
1997_2 |
Thomas Y. Levin
Geopolitik des
Winterschlafs:
Zum Urbanismus
der Situationisten*
Die Hacienda
wirst Du nicht sehen es gibt sie nicht.
Die Hacienda muß gebaut werden.
Gilles Ivain
1Von ihrer offiziellen Gründung am
28. Juli 1957 bis zu ihrer Selbstauflösung im Jahre 1972
schuf die Situationistische Internationale (im folgenden
»SI«) als Avantgarde-Bewegung und politische Zelle ein
enorm heterogenes Oeuvre, das die Kultur der westlichen
Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit grundsätzlich in
Frage stellte. Die vielfältigen Hervorbringungen
Traktate, Plakate, Collagen, theoretische Texte, Bücher,
Filme und strategischen Interventionen waren nicht
nur für den »Mai '68« von Bedeutung, sondern sind es
bis heute für Kunst, Architektur und Städteplanung
geblieben.1 Ihre Vision eines »unitären
Urbanismus« als eine wirkmächtige Form der, so
Guy Debord, »Verwirklichung von Philosophie« war
symptomatisch für das ästhetisch-politische
Selbstverständnis der SI. Gemeint war damit die Idee
einer kreativen Neukonzeption der Stadt als politisches
Gesamtkunstwerk: als Negation
und Realisation von Kunst in einem. Im Wandel von dieser
anfänglichen experimentellen Phase zur Ideologiekritik
der vorherrschenden Verhältnisse läßt sich die
spätere Entwicklung des gesamten Projekts der SI
nachzeichnen.
2Auf der Gründungstagung der SI in
Cosio-D'Aroscia legte Guy Debord, die treibende
theoretische Kraft der Gruppe, einen sorgfältig
formulierten, programmatischen »Rapport über die
Konstruktion von Situationen« vor, worin die
Dringlichkeit, die Intensität und vor allem die Militanz
des revolutionären Projekts der SI zum Ausdruck gebracht
wurde:
3Wir meinen zunächst, daß
die Welt verändert werden muß. Wir wollen die
größtmögliche emanzipatorische Veränderung
der Gesellschaft und des Lebens, in die wir
eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich
ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen
durchzusetzen.2
3In der Tradition früherer
revolutionärer kultureller Bewegungen anerkennt die SI
hier die Bedeutung des Kampfes der internationalen
Arbeiterbewegung, von dem, so Debord, jede Transformation
der Infrastruktur der ökonomischen Ausbeutung in
gewissem Maße abhängt. Womit sich das
Gründungsdokument der SI jedoch eigentlich beschäftigt,
ist der Antagonismus zwischen neuen Formen des Begehrens
und der retardierenden Wirkung einer oppressiven
ökonomischen Struktur, die der Nutzung dieser affektiven
Ressourcen zuvorkommt. Hier, in der als »eine aus der
Ästhetik, den Gefühlen und Lebensweisen
zusammengesetzte Gesamtheit, die Reaktion einer Epoche
auf das alltägliche Leben«3 verstandenen
Arena der Kultur zog die SI ihre Schlachtlinien. Wenn
jedoch eine Revolution zu allererst als eine radikale
Transformation der Struktur und des Wesens des Begehrens
verstanden wird, hat dieses Revolutionsverständnis
dramatische Konsequenzen, sowohl für den Ort als auch
für die Form des Kampfes. Wie Debord es formuliert:
4Das Ziel einer
revolutionären Aktion auf dem Gebiet der Kultur
kann nicht sein, das Leben wiederzugeben oder zu
erklären, sondern es zu erweitern. Überall muß
das Unglück zurückgeschlagen werden. Die
Revolution läßt sich nicht gänzlich in der
Frage erfassen, welche Produktionsstufe die
Schwerindustrie jetzt erreicht hat und wer sie
beherrschen wird. Zusammen mit der Ausbeutung des
Menschen müssen die Leidenschaften, die
Kompensation und die Gewohnheiten sterben, die
Produkte der Ausbeutung waren. Es müssen neue,
in Zusammenhang mit den heutigen Möglichkeiten
stehende Begierden definiert werden. Schon heute
im heftigsten Gefecht zwischen der gegenwärtigen
Gesellschaft und den Kräften, die sie zerstören
werden, müssen die ersten Bausteine für eine
höhere Umgebungskonstruktion und neue
Verhaltensbedingungen gefunden werden; [...]
Alles übrige gehört der Vergangenheit an und
ist ihr von Nutzen.
5Es muß jetzt eine
organisierte kollektive Arbeit begonnen werden,
die eine einheitliche Anwendung aller Mittel zur
Umwälzung des alltäglichen Lebens anstrebt.
[...] Wir müssen neue Stimmungen konstruieren,
die zugleich Produkt und Werkzeug neuer
Verhaltensweisen sind. Dafür müssen anfangs die
heute vorhandenen alltäglichen Verhaltensweisen
und die Kulturformen empirisch angewandt werden,
indem man ihnen jeden eigenen Wert aberkennt.4
6Schon hier, im Entstehungsmoment
der SI, wird die Aussicht auf eine transformierte Welt
unmittelbar mit einer Revolution im Begehren verbunden,
und neue Formen des Begehrens sind wiederum aufs engste
an neue Alltagsräume angebunden. Doch die Architektur
solcher »höheren« Umgebungen, die sowohl zu neuen
Begierden und Verhaltensweisen hinführen als auch deren
Ergebnis sind, muß erst noch erfunden werden, und am
Beginn dieses Bauprojekts im Herzen dieser utopischen
Vision steht die detaillierte Erforschung der komplexen,
das Verhältnis von Raum und Begehren beherrschenden
Ökonomie. Und das Laboratorium für diese Forschung ist
nichts anderes als die gegenwärtige Stadtlandschaft.
7Ihren Versuch, zu einem neuen
Verständnis vom sozialen Raum der Stadt zu gelangen,
begann die SI mit einem Frontalangriff auf das, was sie
als die theoretische Dürftigkeit des die
zeitgenössische Architektur beherrschenden
Funktionalismus betrachtete. Eines der pathologischsten
Symptome des gegenwärtigen ideologischen Zerfalls ist
für Debord
8die funktionalistische
Theorie in der Architektur[, die] auf die
reaktionärsten Vorstellungen über Gesellschaft
und Moral gegründet ist. Das heißt, daß eine
überaus rückständige Vorstellung vom Leben und
seinem Rahmen in partielle und vorübergehend
gültige Beiträge des ersten Bauhauses oder der
Schule Le Corbusiers eingeschmuggelt wird.5
9Diesem kurzsichtigen
Funktionalismus wollte die SI eine »aufregende
funktionelle Umwelt«6 entgegensetzen, und der
erste Schritt darauf hin sollte durch die Erschaffung von
»Situationen« gesetzt werden, Konstruktionen einer
anderen Art, die zu radikal neuen Lebensformen führen
sollten. In dieser systematischen und gleichwohl
spielerischen Transformation des alltäglichen Raums wird
das Bauen zu einer radikal politischen Praxis auf der
Ebene des Individuums. Nicht die Architektur, die
holistische Konstruktion von Situationen liegt dem
zugrunde, was die SI als »unitären Urbanismus«7
bezeichnen sollte:
10Unser Hauptgedanke ist der
einer Konstruktion von Situationen d. h.
der konkreten Konstruktion kurzfristiger
Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine
höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen
eine geordnete Intervention in die komplizierten
Faktoren zweier großer, sich ständig
gegenseitig beeinflussender Komponenten
durchführen: die materielle Ausstattung des
Lebens und Verhaltensweisen, die diese
Ausstattung hervorbringt und durch sie
erschüttert wird.
11In ihrer letzten
Entwicklungsstufe führen unsere Perspektiven,
auf die Ausstattung einzuwirken, zum Konzept
eines unitären Urbanismus. Der unitäre
Urbanismus läßt sich erstens als die Anwendung
aller Kunstrichtungen und Techniken definieren,
die für eine umfassende Komposition des Milieus
zusammenwirken. Diese Gesamtheit ist unendlich
breiter als die alte Herrschaft der Architektur
über die traditionellen Kunstrichtungen oder die
gegenwärtige gelegentliche Anwendung von
spezialisierten Techniken oder wissenschaftlichen
Untersuchungen wie z. B. der Ökologie auf den
anarchischen Urbanismus.8
12Der »unitäre Urbanismus« wird
von der SI nicht als eine Doktrin verstanden, sondern zu
allererst als eine von Wohnungsproblemen abgesonderte und
diese Fragen zugleich umfassende Urbanismuskritik, dem es
letzten Endes um »ein Experimentierfeld für den
SOZIALEN RAUM der zukünftigen Städte« zu tun ist.9
Als solches muß er, so Debord, die Strukturierung der
akustischen Umwelt umfassen, die Verteilung der
verschiedenen Getränke- und Nahrungsmittelarten, die
Hervorbringung neuer Formen und die Zweckentfremdung
(»détournement«) alter Architektur- und
Urbanismusformen. Der »unitäre Urbanismus« ist in der
Tat nichts weniger als das politisierte, kollektive
Gesamtkunstwerk der SI: »Die integrale Kunst, von der so
viel gesprochen wurde, konnte nur auf der Ebene des
Urbanismus verwirklicht werden. Sie kann allerdings
keiner der traditionellen Definitionen der Ästhetik mehr
entsprechen.«10 Die SI verwarf das klassische
Modell des individuellen Künstlers und des autonomen
Kunstwerks (und die architektonischen Analogien) und hob
nachdrücklich hervor, die grundlegenste Einheit des
»unitären Urbanismus« sei nicht das Haus, sondern
»der architektonische Komplex, der aus der
Zusammenfassung aller Faktoren besteht, die eine Stimmung
oder eine Folge aufeinanderstoßender Stimmungen im
Maßstab der konstruierten Situation hervorrufen.«11
Jedem künftigen Gebäude müsse eine gründliche
Untersuchung der Beziehung zwischen Räumen und
Empfindungen, zwischen Form und Stimmung vorangehen:
13Die räumliche Entwicklung
muß die Gefühlswirklichkeiten berücksichtigen,
die durch die experimentelle Stadt bestimmt
werden. [...] Die Genossen, die eine neue, freie
Architektur fordern, müssen verstehen, daß sie
zunächst nicht mit Linien und freien poetischen
Formen in dem Sinne, in dem diese Worte
heute von denen gebraucht werden, die sich auf
eine Malerei der »lyrischen Abstraktion«
berufen spielen wird, sondern vielmehr mit
den Wirkungen der Stimmung von Zimmern, Gängen,
Straßen usw., wobei die Stimmung mit den in ihr
enthaltenen Gesten verbunden ist. Der Fortschritt
der Architektur sollte viel mehr in der
Herstellung von aufregenden Situationen als in dr
von aufregenden Formen liegen; und die
Experimente, die die Architektur damit anstellt,
werden zu unbekannten Formen führen.12
14Wollte man der Genealogie des
Situationistischen Urbanismus nachspüren, wäre der
nächstgelegene Kontext das Werk der Lettristischen
Internationale und insbesondere der 1953 veröffentlichte
visionäre Essay »Formular für einen neuen Urbanismus«
von Gilles Ivain das Pseudonym, das Ivan
Chtcheglov als Autor benutzte.13 Chtcheglov
fordert eine neue Architektur, der es möglich ist, die
vorherrschenden Zeit- und Raumkonzeptionen zu
transformieren, eine Architektur, die sowohl Wissen
vermittelt als auch Handlungsmöglichkeiten bietet, eine
modifizierbare, formbare Architektur, die sich je nach
den Wünschen ihrer Bewohner teilweise und sogar
vollständig wandelt:
15Diese neue Vision von Zeit
und Raum, die die theoretische Grundlage der
zukünftigen Konstruktionen sein wird, ist noch
nicht reif und wird es nie ganz sein, bevor die
Verhaltensweisen nicht in diesem Zweck
vorbehaltenen Städten ausprobiert worden sind.
Dort sollten, außer den zu einem Minimum an
Komfort und Sicherheit unbedingt notwendigen
Einrichtungen, auch Gebäude mit einer großen
beschwörenden und beeinflussenden Kraft sowie
symbolische Bauwerke, die die vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Begierden,
Kräfte und Ereignisse darstellen, systematisch
versammelt sein. Eine rationale Erweiterung der
alten religiösen Systeme, der alten Märchen und
besonders der Psychoanalyse auf die Architektur
wird mit jedem Tag dringender, in dem Maße, wie
die Gründe für die Leidenschaft mehr und mehr
verschwinden.
16Jeder wird sozusagen seine
persönliche »Kathedrale« bewohnen. Es wird
Räume geben, die einen besser träumen lassen
als Drogen, und Häuser, in denen man nur lieben
kann. Andere werden die Reisenden unüberwindlich
anlocken [...]
