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Soziologische Untersuchungen zum Zusammenhang von Wohnen
und Lebensführung in einer Ostberliner Plattenbausiedlung
1. Antizipation der Fragestellung: "gehemmte" Gewohnheit
und Lebensführungswissen
Ein wesentlicher Gesichtspunkt des lebenspraktischen Umgangs
mit Architektur kann in deren Funktion gesehen werden, Beständigkeit
im Erfahrungsraum zu vermitteln. Während etwa im politischen und sozialen
Leben nach der "Wende" lebenslang erworbene Alltagskompetenzen und Gewohnheiten
sich mit einem Mal als unbrauchbar erweisen, gibt die Permanenz des physischen
Siedlungsraums seinen Bewohnern das Gefühl von Dauerhaftigkeit und
Solidität. Dem Erfahrungsraum "Siedlung", insofern nach seiner
Wohnlichkeit gefragt wird (vgl. Hahn 1994, S. 351), kommt deshalb
auch für die Lebensführung seiner Bewohner zentrale Bedeutung zu.
Die folgende Untersuchung steht unter dem Eindruck von
Gesprächen, die mit Menschen einer Ostberliner Plattenbausiedlung
geführt wurden. Sie unternimmt einen sozialwissenschaftlichen Zugang
zur Permanenz des Erfahrungsraums, um jene Beziehungen zu
erschließen, von denen Maurice Halbwachs einmal gesagt hat, sie seien
"zwischen den Steinen und den Menschen entstanden", und die er "lokale
Gewohnheiten" genannt hat (Halbwachs 1967, S. 133 f.). Unter der Erfahrung
der sog. "Wende" haben sich in unserer Siedlung Gewohnheiten des
großstädtischen Wohnens als nicht mehr tragbar erwiesen. Der
Zusammenhang von Erfahrung, Gewohnheit und Lebensführung, der sich als
Zentrum dieser Gespräche herausgestellt hat, ist von den frühen
pragmatistischen Denkern (Peirce, James, Dewey) als genuines Konzept des
tätigen und umsichtigen In-der-Welt-seins aufgefaßt worden. Dabei
steht alles Handeln und Sprechen im Dienst der Rechtfertigung dessen, von
dem wir überzeugt sind, daß es wahr und gut ist. Der folgende
Aufsatz wird die These vertreten, daß gewisse alltagsweltliche sprachliche
Konzeptionen wie z.B. "Gemeinschaft" oder "Verantwortung" als Metaphern für
jene soziale Erfahrung beschädigter und geschwächter Gewohnheit
gebraucht werden. Sie zeigen in ihrer situativen Anwendung, so das Ergebnis
unserer empirischen, im methodischen Ansatz hermeneutisch-soziologischen
Studie, zugleich ein Umorientierungsgeschehen, insofern routinemäßige
soziale Beziehungen durch nicht routinemäßige ersetzt werden.
Praktisches Leitthema der texthermeneutisch bearbeiteten
Gesprächssequenzen ist das Wohnen, so wie die Menschen es erleben und
in ihre Sprache bringen. Es wird nicht der Anspruch erhoben, eine wahre Sicht
auf die deutsche Gesellschaft nach dem Mauerfall vorzuführen oder neue
Erkenntnisse über den aktuellen Stand der Vereinigung zu verkünden
und interessante Entwicklungshypothesen aufzustellen. Eher möchte ich
versuchen, auf ein konkretes Gemeinwesen aufmerksam zu machen, seine Menschen
und ihre Geschichten mit ihren Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten,
wie es sich in den Artikulationen der Bewohnerinnen als deren lebenspraktischer
Bezugs- und Angelpunkt darzustellen vermag. Von den insgesamt sechs
transkribierten Gesprächen werde ich im folgenden aus vier Beispielen
(I-IV) zitieren.
2. Die Pragmatik des Sprachgebrauchs
Als pragmatische Erfahrungswissenschaftler haben wir die
Art und Weise zu berücksichtigen, wie sich Menschen in ihrer Praxis
auszudrücken vermögen. Die "Methode" der Praxis strebt keine Erkenntnis
über ihre Inhalte an. Man will vielmehr erfolgreich weiterkommen mit
dem, womit man stockt. Das Ziel der Praxis ist das Ausbilden neuer
Handlungsgewohnheiten und sozialer Routinen.
Die alltagweltlichen Begriffe oder sprachlichen Konzeptionen,
mit denen wir unseren Umgang in der Welt fassen, bedeuten nichts jenseits
ihrer Verwendung in Situationen. Deshalb müssen die Begriffe der Praxis
flexibel sein in Hinsicht auf den Gang, den das Erfahrungsleben nimmt. Schon
bekannte Worte wie "Wende" und "Gemeinschaft" können mit einem Schlag
eine veränderte oder ganz und gar neue Bedeutung bekommen. Zunächst
metaphorisch gebraucht, tastet man sich dann zu einer passenden Bedeutung
vor, die zwischen der alten und neuen Erfahrung vermittelt. Das praktische
Wissen, mit dem wir uns auf diese neue Bedeutung im alltäglichen Umgang
verstehen, ist in der Regel eine durchweg brauchbare und erfolgreiche Form
des Begreifens, angemessen an die jeweiligen Umstände von sozialer Lage
und individueller Situation. Erst wenn wir (als Soziologen) die Vorstellung
aufgeben, daß das Alltagswissen und Umgangskönnen nur eine
ungenügende Vorform diskursiven oder theoretischen Wissens bedeutet,
werden wir in der Lage sein, dem Erfahrungs- und Lebensführungswissen
der Menschen adäquat zu begegnen.
Verstrickt in ungewohnte Situationen, werden die Menschen
auf Phänomene aufmerksam, die ihnen gewöhnlich nicht begegnen,
die aber dennoch zum Umgang auffordern, da man sich dem situativen Handlungs-
und Entscheidungsdruck nicht entziehen kann, sondern ihn bewältigen
muß. Wollen wir verstehen, was eine Metapher bedeutet, dann müssen
wir ihren Gebrauch untersuchen. Insofern also metaphorisch gebrauchte sprachliche
Konzeptionen aus einer situativen terminologischen oder semantischen Not
herausführen sollen, da man noch "sich selbst sucht klar zu werden
über das, wofür man das Wort sucht" (Lipps 1977, S. 66), ist schon
eine soziologisch interessante soziale Lage gekennzeichnet. Es soll
eine Situation, in der man steht und handeln muß, deutend gefaßt
und beschlossen werden, wofür man sozusagen noch nicht die richtigen
Worte besitzt, vielmehr das passende Vokabular erst sucht. Ein metaphorischer
Gebrauch von Worten wird dann gemacht, wenn neue soziale Erfahrungen mit
der bekannten Welt nicht in Einklang gebracht werden können. Die
enttäuschten Erwartungen treffen einen in seiner Welt, ohne daß
der Sinn oder das Neue, für das sie stehen, für diese Welt fruchtbar
gemacht werden kann. Diesen Schnittpunkt will ich Wechsel der Gewohnheit
nennen. Die Unterscheidung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten,
dem Bekannten und dem Neuen, ist zentral für die folgenden Beispiele.
