griechische Kunst entsprang, ist nicht tot, trotzdem Toren in der klassischen Kunst seinen letzten Ausdruck erkannt haben wollen. Noch ist in unserer Mitte sein Pulsschlag so lebendig und so unverbraucht, wie vor dreitausend Jahren. Er wird leben, solange die Menschheit fähig ist, auch nur einen einzigen Gegenstand, ein einziges Ding vernünftig zu erfassen. Toren mögen sagen, daß der Geist tot ist, daraus die griechische Kunst entsprang. Der Geist, der dieses Theater erzeugt hat, dessen erstaunlich logische Konzeption heute, da alles Ornament fehlt, logischer noch erscheint als damals: es ist der gleiche, der jenen wunderbar vollkommenen Gegenstand, das Kabinenfenster auf dem Dampfer erfand, der mich hierher gebracht hat; der gleiche auch, der die elektrische Birne erfunden und die Glasglocke des Auerlichts; der gleiche, der das Buttermesser entstehen ließ, dessen wir an Bord uns bedienen, und dessen Herkunft der Steward durch den Hinweis auf die Fabrikmarke der Solinger "Zwillinge" mir verriet. Gewisse Elemente des modernen Lebens sind mir nie so schön erschienen, als hier, wo ich sie mit diesem Theater vergleiche, das Aeschylus und Pindar in Person gesehen hat. Nicht das kleinste Detail in der Konzeption des Ganzen, das nicht genau einer inneren Notwendigkeit entspräche. In dieser Schöpfung waren genau die gleichen Gesetze wirksam, die unsere Ingenieure leiten bei dem Bau ihrer Maschinen, ihrer Gerüste, ihrer Ozeandampfer. Das moderne Leben hat seine Schönheit; bei meinem ersten Kontakt mit der Antike ist diese Wahrheit mir zur Gewißheit geworden. -