17Die Viertel dieser Stadt
könnten den verschiedenen katalogisierten
Gefühlen entsprechen, die man im gewöhnlichen
Leben zufällig antrifft. Ein seltsames,
ein glückliches ganz besonders dem Wohnen
zugedachtes , ein edles und tragisches
(für die braven Kinder), ein historisches
(Museum, Schulen), ein nützliches (Krankenhaus,
Lagerräume für Werkzeuge), ein finsteres
Viertel usw...14
18Die Bewohner dieses Reichs werden
hauptsächlich, wie Chtcheglov erklärt, mit einem
ständigen Umherschweifen (»dérive«) beschäftigt
sein, das zu einer schonungslosen, gründlichen und
taumelhaften Umweltentfremdung führt. Indem er im
wesentlichen sowohl die zentralen Leitsätze des
Situationistischen Urbanismus, als auch, wie im folgenden
noch deutlich werden wird, die Merkmale des einen, Jahre
später unter den Auspizien der SI von Constant in
Angriff genommenen, mehr oder weniger klassischen
Architekturprojekts vorwegnimmt, artikuliert Chtcheglov
hier wirkungsvoll das, was zu einem der zentralen Punkte
auf der Tagesordnung der SI werden sollte. Die Lettristen
griffen Chtcheglovs Forderung nach einer eingehenden
Untersuchung der Beziehungen zwischen Raum, Zeit und den
Leidenschaften auf und unternahmen voller Inbrunst die
affektive Stadtvermessung, die sie als
»Psychogeographie« bezeichneten. Wenn Psychogeographie
als »die Erforschung der genauen Gesetze und exakten
Wirkungen des geographischen Milieus[, ...] das, bewußt
eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale
Verhalten des Individuums einwirkt«15
definiert wird, dann ist ihre wichtigste
Datenerfassungsmethode die des Umherschweifens die
Identifizierung, Lokalisierung, Abgrenzung von »unités
d'ambiance« und ihren Ein- und Ausgängen, ihren
Barrieren, die Entdeckung »psychogeographischer
Drehscheiben« usw.16 Die Spezifität dieses
Umherschweifens, das in seiner Distanzierung von der
durchschweiften Umgebung/Menge sowohl an den
nicht-teleologischen Spaziergang des Flaneurs des 19.
Jahrhunderts als auch an die späteren Formen des
surrealistischen Bummelns erinnert, geht daraus hervor,
daß hier eine spielerische und eine konstruktive,
analytische Dimension miteinander kombiniert sind. Wie
aus seiner »Theorie des Umherschweifens« deutlich wird,
legt Debord großen Nachdruck darauf, daß bei der von
der umherschweifenden Person erwarteten offenen Hingabe
an die »Anregungen des Geländes und [die] ihm
entsprechenden Begegnungen ... der Anteil des Zufälligen
weniger ausschlaggebend [ist], als man es im allgemeinen
glaubt«, da diese Komponente auch durch gewisse
psychogeographische Kenntnisse über die zu
durchschweifenden Zonen (die Beschränkungen und
Möglichkeiten des Viertels) aufgewogen wird: »Das
objektive, leidenschaftliche Gebiet, auf dem sich das
Umherschweifen bewegt, muß zugleich entsprechend seinem
eigenen Determinismus und seinen Beziehungen zur sozialen
Morphologie definiert werden.«17 Nirgendwo
ist diese Landschaft reicher an Möglichkeiten als in der
postindustriellen städtischen Umgebung sei es
Paris, Amsterdam, Kopenhagen, Venedig oder das Londoner
East End , zu der das Umherschweifen eine
Wahlverwandtschaft hat.18
19Sowohl die Lettristen als auch die
Situationisten forderten eine neue, radikale Kartographie
und brachten graphische und textliche Artefakte
verschiedener Art hervor, die an die Stelle älterer
Karten treten sollten, sowie Rundsichtdarstellungen,
Luftfotografien und soziologische Diagramme, um affektive
Vektoren im Verhältnis zum bebauten Raum ausfindig zu
machen. Diese neue Vermessungsmethode, die sich
strukturell als Dokumentierung einer gelebten Erfahrung
versteht, ist eine eher narrative denn »objektive«
Methode; in ihrer parataktischen und nicht-holistischen
Beschaffenheit, ihrer Hervorhebung der für eine
Topographie, bei der es sich letzten Endes um eine
soziale Geographie handelt, charakteristischen
produktiven Diskontinuität zugleich jedoch auch eine
nicht-narrative:
20Der plötzliche
Stimmungswechsel auf einer Straße in einer
Entfernung von nur wenigen Metern; die
offensichtliche Aufteilung einer Stadt in
einzelne, scharf unterscheidbare psychische
Klimazonen; die Richtung des stärksten Gefälles
(ohne Bezug auf den Höhenunterschied), dem alle
Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen
müssen; der anziehende oder abstoßende
Charakter bestimmter Orte all dies wird
scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie
als abhängig von den Ursachen betrachtet, die
man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken
und sich zunutze machen kann. Zwar wissen die
Leute, daß es trübsinnige und angenehme
Stadtviertel gibt. Sie bilden sich aber
gewöhnlich fast ohne jede weitere
Unterscheidungen ein, daß die eleganten Straßen
ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln,
während die ärmlichen deprimierend wirken. In
Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der
Kombinationsmöglichkeiten von Stimmungen
analog zur Auflösung der chemisch reinen Körper
in die unendliche Zahl von Gemischen
ebenso differenzierte und komplizierte Gefühle
zur Folge wie diejenigen, die jede andere Art von
Spektakel auslösen kann. Schon die kleinste
entmystifizierte Forschung macht sichtbar, daß
zwischen den Einflüssen der verschiedenen
Ausstattungen innerhalb einer Stadt eine
Unterscheidung, sei sie qualitativ oder
quantitativ, nicht von einer Epoche oder einem
Baustil aus formuliert werden kann und noch
weniger von den Wohnbedingungen aus.19
21Zu den bekanntesten visuellen
Aufzeichnungen solcher »entmystifizierten«
psychogeographischen Erkundungen gehören Guy Debords
»[Illustration der These der psychogeographischen
Drehscheiben]« mit dem Titel »[Die nackte Stadt]« und
sein »[Psychogeographischer Führer durch Paris]«, die
beide 1957 fertiggestellt wurden, sowie Ralph Rumneys
ebenfalls 1957 entstandener Bericht über eine
»dérive« durch Venedig in Form einer Fotocollage.20
Das spielerische Element in diesen graphischen
Dokumentationen manifestiert sich auch in der spaßhaften
Umfunktionierung vorhandener, gegen den Strich gelesener
Karten: Ein Freund Debords durchzog zum Beispiel den
Harz, indem er blindlings einem Stadtplan von London
folgte. Im großen und ganzen gingen die
psychogeographischen Forschungen ȟber die Anordnung
der Bestandteile des urbanistischen Rahmens und in enger
Verbindung mit den von ihnen hervorgerufenen
Empfindungen« jedoch in weitgehend deskriptive
Textprotokolle ein, die die Peripherien der beobachteten
affektiven Zonen sorgfältig nachzeichnen. In einer 1955
erschienenen Ausgabe von »Les lèvres nues« findet sich
zum Beispiel ein Text von Jacques Fillon mit dem Titel
»Déscription raisonnée de Paris (Itinérair pour une
nouvelle agence de voyages) [Reiseführer für ein neues
Reisebüro]«, worin verschiedene Streifzüge von der
Place Contrescarpe aus nacherzählt sind, einem
Arbeiterviertel am linken Seineufer, das später zum
wichtigsten Tummelplatz der SI werden sollte.21
Anders als die eigentlichen Streifzüge zeichnen sich die
Darstellungen des Umherschweifens für gewöhnlich durch
eine gewisse Nüchternheit aus, geben aber dennoch
lyrische Einblicke in das Wesen des erforschten Gebiets.
Ein Beispiel ist die folgende Passage aus einer weiteren
psychogeographischen Studie über den »Kontinent«
Contrescarpe, wie das Viertel von der SI liebevoll
genannt wurde, deren unheimlicher Weitblick erst mehr als
zwanzig Jahre später zutage treten sollte, im
praktizierten revolutionären Urbanismus des Mai '68:
22[Die Anziehungskraft des
Kontinents scheint offenbar in einer bestimmten
Tauglichkeit für Spiel und Vergessen zu liegen.
Die bloße Konstruktion von drei oder vier
angemessenen architektonischen Komplexen an
verschiedenen ausgewählten Stellen in
Kombination mit der Absperrung zweier oder dreier
Straßen durch andere Gebäude würde zweifellos
genügen, dieses Viertel zu einem unwiderlegbaren
Beispiel für einen neuen Urbanismus zu machen.]22
23Andere psychogeographische Berichte
gaben auch bestimmte Vorschläge für die Transformation
oder Umstrukturierung der erkundeten Zonen. In dem
spielerisch gehaltenen Text »[Rationale Verschönerungen
für die Stadt Paris]« schlägt die SI zum Beispiel vor,
öffentliche Parkanlagen und das U-Bahnsystem mit einer
nur schwachen und/oder zeitweise aussetzenden Beleuchtung
die ganze Nacht hindurch offenzuhalten, um
psychogeographische Eigenschaften hervortreten zu lassen,
Straßenleuchten mit Schaltern auszustatten, so daß die
Leute damit spielen können, Friedhöfe und Museen zu
zerstören (und die Kunstwerke auf Kneipen und Cafés zu
verteilen) und »[durch eine gewisse Anordnung von
Feuertreppen und nötigenfalls die Anlage von
Durchgängen die Dächer von Paris Spaziergängern
zugänglich zu machen.]«23 Abdelhafid Khatibs
»Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der
Pariser Hallen« einem weiteren beliebten
nächtlichen Treffpunkt der LI und SI schließt
mit einer polemischen Kritik an dem Vorschlag, die
Markthallen an den Stadtrand zu verlegen, da »eine auf
eine neue Gesellschaft hinzielende Lösung [es gebietet,]
diesen Raum im Zentrum von Paris für die Manifestationen
eines befreiten kollektiven Lebens zu erhalten.«24
Sein Gegenvorschlag lautet, aus den Hallen »einen
Rummelplatz ZUR spielerischen Erziehung von Arbeitern«
zu machen und dazu »die jetzigen Gebäude durch autonome
Reihen kleiner situationistischer Baukomplexe zu
ersetzen.«25 Das repräsentativste Beispiel
für die »Bauspiele« und beweglichen urbanen Räume,
die er als situationistische Alternativen anführt, ist
vielleicht der Vorschlag, »stets wechselnde Labyrinthe«
anzulegen. Nur zwei Jahre später wäre eine Variante
dieses Vorschlags beinahe Realität geworden. 1960 bekam
die SI die Erlaubnis, die Räume 36 und 37 des
[Amsterdamer] Stedelijk Museum in ein gewaltiges
Innenraumlabyrinth mit künstlichem Regen, Wind und
Nebel, einer Reihe vorweg aufgezeichneter akustischer
Kulissen und einem aus Pinot-Gallizios »industrieller«
Malerei zusammengesetzten Tunnel umzuwandeln. Parallel zu
dieser Mikro-Erkundungszone sollte die Makro-Zone
draußen von zwei Teams zu jeweils drei Situationisten
erkundet werden, die per Funk untereinander und mit dem
»Direktor« der Aktion in Verbindung stehen sollten,
dessen Aufgabe es war, die Erkundung der Topographie von
Amsterdam zu koordinieren und die Auskünfte der
Kundschafter zu katalogisieren. Da genau diese Verbindung
zwischen der inneren und der äußeren »dérive«-Zone
für die Konzeption des Experiments von entscheidender
Bedeutung war, wurde das ganze Projekt in letzter Minute
abgesagt, als der Museumsdirektor gewisse
»unakzeptable« Bedingungen stellte.26
24Wie bereits aus Khatibs
Vorschlägen deutlich wird, ist die Datenerfassungmethode
des Umherschweifens aufs engste mit einem anderen
Schwerpunktverfahren der SI verbunden, dem des
»détournement«, des kreativen Plünderns,
Aus-dem-Kontext-Reißens und Zweckentfremdens vorhandenen
kulturellen Materials. »Alle Elemente, egal woher
genommen, können Gegenstand neuer zusammenhänge
werden«, so Debord und Wolman in ihrer
»Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«.27
Immer wieder sind in den psychogeographischen Berichten
während einer »dérive« entwickelte Anregungen zu
lesen, wie bestimmte Räume umfunktioniert, zur
Inszenierung einer Situation dienstbar gemacht werden
können. Beiläufig erwähnt Khatib in seiner
psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen den
Plan der SI, durch eine »spielerische Rückumwandlung«
des Eigentums in einer Gruppe von Ledoux-Gebäuden in
Saline-de-Chaux eine Folge von Situationen zu
konstruieren [nicht im deutschen Text!] Teil eines
größeren Plans, andere europäische Architekturen dem
»détournement« zu unterwerfen. In anderen Texten
stellt man sich die urbanistische Umsetzung des
»détournement« als die präzise Rekonstruktion eines
Teils einer Stadt in einer anderen Stadt vor,28
oder die ersten in die Praxis umgesetzten Beispiele für
eine »neue Architektur« werden als »détournement«
gebauter Räume mit starken und altehrwürdigen
affektiven Besetzungen wie etwa eines Châteaus
beschrieben.29 Eine wichtige Rolle spielen
Urbanismus und »détournement« auch in Debords frühen,
in Zusammenarbeit mit Asger Jorn entstandenen Collagen
»Mémoires« und »Fin de Copenhague«,30
sowie in Debords kinematographischem Schaffen, das durch
einen gnadenlosen Einsatz des »détournement«
gekennzeichnet ist, durch ständige Beschwörungen des
Umherschweifens als organisierender Mikrologik und ein
unübersehbares Übergewicht von Bildern der Stadt.31
Und beim Entwurf einer künftigen situationistischen
Architektur lassen Debord und Wolman über die
entscheidende Rolle des »détournement« keinen Zweifel:
25Da die neue Architektur
anscheinend mit einer barocken Experimentalstufe
beginnen muß, wird der architektonische
Komplex den wir als die Konstruktion
eines dynamischen Milieus in Verbindung mit
Verhaltensstilen verstehen wahrscheinlich
die Zweckentfremdung der bekannten
