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Autor: Zöller, Egon
In: Allgemeine Bauzeitung - 48 (1883); S. 97 - 102
 
Die Bedeutung der Technik und des technischen Standes in der Kultur
 
Von Egon Zöller, Regierungsbaumeister in Düsseldorf

Unter die eine höhere Stellung im Leben einnehmenden Stände hat sich als jüngster Genosse mit diesem Jahrhundert der technische Stand gereiht. Wenn die übrigen Stände auf den Neuling mannigfach mit einem gewissen Misstrauen herabschauen, wenn manche Rechte dem neuen Stande vorenthalten werden und er in gesellschaftlicher Beziehung nicht das gebührende Ansehen geniesst, wenn der junge Stand sich auf dem neuen Boden noch nicht mit der Sicherheit und dem Selbstvertrauen wie die älteren Stände bewegt, so sind das Widerwärtigkeiten, die sich naturgemäss dem Eindringling entgegenstellen. Diese Missstände kann der technische Stand nur aus und durch sich selbst überwinden. Wir Techniker müssen uns selbst im Leben die Stellung erkämpfen, die uns nach unserer Bildung und nach der Bedeutung der uns gestellten Aufgabe zukommt. Hierzu ist es erforderlich, dass der Stand sich mehr wie bisher in sich konsolidirt, dass er in höherem Maasse sich dem gesammten Leben erschliesst, sowie dass er vor Allem die Bedeutung der Technik im heutigen Kulturleben vollkommen erfasst. Nur der Fachgenosse, der in seiner praktischen Thätigkeit diese Bedeutung in ihrer vollen Tragweite vor Augen hat, wird ein organisches Glied des Standes sein und in seinem Maasse zur Hebung desselben und zur Verwirklichung der dem Stande obliegenden Aufgabe beitragen. Die Bedeutung unseres Berufstandes im Leben können wir aber nicht fassen, wenn wir uns nicht Rechenschaft über das Ziel alles Lebens geben. Denn es ist selbstverständlich, dass die Bedeutung unseres Standes sich nach dem Verhältnisse richtet, in welchem er an der Verwirklichung dieses Zieles Theil nimmt. Wollen wir unsere Aufgabe erfüllen, so müssen wir sowohl unsere Interessen den Interessen alles Lebens organisch einfügen, als auch die Kenntniss des Zieles alles Lebens, aller menschlichen Thätigkeit und Arbeit erwerben. Sonst werden wir nie im Stande sein, dem Einwande anderer Stände entgegenzutreten, dass sie in höherem Maasse dieses Ziel verwirklichen und dass ihnen dementsprechend der Vorrang gebühre. Um nun das Ziel der menschlichen Thätigkeit zu erkennen, müssen wir im Leben Umschau halten. Ueberall sehen wir ein rastloses Arbeiten, ein ewiges Streben, das Gebiet, das wir mit unseren physischen und geistigen Kräften beherrschen, weiter und weiter auszudehnen. Dass diese Thätigkeit, dieses Streben unserem ureigensten Wesen entspringt, weiss ein jeder Fachgenosse. Lebt doch in jedem Menschen in gewissem Maasse eine Faustnatur, in der der grosse Dichter dieses Streben und Ringen als einen Grundzug menschlichen Wesens in so meisterhafter Weise zum Ausdrucke gebracht hat. Wozu aber diese rastlose Thätigkeit, diesen Kampf um das Dasein? Die Antwort hierauf kann uns nur das Leben selbst bieten. Es sind zwei grosse Ziele, die sich unsere Thätigkeit gesteckt hat, zwei Ziele, die uns anfangs scheinbar als getrennte entgegentreten. Das eine Ziel ist die Erkenntniss alles Seins, die Erkenntniss der sinnlichen und geistigen Welt; das andere Ziel ist die Umgestaltung unserer Welt und die Entwickelung unserer geistigen Anlagen. Nur wenige Beispiele, die leicht vielfach zu vermehren sind, seien hier kurz angeführt. Wenn der Astronom die Bewegung der Gestirne, der Botaniker eine Blume, der Techniker die Durchbiegung der Balken studirt, so haben diese Forscher alle die Erkenntniss der in diesen äusseren Erscheinungen für uns zu Tage tretenden Gesetze des in allem Wechsel Konstanten und ewig Wahren zum Ziel. Wenn der Geistliche den religiösen Sinn im Menschen weckt, der Lehrer die geistigen Anlagen des Kindes entwickelt, wenn der Richter die Ausübung einer gegen das Recht verstossenden Thätigkeit bestraft, oder endlich, wenn der Landwirth seine Aecker bestellt, der Architekt Häuser, der Ingenieur Wege baut, so bezweckt deren Thätigkeit - so verschieden sie auch sonst sein möge - eine Umgestaltung unserer Welt. Wir nennen die auf die Erkenntniss der Welt sich richtende Thätigkeit eine  t h e o r e t i s c h e,  die auf die Umgestaltung der Welt sich beziehende eine  p r a k t i s c h e.  Wir können aber weder die theoretische noch die praktische Thätigkeit verstehen, ohne deren organischen Zusammenhang zu fassen. Da der organische Zusammenhang von Theorie und Praxis zum Nachtheil unseres Standes allzuoft übersehen wird, so möchte der Aufsatz auf denselben etwas ausführlicher eingehen. So abstrakt uns auch die Wissenschaft und namentlich einzelne Zweige derselben erscheinen, so gibt es doch kein Wissen, welches nicht seinen Ausgangspunkt im praktischen Leben hatte. Eine Wissenschaft, welche von unserer Welt und unserer praktischen Thätigkeit vollständig abstrahiren wollte, würde zu ihrem Objekte das »Nichts« machen und gleichbedeutend mit dem Nichtwissen sein. Wie alles Wissen im Leben das Fundament hat, so erlangt auch die Wissenschaft nur dadurch Werth, dass sie dem praktischen Leben zurückgegeben wird und auf unsere Welt umgestaltend einwirkt. Ein Kant und Fichte, ein Schiller, ein Goethe haben nicht ihre Bedeutung darin, dass sie grossartige philosophische Systeme ausgebaut oder vollendete Dramen verfasst haben, sondern darin, dass sie mit ihren Arbeiten einen so hebenden und fördernden Einfluss auf das Geistesleben aller Zeiten übten. Ihr Werth ist also ein rein praktischer. Wenn in diesem Jahrhundert die Naturwissenschaften in einem Maasse wie nie vorher ausgebildet worden sind, so haben dieselben auch nie eine so umgestaltende Einwirkung auf das gesammte praktische Leben geübt, wie in diesem Jahrhundert.