Von der Stelle aus, wo ich stehe, seitlich, hoch auf dem Amphitheater, sehe ich alle Linien der Stufenreihen ausstrahlen von einem einzigen Punkt und halbkreisförmig sich ausbreiten, wie ein Netz, das die Strömung dahintreibt. Und wie diese Linien auseinanderstrahlen, bilden sich immer neue Verhältnisse, die das entstehende perspektivische Bild ausspannt, bis daß sich das vollkommene Profil der Stufen frei ringt; es ist wie ein Sang, der jubelnd emporsteigt zum Himmel. Sind es wirklich die Linien, die singen, oder ist es unsere Seele, die einklingt und einschwingt wie die Saite, wenn im Raume der Ton erklingt, darauf sie selbst gestimmt ist? Dann wäre unsere Seele empfänglich für die Vollkommenheit der Verhältnisse und nur das Beste noch dürfen wir von ihr denken. In Griechenland weben und zittern die Steine, wie bei uns an den Bäumen das Laub. Sie leben, diese Steine, so stark, daß wir in ihrer Mitte von einer Verwirrung erfaßt werden, wie da, wo plötzlich inmitten einer umgebenden Menge aller Blicke auf uns sich richten. Sie brauchen kein Relief, keine Skulptur, um zu leben, sie entlehnen dieses Leben ihrem wunderbar sicher gefügten Verband. In Mykenä, zwischen den beiden parallelen, kahlen Mauern, im Schatzhaus des Atreus, da habe ich zitternd ein Leben gefühlt, lebendig wie das Leben des Waldes, und ich entsinne mich nicht, jemals stärker ergriffen und tiefer entzückt gewesen zu sein. Zur Rechten die Insel Ägina. Der Wind bläst und das Meer ist violett. An dem opalschimmernden Himmel hängt und schwebt dicht ein blauer Streifen. Von dem Steg aus, auf den ich geklettert bin, um als Erster Athen zu erblicken, sehe ich unter mir die Menge der Reisenden: Baedeker, Meyer, weiße Westen, rote Krawatten, blaue Brillen und Panamas. Da drüben aber, funkelnd inmitten der Masse von Blau, ein weißer Punkt, in dem sich die Kultur der Griechen kristallisiert! P a r t h e n o n ! Die Stufen der Propyläen steigt man hinauf, als führe der Weg zu der Menschheit Gehirn. Dort droben strahlt der Parthenontempel, wie der schönste Gedanke, der Form gewann. Naiv und einfach ein Gedanke, den Gehirn und Seele, des Griechenvolkes zur Wirklichkeit gestaltet haben, wie die Pflanze die Blüte zum Licht treibt. Der griechische Tempel - wie kindlich die Konzeption. Zwei und zwei ist vier, das ist ihr Wesen; aber zwischen den Zahlen und ihrer Summe liegt die ganze Unendlichkeit feinster Nuance, die aus der abstrakten Summe einen lebendigen Organismus schuf. Das Gerippe des gotischen Doms entspricht einem Exempel, das höchstens etwas schwerer ist als zwei und zwei; aber zwischen deren Einern und ihrer Summe, da wimmelt es von göttlichen und legendarischen, von mächtigen und wirklichen Wesen; und sie alle leben auf Kosten des Ganzen, sie zehren vom Leben des Bauwerks. Der Griechentempel lebt von dem Ganzen der Teile, die restlos und selbstlos aufgehen darin. An dem Griechentempel hat die Vernunft das Wesentliche erfunden, die Säule und alle die andern Teile. Die Griechengötter haben sich nicht zwischen diese Vernunft gestellt und die künstlerische Gefühlserregung, die ihrer Vollkommenheit zustrebte. Zwischen dem Holzpfahl des ersten Megaron Homerischer Zeiten und der sublimen Säule des Parthenon hat nichts sich eingeschoben von phantastischer Willkür. Es ist die normale Abwandlung der immer gleichen Erscheinung, die angedauert hat jahrhundertelang. Und die Griechen, die mehr Götter hatten als wir, haben im Laufe dieser ganzen Zeit sich durch sie nicht irre machen lassen in ihrer folgerechten Tätigkeit, die noch heute als das Symbol erscheint einer der erhabensten Konzeptionen der Menschheit. Die Säule, ihre Entwicklung: es hat ein Jahrtausend gedauert, bevor sie vollendet war. Der Pfahl wird zu übereinander geschichteten Steinen, die Struktur kehrt sich um, die Schwellung der Säule wandelt sich und keinerlei Willkür wird in solchem Wandel kund. Die Entwicklung vollzieht sich im Sinne des Axioms, das ich in anderem Zusammenhang aufgestellt habe: daß alle Materie ihrer Entmaterialisierung zustrebt. Genie und Temperament einer Rasse entscheiden über die Art und die Mittel. Ich werde jetzt etwas sagen, was paradox klingt: Die Griechen haben an der Umwandlung der Säule - und auch der andern Teile des Tempels - gearbeitet,  b i s  s i e   n i c h t  m e h r  e x i s t i e r t e. Diese Säule der Griechen existiert nur noch in unseren Museen: ausdruckslos, erstarrt, sinnlos. Oben auf der Akropolis, da lehren es die, die noch stehen geblieben sind, daß sie nicht mehr sind, daß sie keine Last mehr tragen, oder vielmehr daß diese Funktion nicht mehr zählt, selbst da, wo die Berührungsflächen zweier Steine am oberen Gebälk sich treffen; daß sie unter sich auseinander gerückt sind nach ganz andern Gesetzen als denen, die sie dahingestellt zu haben scheinen. Sie verkünden es laut, daß keine Säule mehr steht rings um den Parthenontempel; daß aber dazwischen mächtige, vollkommene Vasen erstanden, die in sich das Leben tragen: den Raum und die Sonne, das Meer und die Berge, die Nacht und die Sterne. Die Schwellung der Säulen hat solange sich gewandelt, bis zwischen zweien von ihnen die negative Silhouette eine Form erreicht hatte, die für alle Ewigkeit vollkommen sein wird.
Was hier dem Ohr paradox klingen mag, das kann für das Auge allein überzeugend wirken. Jedes Element im Parthenon und alle Materie hat nach der eigenen Entmaterialisierung gestrebt. Dafür den Beweis zu erbringen, an Ort und Stelle: die Lust dazu hätte ich wohl; ebenso schnell aber ist sie wieder verflogen. Denn da unten unter der Akropolis da tanzt die Duncan und läßt sich photographieren für die "Woche" auf den Steinfließen des Dionysostheaters. Ihre Hände, Ihre Arme, Ihre Füße, mein Fräulein, bleiben immer Ihre Hände, Ihre Arme, Ihre Füße, - Ihre Füße besonders stören mich. Die Füße der Tänzerinnen entmaterialisierten sich im Tanz der Griechen ebenso wie die Glieder des Parthenon. Die Loïe Fuller hat ein größeres Recht als Sie, auf diesem geweihten Boden zu tanzen. Griechische Seele und griechischer Tanz, beide leben in ihrem Tanze fort.


PROGRAMM:
Den Sinn, die Form, den Zweck aller Dinge der materiellen modernen Welt mit derselben Wahrheit erkennen, mit der die Griechen, unter vielen andern, Sinn, Form und Zweck der Säule erkannt haben. Es ist nicht leicht, den exakten Sinn und die exakte Form für die einfachsten Dinge heute zu finden. Wir werden noch lange brauchen, um die exakte Form eines Tisches, eines Stuhles, eines Hauses zu erkennen. Religiöse, willkürliche, sentimentale Phantasiegebilde sind Schmarotzerpflanzen. Sobald die Arbeit der Reinigung und Auskehr beendet ist, sobald die wahre Form der Dinge wieder ans Tageslicht kommt, dann mit eben der Geduld, mit eben dem Geist und mit der Logik der Griechen streben nach der Vollkommenheit dieser Form. In gleichem Maß wie bei den Griechen scheint mir die künstlerische Sensibilität bei uns ausgebildet zu sein; weniger ausgebildet aber, schwächer entwickelt, ist bei uns der Sinn für Vollkommenheit. Unter welchem sozialen Regime aber werden wir die heiter verklärte Ruhe genießen, die wir zur Arbeit und zum ernsten Streben brauchen?

ANTWORT:
Sollen wir von einem  s o z i a l e n  Programm erwarten, was doch nur  u n s e r e m  e i g e n s t e n  I n n e r n  entstammen kann? Vernünftig denken, die künstlerische Sensibilität kultivieren! Jeder von uns vermag das heute für sich selbst; es handelt sich nur darum, daß es deren Viele werden, auf daß eine neue soziale Atmosphäre entstehe.