Architekturformen benutzen und sich auf dem
Gebiet der Plastik und der Emotionen verschiedene
zweckentfremdete Gegenstände in jedem Fall
zunutze machen so werden sachkundig
arrangierte Kräne oder Metallgerüste
vorteilhaft die tote Tradition der Skulptur
ersetzen. Daran können nur die schlimmsten
Fanatiker der französischen Gartenbaukunst
Anstoß nehmen.32
26Wenn es ein paradigmatisches
Beispiel für diese vom »détournement« bestimmte
Konzeption der situationistischen Architektur gibt, dann
ist es zweifellos das »Palais Idéal«, ein Lieblingsort
der SI, ein phantastischer, zwischen 1879 und 1912 von
Ferdinand Cheval (1836-1924), einem französischen
Landbriefträger und Amateurarchitekten, in Hauterives
(Drômes) mit eigener Hand und einzig und allein aus
Fundmaterialien errichteter Komplex.33 In
einem herrlich verspielten und gleichzeitig erhellenden
Text von Debord mit Abbildungen von psychogeographischer
Aussagekraft aus verschiedensten Disziplinen ist das
einzige angeführte Beispiel für psychogeographische
Architektur kein anderes als das Bauwerk des »Facteur
Cheval«.34
27Die psychogeographische
»Erforschung« der Möglichkeiten des »détournement«
mittels der »dérives« schien den Situationisten die
praktischen Voraussetzungen für die Konstruktion
tatsächlicher Bauten oder, wie sie es lieber nannten,
»Situationsumgebungen« in die Hand zu geben. Wie in den
letzten beiden Thesen der »Amsterdamer Erklärung« von
1958 dargelegt wurde, kann die »Konstruktion einer
Situation« definiert als »Aufbau einer
vorübergehenden Mikroumgebung und eines Satzes von
Ereignissen für einen einzigen Augenblick im Leben
einiger Personen« »von der Konstruktion einer
allgemeinen, relativ beständigeren Umgebung im unitären
Urbanismus nicht getrennt werden.«35 Eine
»konstruierte Situation« ist, wie in der letzten These
formuliert wird, somit »ein Mittel, sich dem unitären
Urbanismus zu nähern, und dieser bildet die
unerlässliche Grundlage für die Entwicklung der
Konstruktion von Situationen gleichzeitig als Ausdruck
von Spiel und Ernst in einer freieren Gesellschaft.«36
Angesichts der allein schon in ihrem Namen zum Ausdruck
kommenden engen Beziehung der SI zum Projekt eines
realisierten unitären Urbanismus ist es nicht
überraschend, daß ihre Schriften mit Verweisen auf die
Aussicht durchsetzt sind, eines Tages konkrete
situationistische Räume hervorbringen zu können. Es
geht dabei sowohl um bescheidene Vorschläge für
bestimmte Örtlichkeiten wie etwa den »[Standort für
ein Haus für situationistische Zwecke«] auf einem
verlassenen Inselstreifen in der Mitte der Seine37
als auch um sehr viel grandiosere Visionen ganzer
situationistischer Städte. In seiner Erörterung des
Umherschweifens bemerkt Debord zum Beispiel schon 1956:
28[Die Schwierigkeiten des
Umherschweifens sind die Schwierigkeiten der
Freiheit. Alles führt einen zu der Überzeugung,
daß die Zukunft die unumkehrbare Transformation
des Verhaltens und der Rahmenbedingungen der
heutigen Gesellschaft bringen muß. Eines Tages
werden wir für das Umherschweifen gemachte
Städte konstruieren.]38
29Doch was würde es bedeuten,
städtische Umgebungen speziell für die Praxis des
Umherschweifens zu bauen? In ihrem Versuch, die Lehren
der Psychogeographie in ein konkretes Architekturprogramm
umzusetzen, verfolgte die SI zwei nicht sehr weit
voneinander gelegene Richtungen, die beide aus
avantgardistischen Architekturdebatten der Nachkriegszeit
hervorgegangen waren. Bei der ersten, aus dem Versuch der
Vermeidung jeglicher urbanen »Festlegung« entstandenen,
handelt es sich um eine Vision von der sich in ständiger
zeitlicher und materieller Transformation befindenden
Stadt, eine Art nomadischer Metabolismus, der ganz
allgemein gesagt das »Walking City«-Projekt
vorwegnimmt, das 1963 von Ron Herron und Brian Harrey von
[der Zeitschrift] Archigram entwickelt wurde. Von der
weitgehend ungeprüften Annahme ausgehend, eine in ihrer
Gesamtheit als ein gewaltiger Strömungsprozeß
[Verlagerungsprozeß] konzipierte Stadt werde die Ideale
Umgebung für die »dérive« ergeben, stellte sich die
SI eine nomadische, einem ständigen aktiven
Konstruktions- und Zerfallsprozeß unterworfene
Metropolis vor:
30So könnte [?] man die
Ausnutzung der klimatischen Verhältnisse ins
Auge fassen, in denen sich schon zwei grosse
Architekturzivilisationen entwickelt haben
in Kambodscha und im Südosten Mexikos , um
bewegliche Städte im Urwald zu bauen. In einer
solchen Stadt könnten die neuen Viertel immer
weiter in den nach Bedarf erschlossenen Westen
gebaut werden, während man gleich grosse Gebiete
im Osten der Verwilderung durch die
überwuchernde tropische Pflanzenwelt preisgeben
würde, die selbst die Zonen eines stufenweisen
Übergangs von der modernen Stadt zur wilden
Natur schaffen würde. Diese durch den Wald
verfolgte Stadt würde ausser der
unvergleichlichen sich hinter ihr bildenden Zone
zum Umherschweifen und einer kühneren Verbindung
mit der Natur als die der Versuche Frank Lloyd
Wrights noch den Vorteil einer Inszenierung des
Zeitvergehens in einem sozialen Raum anbieten,
der sich ständig schöpferisch erneuern muss.39
31Während diese neo-Chtcheglovsche
Vision kaum mehr als ein reizvolles, noch lange
nachwirkendes Gedankenexperiment blieb,40 nahm
der andere Vormarsch der SI in die
Realisierungsmöglichkeit einer urbanistischen
Konstruktion eine Form an, die man als spielerischen
Megastrukturalismus bezeichnen könnte. Einer Richtung
folgend, die erst einige Jahre später von dem
niederländischen Architekten Nicholas Habraken
ausformuliert wurde den Reyner Banham als den
»tolerantesten« Theoretiker des Megastrukturalismus
bezeichnete41 , faßte die SI die
Version der Megastruktur ins Auge, die mit gewaltigen
Trägerstrukturen den Menschen Rahmen zur Verfügung
stellte, innerhalb derer sie ihre eigenen Umgebungen
erschaffen konnten. Die neuen, in den späten fünfziger
und frühen sechziger Jahren entwickelten Bautechnologien
schienen den Konflikt zwischen Gestaltung und
Spontaneität, zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem
Dauerhaften und dem Vergänglichen zu lösen und damit
zum ersten Mal diese Kombination von Strukturation und
Fluidität zu ermöglichen, die die modernen Labyrinthe
einer Architektur des Umherschweifens hätte
charakterisieren müssen. Begeistert zitiert Debord 1955
die Beschreibung eines neuen Gebäudes in New York,
dessen modulare Bauweise mit Hilfe beweglicher
Wände usw. konnte ein Apartment dramatisch umgestaltet
werden die ersten Anzeichen einer
Innenraum-»dérive« offenbarte. Vor dem Hintergrund
[der Erwartung] solcher neuartiger Mega-Räume mit
offenen Infra-Strukturen, die als bloße Bühnen für
extensive, kreative nomadische Lebensformen dienten, kann
man verstehen, warum, wie Debord es (nicht ohne eine
gewisse Selbstironie) in einem rückblickenden Essay von
1974 formuliert, die Situationisten nicht nur bauen,
sondern Städte bauen wollten:
32[Es ist bekannt, daß die
Situationisten ursprünglich doch allerwenigstens
Städte bauen wollten, eine der unbegrenzten
Entfaltung neuer Leidenschaften angemessene
Umgebung. Doch das war natürlich nicht einfach,
und so sahen wir uns gezwungen, sehr viel mehr zu
machen. Und während des ganzen Verlaufs der
Ereignisse mußten verschiedene Teilprojekte
aufgegeben werden, und reichlich viele unserer
ausgezeichneten Kapazitäten kamen nicht zum
Einsatz, was ja auch in welch absoluterem
und traurigerem Maße jedoch für Hunderte
von Millionen unserer Zeitgenossen gilt.]42
33Auch wenn Debord zufolge die
Situationisten einfach keine Zeit hatten, zu bauen, weil
sie ihre Energie der Änderung der Welt und nicht nur
bloß der Änderung der Stadtlandschaft zu widmen hatten,
so gab es doch zumindest einen frühen, wenn auch
»offiziell« schnell aufgegebenen Versuch, die
technischen, strukturellen und sozio-politischen Konturen
einer künftigen situationistischen Stadtumgebung
auszuarbeiten: das »New Babylon«-Projekt des
niederländischen Architekten und Situationisten Constant
Nieuwenhuys.43
34Als ersten Schritt auf dem Wege, an
dessen Ende die Realisierung des Programms des unitären
Urbanismus stehen sollte, gründeten Constant (als
Künstlername verwendete er seinen Vornamen) und die
niederländischen Architekten A. Alberts, Armando und Har
Oudejans 1959 in Amsterdam das »Bureau d'Urbanisme
Unitaire«. Bis es Ende 1960 vertrieben und das Büro von
Attila Kotányi in Brüssel übernommen wurde, bemühte
sich dieses Kollektiv darum, das Umherschweifen und die
Psychogeographie, die Disziplinen der Lettristen, in ein
Forschungsprogramm umzusetzen, dessen erklärtes Ziel es
war, tatsächlich auch zu realisierten Bauten zu
gelangen. Eine der ersten Aufgaben des Kollektivs war die
Überprüfung und Neudefinition des Begriffs
»Architekt«, der »[nicht mehr nur der Erbauer von
Formen sein wird, sondern vielmehr der Erbauer
vollständiger Stimmungen. [...] Alle Architektur wird
somit an einer ausgedehnteren und allumfassenderen
Aktivität teilhaben, und letzten Endes wird die
Architektur wie die anderen zeitgenössischen Künste
zugunsten dieser unitären Aktivität verschwinden.]«44
Was das konkret bedeuten könnte, wird aus den
Zeichnungen und Modellen deutlich, in denen Constant, wie
man vielleicht sagen darf, die Architektur eines
situationistischen Urbanismus vor Augen führte. In einem
programmatischen, illustrierten Aufsatz mit dem Titel
»Eine andere Stadt für ein anderes Leben«45
stellt Constant sein Projekt für ein »Neues Babylon«
in den Kontext einer Krise des urbanen Raums: in den
großen Wohnungsbauprojekten sieht er »Friedhöfe aus
Stahlbeton«, die Straßen sind zu Autobahnen ausgeartet,
die Freizeit ist »durch den Touristenverkehr
kommerzialisiert und entstellt«, soziale Beziehungen
sind fast unmöglich geworden, und vor allem gibt es
praktisch keine spielerische Aktivität mehr. Was Not
tut, ist eine Architektur, die auf die neuen, durch die
zunehmende Befreiung des Menschen von der Arbeit durch
die moderne Technologie erreichten Lebensbedingungen
reagiert: der neue Homo ludens wird nicht mehr an eine
Arbeitsstätte angebunden sein, sondern frei
umherschweifen und seine Umgebung in einem unablässig
gelebten künstlerischen Spiel hervorbringen und
umgestalten können.46 Um das »Bedürfnis
nach Freizeit«, das sich als erhofftes Hauptmerkmal
einer postindustriellen Kultur auch im Werk anderer
zeitgenössischer Megastruktur-Architekten von
Yona Friedman bis zu den Archigram-Herausgebern
manifestiert, befriedigen zu können, bedarf es eines
dementsprechend offenen, dynamischen und flexiblen Raums,
einer Konstruktion, die der Richtung folgend einen Weg
zum Nomadismus weist, die Constant bereits 1956 in seinem
Modell für ein permanentes, jedoch ungemein
veränderliches Zigeunerlager im italienischen Alba
eingeschlagen hatte. Constant verwahrt sich gegen die
grüne Stadt mit gewaltigen, durch Grünflächen
voneinander getrennten Wolkenkratzern, die sozialen
Begegnungen entgegenstehen, und beharrt statt dessen auf
der äußersten Dichte, einer »bedeckten Stadt; [der]
Entwurf von getrennten Straßen und Gebäuden ist vor
einer kontinuierlichen, vom Boden losgelösten
Raumkonstruktion gewichen, die sowohl Gruppen von
Wohnungen als auch öffentliche Räume umfaßt (was
Bestimmungsänderungen je nach den Bedürfnissen des
Augenblicks erlaubt).«47
35Constants High-Tech-Megastruktur
war als ein Netzwerk miteinander verbundener »Sektoren«
konzipiert, das theoretisch die ganze Erdoberfläche
bedecken konnte. Jeder einzelne dieser Sektoren, von
denen einer, die »gelbe Zone«, im Juni 1960 in der
vierten Ausgabe des SI-Journals vorgestellt wurde,48
stellt ein gigantisches Raumtragwerk dar, dessen
diagonale und Zugelemente Banham zufolge den
bahnbrechenden Konstruktionsinnovationen des vom
französischen Ingenieur René Sarger erbauten
französischen Pavillons auf der Brüsseler
Weltausstellung von 1958 verpflichtet sind.49
New Babylon, konzipiert als »eine kontinuierliche
Tragpfeilerkonstruktion oder als ein ausgedehntes System
verschiedenartiger Konstruktionen ..., in denen Wohnungs-
und Vergnügungsräume usw. wie auch solche für
Produktion und Distribution >aufgehängt< werden;
der Boden bleibt frei für Verkehr und öffentliche
Versammlungen«,50 sollte mit Hilfe neuester
»extrem leichter und isolierender Baumaterialien« zu
einer ausgedehnten Stadt aus mehreren Schichten werden,
bei der »die Baufläche 100% und die freie Fläche 200%
(Parterre und Terrassen) ausmachen anstatt etwa
80% und 20% in den herkömmlichen Städten«. Die über
Treppen und Fahrstühle erreichbaren Freiluftterrassen
sollten die ganze Stadt überdecken und als
»Sportanlagen und Landeplätze für Flugzeuge und
Hubschrauber sowie Parkanlagen« verwendet werden. Die
künstliche Steuerung der verschiedenen, in
aneinandergrenzende und miteinander in Verbindung
stehende Räume unterteilten Stockwerke würden »eine
unbegrenzte Variation der Umgebungen« ermöglichen und
damit, so Constant, das Umherschweifen fördern.