Ist die theoretische Thätigkeit somit von der praktischen nicht loszulösen, so kann ebenso umgekehrt eine praktische Thätigkeit ohne eine theoretische nicht ausgeübt werden. Wir haben schon ausgeführt, dass sich alle praktische Thätigkeit auf die Umgestaltung der Welt und unserer geistigen Anlagen richtet. Wir können aber die Welt nicht umgestalten, wir können keine Strasse, kein Haus, keine Maschine bauen, ohne für die Umgestaltung einen Plan zu haben. Dieser Plan ist uns aber nicht in der äusseren Welt gegeben. Wenn der Baumeister einen Dom oder eine Eisenbahn projektirt, wenn der Künstler eine Statue meisselt, so suchen Baumeister und Künstler eine ganz bestimmte Idee in der äusseren sinnlichen Welt zum Ausdruck zu bringen. Diese Idee aber haben beide nur aus ihrem eigensten Inneren geschöpft. Wohl hat die äussere Natur Anregung zu künstlerischen Formen in der Baukunst, aber niemals die Idee selbst gegeben. Wir können keine praktische Thätigkeit üben, ohne vorher die Idee, die wir zum Ausdrucke bringen oder nach der wir die Natur umgestalten wollen, zu erkennen. Diese Erkenntniss der Idee gewinnen wir aber nur durch eine theoretische Thätigkeit. So sonderbar es auch zuerst erscheinen mag, so muss doch nothwendig aller praktischen Thätigkeit eine theoretische vorangehen. Wenn der Ingenieur eine Brücke baut, so muss er wissen, welcher Art und wie gross der aufzunehmende Verkehr, wie schwer ein Wagen, ein Fussgänger ist, welche Inanspruchnahme das zu verwendende Material zulässt, bei welcher Last ein Bruch eintritt, wie die Last die verschiedenen Konstruktionstheile beanspruchen wird und vieles Andere. Dieses Wissen ist zur Aufstellung des Planes unbedingt erforderlich und dieses Wissen ist rein theoretisch. Der Ingenieur braucht nicht jeden Wagen und jeden Fussgänger zu wiegen, er braucht nicht die Inanspruchnahme jedes Eisenstabes wirklich durch Versuche zu messen, sondern er muss nur wissen, dass dieses so ist und so sein wird. Gründet sich auch das Wissen der Spannungsgesetze im Balken auf praktische Versuche, so braucht doch nicht jeder Ingenieur, der eine Brücke bauen will, diese Versuche von Neuem anzustellen. Für ihn ist nur ein Wissen und Kennen dieser Gesetze erforderlich. Wir Architekten und Ingenieure würden nur eine höchst beschränkte Thätigkeit ausüben können, wenn unsere Thätigkeit sich unmittelbar auf die eigenen praktischen Erfahrungen stützen müsste. Der ausgedehnte Umfang unserer Leistungen ist daher nicht durch die praktischen Erfahrungen des Einzelnen, sondern vor Allem durch das Zusammenfassen aller Erfahrungen im Wissen, durch die theoretische Thätigkeit möglich. Erst wenn diese Thatsache in ihrer vollen Tragweite von den Fachgenossen und Studirenden erkannt wird, kann der Stand die grösstmöglichste Thätigkeit ausüben und das ihn gebührende höchste Ansehen erlangen. Beweist uns das Leben, dass die theoretische und praktische Thätigkeit allenthalben verwoben sind und die eine stets die andere bedingt und voraussetzt, so können diese Thätigkeiten unmöglich verschiedene Ziele haben, da eine solche Verschiedenheit den organischen Zusammenhang nothwendig aufheben würde. Wenn die praktische Thätigkeit eine Umgestaltung der Welt bezweckt, so kann die Ursache zu dieser Thätigkeit nur darin liegen, dass die Welt uns nicht vollkommen befriedigt, oder dass die Welt uns als eine in gewisser Beziehung unvollkommene entgegentritt. Bevor wir die Welt umgestalten, müssen wir also deren relative Unvollkommenheit in gewissem Maasse erkannt haben, was nur dadurch möglich ist, dass wir unsere reale Welt mit einer höheren Welt vergleichen, welche uns in unserem Innern als eine rein geistige gegeben ist. Unser Handeln, oder unsere praktische Thätigkeit, setzt daher einerseits die Erkenntniss der relativen Unvollkommenheit unserer realen Welt, sowie anderseits die Erkenntniss der in uns gegebenen geistigen Welt und deren Vollkommenheit voraus. Indem wir handeln, gestalten wir die reale Welt dieser höheren Welt, aus der wir alle Idee'n für unsere Thätigkeit schöpfen, entsprechend um und heben damit den Konflikt, der zwischen der Unvollkommenheit unserer realen Welt und der Vollkommenheit der in uns liegenden geistigen Welt besteht, in gewissem Maasse auf.