3. Wohnen und Lebensführung
Nun haben wir es bei den Gesprächen mit Mieterinnen
einer Ostberliner Siedlung mit von ihnen vorgebrachten Themen zu tun, die
offensichtlich von der Praxis des Wohnens handeln. Ich habe den Eindruck,
daß das Wohnen ein ausgezeichneter Bereich praktischer Lebensführung
ist. Jeder will, daß ihm sein Leben gelingt. Deshalb sind wir im Wohnen
ausgerichtet auf das, was uns "gutes" Wohnen bedeutet. Manches, offenbar
Wesentliches, was sich gegenwärtig im Umfeld des Wohnens in dieser Siedlung
tut, läßt sich indes nur unzureichend mit dem alten Vokabular
ausdrücken, denn dieses war für eine andere Situation und einen
anderen Gebrauch gefügt. Die übliche Verwendung dieses Vokabulars
erscheint diskreditiert. Und über das eigene Wohnen zu sprechen, dies
führt zu Stockungen:
"also ick wohn- ick hab- wohn wirklich sehr jerne hier,
jetzt nich mehr so aber früher hab ick och sehr jerne hier jewohnt"
(III).
Wohnen ist eine Tätigkeit, bei der man sich praktisch
ausrichtet auch an dem, was einem fehlt. Was einem fehlt, bemerkt man, insofern
man wohnt:
"(so) daß wir diese Küche rausgerissen (haben),
weil es furchtbar eigentlich war, da war so'n kleenet dunklet Loch, so'n
kleener Schlitz und so ist die Küche und so is et (...) .. es war
praktischer mit den Kindern, wir haben ne Glastür und (...) weil ick
meine, die Küche hat auch dieser .. nach ner Weile kannstet och nich
mehr sehen grade .. dieset diesen zujebauten Flur, ick meine, des wirkt jetzt
fast wieder so, aber det war son oller häßlicher grauer Schrank
da bis oben hin und total zu und so ne Schiebetüren und .. da hat ick
die Nase voll davon, da hab ich et rausjerissen .. kleckerweise wie man et
finanziell sich leisten kann und dann immer eben das weg, dahinter die Wand
jemalert" (III).
"Ich habe die ganze Küche, außer dem
Stück, wo also nun wirklich die Spüle draufsteht, da habe ich nun
nicht gefliest, weil das hätte ich alles rausreißen müssen
und das war mir nun doch n bissel zu kompliziert. Ansonsten habe ich
natürlich unter allen Wänden, unter allen Schränken alles
richtig gefliest .. und ähm .. daß die Wände auch alle
fürchterlich schief sind und man auch dadurch oder die die die äh
Wände zum Teil wegfluchten, teilweise um vier Zentimeter, nun machen
se s mal richtig gerade (lacht laut) das ist manchmal gar nicht so einfach
naja und solche Dinge, das weiß man hinterher erst alles und sieht
man denn auch, was man alles falsch gemacht hat" (I).
Handeln heißt hier architektonisch oder
städtebaulich gestaltete Räume als Spielräume auslegen - so
eignet man sich seine Wohnung und sein Umfeld an und macht dabei auch eine
Erfahrung über sich selbst: Man stellt fest, was man braucht und was
stört, was man kann und was man nicht kann. Man entwickelt Fertigkeiten
und erfährt sich dabei als Wohnender, der weiß, was für einen
selbst in seinem Wohnen "praktisch" und "richtig" ist. Daß man sich
am Ende wohlfühlt, ist aber ein Vermögen des Wohnens selbst, des
tätigen Sich-anpassens an das, was man als seine Wohnwelt versteht:
"Ich hatte gerade vorhin hier nochmal zwei Mieter ..
und da sagt ich, daß Sie (zwei Studenten
unseres Projekts) kommen und worum es eben geht, um das Wohngefühl
undsoweiter und da sagte der Mann ganz spontan: Aber wir fühlen uns
hier wohl! Obwohl er ein sehr kritischer Mieter ist .. war ich eigentlich
richtig erstaunt so zu hör- so spontan zu hören: Wir fühlen
uns hier wohl (...) Sicherlich ist spielt auch ne gewisse Gewohnheit eine
Rolle. Man hat sich eingewöhnt. Man hat seine Umgebung äh angenommen"
(I).
Sich-(ein)gewöhnen ist eine tätige Leistung,
an deren Ende eine Verhaltensorientierung, eine erworbene Gewohnheit, steht.
Mit dem Ausdruck "Wohngefühl" wird eine intime Stimmung angesprochen,
die man besonders zum Erfahrungsraum Wohnung ("die Wohnung selbst")
unterhält:
"Es ist nicht nur die Wohnung, aber ich meine auch,
daß es die Wohnung selbst ist, obwohl sie nicht den äh äh
den Komfort unserer das was es immer so schön heißt Westkomfort"
(I).
Das Wohngefühl ist nichts Utopisches, sondern
an den praktisch-lokalen Möglichkeiten orientiert, die man tatsächlich
hat. Erst durch das Wirklichwerden eines Gefühls der Zufriedenheit und
des Bleibenwollen, sozusagen: nach getaner Arbeit, konnte man es als etwas
Mögliches begreifen. Dieses Gefühl der Gewöhnung gibt Sicherheit,
und als etwas Erworbenes kann es zum Maßstab werden, über sein
Wohnen kompetent zu urteilen. Im Wirklichwerden vom "guten" Wohnen zeigen
sich überhaupt die Möglichkeiten, zu denen das Wohnen fähig
ist. Wie man wohnt, darin wird auch deutlich, wie man sein Leben führt.
Wohnen ist Umgang mit den anderen und Umgang mit den Dingen der nahen Umgebung.
Was Wohngefühl ist, kann man nicht abstrakt, d.h. losgelöst
von einer Geschichte erzählen, weil erst das Erzählen meiner Geschichte
die Gelegenheit schafft, von diesem Gefühl sinnvoll Gebrauch zu machen.
Erst im praktischen Urteil stellt sich das Wohngefühl als sicheres
Kriterium zur Lageeinschätzung heraus:
"Alles das, was sich die Mieter in den Jahren selbst
geschafft haben .. zum Teil selbst gefliest, zum Teil Bodenfliesen selbst
gelegt undsoweiter, das ist nun alles .. (betrübt) nicht mehr schön
und nicht gut und nicht fachgerecht und nun soll also nach 08/15 mit weißen
Fliesen möglicherweise oder was oder was man sich jetzt nun einfallen
läßt und daß ist nun etwas äh was nun so n bißchen
Staub aufwirbelt und damit äh eigentlich dieses äh .. Gefühl,
in dieser Wohnung bin ich großgeworden oder alt geworden, das geht
natürlich kaputt, wenn nun alles das, was man selbst geschafft hat irgendwie
- uit - nichts mehr wert ist, ja. Ich finde das eigentlich nicht so ganz
gut, denn eigentlich immer nur das, was man sich in irgendeiner Form selbst
schafft selbst erarbeitet .. das hat einen Wert (...) Und vor allen Dingen,
das ist richtig, man ehrt es und man pflegt es und äh man wird immer
bemüht sein, daß da alles schön in Ordnung bleibt" (I).
