Positionen
1997_2

Thomas Y. Levin

Geopolitik des Winterschlafs:

Zum Urbanismus der Situationisten*

Die Hacienda wirst Du nicht sehen — es gibt sie nicht.
Die Hacienda muß gebaut werden.

— Gilles Ivain

1Von ihrer offiziellen Gründung am 28. Juli 1957 bis zu ihrer Selbstauflösung im Jahre 1972 schuf die Situationistische Internationale (im folgenden »SI«) als Avantgarde-Bewegung und politische Zelle ein enorm heterogenes Oeuvre, das die Kultur der westlichen Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit grundsätzlich in Frage stellte. Die vielfältigen Hervorbringungen — Traktate, Plakate, Collagen, theoretische Texte, Bücher, Filme — und strategischen Interventionen waren nicht nur für den »Mai '68« von Bedeutung, sondern sind es bis heute für Kunst, Architektur und Städteplanung geblieben.1 Ihre Vision eines »unitären Urbanismus« — als eine wirkmächtige Form der, so Guy Debord, »Verwirklichung von Philosophie« — war symptomatisch für das ästhetisch-politische Selbstverständnis der SI. Gemeint war damit die Idee einer kreativen Neukonzeption der Stadt als politisches Gesamtkunstwerk: als Negation und Realisation von Kunst in einem. Im Wandel von dieser anfänglichen experimentellen Phase zur Ideologiekritik der vorherrschenden Verhältnisse läßt sich die spätere Entwicklung des gesamten Projekts der SI nachzeichnen.

2Auf der Gründungstagung der SI in Cosio-D'Aroscia legte Guy Debord, die treibende theoretische Kraft der Gruppe, einen sorgfältig formulierten, programmatischen »Rapport über die Konstruktion von Situationen« vor, worin die Dringlichkeit, die Intensität und vor allem die Militanz des revolutionären Projekts der SI zum Ausdruck gebracht wurde:

3Wir meinen zunächst, daß die Welt verändert werden muß. Wir wollen die größtmögliche emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingeschlossen sind. Wir wissen, daß es möglich ist, diese Veränderung mit geeigneten Aktionen durchzusetzen.2

3In der Tradition früherer revolutionärer kultureller Bewegungen anerkennt die SI hier die Bedeutung des Kampfes der internationalen Arbeiterbewegung, von dem, so Debord, jede Transformation der Infrastruktur der ökonomischen Ausbeutung in gewissem Maße abhängt. Womit sich das Gründungsdokument der SI jedoch eigentlich beschäftigt, ist der Antagonismus zwischen neuen Formen des Begehrens und der retardierenden Wirkung einer oppressiven ökonomischen Struktur, die der Nutzung dieser affektiven Ressourcen zuvorkommt. Hier, in der als »eine aus der Ästhetik, den Gefühlen und Lebensweisen zusammengesetzte Gesamtheit, die Reaktion einer Epoche auf das alltägliche Leben«3 verstandenen Arena der Kultur zog die SI ihre Schlachtlinien. Wenn jedoch eine Revolution zu allererst als eine radikale Transformation der Struktur und des Wesens des Begehrens verstanden wird, hat dieses Revolutionsverständnis dramatische Konsequenzen, sowohl für den Ort als auch für die Form des Kampfes. Wie Debord es formuliert:

4Das Ziel einer revolutionären Aktion auf dem Gebiet der Kultur kann nicht sein, das Leben wiederzugeben oder zu erklären, sondern es zu erweitern. Überall muß das Unglück zurückgeschlagen werden. Die Revolution läßt sich nicht gänzlich in der Frage erfassen, welche Produktionsstufe die Schwerindustrie jetzt erreicht hat und wer sie beherrschen wird. Zusammen mit der Ausbeutung des Menschen müssen die Leidenschaften, die Kompensation und die Gewohnheiten sterben, die Produkte der Ausbeutung waren. Es müssen neue, in Zusammenhang mit den heutigen Möglichkeiten stehende Begierden definiert werden. Schon heute im heftigsten Gefecht zwischen der gegenwärtigen Gesellschaft und den Kräften, die sie zerstören werden, müssen die ersten Bausteine für eine höhere Umgebungskonstruktion und neue Verhaltensbedingungen gefunden werden; [...] Alles übrige gehört der Vergangenheit an und ist ihr von Nutzen.