Alle Thätigkeit - sei sie theoretisch oder praktisch - hat daher die Verwirklichung dieser in uns liegenden geistigen Welt für uns zum Endziel. Mit der Erreichung dieses Zieles ist die relative Unvollkommenheit überwunden und alles Sein auch für uns ein vollkommener Organismus, was weiter auszuführen den Rahmen des Aufsatzes allzusehr erweitern würde. Wenn auch praktische und theoretische Thätigkeit nur ein Ziel haben, so können wir doch in unserem zeitlichen Leben Praxis und Theorie unterscheiden. In der theoretischen, auf die Erkenntniss der Welt gerichteten, Thätigkeit gewinnen wir die Idee für die Umgestaltung der Welt, also die Idee für unsere praktische Thätigkeit. In der Zeit fallen die Idee und unsere Welt oder Form und Inhalt für uns nicht vollständig zusammen. Dass aber Form und Inhalt in Wahrheit nicht getrennt und nicht zu trennen sind, davon zeugt nicht nur der organische Zusammenhang von theoretischer und praktischer Thätigkeit, sondern vor Allem auch die  ä s t h e t i s c h e  Thätigkeit. Durch diese Thätigkeit suchen wir in der Zeit die zeitliche Form und den zeitlichen Inhalt zu einer möglichst harmonischen Vereinigung zu bringen oder einer zeitlichen Idee in der sinnlichen Welt einen möglichst vollkommenen Ausdruck zu geben. Während theoretische und praktische Thätigkeit stets über das vollendete zeitliche Werk hinausgehen, weil jedes zeitliche Werk nur ein Stein im grossen Bau ist, hat die künstlerische Thätigkeit in jedem Werke gleichsam einen Ruhepunkt, indem sie in jedem Werke Form und Inhalt, Theorie und Praxis vom zeitlichen Standpunkte aus möglichst vollkommen zusammenschliesst. Es gewährt uns daher auch die Kunst in unserer Entwickelung den höchsten und reinsten Genuss, der uns in höchstem Maasse über die Zeit erhebt, weil eben die Kunst in der Zeit für uns der höchste Ausdruck der ewigen Harmonie alles Seins ist. Die künstlerische Thätigkeit schliesst eine theoretische und praktische in sich. Ebenso ist auch die praktische Thätigkeit soweit künstlerisch, als durch dieselbe Form und Inhalt in harmonischer Weise zur Deckung gebracht werden. Wenn wir eine Brücke bauen, so ist unser nächster Zweck, eine Verbindung der beiden Flussufer herzustellen. Diese Idee können wir in verschiedener Weise verwirklichen. Soweit wir bei dieser Thätigkeit nur allein auf den Zweck sehen, ist die Thätigkeit rein praktisch; bringen wir aber gleichzeitig die verwendeten Mittel in möglichst harmonische Uebereinstimmung mit der Idee, so ist die Thätigkeit eine künstlerische. Wenn somit alle drei Thätigkeiten in der Zeit ihr selbständiges Ziel haben, - nämlich die theoretische die Erkenntniss des Seins oder die Gewinnung der Idee; die praktische die Umgestaltung der irdischen Welt; die künstlerische die harmonische Vereinigung von Form und Inhalt in der Zeit - so vereinigen sich doch alle diese Thätigkeiten in dem Endziele alles Lebens, der Verwirklichung alles Seins zu dem vollkommenen Organismus, wie dieser in uns als die höhere geistige Welt über aller Zeit gegeben ist. An der Verwirklichung dieses Zieles arbeitet jeder Mensch nach seinem Maasse. Jede menschliche Arbeit ist ein nothwendiges Glied in der Kette der Entwickelung zu diesem Ziele. Jedem Menschen, jedem Stande ist zur Erreichung dieses Zieles eine bestimmte Aufgabe zugemessen. Diesem gegebenen Maasse entspricht die Bedeutung, die dem einzelnen Menschen wie dem einzelnen Stande im Leben zukommt. Wir haben daher, um die Bedeutung unseres Standes im Kulturleben zu erkennen, zu untersuchen, ob uns in gleich hohem Maasse wie den übrigen höheren Ständen die Verwirklichung des Zieles alles Lebens zur Aufgabe gestellt ist. Nur zum Vergleiche seien in Kürze einige andere Stände und deren besondere Ziele hier angeführt.

Während der  G e l e h r t e  dahin strebt, die Welt und das Endziel des Lebens zu erkennen, richten der  S e e l s o r g e r  und der  L e h r e r  ihr Augenmerk auf das geistige Leben des Menschen und suchen dieses in vernünftiger Weise umzugestalten und schlummernde Anlagen zu entwickeln. Dem  J u r i s t e n  liegt es ob, der äusseren Thätigkeit der Menschen die Form der Vernunft zu geben und dadurch ein organisches Zusammenwirken der Menschen möglich zu machen. Während der Pflege des  A r z t e s  der vollkommenste Organismus in der Körperwelt, nämlich der menschliche Körper, anvertraut ist und der  L a n d- und  F o r s t w i r t h  die organische Natur den Zwecken des Menschen dienstbar machen, ist dem  T e c h n i k e r  die gewaltige, grosse, unorganische Natur als das Gebiet für seine praktische Thätigkeit gegeben. Es ist seine Aufgabe diese Massen in vernünftiger Weise umzugestalten und dieselben somit ebenso wie die organische Natur in den Dienst des Menschen hereinzuziehen. Während also die anderen Stände ihre Thätigkeit auf das Seelenleben, auf die Regelung der äusseren Thätigkeit des Menschen oder wenigstens doch auf die organische und die in höherem Maasse lebende Natur richten, ist uns wohl ein weit ausgedehntes, aber doch ein wegen seines leblosen Charakters untergeordnetes Gebiet zugewiesen. Wenn sicht daher die Bedeutung jedes Standes nur nach dem Gebiete seiner Thätigkeit richten würde, so müssten wir ohne Zweifel unter den Ständen uns mit dem letzten Range begnügen. Die Bedeutung eines Standes ist aber keineswegs allein von dem relativen Werthe des Gebietes abhängig, auf das seine Thätigkeit sich erstreckt, sondern ebenso sehr von dem Maasse der Selbständigkeit der Thätigkeit und deren praktischem Werthe für die Erreichung des Zieles alles Strebens, aller Kultur. Jedem Stande ist ein bestimmtes