Dieses Wohngefühl wird unterschiedlich
beschrieben, da die Erfahrungen mit dem eigenen Wohnen bei verschiedenen
Menschen nicht identisch sein können. Aber darüber zu sprechen,
ist in der Regel keine Gewohnheit. Es hat dann schon seine
Selbstverständlichkeit eingebüßt. Ja, allein das Faktum,
daß das Wohnen Thema wird, deutet auf eine Schwächung des "guten"
Wohnens hin. Obige Intervention beschreibt ja das Unverständnis
gegenüber den Absichten der neuen Siedlungseigentümer, alle Badezimmer
von Grund auf zu modernisieren, ohne auf die "Wohnung selbst" und das
"Wohngefühl" der Mieter Rücksicht zu nehmen. Man könnte sagen,
daß die Menschen die "Wende" auch damit in Verbindung bringen, daß
auf ihr "Wohngefühl" keine Rücksicht genommen wird. "Und gerade
wenn man so lange hier wohnt, empfindet man dat och janz schön kraß"
(III). Die Wohnerfahrungen, die einen als verläßliche
Verhaltensorientierung bei der Lebensführung leiten, werden
rücksichtslos infragegestellt. Zunächst vom verkündeten
"Wertewechsel", dann von einem selbst, insofern man den Druck zur Anpassung
verspürt und ihm nachgibt. Dieser bodenlosen Problematisierung widerspricht
aber die Erfahrung des Wohnens, nämlich daß man sich hier
wohlfühlt. Gewöhnung und Gewohnheit sind Leistungen des Wohnens.
Das Wohnen führt von sich aus zu etwas Bleibendem und Zufriedenem, sowohl
in einem erfahrungsräumlichen ("man hat seine Umgebung angenommen")
als auch in einem lebensgeschichtlichen Sinne ("in dieser Wohnung bin
ich groß geworden oder alt geworden").
Man meint, von Selbstverständlichkeiten zu sprechen,
und wundert sich, daß man diese überhaupt zur Sprache bringen
muß. Daß man dies muß, zeigt, wie hier offensichtlich
Trivialitäten (Gewohnheiten) obsolet geworden sind. Die Themen, die
im Umfeld des Wohnens angesprochen werden, gehören in die Reihe
"verantwortliches Handeln". Wie verhält man sich verantwortlich für
ein als "Gemeinschaft" aufgefaßtes Gemeinwesen unter den Bedingungen
der "Wende", für deren Bewältigung man nicht vorbereitet ist?
Zwangsläufig greift man zurück auf Erfahrungen, die man "vor der
Wende" gemacht hat. Hier liegt nun genau die Enttäuschung - nämlich
in den widerfahrenen Zumutungen der neuen Gesellschaft: Indem sie viele
Wohn-Erfahrungen pauschal entwertet, so daß man dem Unvertrauten nicht
mit etwas Vertrautem begegnen können soll. Dieser so erfaßte exklusive
Druck zur Anpassung, nämlich seine erworbenen sozialen Kompetenzen radikal
aufzukündigen, wird ernstgenommen und diskutiert. Aber offensichtlich
stößt dieses Ansinnen an die Grenzen des Verstehbaren. Eine
Gesprächspartnerin spricht von der Schonzeit und den Schonbedingungen
der Bundesrepublik, die für sie im Osten nun langsam ablaufe. Praktisch
heißt das für sie, daß sie ihre Sicherheiten und Kompetenzen
im sozialen Umgang völlig ausgehöhlt sieht, ohne daß sie
dieses Vakuum wieder hätte sinnvoll füllen können, so daß
ihr inzwischen fast nichts mehr an Gewißheit bleibt: "Das einzige,
was ich glaube noch zu haben, ist ein gesunder Menschenverstand" (I).
Der gesunde Menschenverstand steht in einer Reihe mit dem
Wohngefühl: Beide markieren eine erworbene Kompetenz, nämlich
daß man sich im praktischen Umgang ein Können zugelegt hat. Womit
die Menschen deshalb auch ringen, ist die Frage, ob denn tatsächlich
ihnen nichts an sozialer Fähigkeit mehr bleibt. Man wägt die
überkommenen Erfahrungen mit den neuen Beobachtungen ab. Oft wird nun
auch das Neue als zu leicht empfunden. Sensibel werden Veränderungen
im Verhalten der Menschen wahrgenommen und zum Teil als wenig erstrebenswert
abqualifiziert. Was auffällt, ist die damit demonstrierte Kompetenz,
Lebensführungen zu vergleichen. Diese erworbene Fähigkeit ist Resultat
des Wohnens, ist Gewohnheit.
4. "Gemeinschaft" als Umgangserfahrung des Gemeinwesens
Wenn man hier nach dem Kriterium forscht, mit dem Vergleiche
vorgenommen werden, dann ist es die festgelegte Überzeugung, wie das
eigene Leben zu führen ist. Hier ist man sich der Richtigkeit seines
Urteils versichert: wie das Leben zu führen ist, das sagt uns unsere
Lebenserfahrung. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie ein Leben ohne
Gemeinschaft aussehen sollte. Gemeinschaft ist die Erfahrung des konkreten
Gemeinwesens, dem man sich zugehörig weiß und das man für
das eigene Leben nicht missen will. Hier heißt es für den Interpreten,
genau hinzuhören, welche Beispiele die Konzeption von Gemeinschaft je
veranschaulichen. Auch den Ausdruck "Gemeinschaft" fassen wir hermeneutisch
als eine Überschrift auf, unter die verschiedene ähnliche Verwendungen
gereiht werden können: "Hilfe, ganz normale Hilfe untereinander";
"positiver sozialer Kontakt"; "Beziehung der Menschen untereinander";
"Gemeinschaftssinn"; "Interesse am anderen"; "Zusammenhalt" u.a.m.
Das Typische an dieser Reihe ist, daß alle
Verwendungsweisen einen Kontext ansprechen, der die Wohnsituation der Menschen
in dieser Siedlung umfaßt. Wohnen schafft "Werte", und man kann sich
ein Wohnen ohne diese "Werte" gar nicht vorstellen. Das Wohnen ist
dieser konkrete "Wert". Diese "Werte" sind dem Wohnen so einverleibt, daß
man sie als etwas gemeinsam Erwirktes in der Regel gar nicht davon trennen
kann. "Werte" sind mit den Umgangserfahrungen verbunden, aus denen sie
hervorgegangen sind. Man tut etwas und am Ende stellt man fest, daß
diese Arbeit und das Werk, das man geschaffen hat, eine Bedeutung haben.
Dieses Erschaffen von Werken ist zugleich das Errichten einer Ordnung. Ordnung
verwende ich hier im Sinne eines lokal-pragmatischen Systems von relativer
Starre, insofern es sich nämlich als umgangsstabil erweist. Werk und
Ordnung gehören zusammen, und "zu wohnen" bedeutet dann, das Erreichte,
weil es gut und richtig ist, zu erhalten mit dem Ziel, daß es
bleibt:
"Was man sich in irgendeiner Form selbst schafft selbst
erarbeitet .. das hat einen Wert (...) und vor allen Dingen, das ist richtig,
man ehrt es und man pflegt es und äh man wird immer bemüht sein,
daß da alles schön in Ordnung bleibt"
(I).
So ein "Wert", auf den man jetzt aufmerksam wird, ist
auch die "Gemeinschaft". Daß das Selbstgeschaffene "einen Wert hat",
wird erst bewußt und ist erst mitteilungswürdig unter Bedingungen
des Mißverstehens bzw. des Verlusts. Es mußte einem vorher nicht
be-wußt gewesen sein - ge-wußt hatte man es schon, denn
schließlich verstand man sich praktisch in seinem Verhalten auf die
"Gemeinschaft". "Gemeinschaft" hat mehrere Bedeutungsvarianten, je in welchem
konkreten Kontext von dem Ausdruck Gebrauch gemacht wird. Zum einen ist die
Rede von den in der ehemaligen DDR obligatorischen häuserweisen
Zusammenschlüssen, deren Organisationscharakter zwar vermerkt, von einem
Zwang jedoch explizit nicht gesprochen wird. "Gemeinschaft" kannte man als
einen sozusagen verordneten Begriff, wie er im Ausdruck "Hausgemeinschaft"
mitgemeint ist:
"Wir hatten ja bis, äh, naja '89, so Mitte '89,
liefen noch diese Pflegeverträge mit dem Gartenamt .. und äh ..
diese Pflegeverträge wurden aber möglicher; also es wurde versucht
nicht mit Einzelleuten abzuschließen, sondern mit .. Gemeinschaften,
in diesem Falle hier unsere Hausgemeinschaft und das Geld, was es dafür
gab, es war nicht viel, aber es waren immerhin ein paar hundert Mark im Jahre,
die gingen dann aufs Hauskonto und wir konnten also von diesem Geld ähm
äh Haus äh fürs Haus was kaufen, z.B. äh Bohrhämmer
haben wir jetzt gerade gekauft oder ne Tapezierplatte oder ein Kleistermax
und all sowas, was eben jeder auch mal braucht, aber auch nicht jeder unbedingt
selbst haben muß" (I).