5Es muß jetzt eine organisierte kollektive Arbeit begonnen werden, die eine einheitliche Anwendung aller Mittel zur Umwälzung des alltäglichen Lebens anstrebt. [...] Wir müssen neue Stimmungen konstruieren, die zugleich Produkt und Werkzeug neuer Verhaltensweisen sind. Dafür müssen anfangs die heute vorhandenen alltäglichen Verhaltensweisen und die Kulturformen empirisch angewandt werden, indem man ihnen jeden eigenen Wert aberkennt.4

6Schon hier, im Entstehungsmoment der SI, wird die Aussicht auf eine transformierte Welt unmittelbar mit einer Revolution im Begehren verbunden, und neue Formen des Begehrens sind wiederum aufs engste an neue Alltagsräume angebunden. Doch die Architektur solcher »höheren« Umgebungen, die sowohl zu neuen Begierden und Verhaltensweisen hinführen als auch deren Ergebnis sind, muß erst noch erfunden werden, und am Beginn dieses Bauprojekts im Herzen dieser utopischen Vision steht die detaillierte Erforschung der komplexen, das Verhältnis von Raum und Begehren beherrschenden Ökonomie. Und das Laboratorium für diese Forschung ist nichts anderes als die gegenwärtige Stadtlandschaft.

7Ihren Versuch, zu einem neuen Verständnis vom sozialen Raum der Stadt zu gelangen, begann die SI mit einem Frontalangriff auf das, was sie als die theoretische Dürftigkeit des die zeitgenössische Architektur beherrschenden Funktionalismus betrachtete. Eines der pathologischsten Symptome des gegenwärtigen ideologischen Zerfalls ist für Debord

8die funktionalistische Theorie in der Architektur[, die] auf die reaktionärsten Vorstellungen über Gesellschaft und Moral gegründet ist. Das heißt, daß eine überaus rückständige Vorstellung vom Leben und seinem Rahmen in partielle und vorübergehend gültige Beiträge des ersten Bauhauses oder der Schule Le Corbusiers eingeschmuggelt wird.5

9Diesem kurzsichtigen Funktionalismus wollte die SI eine »aufregende funktionelle Umwelt«6 entgegensetzen, und der erste Schritt darauf hin sollte durch die Erschaffung von »Situationen« gesetzt werden, Konstruktionen einer anderen Art, die zu radikal neuen Lebensformen führen sollten. In dieser systematischen und gleichwohl spielerischen Transformation des alltäglichen Raums wird das Bauen zu einer radikal politischen Praxis auf der Ebene des Individuums. Nicht die Architektur, die holistische Konstruktion von Situationen liegt dem zugrunde, was die SI als »unitären Urbanismus«7 bezeichnen sollte:

10Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen — d. h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft. Wir müssen eine geordnete Intervention in die komplizierten Faktoren zweier großer, sich ständig gegenseitig beeinflussender Komponenten durchführen: die materielle Ausstattung des Lebens und Verhaltensweisen, die diese Ausstattung hervorbringt und durch sie erschüttert wird.

11In ihrer letzten Entwicklungsstufe führen unsere Perspektiven, auf die Ausstattung einzuwirken, zum Konzept eines unitären Urbanismus. Der unitäre Urbanismus läßt sich erstens als die Anwendung aller Kunstrichtungen und Techniken definieren, die für eine umfassende Komposition des Milieus zusammenwirken. Diese Gesamtheit ist unendlich breiter als die alte Herrschaft der Architektur über die traditionellen Kunstrichtungen oder die gegenwärtige gelegentliche Anwendung von spezialisierten Techniken oder wissenschaftlichen Untersuchungen wie z. B. der Ökologie auf den anarchischen Urbanismus.8

12Der »unitäre Urbanismus« wird von der SI nicht als eine Doktrin verstanden, sondern zu allererst als eine von Wohnungsproblemen abgesonderte und diese Fragen zugleich umfassende Urbanismuskritik, dem es letzten Endes um »ein Experimentierfeld für den SOZIALEN RAUM der zukünftigen Städte« zu tun ist.9 Als solches muß er, so Debord, die Strukturierung der akustischen Umwelt umfassen, die Verteilung der verschiedenen Getränke- und Nahrungsmittelarten, die Hervorbringung neuer Formen und die Zweckentfremdung (»détournement«) alter Architektur- und Urbanismusformen. Der »unitäre Urbanismus« ist in der Tat nichts weniger als das politisierte, kollektive Gesamtkunstwerk der SI: »Die integrale Kunst, von der so viel gesprochen wurde, konnte nur auf der Ebene des Urbanismus verwirklicht werden. Sie kann allerdings keiner der traditionellen Definitionen der Ästhetik mehr entsprechen.«10 Die SI verwarf das klassische Modell des individuellen Künstlers und des autonomen Kunstwerks (und die architektonischen Analogien) und hob nachdrücklich hervor, die grundlegenste Einheit des »unitären Urbanismus« sei nicht das Haus, sondern »der architektonische Komplex, der aus der Zusammenfassung aller Faktoren besteht, die eine Stimmung oder eine Folge aufeinanderstoßender Stimmungen im Maßstab der konstruierten Situation hervorrufen.«11 Jedem künftigen Gebäude müsse eine gründliche Untersuchung der Beziehung zwischen Räumen und Empfindungen, zwischen Form und Stimmung vorangehen:

13Die räumliche Entwicklung muß die Gefühlswirklichkeiten berücksichtigen, die durch die experimentelle Stadt bestimmt werden. [...] Die Genossen, die eine neue, freie Architektur fordern, müssen verstehen, daß sie zunächst nicht mit Linien und freien poetischen Formen — in dem Sinne, in dem diese Worte heute von denen gebraucht werden, die sich auf eine Malerei der »lyrischen Abstraktion« berufen — spielen wird, sondern vielmehr mit den Wirkungen der Stimmung von Zimmern, Gängen, Straßen usw., wobei die Stimmung mit den in ihr enthaltenen Gesten verbunden ist. Der Fortschritt der Architektur sollte viel mehr in der Herstellung von aufregenden Situationen als in dr von aufregenden Formen liegen; und die Experimente, die die Architektur damit anstellt, werden zu unbekannten Formen führen.12

14Wollte man der Genealogie des Situationistischen Urbanismus nachspüren, wäre der nächstgelegene Kontext das Werk der Lettristischen Internationale und insbesondere der 1953 veröffentlichte visionäre Essay »Formular für einen neuen Urbanismus« von Gilles Ivain — das Pseudonym, das Ivan Chtcheglov als Autor benutzte.13 Chtcheglov fordert eine neue Architektur, der es möglich ist, die vorherrschenden Zeit- und Raumkonzeptionen zu transformieren, eine Architektur, die sowohl Wissen vermittelt als auch Handlungsmöglichkeiten bietet, eine modifizierbare, formbare Architektur, die sich je nach den Wünschen ihrer Bewohner teilweise und sogar vollständig wandelt:

15Diese neue Vision von Zeit und Raum, die die theoretische Grundlage der zukünftigen Konstruktionen sein wird, ist noch nicht reif und wird es nie ganz sein, bevor die Verhaltensweisen nicht in diesem Zweck vorbehaltenen Städten ausprobiert worden sind. Dort sollten, außer den zu einem Minimum an Komfort und Sicherheit unbedingt notwendigen Einrichtungen, auch Gebäude mit einer großen beschwörenden und beeinflussenden Kraft sowie symbolische Bauwerke, die die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Begierden, Kräfte und Ereignisse darstellen, systematisch versammelt sein. Eine rationale Erweiterung der alten religiösen Systeme, der alten Märchen und besonders der Psychoanalyse auf die Architektur wird mit jedem Tag dringender, in dem Maße, wie die Gründe für die Leidenschaft mehr und mehr verschwinden.

16Jeder wird sozusagen seine persönliche »Kathedrale« bewohnen. Es wird Räume geben, die einen besser träumen lassen als Drogen, und Häuser, in denen man nur lieben kann. Andere werden die Reisenden unüberwindlich anlocken [...]

17Die Viertel dieser Stadt könnten den verschiedenen katalogisierten Gefühlen entsprechen, die man im gewöhnlichen Leben zufällig antrifft. Ein seltsames, ein glückliches — ganz besonders dem Wohnen zugedachtes —, ein edles und tragisches (für die braven Kinder), ein historisches (Museum, Schulen), ein nützliches (Krankenhaus, Lagerräume für Werkzeuge), ein finsteres Viertel usw...14