Gebiet nur als ein Mittel gegeben, um auf diesem Gebiete zur Förderung der Kultur zu wirken. Die Bedeutung eines Standes beruht daher vor Allem auf dem Maasse, nach dem derselbe auf seinem Gebiete zur Erreichung des allen Ständen und allen Menschen gemeinsamen Zieles beiträgt. Ist dem  G e i s t l i c h e n  als das Gebiet seiner Thätigkeit das innere religiöse Leben des Menschen, also seinem Werthe nach das in unserem Leben am höchsten stehende Gebiet gegeben, so ist dagegen die Selbständigkeit seiner Thätigkeit dadurch wieder beschränkt, dass er das innere Leben in freier Weise nicht umgestalten, sondern auf dasselbe vorwiegend nur anregend und weckend einwirken kann. Ebenso ist die Thätigkeit des  L e h r e r s,  obgleich sich dieselbe auf die geistigen Anlagen richtet, keine positiv schaffende, sondern nur eine anregende, denn das eigentlich thätige Moment muss doch der Schüler selbst geben. In höherem Maasse kann schon der  A r z t  selbständig auf den ihm anvertrauten Körper einwirken, aber alle ärztliche Kunst vermag doch in letzter Linie nur die im Körper wirkenden Kräfte abzuschwächen und beziehungsweise zu unterstützen. Dazu tritt der Arzt erst bei einer Störung des Normalzustandes in sein Amt. Auch seine Thätigkeit trägt noch einen negativen Charakter.  L a n d-  und  F o r s t w i r t h  vermögen zwar einen relativ grösseren Einfluss auf die Natur auszuüben, aber sie haben doch nur die äusseren Bedingungen möglichst günstig zu gestalten. Pflanze und Baum vermögen sie nicht zu bilden, sie werden und vergehen ohne ihr Zuthun. Dagegen kann der  T e c h n i k e r  in freiestem Masse über die unorganische Natur verfügen. Er ist gewiss auch in seiner Thätigkeit durch mannigfache Schranken gebunden, bei dem Bau von Bahnen, Wegen und Kanälen durch die Terrainverhältnisse, beim Bau der Brücken durch die beschränkte Festigkeit der Materialien u. s. w. Aber gegenüber den übrigen Ständen ist die Thätigkeit des Technikers die freieste, diejenige, welche am meisten  p o s i t i v  in das vertraute Gebiet eingreift. Ist auch dieses Gebiet gegenüber anderen Gebieten ein untergeordnetes, so vermag doch der Techniker auf diesem Gebiete vermöge der grösseren Selbständigkeit und Freiheit seiner Thätigkeit in ebenso hohem Maasse das Ziel aller menschlichen Thätigkeit, aller Kultur zu verwirklichen, wie jeder andere Stand.

Sehen wir auf die Städte mit ihren grossartigen Neubauten, ihren Gas- und Wasserwerken, auf das die Welt umspannende Netz von Bahnen, Telegraphen, Wegen und Kanälen, auf die unendliche Zahl von Maschinen, welche sich im Dienste der Menschen bewegen und Tausende von Händen ersetzen; alles dieses sind grossartige Leistungen der Technik. Unser ganzes heutiges Leben ist im engsten Maasse mit der Technik verflochten und die hohe Bedeutung der Technik erkennen wir am besten, wenn wir im Gedanken einen Versuch machen, die Technik aus dem heutigen Leben loszulösen und alle die gewaltigen technischen Schöpfungen dieses Jahrhunderts wieder in den Schoss der rohen unorganischen Natur zu versenken. Dieser Versuch würde gleichbedeutend mit der gänzlichen Vernichtung unseres heutigen Kulturzustandes sein. Freilich ist auch kein anderer Stand auszuscheiden, ohne das gesammte Leben zu schädigen; aber doch ist kein zweiter Stand so extensiv und intensiv mit unserer heutigen Zeit verflochten, wie der technische Stand. Der technische Stand kann daher nicht nur, sondern er muss jedem anderen Stande ebenbürtig zur Seite treten, wenn er seine Aufgabe erfüllen soll! Je wichtiger aber diese Aufgabe, je grösser die dem Techniker in seiner Thätigkeit zukommende Selbständigkeit ist, um so nothwendiger ist es auch, dass der technische Stand seine Aufgabe richtig erfasst, und dass der Techniker in jeder Beziehung ein freier und selbständiger Mann ist. Ehe jedoch dieser Aufsatz die aus der Bedeutung der Technik unserem Stande erwachsenden Pflichten erörtert, möchte derselbe auf die naheliegende Frage eingehen, warum denn, wenn die Technik so eng mit dem Leben verflochten ist, ein eigentlich höherer technischer Stand sich erst mit diesem Jahrhundert gebildet hat? Wohl bezeugen die Bauten der alten Völker, dass ihnen die Technik nicht fremd war, und dass sie vielfach eine hohe mechanische Fertigkeit besassen; wohl pflegten die Zünfte die Technik, aber der technische Stand ist doch erst ein Kind des 19. Jahrhunderts. Diese Thatsache erscheint um so merkwürdiger, als eine technische Thätigkeit doch weit früher geübt wurde, wie die juristische oder ärztliche, denn unter einer technischen Thätigkeit ist nichts Anderes zu verstehen, als eine Umgestaltung der äusseren Natur, der rohen Materie zu irgend einem vernünftigen Zwecke. Eine solche Thätigkeit aber übt schon der Wilde, wenn er den Feuerstein bearbeitet, oder wenn er seine primitiven Gefässe formt. Die Ursache des jugendlichen Alters des technischen Standes liegt daher auch keineswegs in dem späten Auftreten der technischen Thätigkeit, sondern nur in der Schwierigkeit, die seit uralten Zeiten geübte, äusserst umfangreiche und mit dem Leben eng verflochtene technische Thätigkeit als ein Ganzes zu umfassen und die Technik als eine das grosse Gebiet der unorganischen Natur beherrschende Wissenschaft emporzuheben. Das grosse Gebiet der unorganischen Natur können wir nie praktisch, sondern nur theoretisch, das ist durch unser Wissen beherrschen. Die Bildung dieses »Wissens« konnte sich aber in der Technik sowohl wegen der Grösse des Gebietes, wie auch wegen des überwiegend praktischen Charakters jeder technischen Thätigkeit, nur sehr allmälig vollziehen.