Für diese Bewohnerin ist es überhaupt kein Problem,
von den Hausgemeinschaften auf ihr tatsächlich vollzogenes Verständnis
von Gemeinschaft zu kommen: Gemeinschaft ist die fraglos richtige Weise,
mit einer bestimmten konkreten Situation umzugehen. Keine Frage, der Anlaß
war zwanghaft, organisiert und künstlich. Aber es taten sich im Laufe
der Zeit Spielräume auf, insofern man bei sich eine konkrete
Bedürftigkeit entdeckte, nachdem ihr im gemeinsamen Beisammensein
entsprochen wurde. Man nutzte dann aktiv die Spielräume, insofern es
tatsächlich positive Erfahrungen gemeinschaftlichen Handelns gab. Wie
wir sehen, sind die Übergänge vom abstrakten Terminus zum praktischen
situativen Geschehen fließend und werden spontan vollzogen. Aber die
Unterschiede werden damit nicht ignoriert.
Eine andere Mieterin dazu:
"ich denke was is mitunter bei rausgekommen is, also
daß die Leute, ohne daß se sich eigentlich vorher kannten, gemeinsam
irgendwas gemacht ham und dadurch auch ne andere Beziehung zu der Sache gefunden
ham, is eigentlich nich schlecht ne" (III).
Erst im nachhinein, insofern man auf ein gemeinsames Werk
zurückschaut, wird man sich bewußt, daß gemeinsames Handeln
"Werte" schafft, von denen man vorher noch nichts wußte. Im gemeinsamen
Handeln erfährt und entdeckt man gemeinsame Ziele und weiß mit
einem Mal, daß dieses Handeln auch in einem ethischen Sinne "richtig"
war. Bei einer anderen Mieterin ist das Erlebnis der "Gemeinschaft" verbunden
mit der Stimmung in der Siedlung. Auch die heute abgewerteten, von der ehemaligen
Hausgemeinschaftsleitung angeordneten Einsätze sieht sie in einem positiven
gemeinschaftsfördernden Kontext. Sie erinnert diese Zusammenkünfte
als Ausdruck von Gemeinsinn: "war wirklich, 'swar also noch dieser ..
Jemeinschaftssinn". Auf die Reihe gesunder Menschenverstand,
Wohngefühl sind wir schon aufmerksam geworden. Als weiteres Beispiel
kommt der Ausdruck Gemeinschaftssinn hinzu. Diese Reihe deutet auf
eine bei den Bewohnerinnen ähnliche Hinsicht hin, nämlich das
Zurückgreifen auf ein praktisches Wissen, das sowohl auf die konkrete
Situation als auch die Vielfalt der Umstände gerichtet ist. Dieses
Sichwenden an einen durch Gemeinsamkeiten gestifteten Sinn wird offenbar
genutzt, um die bezeichnete Situation auch in einem sittlichen Verständnis
"gut" zu bewältigen. Denn der Zweck, den man hier verfolgt, und das
Tun und Sagen, das sich daraus ergibt, stellt sich der Gemeinsamkeit einer
Gruppe als das "Richtige" heraus.
Es taucht nun ein auch in anderen Gesprächen
dargestellter Zusammenhang auf; Sauberkeit in Verbindung mit gemeinsamer
Verantwortung für Haus und Gärten:
"alle zusammen" ; "dann haben wir da uns alle unten
versammelt, jeder hat mal-- hat eener 'ne Stunde jemacht, der eene hat die
janze Zeit mitjemacht" ; "dat et ebent immer ordentlich aussah"
(III). Es wird betont, daß diese
Einsätze zwar organisiert waren, dennoch mit einer Art
Selbstverständlichkeit durchgeführt wurden, so daß sie -
aus heutiger Sicht - nicht als Zwang empfunden wurden:
"wir haben's jerne jemacht, echt, also det war nicht
irgendwie so, daß wir uns da furchtbar jequält
hätten" (III).
Als einander ähnlich können wir die vorgenannten
Auslassungen zur Gemeinschaft charakterisieren, insofern das Organisierte
stets mit angesprochen und mit gemeint wird. Mit "organisiert" soll eben
auch zum Ausdruck gebracht werden, daß es nicht als Zwang erfahren
wurde. Man möchte ferner dem Mißverständnis vorbeugen, daß
die Gemeinschaft allein dadurch, daß sie in einer nichtfreiwilligen
Form durchgeführt wurde, schon in Mißkredit zu bringen sei.
Letztendlich - so alle Gesprächspartnerinnen - ist entscheidend, "was
dabei rausgekommen" ist. Das gemeinsame Arbeiten hat eine Beziehung
untereinander und zum Erfahrungsraum Siedlung geschaffen, die heute abzubrechen
beginnt. Die Formalisierung des Bezugs zur Anlage durch die Einbeziehung
von Fremdfirmen ist Beispiel eines unpersönlich gewordenen
Verhältnisses der Mitbewohner untereinander; beides ist in ihren Augen
Anzeichen und Folge des Funktionsverlusts von Gemeinschaft.
5. Die Pflicht zur Verantwortung
Wenn in diesen Passagen von "Gemeinschaft" die Rede ist,
dann meinen unsere Gesprächspartner nicht sofort die organisierten
Hausgemeinschaften. Diese erscheinen ihnen vielmehr als äußerer
Anlaß, gemeinschaftliches Handeln heute in Mißkredit bringen
zu wollen. Hier nun zeigen sie ihre Kompetenz im Abwägen der diskriminierten
Konzeption. Denn sie entdecken nun, gerade auch dadurch, daß ihnen
vielfach die Zwangsgemeinschaften als etwas Undemokratisches vorgehalten
werden, daß es tatsächlich echte Gemeinschaften gab und vielleicht
noch gibt, an denen sie festhalten möchten, weil sie ihnen etwas "Gutes"
bedeuten. Damit erkennen sie nun an ihrer geschwächten Lebensführung,
was ihnen zwar schon irgendwie bekannt war, was sie aber noch nicht auf diese
Weise wußten, nämlich daß sie Gemeinschaften benötigen
und wollen. Diese Siedlung wird als gemeinsamer Erfahrungsraum von Menschen
begriffen, insofern die Erfahrung des Bekümmerns, des Sichsorgens und
des Ordnens in Zeiten ihrer Verletzbarkeit als etwas Wertvolles und
Erhaltenswertes entdeckt wird. Daß dies so ist, dies kann man nicht
auf eine bürokratische und antidemokratische Verordnung schieben. Es
wird nicht an etwas Überflüssigem festgehalten. Vielmehr ist ein
gemeinsamer Handlungsbezug ausschlaggebend, der erst die gemeinschaftliche
Beziehung untereinander und zur Wohnanlage bewirkte. Insofern man versichert
ist, daß man selbst es war, der die Ordnung der Dinge von der Wohnung
über das Haus bis zu den Grünanlagen mitgeschaffen hat, dann liegt
in dieser Einsicht auch eine nichtaufgebbare Verpflichtung zu weiterer
Verantwortung. Dieser verantwortliche Umgang der Menschen untereinander und
gegenüber den Dingen der nahen Umgebung ist unseren
Gesprächspartnerinnen bewußt geworden.