Regelmäßig sollten »die Umgebungen mit Hilfe aller
technischen Mittel durch Gruppen von schöpferischen
Spezialisten also Berufssituationisten
verändert« werden. Aller »Verkehr im funktionellen
Sinne« sollte auf eine niedrigere oder höhere Ebene
verbannt werden, um die »Straße« zugunsten einer
großen Zahl verschiedenster durchgehbarer Räume zu
eliminieren. Nach neofuturistischen Vorstellungen soll
die Natur durch Technologie vervollkommnet und
übertroffen werden:
36Wir wollen auf keinen Fall
zur Natur zurückkehren und, wie ehedem die
einsamen Aristokraten, in einem Park leben; wir
denken bei solchen riesigen Konstruktionen an die
Möglichkeit, die Natur zu bezwingen und das
Klima, die Beleuchtung und die Geräusche in
diesen verschiedenen Räumen unserem Willen zu
unterstellen.51
37Die Verbannung des Funktionalen,
die Variabilität des Raums für spielerische Aktionen
aller Art, die Abhängigkeit von professionellen
Bautechnikern für die Realisierung räumlicher
Umgestaltungen dies alles und vor allem das Ziel
der Maximierung des Vergnügens, dem das
New-Babylon-Projekt ganz ausdrücklich verpflichtet war,
erinnert in hohem Maße an den »Fun Palace«, der 1964
von Cedric Price für Joan Littlewood ausgearbeitet
wurde.52 Anders als die japanischen
Metabolisten (die ihre Untereinheiten für die Dauer
einer Generation konzipierten) hatten sowohl Price als
auch Constant für die Mikrostrukturen innerhalb ihrer
Mega-Trägerstrukturen eine radikale Vergänglichkeit ins
Auge gefaßt (gedacht war an ein Zeitmaß von etwa einem
Tag oder der Dauer eines Spiels), und in mancher Hinsicht
war Price mit seinem »Fun Palace« noch radikaler als
Constant; nicht nur die Wände, sondern auch die Dach-
und Fußbodenelemente sollten voll beweglich sein, und
die Lebensdauer der Tragkonstruktion war ausdrücklich
auf maximal zehn Jahre begrenzt. Letzten Endes wurde der
»Fun Palace« zwar nicht realisiert, doch bevor es
aus vergleichsweise banalen finanziellen Gründen
schließlich fallengelassen wurde, war die
Entwicklung dieses visionären Projekts in allen Details
bereits so weit fortgeschritten, daß in technischer
Hinsicht einer Realisierung nichts mehr im Wege zu stehen
schien. Damit scheint sich Constants Behauptung zu
bestätigen, daß eine ähnliche situationistische
Megastruktur nicht nur philosophisch dringlich, sondern
auf einer gewissen Stufe auch tatsächlich machbar war:
38Da das Projekt, von dem wir
hier einige Grundlinien dargestellt haben, leicht
als phantastischer Traum abgetan werden könnte,
betonen wir nachdrücklich, daß es vom
technischen Standpunkt her durchführbar und vom
menschlichen Standpunkt her wünschenswert ist;
vom gesellschaftlichen Standpunkt wird es
unumgänglich sein. Die weltweit herrschende und
zunehmende Unzufriedenheit wird einen Punkt
erreichen, an dem wir alle dazu gedrängt werden,
die Projekte durchzuführen, zu denen wir die
Mittel besitzen, und die zur Verwirklichung eines
reicheren und erfüllteren Lebens beitragen
können.53
39So theoretisch ansprechend dieses
Projekt jedoch auch war, aufgrund seiner inneren
Widersprüche scheint es von Anfang an zum Scheitern
verurteilt gewesen zu sein. Zunächst einmal war es in
einer Größenordnung konzipiert, die, hätte es
realisiert werden müssen, zwangsläufig technokratisch
gewesen wäre, ein politisches Schicksal, das gegen Ende
der sechziger Jahre bestätigt wurde, als die
Megastruktur fallengelassen von der Avantgarde,
die sie kaum ein Jahrzehnt zuvor verfochten hatte
für das politische »Establishment« ein Mittel zur
Gewinnmaximierung im Bereich der Stadtentwicklung wurde.
Darüber hinaus beruhte allein schon der Gestus, das
Bauen als ein Mittel zur Änderung der Welt darzustellen,
auf der Prämisse einer Politik eines
architektonischen/urbanistischen Determinismus
neuartige Räume führen allein schon zu neuen Formen des
Begehrens, neuen Formen gesellschaftlicher Beziehungen
usw. , die die Materialität von Macht in der
vorhandenen gebauten Welt zu ignorieren schien. Die
Gesellschaft des Spektakels konnte nicht durch eine neue
Gesellschaft abgelöst werden, so der militantere Flügel
der SI, indem man einfach neue Megastruktur-Umgebungen
hervorbrachte. Constant der im Sommer 1960 aus der
SI austrat, nachdem seine Mitarbeiter einige Monate zuvor
ausgeschlossen worden waren hatte nicht erkannt,
daß der unitäre Urbanismus nicht oder noch nicht
etwas war, was in materielle Formen übertragen
werden konnte; einstweilen konnte er nichts weiter sein
als ein Prolegomenon zu einer künftigen SI-Architektur
in der Form eines schonungslos kritischen Projekts.54
40Zugunsten einer rigorosen Analyse
und Kritik der realen Widersprüche des zeitgenössischen
Urbanismus wandte sich die SI in den folgenden Jahren
entschlossen von der Schimäre einer situationistischen
Architektur ab. Man war noch nicht so weit, ans Bauen
denken zu können; statt dessen ging es darum, die
Funktion, die Struktur und die Auswirkungen der
zeitgenössischen Stadtplanung und städtischen Räume
als eine Vorbedingung für künftiges Bauen zu verstehen.
Unter der Überschrift »Nichtsein des Urbanismus und
Nichtsein des Spektakels« ist zu lesen:
41Der Urbanismus existiert
nicht: Er ist nur eine »Ideologie« im Sinne von
Marx. Die Architektur existiert wirklich, wie
Coca-Cola: Sie ist ein in Ideologie gekleidetes,
aber wirkliches Produkt, das auf falsche Weise
ein verfälschtes Bedürfnis befriedigt. Der
Urbanismus kann dagegen mit einer Reklameauslage
für Coca-Cola verglichen werden: reine
spektakuläre Ideologie.55
42Oder, wie Raoul Vaneigem es
andernorts formuliert: »Wohnen ist das >Trink
Coca-Cola!< des Urbanismus die Notwendigkeit
des Trinkens wird durch die, Coca-Cola zu trinken,
ersetzt.«56 In der Analyse der Mikro- und
Makropolitik der Gesellschaft des Spektakels, der die SI
sich immer mehr zuwendet, wird die zentrale Rolle des
Urbanismus in diesem herrschenden System enthüllt.
Besonders deutlich manifestiert sich dies in den
verschiedenen Wohnungsbaugroßprojekten, die auf den
Seiten des SI-Journals abgebildet und erörtert werden:
43[In den neuen Städten
konstruiert diese Gesellschaft das Terrain, das
sie exakt repräsentiert, das die Bedingungen
zusammenbringt, die ihrem richtigen Funktionieren
am zuträglichsten sind und die gleichzeitig ihr
Grundprinzip der Entfremdung und der Gewalt in
den Raum, in die klare Sprache der Organisation
des täglichen Lebens überträgt. Genau in
diesem Raum werden sich deshalb die neuesten
Aspekte ihrer Krise mit der größten Klarheit
manifestieren.]57
44Die ideologische Funktion der in
den frühen sechziger Jahren in Frankreich und
insbesondere im Großraum Paris lancierten
Suburbanisierungkampagnen wird durch die Analyse
ähnlicher Projekte in anderen Ländern des westlichen
Spätkapitalismus zutage gebracht. Für die SI ist der
Urbanismus nur ein vernachlässigter Zweig der
Kriminologie, und sie verweist auf Brasilia als ein
perfektes Beispiel für die funktionelle Architektur als
Materialisierung einer bürokratischen Weltanschauung.58
Was die Situationisten dem Urbanismus vorwerfen, ist
sein, wie sie es nennen, »erpresserisches Geschwätz von
der Nützlichkeit«: so wie das Fernsehen sich
legitimiert, indem es auf das Informations- und
Unterhaltungsbedürfnis pocht, so schließt der
kapitalistische Urbanismus Kritik aus, indem er das
Schutzbedürfnis im Munde führt. Sowohl die
Information/Unterhaltung als auch die Wohneinrichtungen
werden jedoch nicht für, sondern gegen die Menschen
gemacht: »Die ganze Städteplanung ist nur ein
Betätigungsfeld für die Werbung und Propaganda einer
Gesellschaft, d. h. die Organisation der Teilnahme an
einer Sache, an der man unmöglich teilnehmen kann.«59
Auch der Verkehr ist »die Organisation der Isolation
aller und insofern das Hauptproblem der modernen
Städte.« Die Mobilität des Privatautos absorbiert die
Energien, die zuvor für Begegnungen zur Verfügung
standen, »denn in Wirklichkeit wohnt man nicht in einem
Stadtviertel, sondern in der Macht. Man wohnt in der
Hierarchie.«60 Die kritische Arbeit der SI zu
Fragen des Urbanismus ist somit ein integraler
Bestandteil ihrer Analyse der Logik des Spektakels: »Das
gesamte Spektakel hat das Ziel, die Bevölkerung zu
integrieren. Es tritt sowohl als Gestaltung der Städte
als auch als permanentes Informationsnetz in Erscheinung
und bildet einen festen Rahmen für den Schutz der
bestehenden Lebensbedingungen.«61
45In diesem Kontext wird der unitäre
Urbanismus zu einer lebenden Kritik an der Manipulation
der Städte und ihrer Bewohner, einer durch sämtliche
Spannungen des täglichen Lebens genährte Kritik.