18Die Bewohner dieses Reichs werden hauptsächlich, wie Chtcheglov erklärt, mit einem ständigen Umherschweifen (»dérive«) beschäftigt sein, das zu einer schonungslosen, gründlichen und taumelhaften Umweltentfremdung führt. Indem er im wesentlichen sowohl die zentralen Leitsätze des Situationistischen Urbanismus, als auch, wie im folgenden noch deutlich werden wird, die Merkmale des einen, Jahre später unter den Auspizien der SI von Constant in Angriff genommenen, mehr oder weniger klassischen Architekturprojekts vorwegnimmt, artikuliert Chtcheglov hier wirkungsvoll das, was zu einem der zentralen Punkte auf der Tagesordnung der SI werden sollte. Die Lettristen griffen Chtcheglovs Forderung nach einer eingehenden Untersuchung der Beziehungen zwischen Raum, Zeit und den Leidenschaften auf und unternahmen voller Inbrunst die affektive Stadtvermessung, die sie als »Psychogeographie« bezeichneten. Wenn Psychogeographie als »die Erforschung der genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus[, ...] das, bewußt eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt«15 definiert wird, dann ist ihre wichtigste Datenerfassungsmethode die des Umherschweifens — die Identifizierung, Lokalisierung, Abgrenzung von »unités d'ambiance« und ihren Ein- und Ausgängen, ihren Barrieren, die Entdeckung »psychogeographischer Drehscheiben« usw.16 Die Spezifität dieses Umherschweifens, das in seiner Distanzierung von der durchschweiften Umgebung/Menge sowohl an den nicht-teleologischen Spaziergang des Flaneurs des 19. Jahrhunderts als auch an die späteren Formen des surrealistischen Bummelns erinnert, geht daraus hervor, daß hier eine spielerische und eine konstruktive, analytische Dimension miteinander kombiniert sind. Wie aus seiner »Theorie des Umherschweifens« deutlich wird, legt Debord großen Nachdruck darauf, daß bei der von der umherschweifenden Person erwarteten offenen Hingabe an die »Anregungen des Geländes und [die] ihm entsprechenden Begegnungen ... der Anteil des Zufälligen weniger ausschlaggebend [ist], als man es im allgemeinen glaubt«, da diese Komponente auch durch gewisse psychogeographische Kenntnisse über die zu durchschweifenden Zonen (die Beschränkungen und Möglichkeiten des Viertels) aufgewogen wird: »Das objektive, leidenschaftliche Gebiet, auf dem sich das Umherschweifen bewegt, muß zugleich entsprechend seinem eigenen Determinismus und seinen Beziehungen zur sozialen Morphologie definiert werden.«17 Nirgendwo ist diese Landschaft reicher an Möglichkeiten als in der postindustriellen städtischen Umgebung — sei es Paris, Amsterdam, Kopenhagen, Venedig oder das Londoner East End —, zu der das Umherschweifen eine Wahlverwandtschaft hat.18

19Sowohl die Lettristen als auch die Situationisten forderten eine neue, radikale Kartographie und brachten graphische und textliche Artefakte verschiedener Art hervor, die an die Stelle älterer Karten treten sollten, sowie Rundsichtdarstellungen, Luftfotografien und soziologische Diagramme, um affektive Vektoren im Verhältnis zum bebauten Raum ausfindig zu machen. Diese neue Vermessungsmethode, die sich strukturell als Dokumentierung einer gelebten Erfahrung versteht, ist eine eher narrative denn »objektive« Methode; in ihrer parataktischen und nicht-holistischen Beschaffenheit, ihrer Hervorhebung der für eine Topographie, bei der es sich letzten Endes um eine soziale Geographie handelt, charakteristischen produktiven Diskontinuität zugleich jedoch auch eine nicht-narrative:

20Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen; die Richtung des stärksten Gefälles (ohne Bezug auf den Höhenunterschied), dem alle Spaziergänger ohne bestimmtes Ziel folgen müssen; der anziehende oder abstoßende Charakter bestimmter Orte — all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann. Zwar wissen die Leute, daß es trübsinnige und angenehme Stadtviertel gibt. Sie bilden sich aber gewöhnlich fast ohne jede weitere Unterscheidungen ein, daß die eleganten Straßen ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln, während die ärmlichen deprimierend wirken. In Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten von Stimmungen — analog zur Auflösung der chemisch reinen Körper in die unendliche Zahl von Gemischen — ebenso differenzierte und komplizierte Gefühle zur Folge wie diejenigen, die jede andere Art von Spektakel auslösen kann. Schon die kleinste entmystifizierte Forschung macht sichtbar, daß zwischen den Einflüssen der verschiedenen Ausstattungen innerhalb einer Stadt eine Unterscheidung, sei sie qualitativ oder quantitativ, nicht von einer Epoche oder einem Baustil aus formuliert werden kann und noch weniger von den Wohnbedingungen aus.19