Die Wahrnehmung des Gemeinschaftsverlusts ist verbunden
zum einen mit der sensiblen Beschreibung von kritisch gesehenen "neuen"
Lebensführungen, zum anderen mit der hilflos anmutenden Identifizierung
von deren Aufkommen als Folge der "Wende". Dabei wird sowohl angesprochen,
daß die Nachbarn noch nicht so weit seien, die neuen Gewohnheiten des
Westens anzunehmen und umzusetzen, als auch bemerkt, daß es mitunter
ihnen nicht als erstrebenswert gilt, das überkommene, vielleicht sogar
hier und dort nutzlos erscheinende Vertraute aufzugeben:
"z.B. äh daß diese Heizungen mit
Meßgeräten versehen werden, insofern ist es natürlich schon
ein Wohnproblem und wir sind auch der Meinung, daß das schon durchaus
notwendig ist, denn äh .. Wasserverbrauch geht äh übers Geld
und ist auch nicht immer voll, wird auch nicht immer voll verantwortet von
den einzelnen Mietern. Ich erkläre das: Es gibt also Mieter, ich habe
hier also n speziellen Fall, die also in der Woche ihre zehn Waschmaschinen
waschen .. drei Personen. Da fragt man sich, muß das sein. Ich hab
also den Sohn der ist so etwa über zwanzig hab ich schon mal gefragt,
sag mal, sag ich, wascht ihr jede Hose einzeln. Das werden die Leute
wahrscheinlich nicht mehr tun, wenn sie das Wasser laut Zähler bezahlen
müssen. Dasselbe ist auch mit den Heizungen .. nich auch äh äh
.. die Heizungen kann man ja abstellen und so kann man ne Menge sparen. So
wird natürlich keiner die Heizung abstellen (...) das sind diese
Verantwortlichkeiten, die äh naja die sind unsere Leute vielleicht nicht
gewöhnt, das muß man sagen nich"
(I).
Sind hier unter Umständen Verantwortlichkeiten
angesprochen und gemeint, die nicht mehr gegenüber der Gemeinschaft
gezeigt werden müssen, sondern daß nun das einzelne Individuum
in erster Linie für sich selbst verantwortlich gemacht wird? Auch eine
andere Mieterin stellt eine neue Verantwortung fest, die auf die Menschen
zugekommen sei:
"ich merke och in der Kita selber .. wenn ich also
jetzt eigentlich davon ausgehe oder ich persönlich oder wir im
Elternausschuß .. wir wollen unsre Kinder da nich nur abgeben und wieder
abholen, sondern irgendwo ham wir n bißchen mehr Verantwortung"
(II).
Auch die Verantwortung für die eigenen Kinder, ihre
Erziehung z.B., hat man nun persönlich zu tragen. Verantwortung wächst
nicht länger aus etwas Gemeinsamem hervor, wie und worin immer diese
sich ausgedrückt haben mag. Es ist nicht mehr eine ganz
selbstverständlich gehandhabte Gepflogenheit, sich an einen durch
Gemeinsamkeiten gestifteten Sinn zu wenden. Ferner ist interessant, daß
das Stichwort Verantwortung nicht nur im Sinne einer neuen Verantwortlichkeit
fällt, sondern daß sozusagen im Gegenzug ein Verlust an Verantwortung
festgestellt wird, nämlich bezogen auf das gemeinschaftliche Wohnen:
"jetzt wird vieles: Hausreinigung, Gartenreinigung
und und und über Fremdreinigung laufen und man sieht ja jetzt mitunter
schon: da is kein Bezug mehr da, ja? wenn dat fremde Leute machen, interessiert
mich das nicht mehr und dann schmeiß ich mein Zeug halt mit unten hin
- wenn ich selber pflegen muß .. oder selber pflege, hab ich ne andere
Beziehung dazu" (II);
"Ja um Gottes Willen, es is furchtbar und weils s
fühlt sich keiner mehr verantwortlich und dadurch verschlampt et hier
allet och so- ich- es sieht beschissen aus für die Kinder och grade,
ja ich meine, die lernen det überhaupt nich sich n bißchen selber
sich zu kümmern, ick meine, wat wir wohnen doch hier nu alle und ..
jeder macht sein Dreck da unten und keener räumts weg ja und eh da mal
jemand kommt unds wegräumt- warum sollen andere Leute unseren Dreck
weg machen? ja also >hm< dat geht mir absolut gegen die Hutschnur,
ick kann so wat überhaupt nicht leiden"
(III).
Dem würde nun auch unsere erste Gesprächspartnerin
zustimmen, die eben noch insofern Verständnis für die Mieter hatte,
als ihnen ein ungeübtes Verhalten abverlangt wird. Wenn sie nun Prinzipien
ihrer Lebensführung vorstellt, dann nur am Praxisbeispiel der Organisation
der Reinigungsaufgabe. Am Verhalten von Mietern, die sich für die Reinigung
der Siedlung durch bezahlte Fremdfirmen entschieden haben, bemängelt
sie deren Egoismus. Sie identifiziert darin einen Grundzug von Individualismus,
dem sie das Prinzip einer gemeinsam getragenen Verantwortlichkeit
gegenüberstellt. Hier gelangt sie ins Zentrum ihrer Lebensführung:
"muß muß ja immer hier die ganzen Blocks
sehen und nicht nur hier das Haus, daß nun doch schon ein ganze Menge
junger Leute dabei sind, die sagen, was soll ich mir die Finger dreckig machen,
ich verdiene, ich kann es mir leisten, da monatlich mehr zu zahlen, also
ich stimme für Fremdfirmen. Und äh da gibt es natürlich bei
den älteren Leuten, die nun nicht so dicke dastehen oder oder
Vorruheständler oder oder Arbeitslose oder sonstwas, die dann sagen:
Also ich würde lieber Monat äh lieber saubermachen, aber ich
höätte monatlich weniger Belastung .. und äh natürlich
das ist z.B. so n kleiner Punkt, wo dann so n bißchen die Sache
auseinandergeht .. ich äh äh also mit mißfällt es sehr,
weil ich der Meinung bin, so kann man nicht leben .. und ich bin eigentlich
der Mensch, der auch auf Menschen zugeht und und ich bin auch der Meinung,
man braucht immer jemand" (I).
Diese Beschreibung macht zugleich deutlich, daß
sich eine Differenzierung der Lebenslagen und damit auch der Anforderungen
an die Lebensführung bemerkbar macht. Die "neuen" Verantwortlichkeiten,
von denen hier gesprochen wird, unterscheiden sich von den "alten", so mein
vorläufiger Eindruck, daß sie das einzelne Individuum in den
Vordergrund rücken, das für sich selbst sorgt und sich selbst der
Nächste ist. Während die "alten" Verantwortlichkeiten aus einem
gemeinschaftlichen Umgang mit dem Erfahrungsraum hervorgingen und auf ihn
zurückwirkten.