»Lebende Kritik« bedeutet hier die Einrichtung von
Stätten für ein experimentelles Leben; in Bereichen,
die dafür angemessen ausgestattet sind, können die
Menschen zusammenkommen, um ihr eigenes Leben zu
strukturieren. Da der unitäre Urbanismus ohne eine
revolutionäre Transformation des täglichen Lebens
erst dann werden alle eben diese Konditionierung
annehmen, bereichern, vollenden nicht realisiert
werden kann, kann er in einer vorrevolutionären Umgebung
nur dem Urbanismus sein Glücksversprechen vorhalten und
dessen eingedenk sowohl künstlerische als auch
wissenschaftliche Denunziationen nicht
Konstruktionen der herrschenden
Lebenskonditionierung koordinieren. Typisch für eine
solche denunziatorische Polemik des unitären Urbanismus
ist der nicht unterzeichnete Text »Geopolitik des
Winterschlafs«, [der Schlaftherapie«,] der 1962 in der
Zeitschrift der SI erschien.62 In dieser
symptomatischen Analyse des »Systems des Jüngsten
Gerichts« (Doomsday System) des Kalten Kriegs,
worin der thermonukleare Konflikt als die Übertragung
der Verweigerung der Geschichte in
physikalisch-technische Begriffe beschrieben wird, wird
die Entwicklung und Propagandierung der Atombunker im
Jahre 1961 als ein entscheidender Wendepunkt
identifiziert. Nach einem schnellen Überblick über die
in verschiedenen europäischen Ländern getroffenen
postnuklearen Vorkehrungen konzentriert sich der Artikel
auf die USA, wo von einem ganzen Haufen neuer Unternehmen
so etwa die »Peace O'Mind Shelter Company« in
Texas und die »Fox Hole Shelter Inc.« in Kalifornien
dem Verbraucher Überlebensausrüstungen
angepriesen werden. Das Kernstück dieser
postapokalyptischen Industrie ist natürlich der
Atombunker, ein ökonomisches Geschenk des Himmels, das
eine unterirdische Kopie der häuslichen Inneneinrichtung
verlangt und damit den Einrichtungsmarkt effektiv
verdoppelt. Als wirklicher »Schutz« ist er natürlich
so gut wie nutzlos, doch die Schutzrhetorik ist, wie im
Text dargelegt wird, nur ein Vorwand: »Die Gefügigkeit
der Leute zu messen, sie zu verstärken und in eine der
herrschenden Gesellschaft passende Richtung zu
manipulieren das ist der wirkliche Nutzen der
Atombunker«63 Tatsächlich ist der Atombunker
das dramatischste Beispiel dafür, »daß man die
Menschen arbeiten lassen kann, um hochkünstliche
Bedürfnisse zu befriedigen, die mit Sicherheit als
>Bedürfnis weiter bestehen, ohne je Begierden gewesen
zu sein<«. Es ist, als ob die Gesellschaft »mit
brutaler Offenheit [proklamiert], wie leer und trostlos
das Leben ist, das sie den Menschen auferlegt, so daß es
allen als beste Lösung [erscheint], sich zu erhängen,«
und es ihr doch gelänge, »ein gesundes und rentables
Geschäft mit der Herstellung von genormten Stricken zu
betreiben.« Einer der psychoanalytischen Topographie,
die den potentiell enthüllenden Wert dem »unter der
Oberfläche« des Bewußtseins Liegenden zuschreibt,
merkwürdig analogen Nachtragslogik gemäß, enthüllen
die unterirdischen Atombunker, was es mit den
Massenwohnanlagen »darüber« auf sich hat:
46Den neuen, mit den
Trabantensiedlungen entstehenden Wohnungsbau kann
man von dem der Bunkerarchitektur nicht wirklich
trennen. Er stellt nur ihre untere Stufe dar,
obwohl beide eng verwandt sind und der Übergang
von einem zum anderen lückenlos geplant ist;
[...] Die KZ-ähnliche Organisation der
Oberfläche ist der normale Zustand einer sich
formierenden Gesellschaft, deren unterirdisches
Resümee den pathologischen Exzeß darstellt.
Durch diese Krankheit wird das Schema jener
Gesundheit besser enthüllt.64
47Was die Atombunker wirklich
schützen, so das Fazit der Polemik, ist die Macht der
Haussmanns des 20. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht
entsprechen sie einer Reihe von Städten, in denen die
Isolation der »Untertanen« und die Verschanzung der
Machthaber auf die Spitze getrieben ist. [!] [Aufgelistet
werden die ...] Vaneigem führt die albanische
»Militärzone« von Tirana an, »ein von der Stadt
getrenntes und von der Armee verteidigtes Viertel, in dem
die Wohnungen der albanischen Führer, das ZK-Gebäude
sowie die Schulen und Krankenhäuser, Geschäfte und
Vergnügungslokale für diese autarke Elite liegen«, die
von den Franzosen »auf freiem Feld aus dem Boden
gestampfte« Verwaltungsstadt »Rocher Noir«, deren
Funktion genau der der »Militärzone« von Tirana
entspricht, und natürlich Brasilia.
48Die Humanisierung der
Trabantensiedlungen ist eine genauso lächerliche
Mystifikation wie die Humanisierung des
Atomkrieges und zwar aus denselben
Gründen. Die Bunker führen zwar nicht den
Krieg, wohl aber die Kriegsdrohung auf ihr
»menschliches Maß« zurück, also auf das, was
den Menschen im modernen Kapitalismus definiert:
auf seine Pflicht als Konsument.65
49Vaneigem bringt die Sache prägnant
auf den Punkt: »Wenn die Nazis die zeitgenössischen
Urbanisten gekannt hätten, so hätten sie die KZ's in
Sozialbauwohnungen verwandelt. [...] Der Urbanismus ist
die vollendetste konkrete Verwirklichung eines
Alptraums.«66
50In seiner Konzentration auf
Architektur und Stadtlandschaft als Stätten und
materiellen Verkörperungen des politischen Kampfes war
der Urbanismus der SI als eine Kritik des
kapitalistischen Urbanismus von Anfang an auf eine
Überwindung der Gesellschaft des Spektakels angelegt,
die nach fester Überzeugung der Situationisten sowohl
die Vorbedingung für die Architektur/den Urbanismus des
Kapitalismus war als auch das bedingte, was mit Hilfe
dieser hegemonischen Strukturen reproduziert wurde. Zwar
konnten die konstruierte Situation und die
Psychogeographie der »dérive« Einblicke in eine
irgendwann einmal mögliche alternative urbanistische
Ökonomie geben, doch letzten Endes konnte die gelebte
Urbanismuskritik nur eine urbane Revolution sein,
situationistisches »Bauen« somit buchstäblich nur eine
dekonstruktive Architektur im Sinne einer demontage
vorhandener Bauten/Strukturen. Und so überrascht es
nicht, daß die beiden mit der Unterschrift »Kritik des
Urbanismus« versehenen Abbildungen im SI-Journal einen
während der Unruhen vom August 1965 in Watts in Los
Angeles in Brand gesteckten Supermarkt und unter dem
Titel »Detroit: Stadt im Belagerungszustand« einen den
Raum des fünftägigen Aufstands von 1967 nachzeichnenden
Stadtplan zeigen.67 Die Kritik des Urbanismus
wird hier auch als eine Vorbereitung auf die
urbanistische Rebellion und als deren Realisierung
enthüllt; Psychogeographie als eine
Erkundungsstrategie der Gegen-Hegemonie, eine
kartographische Erfassung von Angriffspositionen und
-möglichkeiten, die dem Brettspiel gleicht, das Debord
als eine Übung in Strategie und Dialektik entwickelte.68
Und eine sorgfältige Untersuchung des in der
psychogeographischen Studie des »Continent
Contrescarpe« erkundeten Terrains enthüllt in der Tat,
daß es sich bei diesem Gebiet weitgehend genau um das
»besetzte Viertel« am linken Seineufer im Mai '68
handelt. In diesem Licht liest sich die folgende Passage
aus der psychogeographischen Studie des »Kontinents«
mit einem Male wie ein vorgreifender Leitfaden für die
Errichtung von Barrikaden:
51[Die bloße Konstruktion
von drei oder vier angemessenen architektonischen
Komplexen an verschiedenen ausgewählten Stellen
in Kombination mit der Absperrung zweier oder
dreier Straßen durch andere Gebäude würde
zweifellos genügen, dieses Viertel zu einem
unwiderlegbaren Beispiel für einen neuen
Urbanismus zu machen.]69
52Was war denn der Bau von Barrikaden
und die Etablierung und Verteidigung einer freien Zone
während der Aufstände vom Mai '68 eine
kollektive, spontane, spielerische »Zweckentfremdung«
von Raum für zumindest einen Augenblick lang von der
Ökonomie des Spektakels befreite Begierden , wenn
nicht das paradigmatische Beispiel für die
»konstruierte Situation«, wie sie in der allerersten
Ausgabe der Zeitschrift der SI definiert wurde: »Durch
die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung
und des Spiels von Ereignissen konkret und mit voller
Absicht konstruiertes Moment des Lebens«?70
Und könnte es als solches nicht ein Hinweis auf die
Möglichkeit einer situationistischen Architektur im
eigentlichen Sinne sein?
53Wie Debord in einem
rückblickenden, 1974 veröffentlichten
autohagiographischen Kommentar zu bestätigen scheint,
hätte selbst die Aussicht auf die tatsächliche
Errichtung situationistischer Städte nicht ausgereicht,
um eine situationistische Architektur zu konstituieren:
54[Diejenigen, die vergebens
darüber grübeln, welchen Lauf die Geschichte
hätte nehmen können »es wäre besser
für die Menschheit gewesen, wenn es diese Leute
nie gegeben hätte« werden sich ein gutes
Weilchen über das folgende amüsante Problem den
Kopf zerbrechen: Hätte man die Situationisten um
1960 nicht mit Hilfe einiger klar konzipierter
wiedergutmachender Reformen beschwichtigen
können, will heißen, hätte man sie nicht zwei
oder drei Städte errichten lassen sollen, statt
sie an den Rand zu drängen und sie damit zu
nötigen, die gefährlichste Subversion zu
entfesseln, die die Welt je gesehen hat? Andere
jedoch werden sicherlich erwidern, daß die
Konsequenzen dieselben gewesen wären, und daß,
hätte man den Situationisten ein wenig
nachgegeben die sich selbst damals damit
nie zufriedengegeben hätten , hätte man
damit ihre Forderungen und ihre Ansprüche nur
gesteigert und wäre nur noch schneller zum
selben Ergebnis gekommen.]71
55Dies würde sicherlich das Layout
der bedeutenden konzeptuellen Karte erklären, die unter
einer Luftaufnahme von Paris in dem berühmten Traktat
»[Neuer Kampfschauplatz in der Kultur]«72
von 1958 fast alle Schlüsselbegriffe der SI miteinander
verbindet: die Psychogeographie, die Konstruktion von
Situationen und die Zweckentfremdung vorgefertigter
Elemente speisen hier alle den unitären Urbanismus, der
allein die »situationistische Architektur« entstehen
läßt, nach der gar nichts mehr kommt. Tatsächlich ist
die situationistische Architektur mit anderen Worten
synonym mit einer transformierten Welt, einer Kultur
jenseits des Spektakels, die aus einem wahrhaft unitären
Urbanismus erst hervorgehen und ihn zugleich und
damit auch eine situationistische Architektur
ermöglichen könnte. Wie aus der Unterschrift unter der
schematischen Darstellung »[die Auflösung
überholter Ideen geht mit der Auflösung überholter
Lebensbedingungen Hand in Hand]« deutlich wird,
setzt eine neue Welt die Demontage der alten voraus.
Könnte das nicht der architektonische Subtext in den
Bildern von Straßenschlachten und Barrikaden sein, die
in den späteren Ausgaben des SI-Journals immer wieder
auftauchen? Wie anders sollte man die allegorischste
aller dieser Fotografien (»Das entpflasterte Paris«)
deuten, die eine Straße in der französischen Hauptstadt
zeigt, deren Pflastersteine fast alle herausgerissen
sind, »zweckentfremdet«, um den berühmten »Strand«
darunter offenzulegen, denn als Illustration einer
situationistischen Widerstandsarchitektur?73
Und tatsächlich dient die konstruierte Situation der
Barrikaden und der Straßenschlacht sogar als Basis für
Constants Projekt: der sowjetische Film über die Pariser
Kommune, der den Titel »Das neue Babylon« trägt
der Schlüssel-Intertext für Constants Paradies des
unitären Urbanismus (und die Erklärung für den
andernfalls verwirrend dystopischen Titel des Projekts)
, wurde 1929 zwischen den Barrikaden auf der
Straße vor dem Kaufhaus »Novyi Vavilon« gedreht.74
Von einer Megastruktur-Utopie weit entfernt, ist die
situationistische Architektur also nicht mehr und nicht
weniger als eine Vision eines postrevolutionären
Zustands, der aus einem kritischen, rebellischen
Urbanismus hervorgehen sollte, dem die
psychogeographische Erforschung der generalisierten
Geopolitik des Winterschlafs zugrunde liegt. Wenn denn
die Situationisten am Bauen interessiert waren und
sie waren es zweifellos , so waren ihre
Megastruktur-Visionen doch politische und
gesellschaftliche Visionen, und nicht etwa Visionen einer
konkreten Architektur.