Freilich tritt die theoretische Thätigkeit mit jeder praktischen auf. Wenn der Naturmensch die Feuersteine bearbeitet oder zwei Hölzer zum Feueranzünden aufeinander reibt, so beruht dieses nur auf einem Zusammenfassen der früher gemachten Erfahrungen durch den Verstand. Dieses Zusammenfassen der Erfahrungen, das Ueberlegen ist aber eine theoretische Thätigkeit. Letztere ist nur hier so eng mit der praktischen verflochten, dass ihr jede Selbständigkeit fehlt. Wenn der Wilde die Erde zu primitiven Hütten aufwirft, oder aus dem Thon rohe Geschirre verfertigt, so mag uns dieses als eine unbedeutend rohe Thätigkeit erscheinen und doch liegt in dieser Thätigkeit der Anfang der Technik; es ist das erste Zeichen der Beherrschung der unorganischen Natur durch den menschlichen Geist, durch das Wissen des Menschen. Mit steigender Kultur erhebt sich der Mensch in stetig höherem Maasse als Herr über die Welt. Aber diese Herrschaft übt er nicht durch seine physischen Kräfte, welche im Vergleiche zu den Kräften der Thiere und der Natur verschwindend klein sind, sondern nur durch seinen Geist. Wenn er die Balken zur Ueberbrückung über eine Schlucht streckt, wenn er die Steine zum Bau einer Wohnung aufeinanderlegt, wenn er das Erz schmelzt und aus demselben Geräthe verfertigt, so ist dieses Alles in erster Linie eine praktische Tätigkeit, aber eine praktische Thätigkeit, welche ohne die Thätigkeit des Geistes nicht möglich wäre. Während Astronomie, Arzneikunde, Naturwissenschaften u. s. w. sich mehr sprungweise ausbilden, begleitet die Technik den Menschen auf jedem Schritt des Lebens, weil eben der Mensch überall und stets die grosse unorganische Natur als das erste und ausgedehnteste Mittel zu seiner Benutzung vor sich hat. In den ersten Kulturanfängen übt eigentlich jeder Mensch eine technische Thätigkeit, indem ein Jeder, soweit sein Bedürfniss dieses erheischt, die unorganische Natur zu seinem Zwecke umgestaltet. Hier ist theoretische und praktische Thätigkeit noch in engster Weise verknüpft, und nur unbedeutend erhebt sich die erstere über die Natur. Mit zunehmender Kultur bilden sich verschiedene Berufsstände. Da die menschliche Vernunft wegen ihrer beschränkten Fassungskraft nicht ausreicht, die ganze Welt in höherem Maasse in sich aufzunehmen, so würde ohne diese Gliederung und die damit verbundene Arbeitsteilung die Kultur bald stagniren müssen. Durch die Standesbildung aber theilen sich die Menschen in das grosse Gebiet und ein jeder Stand vermag in Folge der Verminderung seines Gebietes dieses nun intensiver zu beherrschen und besser zu vernünftigen Zwecken auszunutzen. So sehen wir eine Klasse die Vertheidigung des Landes, eine andere die Pflege der religiösen und geistigen Anlagen, eine dritte die Bebauung des Landes u. s. w. übernehmen. Wohl steigerte sich die technische Thätigkeit, aber nirgendwo sehen wir dieselbe von einem bestimmten Stande vollständig aufgenommen. Ehe das grosse Gebiet der technischen Thätigkeit vom menschlichen Geiste umfasst werden konnte, musste sich dieses Gebiet erst in einzelne selbständige Zweiggebiete gliedern. Der Bildung des technischen Standes geht nothwendig die Bildung der einzelnen Handwerkerstände voraus. Durch dieselben wurde die zersplitterte technische Thätigkeit zunächst gegliedert, dann konzentrirt und gesteigert. Indem jeder Handwerkerstand sich auf einen bestimmten Zweig beschränkte, wurde es ihm möglich, für die Erreichung seiner Aufgabe nicht nur die mechanische Fertigkeit, sondern auch sein Wissen in höherem Maasse auszubilden. Wenn wir die Leistungen des Handwerkes des Mittelalters sehen, so können dieselben nur unsere ausserordentliche Bewunderung erregen. Die Leistungen wären ohne ein grösseres Wissen nicht möglich gewesen. Das Bild zu einem künstlichen Mechanismus, wie der der Uhr, hat der Handwerker nicht aus der Natur, sondern nur durch die Thätigkeit seines Geistes gewonnen. Ohne eine höhere theoretische Thätigkeit würde das Handwerk niemals zu dieser Blüte gelangt sein, denn nicht auf die mechanische Fertigkeit, sondern gerade auf das Verwobensein dieser Fertigkeit mit dem Wissen stützt sich die Tüchtigkeit des Handwerkes.

Und trotz dieser höheren theoretischen Thätigkeit können wir den Handwerker nicht zu den höheren Ständen zählen. Der Grund liegt weit weniger darin, dass sein Gebiet und seine Aufgabe beschränkt ist, als in dem für das Handwerte charakteristischen Umstande, dass das Wissen in engster Weise mit der mechanischen Thätigkeit verwoben ist und sich nicht selbständig über dieselbe erhebt. Am deutlichsten tritt dieses zu Tage, wenn wir den Handwerker und den höheren Techniker vergleichen. Der Mensch lernt das Handwerk nur durch die Ausübung der mechanischen Thätigkeit; der höhere Techniker lernt durch das Studium. Das Lernen des Handwerkerlehrlings ist ganz eng mit der praktischen Thätigkeit verbunden, weswegen auch eine Übertragung des Handwerkes nur durch persönliche Mittheilung möglich ist. Auch für den ausgebildeten Handwerker hat das Wissen stets nur soweit Werth, als er dasselbe wieder unmittelbar praktisch anwendet. Wenn das Handwerk sich daher bis zu einer gewissen Stufe entwickelt hat, muss dieses Gebundensein der theoretischen Thätigkeit an die praktische die Entwickelung der ersteren nothwendig hemmen. Mit dieser Hemmung ist aber auch eine Hemmung der geistigen Anlagen des Menschen verbunden. So sehen wir in der festen und geschlossenen Korporation der Zünfte das Handwerk zuerst mächtig emporblühen, um später einerseits in unpraktische Spielereien - ich erinnere nur an die Automaten - anderseits in eine Verknöcherung und Versteinerung des freien geistigen Lebens zu verfallen. Ein Rückgang der Technik war die nothwendige Folge. Eine Weiterbildung derselben war erst möglich, als das gefesselte Individuum die eisernen Schranken der Zünfte und alter überlebter Einrichtungen durchbrach und das Recht der freien Entfaltung der individuellen Anlagen wieder zur Geltung gebracht hatte. Die geschlossenen Korporationen hatten die technische Fertigkeit in den einzelnen Zweigen zu einer hohen Ausbildung gebracht. Bei weiterem Fortschritt mussten die einzelnen Zweige einheitlich zusammengefasst werden. Der Durchbruch des Individuums einerseits, die organische Zusammenfassung der individuellen Thätigkeiten anderseits, das sind die grossen Triebfedern des 19. Jahrhunderts, die Triebfedern zu einer vollständigen Umbildung der Formen, in denen sich das menschliche Leben bewegt. Dass unser Jahrhundert dem einzelnen Menschen politische Rechte und bürgerliche Gleichstellung gegeben, dass das 19. Jahrhundert den Staat erst auf der breiten Grundlage des Volkes aufgebaut hat, dass das 19. Jahrhundert einen eigentlichen Bürgerstand erst geschaffen und die sozialen Verhältnisse vollständig geändert hat, das Alles sind Thatsachen, die jedem Gebildeten bekannt sind. Dass aber das Jahrhundert den technischen Stand nicht nur gebildet, sondern ihm auch die Hauptkulturaufgabe zugewiesen hat, diese Thatsache ist wenig anerkannt und leider fast am allerwenigsten bei dem Techniker selbst. Die zwei grossen, oben angeführten Prinzipien waren thatsächlich auch die Triebfedern zur Bildung eines technischen Standes im eigentlichen Sinne des Wortes. Mit dem Durchbruche des Individuums als eines selbständigen Wesens löste sich der Bann der versteinerten Korporationen, während mit der organischen Gestaltung des Lebens sich die freien individuellen Thätigkeiten wieder einheitlich zusammenschlossen. Erst mit dem 19. Jahrhundert hatte der menschliche Geist die Reife und die Fassungskraft erlangt, um das grosse Gebiet der unorganischen Natur, in das sich bis dahin verschiedene, lose nebeneinander stehende Verbände theilten, einheitlich zu beherrschen. Es kann nicht genug betont werden, dass diese Beherrschung keine physische, sondern durchweg eine rein geistige ist. Unser Händewerk reicht nicht weit; unsere praktische Thätigkeit ist in engster Weise an Zeit und Ort gebunden. Nur der Geist löst uns von dem engen Banne der Materie. Das möge der Techniker nie vergessen: ehe er mit Bahnen und Telegraphen die Welt umspann, hat sein Geist die Welt umfasst. Alle die grossen technischen Leistungen des 19. Jahrhunderts, auf denen der Aufschwung des Lebens in diesem Jahrhundert in erster Linie beruht, sind nicht der grösseren mechanischen Fertigkeit - steht doch das Handgewerbe der Jetztzeit mannigfach hinter dem des Mittelalters zurück - sondern nur der höheren geistigen Thätigkeit zu danken.

Es war eine Folge des Durchbruches des Geistes, dass sich die an die praktische Thätigkeit so eng gefesselte theoretische Thätigkeit von ersterer ablöste, um sich selbständig über dieselbe zu erheben. Mit der Trennung dieser theoretischen Thätigkeit von der praktischen wurde ein umfangreiches und selbständiges Wissen möglich und die  T e c h n i k  zur  W i s s e n s c h a f t  emporgehoben. Das ist für uns Techniker speciell die grösste Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. Es bleibt das grosse Verdienst der Polytechniken, mit ihrer allmäligen Umbildung aus niederen technischen Schulen zu Hochschulen, die Technik als Wissenschaft begründet zu haben. Berücksichtigt man, dass die Technik nicht als Praxis, sondern als eine Wissenschaft die Welt beherrscht, dass sie nur als Wissenschaft diesen gewaltigen Einfluss übt, so wird man verstehen, dass erst mit der Ausbildung der Technik zu einer Wissenschaft der technische Stand unter die höheren Stände einrückte. Der höhere Techniker erwirbt sich heute seine Kenntnisse nicht durch Ausübung einer praktischen Thätigkeit, sondern wie jeder andere höhere Stand durch das Studium. Die Vorbedingung für dieses Studium ist aber eben die Ausbildung der Technik als Wissenschaft. Nicht durch praktische Versuche, sondern durch das Studium lernen wir die unorganische Natur verstehen und für unsere Zwecke dienstbar machen. Sollte der höhere Techniker jedes Handwerk praktisch erlernen, sollte er selbst mauern, zimmern, schmieden können, so wäre er nie im Stande, das grosse Gebiet zu umfassen. Der Techniker soll nicht selbst mit seiner Hände Werken die unorganische Natur umgestalten; er soll nicht selbst Ziegeln formen, die Ziegel aufeinander fügen, das Holz beschlagen u. s. w., sondern er soll alle diese Arbeiten nur  v e r s t e h e n.  