6. Die "neue" Gesellschaft
Es besteht keine andere Möglichkeit, als vom bekannten
Gemeinwesen aus auf das neue, unbekannte zu blicken. Erwartungen werden
enttäuscht, insofern man Erfahrungen und Gewißheiten diskreditiert
sieht, die einem etwas für sein Leben bedeuten. Zwar ist man bereit,
differenziert auf das vergangene Leben zu blicken ("einerseits - andererseits"),
aber doch nur, wenn man auch die Chance sieht, das zu bewahren, was einem
als Kern der eigenen Lebenshaltung unbedingt erhaltenswert erscheint:
"ich versuch, sag mal .. mein Umfeld und auch mein
Zuhause irgendwo ganz bewußt ähm dem nicht so ganz zu unterwerfen,
ja, und irgendwo .. andere Dinge als als wichtig zu behalten und so"
(II);
und: "Ich finde, man muß einfach wieder
zusammenfinden" (I).
"Ich äh äh also mir mißfällt es
sehr, weil ich der Meinung bin, so kann man nicht leben"
(I);
"Ick werd meinen Kindern och erzählen wie et war
und- ick möchte eigentlich, daß sie so normal bleiben wie
möglich und nich diesen ganzen Firlefanz und ..
>(der Ehemann:) ja det jeht aber nich
det is ja det Problem< ja aber so so bodenständig wie möglich.
Ick meine, daß se nich so .. abheben det find ick blöd"
(III).
"Bleiben", "behalten", "wieder sich zusammen
finden", "dem sich nicht zu unterwerfen", "so kann man nicht
leben", "nicht so abheben" sind ähnliche Ausdrücke,
insofern sie - wie hier - benutzt werden, um eine soziale Situation kenntlich
zu machen, in der man das Bewährte retten will. Man sieht sich vor die
Entscheidung gestellt: Bleiben oder Sich-anpassen.
Die Befreiung oder Entlastung von Organisation und
Zwangsverpflichtung wird sehr ambivalent aufgefaßt. Für den
praktischen Umgang in der Siedlung, und nur darum geht es uns, stellen die
Frauen eine Schwächung des sozialen Miteinanders fest. Es werden keine
Gesellschaftsformen abstrakt gegenübergestellt und deren Vor- und Nachteile
diskutiert, sondern man berichtet von seinen Beobachtungen, man macht sich
seine Gedanken, man wägt ab:
"es funktioniert jetzt nicht mehr so ne es funktioniert
nicht mehr so, also wie gesagt: für und wider"
(II).
Vielleicht könnte ein Ausweg darin liegen, zu neuen
Gemeinschaften zu kommen. Gemeinschaften, die sich wieder durch gemeinsame
Interessen und gemeinsames Handeln konstituieren und die am Ende eine
modifizierte und angepaßte Lebenskonzeption erkennen lassen:
"und dann sieht man andrerseits schon auch die Tendenz,
daß sich Leute wieder engagieren" (II);
"Es gibt auch hier Leute, die über alles meckern,
die meckern aber bestimmt och heute wieder über alles, ja? Man muß
es immer wieder n bissel relativieren. Ich zähl mich nu nich zu den
notorischen Meckerern, ich sage, wir müssen was machen, sonst kann man
schlecht meckern, wenn ich nie was mache .. dann muß ich erst mal mit
mir meckern" (IV).
"Und ich denke also ich mach jetzt ooch die Erfahrung,
natürlich is es n bißchen .. langwierig und klappt natürlich
nicht ganz so wie man es manchmal will, aber .. äh wenn man sich hier
echt wie zu diesem Projekt ne engagiert und den Kontakt zu Eltern sucht,
man findet wirklich .. Leute - also ich hab echt gewonnen durch dieses Projekt
und diesen Verein, muß ich sagen und durch das Kinderfest also ich
muß sagen, ich hab ich hab hier Freunde gewonnen, ich hab, die ich
früher nicht hatte >hmhm< und ich hab ähm .. Kontakte also
ich ich hab jetzt Leute da, wo ich auch mal ganz persönlich sagen kann:
Ich brauch jetzt mal eure Hilfe oder kann ich mal meine Kinder dalassen ..
ähm was ich vorher nicht hatte, also was ich einfach sagen will, ist,
daß daß durch solche Initiativen einfach soziale Kontakte entstehen
können, die ganz wichtig sind und wo plötzlich Leute och sagen:
Ja, mir is das eigentlich wichtiger als .."
(II).
Die die "neue" Gesellschaft kennzeichnenden Spielräume
werden als Freiräume verstanden, die man sich individuell aneignen
muß. Überall kann man sein Engagementbedürfnis entdecken.
Nur: man muß sich selbst drum kümmern. Es gibt kein gesellschaftlich
vorbestimmtes soziales Terrain mehr, auf dem man sich betätigen darf
bzw. soll. Frei werden die "neuen" sozialen Räume nur, indem jeder Einzelne
sie für sich auftut und aneignet, nämlich: "daß sich Leute
wieder engagieren"; "wir müssen was machen"; "man sich hier echt engagiert".
7. Gewohnheit und Erfahrung
Ungewohnte Situationen verlangen ungewohnte
Bewältigungen. Man soll sich an ein Geschehen anpassen, kann es aber
nicht, weil einem sozusagen die richtigen Worte fehlen. Denn zur Verfügung
steht nur das alte Vokabular, das aber zum Bezeichnen des Unerhörten
unpassend ist. Könnten wir aber an irgendeiner Stelle der Gespräche
behaupten, die Bewohnerinnen haben deshalb Schwierigkeiten mit der
Auflösung ihres Gemeinwesens, weil sie unfähig sind oder es nie
gelernt haben, die Wörter "Gemeinschaft", "Verantwortung" usw.
richtig zu gebrauchen? Wenn wir das jedoch nicht können, und
ich habe versucht, gute Gründe dafür beizubringen, dann sind wir
aufgefordert, das Denken dieser Menschen ernstzunehmen. Indem wir uns
Erfahrungsbeispielen aussetzen, werden wir erst mit der Breite lebensweltlicher
Konzeptionen vertraut. Damit unterlaufen wir die verbreitete Vorstellung,
es gäbe einen durch Erkenntnis und Definition festlegbaren
zulässigen Wortgebrauch.
Wir haben Zeugen gehört und uns von ihnen zu einem
erfahrungsmäßigen Verständnis ansonsten bekannter Sachverhalte
hinführen lassen, zu welchem wir anders nicht gekommen wären. Die
Reihen, die wir gebildet haben, zeigen etwas Verbindendes und Ähnliches
der Beispiele untereinander an den Stellen, an denen sie ineinandergreifen.
Was hier einander ähnlich ist, ist die mitgemeinte Hinsicht, bestimmte
Wörter auf diese Weise zu verwenden, um anderen z.B. eine Beobachtung
oder Erfahrung mitzuteilen. Die Verwandtschaft des Wortgebrauchs weist uns
auf eine soziale Erfahrung hin, die Menschen in vergleichbaren Lagen
teilen.
Was unsere Gesprächs- und Textbeispiele zeigen und
nahelegen, ist ein Flüssigwerden von festgelegten Überzeugungen
und bewährten Lebenskonzepten, das sich u.a. kenntlich macht und mitteilt
durch den spezifischen Gebrauch des Wortes "Gemeinschaft". Gemeinschaft wird
hier nicht als fixer Begriff, den man mit Prädikaten vollständig
definieren könnte, gebraucht. In diese sprachliche Konzeption sind die
Umgangserfahrungen mit Nachbarn und Mitbewohnern der Siedlung eingegangen,
die die eigene Haltung zur gegenwärtigen Situation leiten und der
Lebensführung Richtung und Sinn geben. Es ist ernstzunehmen, wenn unsere
Gesprächspartner Desorientierung im unmittelbaren Verantwortungsbereich
des Wohnens wahrnehmen. Ich schlage vor, diese soziale Erfahrung mit einem
Ausdruck von John Dewey "gehemmte Gewohnheit" zu nennen. An dieser Stelle
halte ich es nämlich für nützlich zu prüfen, ob es ein
Ineinandergreifen von pragmatischem und theoretischem Vokabular geben kann.