Anmerkungen
* Diese »dérive« durch
verschiedene, sich mit Fragen des Urbanismus befassende
lettristische und situationistische Texte ist Bestandteil
eines längeren »work in progress« über Guy Debord und
die Situationistische Internationale. Als Vortrag wurde
sie zuerst im November 1989 an der School of
Architecture, Princeton University, präsentiert, und
dann wieder 1995 an der Yale University School of
Architecture und in der Abteilung für die Theorie und
Geschichte der Architektur an der ETH Zürich. Danken
möchte ich vor allem meinen mäeutischen Gastgebern an
diesen Veranstaltungsorten, Mark Wigley, Eva Pelkonen und
Kurt Forster, sowie Tom McDonough, der mich dazu
angetrieben hat, erneut zu diesem Projekt
zurückzukehren. Außerdem gilt mein Dank Tom Keenan,
Laura Kurgan, Greil Marcus, Keith Sanborn und Georges
Teyssot für ihre Ermutigungen und ihre großzügig
gewährten vielfältigen und einsichtsvollen Vorschläge
und Kommentare.
1 Während man sich in den
siebziger und achtziger Jahren im Diskurs der
zeitgenössischen Kunst und Urbanismustheorie im großen
und ganzen nur sporadisch auf die SI berief, fand sie
nach der ersten größeren ihrer Arbeit gewidmeten
Ausstellung, die zuerst im Centre Pompidou in Paris und
danach, 1989, in der ICA (»International Cartographic
Association«) in London und in Boston gezeigt wurde,
eine sehr viel größere Beachtung, die auch auf das zu
diesem Anlaß von der ICA veröffentlichte Buch
zurückzuführen ist: On the passage of a few people
through a rather brief moment in time: The Situationist
International 1957-1972, hg. von Elisabeth Sussman,
Boston (MIT Press/ICA) 1989. Nach der Legitimierung, die
dieser Katalog repräsentierte, wurde das Werk der SI in
Darstellungen der Kunst und des Urbanismus der
Nachkriegszeit in immer stärkerem Maße berücksichtigt.
Beispielhaft dafür stehen die Ausstellung The Power
of the City / The City of Power, die das New Yorker
Whitney Museum of American Art 1992 in seiner damaligen
Zweigstelle in Downtown-Manhattan zeigte und worin die SI
überzeugend als Bezugsrahmen diente, oder, in jüngster
Zeit, Thomas Crows The Rise of the Sixties: American
and European Art in the Era of Dissent, New York
(Abrams) 1996, S. 51ff. Urbanisten gehörten zu den
ersten, die der SI kritische Beachtung schenkten
siehe zum Beispiel M. J. Thomas' 1975 erschienener Essay
»Urban Situationism« in Planning Outlook 17, S.
27-39 , und noch heute zählen ihre
Auseinandersetzungen mit situationistischen
Fragestellungen zu den bezwingendsten. Typisch in dieser
Hinsicht ist das »Project Atol« in Ljubljana
(Slowenien), ein Stadtkartographierungsprojekt, worin
GPS-Empfänger (GPS = global positioning system) für die
Echtzeit-Aufzeichnung psychogeographischer Streifzüge
verwendet wurden; die daraus resultierenden
psychogeographischen Daten wurden dann auf einen WWW-Site
geladen und dort katalogisiert
(http://lois.kudfp.si/atol/ucog/). Daß dieses Projekt
ganz offensichtlich der SI verpflichtet ist, wird nicht
zuletzt durch den Nachdruck (in englisch und slowenisch)
von fünf situationistischen Texten zum Urbanismus in der
zu diesem Projekt erschienenen Dokumentation bestätigt: Documents-Writings-Rules
of Engagement, Ljubljana 1996. Aufmerksam gemacht
wurde ich auf dieses Projekt von Laura Kurgan, einer in
New York ansässigen Cyber-Architektin, die sich in ihren
Arbeiten über die GPS-Kartographierung und deren
digitaler Darstellung mit vielen von der SI aufgeworfenen
Fragen auseinandersetzt; vgl. Laura Kurgan, »You are
Here: Information Drift«, in: Assemblage 25
(1995), S. 15-43, und Laura Kurgan und Xavier Costa
(Hgg.), You are Here: Architecture and Information
Flows, Barcelona (Llibres de recerca) 1995.
2 Guy-Ernest Debord,
»Rapport sur la construction des situations et sur les
conditions de l'organisation et de l'action de la
tendence situationniste internationale«; wie in einer
Notiz auf der Umschlagrückseite des 20seitigen Pamphlets
erklärt wurde, wurde dieser Bericht 1957 »den
Mitgliedern der Lettristischen Internationale, der
Internationalen Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus
und dem Psychogeographischen Komitee London als interne
Diskussionsgrundlage dieser Organisation und als Dokument
für ihre Propaganda vorgelegt« und sollte »unter
keinen Umständen zum Verkauf angeboten werden.«
Vollständig als Faksimile nachgedruckt wurde er in der
anläßlich der gleichnamigen Ausstellung
veröffentlichten Broschüre Sur la passage de
quelques personnes à travers une assez courte unité de
temps: à propos de l'Internationale Situationniste
1957-1972, Ein weiterer Nachdruck findet sich in der
von Gerard Berreby herausgegebenen unentbehrlichen und
umfassenden Primärmaterialsammlung Documents relatifs
à la fondation de l'Internationale Situationniste
1948-1957, Paris (Editions Allia) 1985, S. 607-619;
Zitat: S. 609. Eine deutsche Übersetzung findet sich
unter dem Titel »Rapport über die Konstruktion von
Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen
der internationalen situationistischen Tendenz« in Der
Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, aus
dem Französischen von Pierre Gallissaires, Hanna
Mittelstädt und Roberto Ohrt, Hamburg (Edition Nautilus)
1995, S. 28-44; Zitat: S. 28. Für diese Textsammlung,
der die meisten der folgenden Zitate entnommen sind,
wurden die zuvor ebenfalls in der Edition Nautilus in
verschiedenen Publikationen erschienenen Übersetzungen
neu bearbeitet. Die ursprünglich im Organ der
Situationistischen Internationale erschienenen Texte, die
nicht in diese Sammlung aufgenommen wurden, werden
zitiert nach Situationistische Internationale
1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I. in
zwei Bdn., von Hanna Mittelstädt bearbeitete
Übersetzung aus dem Französischen von Pierre
Gallissaires, Hamburg 1976 (Bd. 1; S.I. Nr. 1-7)
und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12). Zitate aus
Texten, die nicht in deutscher Übersetzung vorliegen,
wurden nach den französischen Quellen vom Verfasser
übersetzt, der in einigen Fällen auch die zitierten
Stellen aus den genannten deutschen Veröffentlichungen
anhand der französischen Originaltexte revidiert hat.
3 Debord, »Rapport sur la
construction des situations«, in: Berreby, Documents,
S. 610; »Rapport über die Konstruktion von
Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 29.
4 Ebd., S. 615; S. 37f.
5 Ebd., S. 613; S. 34.
6 [ungenannter Verfasser],
»L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«, in: IS
3 (Dezember 1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am
Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S.
87.
7 Der SI zufolge wurde der
Begriff »unitärer Urbanismus« 1953 »entdeckt« und
Ende 1956 in einem unter dem Titel »Manifestate a favore
dell'Urbanesimo Unitario« von italienischen
Situationisten in Turin verteilten Flugblatt zum ersten
Mal verwendet (nachgedruckt in Mirella Bandini, L'estetico
il politico: Da Cobra all'Internazionale situazionista,
1948-1957, Rom [Officina Edizione] 1977, S. 275).
Vgl. »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«,
in: IS 3 (Dezember 1959), S. 11; »Der unitäre
Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I.,
Bd. 1, S. 87.
8 Debord, »Rapport sur la
construction des situations«, in: Berreby, Documents,
S. 616; »Rapport über die Konstruktion von
Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 39.
9 »L'urbanisme unitaire
à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am Ende der
fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 87.
10 Debord, »Rapport sur
la construction des situations«, in: Berreby, Documents,
S. 616; »Rapport über die Konstruktion von
Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 39.
11 Ebd., S. 616; S. 40.
12 Ebd.
13 Gilles Ivain,
»Formulaire pour un urbanisme nouveau«, in: IS 1
(Juni 1958), S. 15-20; nachgedruckt in Internationale
Situationniste 1958-69, Amsterdam (van Gennep)
1972/Paris (Editions Champ Libre) 1975, und in Berreby, Documents,
S. 259-261. Deutsche Übersetzung unter dem Titel
»Formular für einen neuen Urbanismus« in: Der
Beginn einer Epoche, S. 52-56. Zusammen mit einer
großen Vielfalt anderer SI-Texte Primär- wie
Sekundärliteratur und in französisch und in englischer
Übersetzung ist eine von Ken Knabb besorgte
englische Übersetzung unter dem Titel »Formulary for a
New Urbanism« auf einem interessanten Web site mit dem
Namen »SI Archive« zu finden:
http://www.nothingness.org/SI/.
14 Ivain, »Formulaire
pour un urbanisme nouveau«, in: IS 1 (Juni 1958),
S. 18-19; »Formular für einen neuen Urbanismus« in: Der
Beginn einer Epoche, S. 55. Angesichts Ivains
positiver Beschwörung der Kathedrale für die
militanteren Lettristen wie Debord ein rotes Tuch
überrascht es kaum, daß er 1954 wegen
»[Mythomanie, interpretatorischem Delirium Mangel
an revolutionärem Bewußtsein]« zu den ersten gehörte,
die aus der LI ausgeschlossen wurden. Diese erste von
vielen Exkommunikationslisten wurde unter dem Titel »A
la porte« in Potlatch 2 (29. Juni 1954)
veröffentlicht, einer Wochenzeitschrift der LI, die mit
einer Einführung von Debord als Potlatch 1954-1957
vollständig nachgedruckt wurde (Paris [Editions Gérard
Lebovici] 1985); siehe auch Berreby, Documents, S.
164. In dem 1955 ohne Namensnennung veröffentlichten
»[Projekt zu rationalen Verschönerungen für die Stadt
Paris]« verlangt Debord die vollständige Zerstörung
aller religiösen Bauwerke welcher Konfession auch immer,
und Gil J. Wolman schlägt vor, sie als
Kinderspielplätze zu verwenden, sobald sie von allen
religiösen Spuren bereinigt sind. Jacques Fillon will
sie dagegen durch eine Akzentuierung ihrer vorhandenen
Atmosphäre in Spukhäuser verwandeln. Vgl. »Projets
d'embellissements rationnels de la ville de Paris«, Potlatch
23 (13. Oktober 1955); Berreby, Documents, S. 227.
15 Guy-Ernest Debord,
»Introduction à une critique de la géographie
urbaine«, in: Les lèvres nues 6 (September
1955), S. ##-##; nachgedruckt in: Berreby, Documents,
S. ##-##; Zitat: S. 288; deutsche Übersetzung unter dem
Titel »Einführung in eine Kritik der städtischen
Geographie«, in: Der Beginn einer Epoche, S.
17-20; Zitat: S. 17.
16 So definiert, läßt
sich bereits hier ausmachen, daß das Umherschweifen auch
zur Auskundschaftung einer Stadtlandschaft für
strategische sowohl utopische als auch
militärische Zwecke diente (Barrikaden,
Verteidigungslinien, usw.).
17 Guy-Ernest Debord,
»Théorie de la dérive«, in: Les lèvres nues 9
(November 1956), S. 6-10; Berreby, Documents, S.
312-316; Zitate: S. 312-313; deutsche Übersetzung unter
dem Titel »Theorie des Umherschweifens«, in: Der
Beginn einer Epoche, S. 64-67; Zitate: S. 64. Dieser
wichtige Text wurde nachgedruckt in IS 2 (Dezember
1958), S. 19-23, allerdings ohne die beiden
»dérive«-Berichte, die in Les lèvres nues als
Anhänge beigefügt waren. Unter dem Titel »Two Accounts
of the Dérive« wurden sie von Thomas Y. Levin ins
Englische übersetzt: Sussman, On the passage
(siehe Anm. 1), S. 135-139.