Dieses Verstehen ist aber rein theoretisch. Er braucht nicht jeden von ihm zu verwendenden Stein auf seine Festigkeit zu prüfen, nicht die Durchbiegung jedes Balkens zu messen, nicht die Einwirkung der Witterung auf jedes Material praktisch zu erproben; er muss nur  w i s s e n,  wie sich jedes Material bei diesen oder jenen Verhältnissen verhält; er muss die Gesetze  k e n n e n,  nach denen sich der Druck im Stein oder Eisen vertheilt, nach welchen sich das Wasser bewegt u. s. w. Diese Kenntnisse, dieses Wissen erwirbt er aber nur durch eine theoretische Thätigkeit. Wenn der Techniker eine Maschine, einen Palast oder eine Brücke bauen soll, so verfertigt er zunächst ein Projekt. Ob zur Brücke Stein, Holz oder Eisen zu wählen ist, ob der Pfeiler am vortheilhaftesten auf Béton oder Pfahlrost fundirt wird, ob der Techniker eine liegende oder stehende Dampfmaschine bauen, ob er den Dampf kondensiren soll oder nicht, ob für ein Pflaster Basalt oder Grauwacke zweckmässiger ist, das alles kann der Techniker nicht in jedem einzelnen Falle praktisch erproben. Er muss wissen, wie eine steinerne, wie eine eiserne Brücke den Zweck erfüllt; er muss wissen, wie der Basalt und die Grauwacke unter den obwaltenden Verhältnissen sich abnutzen werden u. s. w. Je grösser sein Wissen, je besser er die Materialien der unorganischen Natur, deren Festigkeit etc., die bei der Inanspruchnahme auftretenden Gesetze u. dgl. versteht, desto zweckmässiger wird das Projekt und damit der Bau werden, die praktische Thätigkeit des Technikers stützt sich - und dieses sei nochmals betont - weniger auf praktische Erfahrungen des Einzelnen, als wie vorwiegend in erster und letzter Linie auf das Wissen. Während die Technik im Mittelalter von einer Menge zu einander nur in loser Beziehung stehenden Korporationen gepflegt wurde und daher auch unmittelbar auf die Kultur in einem höheren Maasse nicht einwirken konnte, ist die heutige Technik ein einheitliches Ganzes, das alle Zweige organisch zusammenfasst. Der höhere Techniker beherrscht heute nicht nur ein Handwerk. Er zieht gleichsam alle Handwerke in seinen Dienst. An der Ausführung eines Baues arbeiten Maurer, Zimmerleute, Schlosser, Stukkatore, Dachdecker, Klempner u. s. w. zusammen, und zwar alle in höherem Maasse, als je vorher, in organischer Weise, d. h. alle nach einem bestimmten, von einem höheren Techniker geleiteten Plane. Das Handwerk ist heute nicht mehr wie im Mittelalter Selbstzweck, sondern ein organisches Glied in der Technik, als einem Ganzen. Erst nachdem die Technik als Wissenschaft die unorganische Natur und die unendliche Wechselwirkung der Theile derselben umfasst hatte, wurde es für den Techniker möglich, die unorganische Natur in höherem Maasse zu Zwecken der Menschheit dienstbar zu machen und damit in höherem Maasse Antheil an der Verwirklichung des Endzieles aller Thätigkeit zu nehmen. Während der Handwerker nur mittelbar für dieses Ziel wirkt, arbeitet der wissenschaftlich gebildete Techniker gleich den übrigen höheren Ständen unmittelbar an der den Menschen gestellten Aufgabe. Der wissenschaftlich gebildete Technikerstand gehört daher heute zu den unmittelbaren Förderern der Kultur. Wird dem Stande mannigfach noch eine gewisse Zurücksetzung zu Theil, so liegt dieses durchaus nicht an der Bedeutung der dem Stande gestellten Aufgabe, sondern an äusseren Umständen, die, wie gesagt, der junge Stand zu überwinden hat. Keinem anderen Stande hat das 19. Jahrhundert solch' ein umfangreiches Gebiet der Thätigkeit freigegeben, wie dem technischen Stande. Vor uns liegt die gewaltige Masse der unorganischen Natur. Es ist unsere Aufgabe, dieselbe in höchstem Maasse zu vernünftigen Zwecken auszunutzen, d. h. dieselbe den Menschen und der Menschheit möglichst dienstbar zu machen. Entsprechend dem Gebiete ist die Aufgabe eine gewaltige und um so grösser, als wir in unserer Thätigkeit eine Selbständigkeit und Freiheit besitzen, wie sie kein anderer Stand aufweist. So grossartig auch die bisherigen Leistungen der Technik sein mögen, so bilden diese doch nur einen Anfang in der Lösung unserer Endaufgabe. Die Hauptaufgaben ruhen noch im Schosse der Zukunft.

Unsere Endaufgabe ist in höchstem Maasse eine Kulturaufgabe, welche nothwendig in organischem Zusammenhange mit dem gesammten Leben steht, weil eben alles Leben nur  e i n  Ziel hat. Wir können daher auch unsere Aufgabe nur dann erfüllen, wenn wir das ganze Leben, die ganze Kultur verstehen. Unsere Fachbildung muss daher auf einer breiten wissenschaftlichen Basis ruhen. Sie muss getragen werden von einer allgemeinen Bildung, die uns eben allem Leben zugänglich macht und uns die Möglichkeit gibt, unsere spezielle Aufgabe stets in organischem Zusammenhange mit allem Leben zu halten. Wegen der Bedeutung unserer Aufgabe dürfen wir an allgemeiner Bildung hinter keinem Stande zurückstehen. Wir müssen daher nicht nur dieselbe hohe Vorbildung, wie irgend ein anderer Stand erhalten, sondern die technischen Hochschulen müssen neben den Fachwissenschaften auch die allgemeinen Wissenschaften pflegen und auf die Vervollkommnung der allgemeinen Bildung der Studirenden ihre Aufmerksamkeit richten. Es ist eine aus der Bedeutung der Technik für die Kultur sich ergebende Folgerung, dass die technischen Hochschulen auch in Bezug auf Pflege der allgemeinen Wissenschaften den Universitäten vollständig ebenbürtig sein müssen. Nur dann kann die Technik als ein organisches Glied der Wissenschaften weiter ausgebildet und der Techniker ein Mann werden, der in höchstem Maasse die Verhältnisse des Lebens beherrscht und nach seinem Theile an der Weiterentwickelung der menschlichen Kultur arbeitet. Entsprechend der Grösse der Aufgabe sind die Pflichten, welche uns das 19. Jahrhundert auferlegt hat. Wir müssen, um unserer Aufgabe vollgerecht zu werden, in unserer ganzen Thätigkeit von der Bedeutung der Aufgabe getragen sein. Während die der Technik gestellte Kulturaufgabe einerseits die einzelnen Glieder zu einem festen, geschlossenen Stande zusammenfügen soll, soll sie anderseits den Stand und dessen Glieder mit dem gesammten Leben in organischem Zusammenhange halten. Nur einer solchen Auffassung und Geltendmachung unserer Aufgabe kann ein gesunder Corpsgeist, eine wirkliche auf gegenseitige Hochachtung und Werthschätzung sich aufbauende Kollegialität, eine lebendige Zugänglichkeit für alle Fragen des Lebens entspringen. Und, wenn