Sind möglicherweise produktive Erweiterungen unserer Reihen möglich,
insofern das eine Vokabular Anschluß an das andere findet?
Der Vorschlag, Denken und Sprechen als eine Tätigkeit
zur Etablierung einer Verhaltensgewohnheit aufzufassen, stammt von Charles
Sanders Peirce. Pragmatismus war für ihn keine Philosophie der
Weltanschauung, sondern eine Methode, um über unsere Vorstellungen,
Ideen und Überzeugungen zu reflektieren. Überzeugungen sind
Dispositionen, unter bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise zu handeln.
Ausdrücklich wird der Primat der Praxis herausgestellt. Zu Beginn einer
Vorlesungsreihe, die Peirce 1903 an der Harvard-Universität abhielt,
kommt er auf dieses ursprüngliche, schon in den 1870er Jahren vorgebrachte
Motiv des Pragmatismus noch einmal zu sprechen: "Eine gewisse Maxime der
Logik, die ich Pragmatismus genannt habe, bot sich mir aus verschiedenen
Gründen und aus mannigfaltigen Überlegungen an. (...) Überlege,
welches die praktischen Wirkungen sind, die unserer Meinung nach vom Objekt
unserer Vorstellung erzeugt werden können. Die Vorstellung aller dieser
Wirkungen ist die vollständige Vorstellung des Objektes. Um den Sinn
eines Gedankens zu entwickeln, muß man einfach die Gewohnheiten, die
ihn erzeugten, bestimmen, denn der Sinn einer Sache besteht einfach in den
Gewohnheiten, die sie impliziert. Das Merkmal einer Gewohnheit hängt
von der Art ab, wie sie uns zum Handeln bringen kann, nicht nur in den
wahrscheinlichen Umständen, sondern in allen möglichen Umständen,
so unwahrscheinlich sie auch sein mögen" (Peirce 1991, S.3 und 5f.).
Der Pragmatismus von William James unternimmt es, an einzelnen
Fällen zu zeigen, warum wir uns an die Wahrheit halten müssen;
er untersucht, warum sich die Menschen nach der Wahrheit richten und sich
immer nach ihr richten sollten. James, neben Peirce und Dewey der wichtigste
Vertreter des frühen Pragmatismus, hat in seinen Vorlesungen, die unter
dem Titel Pragmatismus Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden,
einen interessanten Zusammenhang von Erfahrung, Gewohnheit und
Lebensführung gesehen. Ein Gedanke ist so lange wahr, sagt James, als
der Glaube an ihn für unser Leben nützlich und gut ist (vgl. James
1977, S. 48). Unser Wissen und unsere Meinungen über die Dinge sind
Erfahrungen, die wir in Bezug auf unsere Lebensführung nicht entbehren
können: "Wenn es eine Lebensführung gibt, die besser ist als eine
andere, und wenn eine Idee, vorausgesetzt, daß wir an sie glauben,
uns helfen könnte, das bessere Leben zu führen, dann wäre
es ja tatsächlich besser für uns, an diese Idee zu glauben" (S.
48 f.). Dieser Maxime zu folgen, bedeutet praktische Vernünftigkeit,
plausibler Umgang mit den eigenen Erfahrungen - aber kein logisches
Schließen aus Prämissen. Es zeigt sich die Unmöglichkeit,
den Begriff "was für uns besser ist" und den Begriff "was für uns
wahr ist" auseinanderzuhalten.
Für John Dewey bilden sich Gewohnheiten im aktiven
und reaktiven Umgang mit der konkreten Umwelt; sie sind angenommene Haltungen
gegenüber Menschen und Dingen. Verantwortungsgefühl und auch
"Wohngefühl", so haben wir festgestellt, sind erworbene Fähigkeiten
und Funktionen der Wechselwirkung mit der Umgebung. Ohne solche Fähigkeiten
und Fertigkeiten könnte der Erfahrungsraum gar nicht praktisch genutzt
werden. Die unter der Hand vollzogene Hinsicht des "guten", am Gelingen
orientierten Wohnens ist erst der lebensgeschichtliche Ertrag des Umgangs
mit den Menschen und Dingen eines konkreten Gemeinwesens. Situationen
verbrauchter Gewohnheiten sind dadurch gekennzeichnet, daß man
in ihnen handeln soll und muß, indem man seine Gewohnheiten aufgibt.
Aber der Umgang mit den neuen Verhältnissen, Anforderungen und Zumutungen
muß notwendigerweise am Bekannten und Gewohnten ansetzen. Denn meine
Gewohnheit, das bin ich selbst. Das Bekannte retten heißt aber sein
Selbstbild retten. Mit den Phänomenen erst, die wir beim Übergang
vom alten zum neuen Gemeinwesen wahrnehmen, zeigt sich die ganze Macht der
Gewohnheit. Gerhard Funke hat bei seiner monumentalen begriffsgeschichtlichen
Untersuchung unter anderem gerade darauf aufmerksam gemacht (vgl. Funke 1961).
Gewohnheit bewirkt als erworbene lebensgeschichtliche Leistung eine
besondere Disposition des Wahrnehmens, Erfahrens und Verhaltens. Diese Leistung
vermag ihren ganz eigenen charakteristischen Ausdruck darzustellen: als "gewohnt"
bringt sie eine besondere Art des Erlebens und Erfahrens zur Geltung. Was
auf diese Weise "gewohnheitsmäßig" aufgefaßt, begriffen
und ausgelegt wird, besitzt je schon den Modus des Gewohnten, Bekannten und
Vertrauten. Diese ausgezeichnete Eigenart des Wahrnehmens und Erfahrens ist
aber nichts Sekundäres und Nachträgliches. Es tritt hier nichts
zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Diese erworbene Disposition ist daher
nichts Intentionales, es handelt sich dabei auch nicht um unbewußt
gewordene Motive, die vormals bewußt waren. Das
gewohnheitsmäßig Ausgelegtsein könnte hier nichts
ursprünglich explizit Gewußtes sein.
Vielmehr haben wir es bei der Gewohnheit mit erworbener
praktischer Urteilskraft zu tun, die eine bestimmte Lebensführung und
Lebenshaltung sich nach Lage der Umstände und Dinge bildet. Insofern
sie bestimmte soziale Lagen gekonnt beantwortet, ist sie Ausdruck "lebendiger
Vernunft" (Funke). Auch für Dewey ist es unsinnig, Gewohnheit gegen
praktische Vernunft auszuspielen. Diese gibt dem tätigen Umgang mit
der Umwelt Ordnung, Perspektive und offenen Sinn: "Vernünftigkeit ist
nicht eine Kraft, die man gegen Gewohnheit und Trieb aufzurufen hätte"
(Dewey 1931, S. 201). Verändern sich jedoch die Umstände, wechseln
die situativen Bedingungen, zeigen sich Lagen und ihre Milieus nur mehr bedingt
als bekannt, dann muß das durch Gewohnheitsbildung verfestigte und
dogmatische Verhalten wieder aufbrechen und flüssig werden. Entscheidend
für den Umgang mit gehemmter Gewohnheit wird die Höhe und
Geschwindigkeit des Veränderungsdrucks (die Dauer der "Schonzeit"),
unter dem die zu bewältigenden Handlungskontexte erfahren werden. Je
stärker der erlebte Druck, desto heftiger muß sich der Konflikt
zwischen Dogmatisierung und Anpassung zuspitzen. Für den einzelnen Menschen
wird das als Konfrontation von "Bei-sich-bleiben-wollen" und
"Sich-anpassen-wollen" (Funke) erlebt, begleitet von Stadien des
Bewußtwerdens von Selbstverständlichkeiten und Überzeugungen
auf der einen und von manifester Unangepaßtheit auf der anderen Seite.