18 In Debords Worten:
»[...] der hauptsächlich städtische Charakter des
Umherschweifens, das in Kontakt mit den durch die
Industrie veränderten Großstädten als Zentren der
Möglichkeiten und Bedeutungen steht, [entspräche]
vielmehr dem Marxschen Satz: >Die Menschen können
nichts um sich herum sehen, was nicht ihr Gesicht ist,
alles spricht zu ihnen von ihnen selbst. Selbst ihre
Landschaft ist beseelt.<« (Debord, »Théorie de la
dérive«, in: Berreby, Documents, S. 313;
»Theorie des Umherschweifens«, in: Der Beginn einer
Epoche, S. 65). Debord zufolge kann man zwar auch
allein umherschweifen, doch »am fruchtbarsten« seien
mehrere Kleingruppen »von je zwei bis drei
gleichermaßen bewußten Personen« (höchstens jedoch
vier bis fünf), »wobei der Vergleich der Eindrücke
dieser verschiedenen Gruppen es ermöglichen sollte,
objektive Schlüsse zu ziehen.« Die »durchschnittliche
Dauer des Umherschweifens« wird grob als »der Tag als
Zeitspanne zwischen zwei Schlafperioden« definiert. Mit
Ausnahme »andauernden Regenwetters«, das »das
Umherschweifen quasi absolut verhindert«, sind
klimatische Bedingungen irrelevant. Ebenso vage ist der
»Spielraum« des Umherschweifens definiert; er wird
maximal nur durch die Grenzen der Stadt und ihrer Vororte
bestimmt und hängt nicht zuletzt davon ab, ob das
Umherschweifen »die Erforschung eines Geländes oder
verwirrende emotionale Ergebnisse bezweckt«: Geht es vor
allem um das »persönliche Gefühl des
Sich-Fremd-Fühlens«, können Taxis strategisch, aber
nicht-teleologisch genutzt werden (man fährt »zwanzig
Minuten nach Westen«), geht es dagegen vorrangig um die
»Erforschung eines psychogeographischen Urbanismus«,
bewegt man sich ausschließlich zu Fuß fort (trotz
dieses merkwürdigen Fußgänger-Essentialismus stand die
SI im allgemeinen der Technologie nicht feindlich
gegenüber). Die minimale räumliche Ausdehnung kann ein
einzelnes Stadtviertel, eine Insel oder sogar ein einzige
großes Gebäude umfassen. Als »äußerste Grenze« für
das Minimum führt Debord das »statische
Umherschweifen« auf der »Gare Lazare« an, wobei der
Bahnhof einen ganzen Tag lang nicht verlassen werden darf
(systematisch eliminierte die SI alle religiös besetzten
Begriffe wie etwa »Saint«).
19 Guy-Ernest Debord,
»Introduction à une critique de la géographie
urbaine«, in: Les lèvres nues 6 (September
1955), S. 13; nachgedruckt in: Berreby, Documents,
S. 290; »Einführung in eine Kritik der städtischen
Geographie«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 18f.
20 »[Die nackte Stadt]«
(1957), deren graphische Elemente den Rückumschlag von
Sussmans On the passage schmücken (siehe Anm. 1),
ist als Frontispiz zu einer Erörterung
situationistischer Karten mit besonderer
Berücksichtigung ihrer Dankesschuld an das Werk des
Sozialgeographen Chombart de Lauwe reproduziert: Thomas
F. McDonough, »Situationist Space«, in: October
67 (Winter 1994), S. 59-77. Debords großformatiger (60 x
74 cm) »Guide psychogéographique de Paris« (Kopenhagen
[Permild & Rosengreen] 1957) ist stark verkleinert,
aber in Farbe reproduziert in: Sites & Stations:
Provisional Utopias / Lusitania #7, New York
(Lusitania Press) 1996, S. 192. Rumneys zuerst in Ark
#24 (1958), der Zeitschrift des Royal College of Art in
London, veröffentlichte »Psychogeography of Venice«
ist nachgedruckt in Iwona Blazwick, Hg., An endless
adventure ... an endless passion ... an endless banquet:
A Situationist Scrapbook, London (Verso/ICA) 1989, S.
45-49. Eine Tafel ist zu finden in Crow, The Rise of
the Sixties (siehe Anm. 1), S. 54-55. Rumney,
Gründer und einziges Mitglied der London
Psychogeographic Society, wurde schon bald nach ihrer
Gründung aus der SI ausgeschlossen.
21 Jacques Fillon,
»Déscription raisonnée de Paris (Itinéraire pour une
nouvelle agence de voyages)«, in: Les lèvres nues
7 (Dezember 1955), S. 39; nachgedruckt als Faksimile
(Paris [Editions Plasma] 1978) und in: Berreby, Documents,
S. 300. Das kurze »dérive«-Manifest, das Fillon
zusammen mit Debord unter dem Titel »Résumé 1954«
verfaßte (Potlatch 14 [November 1954]), ist
nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 188. Unter
dem Titel »Neue Spiele!« findet sich eine deutsche
Übersetzung in Ulrich Conrads, Programme und
Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts,
Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg & Sohn) 21981
S. 174. (Debord ist dort merkwürdigerweise als Koautor
nicht genannt.)
22 »Position du Continent
Contrescarpe (Monographie établie par le Groupe de
Recherche psychogéographique de l'Internationale
lettriste)« [»Position des Kontinents Contrescarpe
(Eine von der psychogeographischen Forschungsgruppe der
lettristischen Internationale verfaßte Monographie)«],
in: Les lèvres nues 9 (November 1956), S. 38-40;
nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 324-326;
Zitat: S. 326.
23 »Projets
d'embellissements rationnels« (siehe Anm. 14), in:
Berreby, Documents, S. 227.
24 Abdelhafid Khatib,
»Essai de description psychogéographique des Halles«,
in: IS 2 (Dezember 1958), S. 13-17; Zitat: S. 17;
»Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der
Pariser Hallen«, in: S.I., Bd. 1, S. 52-57;
Zitat: S. 56f. Da Khatibs »Forschungsarbeit« sich »im
wesentlichen mit der nächtlichen Hallenstimmung«
beschäftigte und seit September 1958 eine
Polizeivorschrift »den Nordafrikanern nach 21 1/2 Uhr
die Straße [verbot]«, führten seine
psychogeographischen Streifzüge wiederholt zu seiner
Verhaftung, weshalb er das Projekt aufgeben mußte. In
einer hier schon zitierten »Anmerkung der Redaktion«
wurden diese Umstände detailliert geschildert und als
weiterer Beleg für den im wesentlichen politischen
Charakter der Psychogeographie angeführt. Die Leser
wurden gebeten, bei der Fortsetzung des Projekts zu
helfen, indem sie ihre Antworten auf die 16 Fragen eines
Fragebogens über ihre Erfahrungen mit dem Hallenviertel
nichts anderes als ein Leitfaden für die Praxis
der Psychogeographie an Khatib ins SI-Büro
schickten.
25 Ebd.; IS 2
(Dezember 1958), S. 17; S.I., Bd. 1, S. 57.
26 Detaillierte
Informationen über das SI-Projekt und detaillierte
Zeichnungen für das geplante Labyrinth sowie ein Bericht
über die Verhandlungen mit dem Museum finden sich in
»Die Welt als Labyrinth«, in: IS 4 (Juni 1960),
S. 5-7; S.I., Bd. 1, S. ##-##.
27 Guy-Ernest Debord und
Gil G. Wolman, »Mode d'emploi du détournement«, in: Les
lèvres nues 8 (Mai 1956), S. ##-##; Zitat: S. 2;
Berreby, Documents, S. ##-##; Zitat: S. 302;
»Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«, in: Der
Beginn einer Epoche, S. 20-26; Zitat: S. 21.
28 Ebd.; Berreby, Documents,
S. 307; Der Beginn einer Epoche, S. 26.
29 [ungenannter
Verfasser], »La frontière situationniste«, in: IS
5 (Dezember 1960), S. 9; »Die situationistische
Grenze«, in: S.I., Bd. 1, S. 161[f]. Einen
Eindruck von der Spezifität der situationistischen
Architekturzweckentfremdung erhält man, wenn man sie mit
der von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Aneignung
[!] dieser Strategie vergleicht, wie sie üppig
dokumentiert ist in Sherban Cantacuzino, Re/Architecture:
Old Buildings/New Uses, New York (Abbeville Press)
1989.
30 In Debords Mémoires
(Kopenhagen [Permild & Rosengreen] 1959;
Faksimile-Nachdruck mit einem kurzen Vorwort von Debord,
Paris [Jean-Jacques Pauvert] 1993) sind Asger Jorn die
»[tragenden Konstruktionen]« zugeschrieben, und in
Asger Jorns Fin de Copenhague (Kopenhagen [Permild
& Rosengreen] 1957; Faksimile-Nachdruck Paris
(Editions Allia) 1985; auch in: Berreby, Documents,
S. 553-592) wird Debord als »Berater für
Zweckentfremdung« angeführt. Auf den wichtigen
urbanistischen Subtext in diesen beiden Büchern kann
hier nicht näher eingegangen werden, doch
interessanterweise wird in einem nicht unterzeichneten,
in The Architectural Review veröffentlichten Text
Jorns Collage aus Action-painting und
Zeitschriftenschrott als eine »urbanistische kalte
Dusche« bezeichnet, die »das >gemütliche< Europa
im allgemeinen, die Heimatstadt des Autors, Kopenhagen,
im besonderen und im Vorübergehen Le Corbusier«
verspottet. Die vielen verschiedenen Textelemente in dem
Buch erinnern, so diese Rezension, »alle an die
Propaganda für la Ville Radieuse, und Kopenhagen wird
nicht nur als die Heimstätte alteingesessener Langeweile
und in anderer landläufiger Hinsicht verhöhnt, sondern
auch als eine >gut geplante Stadt<«. Wie Roberto
Ohrt vermutet, dürfte diese dem
Faksimile-Nachdruck der Editions Allia beigefügte
Rezension tatsächlich aus Jorns eigener Feder stammen
(siehe Ohrt, Phantom Avantgarde: Eine Geschichte der
Situationistischen Internationale und der modernen Kunst,
Hamburg [Edition Nautilus] 1990, S. 129, Fußnote 35).
31 Ikonographisch
angedeutet wird die Bedeutung, die der Urbanismus für
Debords Kino hat das psychogeographischste Medium
überhaupt, denn was wäre das Kino und die Konstruktion
kinematographischer Bedeutung anderes als eine Geographie
der Psyche? , bereits durch die Wahl eines Pariser
U-Bahn-Plans für den Vorder- und Rückumschlag des
Buches, das die Szenarios seiner ersten sechs Filme
enthält (Guy Debord, Oeuvres Cinématographiques
Complètes 1952-1978, Paris [Editions Champ Libre]
1978). Eine detailliertere Erörterung des
kinematographischen Schaffens Debords findet sich in
meiner Studie »Dismantling the Spectacle: The Cinema of
Guy Debord«, in: Sussman, On the passage (siehe
Anm. 1), S. 72-123, bes. 87-89.
32 Debord und Wolman,
»Mode d'emploi du détournement«, in: Berreby, Documents,
S. 307; »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«,
in: Der Beginn einer Epoche, S. 25.
33 Aus den vielen Büchern
über dieses bemerkenswerte Bauwerk seien hier nur zwei
hervorgehoben: Jean-Pierre Jouve, Le palais ideal du
facteur Cheval, Paris (Editions du Moniteur) 1981,
und Claude Boncompain, Le facteur Cheval, piéton de
Hauterives, Valence (Le Bouquin-Peuple libre) 1988.
Bezeichnenderweise ließen sich sowohl Debord als auch
André Breton vor diesem magischen Ort fotografieren: Das
Bild von Breton findet sich in seinem Buch Les vases
communicants (Paris [Gallimard] 1955), S. 163); das
Foto von Debord vor dem Palais Idéal, das die Aufschrift
»wo der Traum Wirklichkeit wird« trägt, befindet sich
im Asger-Jorn-Archiv in Silkeborg, Dänemark.
34 Guy-Ernest Debord,
»Exercice de la psychogéographie«, in: Potlatch
2 (29. Juni 1954); Berreby, Documents, S. 164. Der
erste Name in der Liste ist Piranesi, [!] der als
»psychogeographisch im Bereich der Treppen« bezeichnet
wird. Wenige Nummern später wird der »unjustifizierbare
Palais Idéal« erneut als »die erste Manifestation
einer Architektur der Entfremdung/Verlagerung
[dépaysement]« hervorgehoben; die für das Bauwerk
kennzeichnende militante Anwendung des »détournement«
diene keinem anderen Zweck, so heißt es, als dem, sich
selbst zu verlieren, und die sonderbare Leidenschaft, die
das bizarre Bauwerk motiviert habe, wird mit der
verglichen, die Ludwig II. von Bayern zur Erbauung seines
Wahnsinnsschlosses Neuschwanstein führte (vgl.
[ungenannter Verfasser], »Prochaine planète«, in: Potlatch
4 [13. Juli 1954], nachgedruckt in: Berreby, Documents,
S. 168).
35 Debord und Constant,
»La déclaration d'Amsterdam«, in: IS 2
(Dezember 1958), S. 31-32; [Zitat: S. 32]; »Die
Amsterdamer Erklärung«, in: S.I., Bd. 1, S.
71-72; Zitat: S. 72.
36 Ebd.; ich zitiere hier
die modifizierte Fassung der letzten These, wie sie in
»Corrections pour l'adoption des onze points
d'Amsterdam« veröffentlicht wurde, in: IS 3
(Dezember 1959), S. 27-28; »Korrekturen zur Billigung
der 11 Amsterdamer Punkte«; in: S.I., Bd. 1, S.
103.
37 Dieses Projekt ist in
einem illustrierten Begleittext mit dem Titel
»Emplacement pour une maison à usage situationniste«
zu dem Text »L'urbanisme unitaire à la fin des années
50« beschrieben, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 13.
[nicht in der deutschen Ausgabe; vgl Bd. 1, S. 91!]