auch mit schwerem Herzen, so muss ich es doch aussprechen, dass gerade bei uns deutschen Technikern, gegenüber Engländern und Franzosen, das alle Techniker vereinende Band noch allzuwenig lebendig ist. Die Natur hat uns einen stark ausgeprägten Persönlichkeitssinn zu Theil werden lassen. Es ist dieses die Ursache, warum die deutschen Staatengebilde und deutsches Leben viel reicher und mannigfaltiger sind, als die Gebilde und das Leben der mehr dem Grundsatze der allgemeinen Gleichheit huldigenden romanischen Völker. Bei allen grossen Vorzügen des Individualismus führt derselbe jedoch zur Zersplitterung, wenn derselbe nicht ein Korrelat in dem organisirenden Sinne des Menschen, in der organischen Zusammenfassung der Aufgaben und der Thätigkeiten des Einzelnen zu höheren Einheiten findet. Obgleich das 19. Jahrhundert gerade von diesen beiden Prinzipien bewegt wird, obgleich der technische Stand als eine höhere Einheit diesen beiden seine Erstehung verdankt, so ist das Bewusstsein der Einheit des Standes, der Einheit der Aufgabe der Technik und alles Lebens doch im deutschen technischen Stande nicht lebendig genug, um dem individuellen Sinne der Glieder genügendes Gleichgewicht halten zu können. Dadurch, dass wir vergessen, dass alles Leben eine höchste Einheit ist, in der unsere Aufgabe ein organisches Glied bildet, rücken wir uns aus dem Zusammenhange des Lebens heraus und verfallen einerseits in eine gewisse Einseitigkeit und Abgeschlossenheit, anderseits, da uns das volle Leben nur den richtigen Massstab für unsere Aufgaben bietet, leicht in eine Ueberschätzung der letzteren. Diese sind nie einseitig Fachaufgaben, sondern in letzter Linie stets allgemein menschliche Aufgaben, die das Wohl und Interesse aller Menschen berühren. Wie wir bauen, ist unsere Sache, und soll von unserem Wissen bestimmt werden, was wir bauen, berührt nicht nur uns, sondern ebenso unsere Mitmenschen. Was nutzt es, vom einseitigen Fachstandpunkte aus noch so mustergültige Bauten zu errichten, wenn sie nicht dem Volkswohle zu Gute kommen. Was nutzt es, einen Kirchenbau zu schaffen, der von allen Fachgenossen als grosses Meisterwerk angestaunt wird, wenn der künstlerische Werth in gewisser Beziehung nicht auch von der Menschheit erfasst wird. Mag eine Brücke theoretisch noch so richtig berechnet, jedes Eisentheilchen noch so sehr ausgenutzt sein - die Brücke ist nicht vernünftig, wenn sie nicht in erster Linie den praktischen, durch die Allgemeinheit bestimmten Zweck erfüllt. Wenn irgend ein Stand, so müsste gerade unser Stand stets und in allen Theilen in lebendigstem Zusammenhange mit dem gesammten öffentlichen und wirthschaftlichen Leben stehen - denn alle unsere Aufgaben entspringen dem gesammten Leben und berühren dasselbe. Halten wir uns daher fern von aller vornehmen Abgeschlossenheit, von jeder Selbstüberhebung über die Laien - fügen wir statt dessen uns und unsere Thätigkeit dem frisch treibenden Leben organisch ein, stets eingedenk, dass wir bauen und schaffen, nicht nur für uns, sondern für die Laien, die unsere Mitmenschen sind - dann sind wir vernünftige, thätige Glieder in der Gesammtheit der Menschheit.

Aber nicht nur den Interessen der Menschheit, sondern auch den Interessen der Einheit unseres Standes müssen wir unseren individuellen Sinn unterordnen, das ist unsere Pflicht. Wir sollen in allen Technikern nicht nur Menschen erblicken, die zufällig dieselbe Fachbildung genossen und äusserlich eine ähnliche Thätigkeit üben - und diese Anschauung ist leider nicht selten - sondern wirkliche Fachgenossen, Genossen, die durch ein höheres, inneres Band vereint sind und in ihrer Thätigkeit ein Allen gemeinsames, höheres Ziel verfolgen, wie wir es im ersten Theile dieses Aufsatzes näher dargelegt haben. Nur wenn wir in jedem Techniker einen wirklichen  M i t a r b e i t e r  und nicht nur einen Nebenarbeiter erblicken, wird auch in unserem deutschen Stande der Corpsgeist lebendig werden. Also weg auch hier mit den Auswüchsen des Individualismus, weg mit der daraus entspringenden einseitigen Vertretung eigener Ansichten und der Bekämpfung und Kleinmacherei der Idee'n der Fachgenossen, weg mit der gegenseitigen Herabsetzung und Untergrabung des Ansehens zwischen den einzelnen jüngeren und älteren Standesgenossen! Lassen wir uns, anstatt uns zu befehden, in gemeinsamer Arbeit dem Ziele entgegenstreben, Jeder des Anderen Ansicht achtend und ehrend und Jeder sich bemühend, im Anderen nicht nur das Fehlerhafte, sondern vor Allem das Gute, das Allen Gemeinsame zu erblicken; lassen wir uns mit Ehrfurcht zu den im Dienste des Faches ergrauten Altkollegen emporblicken und von ihrer Erfahrung lernen, ebenso wie die Altkollegen die in Folge des Fortschrittes der technischen Wissenschaften gesteigerte wissenschaftliche Bildung der jüngeren Genossen achten und letzteren die Ebenbürtigkeit nicht versagen sollen. Das sind die wesentlichen Pflichten des Technikers, die nur der erfüllen kann, der seine Aufgabe richtig erfasst und diese sowohl in die Gesammtaufgabe der Technik wie in das Endziel alles Lebens als organisches Glied einrückt. Erfüllen wir unsere Pflichten, sind wir Alle wahre Genossen ein und desselben Standes und zugleich wahre Glieder der Menschheit, so wird auch uns die Achtung der Mitmenschen nicht fehlen und unserem Stande das gebührende Ansehen zu Theil werden. Und ebensowenig wie die Kultur jemals zurückzuschrauben ist, wird es möglich sein, den von pflichttreuen Gliedern getragenen Stand von der Stellung zurückzudrängen, die ihm seiner Bedeutung nach zukommt.