Schon das Gewahrwerden und die Reflexion noch lebendiger Gewohnheit muß
zu deren Schwindung und damit zu Verhaltensunsicherheiten und -hemmungen
führen. Das Innehalten, Sicherinnern und Beobachten geschieht nicht
aus Gewohnheit.
8. Schlußbemerkung
Ich habe zu zeigen versucht, daß die Wirklichkeit
des Wohnens durch sprachliche Konzeptionen gefaßt wird, die mit der
aktuellen sozialen Lage der Menschen verknüpft sind. Ein paar Jahre
nach dem sogenannten Transformationsprozeß wundert es nicht, daß
die aus den Medien vertrauten Vokabeln uns auch hier begegnen: Wende,
Gemeinschaft, Wohnen und Verantwortung. Aber von soziologischem Interesse
ist nicht in erster Linie, daß wir die bekannten Begriffe wiederfinden,
sondern wie sie je von den Menschen gebraucht werden. Denn der im Gespräch
selbständig gemachte Gebrauch von Worten ist Ausdruck und Darstellung
der praktizierten Lebensführung. Gerade mit Sicht auf den Gebrauch der
Worte zeigt sich das Besondere ihrer Verwendung.
Was die Menschen im Nahbereich des Wohnens erfahren, ist
das Umschlagen von Vertrautem in Nichtvertrautes. Dies kann sich z.B. in
der Verwendung von vertrauten Worten in unvertrauter Weise zeigen. Denn die
Feststellung des metaphorischen Gebrauchs heißt ja nichts anderes,
als daß wir uns mit einem eigenständigen Praxisbereich konfrontiert
sehen, in dem ein "passender" Begriff noch gesucht wird. Der Ausdruck "Wende"
z.B. bezeichnet in den Erzählungen der Bewohner die soziale Erfahrung
der Umorientierung und damit den Bruch mit tradierter Lebensführung.
Die Notwendigkeit, sich anders zu orientieren, um sich noch zurechtzufinden,
wird zugleich, mit Blick auf die Vergangenheit, als Verlust von Gemeinschaft
beschrieben. Die "Wende" wird in dem umweltlichen Kontext verstanden, in
dem sie einem begegnet und betrifft. Darin ist selbstverständlich immer
auch das Sozialräumliche mitgemeint, da dieser Kontext ein praktisch-lokaler
ist.
Die - wenn man so will - unsichtbare Seite des "gewendeten"
Erfahrungsraums zeigt sich im zunehmenden Anpassungs- und Umorientierungsdruck.
Das Gemeinwesen mit seinen eingespielten Verantwortlichkeiten und
Erlebnisbereichen hat sich aufgelöst. Vertraute Ordnungen werden nicht
mehr reproduziert. Der sich zeigende soziale Orientierungs- und Kompetenzverlust
bedeutet so: seinen Platz im Gemeinwesen verloren zu haben. Die sichtbare
"Wende" zeigt sich in zunehmender Vermüllung der Siedlungsanlage. Nur
noch einzelne Bewohner, nicht mehr eine Gemeinschaft, fühlen sich
verantwortlich, seitdem die Reinigung nicht länger in die Verantwortlichkeit
von Hausgemeinschaften gelegt wird, sondern durch Verträge mit Dritten
versachlicht wurde. Es gelingt den Menschen unterschiedlich, sich auf diese
Situation einzustellen. Der westliche Lebensstil wird begriffen als durch
"Geld" und Konsum geregeltes, nicht mehr gemeinschaftsfähiges Verhalten.
Die individuelle Lebensführung, die nicht anders kann, als vom Bekannten
und Überkommenen als von etwas Selbstverständlichem auszugehen,
ringt um Anschlußmöglichkeiten an eingelebte und - wie man findet
- bewährte Haltungen. Dabei kommt der Permanenz der Architektur eine
besondere Rolle zu, insofern das Gedächtnis der Bewohner an ihr noch
einen Halt findet. Die Architektur steht ein für das Geschichtliche
ebenso wie für das Beständige eines ansonsten durch rapide Wandlungen
gebeutelten Erfahrungsraums. Immerhin konnten wir Anzeichen eines Wechsels
der Gewohnheit erkennen, die man z.B. als Ausblick auf "neue" Gemeinschaften
oder als freie Initiative engagierter Menschen deuten kann. Aber - und ich
hoffe, dies konnte deutlich werden - es ist weder ein Glaube noch Irrtum,
Unwissen oder gar eine Willensschwäche, was die Menschen an ihre Gewohnheit
bindet, insofern wir diese - wie hier vorgeschlagen - als eine erworbene
Disposition betrachten. Nur durch neue Erfahrungen aus verändertem
Tätigsein und Umgang und durch neue soziale Beziehungen kann eine alte
durch eine neue Gewohnheit mit der Zeit ersetzt werden. Der dabei hilfreiche
tastende und suchende Gebrauch von Metaphern ist offenbar nützlich bei
der Vermittlung zwischen den alten und neuen Bedeutungen und
Ausdrucksweisen.
Literaturhinweise:
John Dewey (1931), Die menschliche Natur, Stuttgart/Berlin
Karsten Feucht, Achim Hahn, Michael Steinbusch u.a. (1994),
Planen und verAntworten. Projektgebiet "Allende I" in Berlin-Köpenick.
Projektbericht. 115 S. TU-Berlin.
Gerhard Funke (1961), Gewohnheit. Archiv für
Begriffsgeschichte. Band 3. Bonn
Maurice Halbwachs (1967), Das kollektive Gedächtnis.
Stuttgart
Achim Hahn (1994), Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption
einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik.
Frankfurt/M.
William James (1977), Der Pragmatismus: ein neuer Name
für alte Denkmethoden. Einleitung von Klaus Oehler. Hamburg
Hans Lipps (1977), "Metaphern" (zuerst 1934), in: Werke
IV, Die Verbindlichkeit der Sprache. Frankfurt/M.
Charles Sanders Peirce (1991), Vorlesungen über
Pragmatik, herausgegeben von E.Walther, Hamburg 1991
Zusammenfassung : Im
Aufsatz wird die These vertreten, daß die Wirklichkeit des Wohnens
durch sprachliche Konzeptionen gefaßt wird, die mit der aktuellen sozialen
Lage der Menschen verknüpft sind. Was die Menschen im Nahbereich des
Wohnens seit der "Wende" erfahren, ist das Umschlagen von Vertrautem in
Nichtvertrautes. Dies kann sich z.B. in der Verwendung von vertrauten Worten
in unvertrauter Weise zeigen. Dieser ungewöhnliche Gebrauch weist zugleich
hin auf ein Umorientierungsgeschehen in der Lebensführung, insofern
routinemäßige soziale Beziehungen durch nicht
routinemäßige ersetzt werden.
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