38 Debord, »Théorie de
la dérive«, in: Berreby, Documents, S. 316;
Hervorhebung vom Verfasser. Interessanterweise wurde
diese Passage aus dem letzten Absatz des zuerst 1956 in Les
lèvres nues veröffentlichten Textes weggelassen,
als der Aufsatz im Dezember 1958 in IS 2
nachgedruckt wurde, weshalb sie auch in der deutschen
Übersetzung unter dem Titel »Theorie des
Umherschweifens« in Der Beginn einer Epoche fehlt
(vgl. dort, S. 67).
39 »L'urbanisme unitaire
à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am Ende der
fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 89.
40 Noch Jahre später
stößt man auf Beschwörungen dieser Vision von der
situationistischen Stadt, zum Beispiel in Uwe Lausens
Vorhersage von 1963: »Eines Tages haben wir die
passenden Begegnungen und wir finden Abenteuer in einer
neuen, aus neuartigen Dschungeln, Steppen und Labyrinthen
bestehenden Stadt.« (Uwe Lausen, »Repétition et
nouveauté dans la situation construite«, in: IS
8 [Januar 1963], S. 58; »Wiederholung und Neuigkeit in
der konstruierten Situation«, in: S.I., Bd. 2, S.
71.
41 Reyner Banham, Megastructure:
Urban Futures of the Recent Past, London (Thames and
Hudson) 1976, S. 9. Habrakens theoretische Position ist
in seiner Studie De dragers en de mensen
dargelegt, die unter dem Titel Supports: An
Alternative to Mass Housing von B. Valkenburg ins
Englische übersetzt wurde (New York [Praeger] 1972).
42 Guy-Ernest Debord, »De
l'architecture sauvage« [1972]«, in: Le Jardin
d'Albisola, Turin (Edizioni d'Arte Fratelli Pozzo)
1974; nachgedruckt in: Debord, Textes rares: 1957-1970,
Paris (n.p.) 1981; S. 47-48; unter dem Titel »On Wild
Architecture« von Thomas Y. Levin ins Englische
übersetzt, in: Sussman, On the passage (siehe
Anm. 1), S. 174-175.
43 Die Pläne und (aus
Perspex und Metall gefertigten) Modelle für New Babylon
wurden zuerst Anfang 1960 in der Galerie van de Loo in
Essen präsentiert. Der Katalog zu dieser Ausstellung, Konstruktionen
und Modelle, enthielt Essays von Constant und Debord.
Darauf folgte 1963 ein Loseblattbuch mit 10 Lithographien
von Constant und einem Text von Simon Vinkenoog mit dem
Titel New-Babylon (Amsterdam [Galerie le Canard]).
Die erste »vollständige« Ausstellung der »imaginären
Stadtlandschaften« wurde Ende 1964 im Museum Haus Lange
in Krefeld gezeigt und in einem Katalog mit dem Titel New
Babylon: Imaginäre Stadtlandschaften umfassend
dokumentiert. Zu Constant siehe H. van Haaren, Constant,
ins [Englische] übersetzt von Max Schuchart, Amsterdam
(J. M. Merlenhoff) 1966, und aus jüngerer Zeit Ed Ball,
»Case Study: New Babylon«, in: Sites & Stations
(siehe Anm. 20), S. 194-199.
44 Constant, »Rapport
inaugural de la conférence de Munich«, in: IS 3
(Dezember 1959), S. 26-27. Siehe auch A. Alberts,
Armando, Constant, Har Oudejans, »Première proclamation
de la section Hollandaise de l'I.S.«, in: IS 3
(Dezember 1959), S. 29-30. [Beide Texte auch in der
deutschen Ausgabe?]
45 Constant, »Une autre
ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 37-40; »Eine andere Stadt für ein anderes
Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 80-82.
46 So Constant in einem
einflußreichen, [1960] in [vor] der ICA gehalten und
später veröffentlichten Vortrag: Constant Nieuwenhuys,
»New Babylon: An Urbanism of the Future«, Architectural
Design 34:6 (Juni 1964), S. 304-305. Vgl. auch den
Auszug unter dem Titel »Neu Babylon« in Conrads, Programme
und Manifeste (siehe Anm. 21), S. 170f. Eloquent zum
Ausdruck gebracht wird das idyllische Versprechen solcher
utopischer Megastruktur-Visionen aus Norman O. Browns in
der britischen »pro-situ«-Zeitschrift King Mob Echo
#1 (London, 1. April 1968) veröffentlichtem »The Return
of the Repressed« (»Die Rückkehr des
Unterdrückten«):
Mein Utopia ist /
eine so gut funktionierende Umgebung / daß wir
darin frei herumtoben können / Anarchie in einer
funktionierenden Umgebung / die Umgebung schafft
und funktioniert, erledigt alles / eine
vollautomatische Umgebung / alle
Versorgungseinrichtungen
oder
Kommunikationsnetze / (der technische Beitrag zur
Vereinheitlichung; / Vereinheitlichung ist auch
eine Frage der Technik) / War es nicht eine
göttlich absurde Voraussicht, wenn Marx / oder
Engels sagten, die von Menschen ausgeübte
Herrschaft werde / durch die von Dingen
ausgeübte Verwaltung ersetzt werden?
47 Constant, »Une autre
ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 38; »Eine andere Stadt für ein anderes
Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 81.
48 Constant, »Description
de la zone jaune«, in: IS 4 (Juni 1960), S.
23-26; »Beschreibung der gelben Zone«, in: S.I.,
Bd. 1, S. 139-141.
49 Banham, Megastructure
(siehe Anm. 41), S. 59.
50 Constant, »Une autre
ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 39; »Eine andere Stadt für ein anderes
Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 82.
51 Ebd., S. 38f.; S. 81.
Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die erste
größere Ausstellung des Werks der Situationistischen
Internationale 1989 im 1977 eröffneten Centre Pompidou
von Richard Rogers und Renzo Piano veranstaltet wurde,
einem im Schatten der zerstörten Hallen errichteten
Bauwerk, das aufgrund der extremen Flexibilität seiner
Räume gemeinhin als Verkörperung des metabolistischen
Erbes betrachtet wird; siehe Sur la passage de
quelques personnes (Anm. 2).
52 Banham, Megastructure
(siehe Anm. 41), S. 83, 88.
53 Constant, »Une autre
ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember
1959), S. 40; »Eine andere Stadt für ein anderes
Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 82.
54 Zwar arbeitete Constant
noch bis 1972 an New Babylon, doch schon [Anfang] Mitte
der sechziger Jahre wird in seinen veröffentlichten
Schriften zu diesem Projekt dessen essentiell visionärer
Status immer mehr betont. In seinem Vortrag von 1960
(siehe Anm. 46) [In einem Katalogbeitrag von 1967] hebt
er zum Beispiel nachdrücklich hervor, daß New Babylon
primär weder ein urbanistisches Projekt noch ein
Kunstwerk im traditionellen Sinne oder ein
architektonisches Strukturbeispiel ist. »Man kann
New-Babylon in seiner augenblicklichen Gestalt als einen
Vorschlag auffassen, als den Versuch die Theorie von
einem unitären Urbanismus zu materialisieren, ein
kreatives Spiel mit einer imaginären Umwelt zu erhalten,
die an die Stelle der unzureichenden, unbefriedigenden
Umwelt des heutigen Lebens gesetzt ist.« (Zitiert nach
Conrads, Programme und Manifeste [siehe Anm. 46],
S. 170.) [(Vgl. Constant, »Von Cobra bis New Babylon«,
München [Galerie Heseler] 1967.)]
55 Attila Kotányi und
Raoul Vaneigem, »Programme élémentaire du bureau
d'urbanisme unitaire«, in: IS 6 (August 1961), S.
##-##; Zitat: S. 16; »Elementarprogramm des Büros für
einen unitären Urbanismus«, in: Der Beginn einer
Epoche, S. 95-98; Zitat: S. 95.
56 Raoul Vaneigem,
»Commentaires contre l'urbanisme«, in: IS 6
(August 1961), S. 33-37; Zitat: S. 34; »Anmerkungen
gegen den Urbanismus«, in: S.I., Bd. 1, S.
240-245; Zitat: S. 241.
57 [ungenannter
Verfasser], »Critique de l'urbanisme«, in: IS 6
(August 1961), S. 8. [auch in der deutschen Ausgabe?]
58 Ebd., S. 9.
59 Kotányi und Vaneigem,
»Programme élémentaire du bureau d'urbanisme
unitaire«, in: IS 6 (August 1961), S. 16;
»Elementarprogramm des Büros für einen unitären
Urbanismus«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 96.
60 Ebd., S. 17; S. 96.
61 Ebd.
62 [ungenannter
Verfasser], »Géopolitique de l'hibernation«, in: IS
7 (April 1962), S. 3-10; deutsche Übersetzung unter dem
Titel »Geopolitik der Schlaftherapie«, in: Der
Beginn einer Epoche, S. 106-113. Aus unersichtlichen
Gründen wurde auch in dieser überarbeiteten
Übersetzung an »Schlaftherapie« statt besser
»Winterschlaf« oder auch »Überwinterung« für
»hibernation« festgehalten.
63 Ebd., S. 6; S. 108f.
64 Ebd., S. 6f.; S. 109.
65 Ebd., S. 8; S. 111.
66 Vaneigem,
»Commentaires contre l'urbanisme«, in: IS 6
(August 1961), S. 33; »Anmerkungen gegen den
Urbanismus«, in: S.I., Bd. 1, S. 240.
67 Das Watts-Foto ist in IS
10 (März 1966) auf S. 5 abgebildet ([S.I. Bd. 2,
S. ##]; auch in Der Beginn einer Epoche, S. 175),
das Foto aus Detroit in IS 11 (Oktober 1967), S.
59 ([S.I. Bd. 2, S. ##]).
68 Ein detaillierter
Bericht über einen Verlauf von Debords Kriegspiel
[sic], einem auf Clausewitz' Kriegstheorie beruhenden
Spiel, ist als Le jeu de la guerre erhältlich
(Paris [Editions Gérard Lebovici] 1987).
69 »Position du Continent
Contrescarpe« (siehe Anm. 22), in: Berreby, Documents,
S. 326.
70 [ungenannter
Verfasser], »Définitions«, in: IS 1 (Juni
1958), S. 13; »Definitionen«, in: Der Beginn einer
Epoche, S. 51.
71 Debord, »De
l'architecture sauvage« (siehe Anm. 42); Textes rares,
S. 48; Sussman, On the passage, S. 175.
72 »Nouveau théâtre
d'opérations dans la culture« (SI-Flugblatt, 1958). Das
Flugblatt ist in McDonough, »Situationist Space« (siehe
Anm. 20), reproduziert, wo fälschlicherweise die erste
Ausgabe des SI-Journals als Quelle angegeben ist. Die
einzige Komponente dieses Flugblatts, auf dem die neue
Zeitschrift angekündigt wurde, die dann in der ersten
Ausgabe reproduziert wurde, war die Luftaufnahme von
Paris; vgl. IS 1 (Juni 1958), S. 17, [S.I.,
Bd. 1, S. ##, und Der Beginn einer Epoche, S. 53.]
73 IS 7 (April
1962), S. 15, und IS 12 (September 1969), S. 9,
27, 34 & 42; [S.I., Bd. 1, S. ##, und S.I.,
Bd. 2, S. ##, ##, ## & ##; siehe auch Der Beginn
einer Epoche, S. 291.]
74 Leonid Trauberg und
Grigori Kosinzew, »Novyi Vavilon« (»Das neue
Babylon«), UdSSR 1929.
Literatur
[Roberto Ohrt (Hg.)], Der
Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten,
Hamburg (Edition Nautilus) 1995.
Situationistische
Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des
Organs der S.I. in zwei Bdn., Hamburg 1976 (Bd. 1; S.I.
Nr. 1-7) und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12).
Reyner Banham, Megastructure:
Urban Futures of the Recent Past, London (Thames and
Hudson) 1976.
Gerard Berreby (Hg.), Documents
relatifs à la fondation de l'Internationale
Situationniste 1948-1957, Paris (Editions Allia)
1985.
Iwona Blazwick (Hg.), An
endless adventure ... an endless passion ... an endless
banquet: A Situationist Scrapbook, London (Verso/ICA)
1989.
Ulrich Conrads (Hg.), Programme
und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts,
Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg & Sohn) 21981.
Constant: 1945-1983,
Bonn (Rheinisches Landesmuseum) und Köln
(Rheinland-Verlag) 1986.
Thomas Crow, The Rise
of the Sixties: American and European Art in the Era of
Dissent, New York (Abrams) 1996.
Guy-Ernest Debord, Textes
rares: 1957-1970, Paris (n.p.) 1981.
Roberto Ohrt, Phantom
Avantgarde: Eine Geschichte der Situationistischen
Internationale und der modernen Kunst, Hamburg
[Edition Nautilus] 1990.
Elisabeth Sussman (Hg.), On
the passage of a few people through a rather brief moment
in time: The Situationist International 1957-1972,
Boston (MIT Press/ICA) 1989.
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