21Zu den bekanntesten visuellen Aufzeichnungen solcher »entmystifizierten« psychogeographischen Erkundungen gehören Guy Debords »[Illustration der These der psychogeographischen Drehscheiben]« mit dem Titel »[Die nackte Stadt]« und sein »[Psychogeographischer Führer durch Paris]«, die beide 1957 fertiggestellt wurden, sowie Ralph Rumneys ebenfalls 1957 entstandener Bericht über eine »dérive« durch Venedig in Form einer Fotocollage.20 Das spielerische Element in diesen graphischen Dokumentationen manifestiert sich auch in der spaßhaften Umfunktionierung vorhandener, gegen den Strich gelesener Karten: Ein Freund Debords durchzog zum Beispiel den Harz, indem er blindlings einem Stadtplan von London folgte. Im großen und ganzen gingen die psychogeographischen Forschungen »über die Anordnung der Bestandteile des urbanistischen Rahmens und in enger Verbindung mit den von ihnen hervorgerufenen Empfindungen« jedoch in weitgehend deskriptive Textprotokolle ein, die die Peripherien der beobachteten affektiven Zonen sorgfältig nachzeichnen. In einer 1955 erschienenen Ausgabe von »Les lèvres nues« findet sich zum Beispiel ein Text von Jacques Fillon mit dem Titel »Déscription raisonnée de Paris (Itinérair pour une nouvelle agence de voyages) [Reiseführer für ein neues Reisebüro]«, worin verschiedene Streifzüge von der Place Contrescarpe aus nacherzählt sind, einem Arbeiterviertel am linken Seineufer, das später zum wichtigsten Tummelplatz der SI werden sollte.21 Anders als die eigentlichen Streifzüge zeichnen sich die Darstellungen des Umherschweifens für gewöhnlich durch eine gewisse Nüchternheit aus, geben aber dennoch lyrische Einblicke in das Wesen des erforschten Gebiets. Ein Beispiel ist die folgende Passage aus einer weiteren psychogeographischen Studie über den »Kontinent« Contrescarpe, wie das Viertel von der SI liebevoll genannt wurde, deren unheimlicher Weitblick erst mehr als zwanzig Jahre später zutage treten sollte, im praktizierten revolutionären Urbanismus des Mai '68:

22[Die Anziehungskraft des Kontinents scheint offenbar in einer bestimmten Tauglichkeit für Spiel und Vergessen zu liegen. Die bloße Konstruktion von drei oder vier angemessenen architektonischen Komplexen an verschiedenen ausgewählten Stellen in Kombination mit der Absperrung zweier oder dreier Straßen durch andere Gebäude würde zweifellos genügen, dieses Viertel zu einem unwiderlegbaren Beispiel für einen neuen Urbanismus zu machen.]22

23Andere psychogeographische Berichte gaben auch bestimmte Vorschläge für die Transformation oder Umstrukturierung der erkundeten Zonen. In dem spielerisch gehaltenen Text »[Rationale Verschönerungen für die Stadt Paris]« schlägt die SI zum Beispiel vor, öffentliche Parkanlagen und das U-Bahnsystem mit einer nur schwachen und/oder zeitweise aussetzenden Beleuchtung die ganze Nacht hindurch offenzuhalten, um psychogeographische Eigenschaften hervortreten zu lassen, Straßenleuchten mit Schaltern auszustatten, so daß die Leute damit spielen können, Friedhöfe und Museen zu zerstören (und die Kunstwerke auf Kneipen und Cafés zu verteilen) und »[durch eine gewisse Anordnung von Feuertreppen und nötigenfalls die Anlage von Durchgängen die Dächer von Paris Spaziergängern zugänglich zu machen.]«23 Abdelhafid Khatibs »Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen« — einem weiteren beliebten nächtlichen Treffpunkt der LI und SI — schließt mit einer polemischen Kritik an dem Vorschlag, die Markthallen an den Stadtrand zu verlegen, da »eine auf eine neue Gesellschaft hinzielende Lösung [es gebietet,] diesen Raum im Zentrum von Paris für die Manifestationen eines befreiten kollektiven Lebens zu erhalten.«24 Sein Gegenvorschlag lautet, aus den Hallen »einen Rummelplatz ZUR spielerischen Erziehung von Arbeitern« zu machen und dazu »die jetzigen Gebäude durch autonome Reihen kleiner situationistischer Baukomplexe zu ersetzen.«25 Das repräsentativste Beispiel für die »Bauspiele« und beweglichen urbanen Räume, die er als situationistische Alternativen anführt, ist vielleicht der Vorschlag, »stets wechselnde Labyrinthe« anzulegen. Nur zwei Jahre später wäre eine Variante dieses Vorschlags beinahe Realität geworden. 1960 bekam die SI die Erlaubnis, die Räume 36 und 37 des [Amsterdamer] Stedelijk Museum in ein gewaltiges Innenraumlabyrinth mit künstlichem Regen, Wind und Nebel, einer Reihe vorweg aufgezeichneter akustischer Kulissen und einem aus Pinot-Gallizios »industrieller« Malerei zusammengesetzten Tunnel umzuwandeln. Parallel zu dieser Mikro-Erkundungszone sollte die Makro-Zone draußen von zwei Teams zu jeweils drei Situationisten erkundet werden, die per Funk untereinander und mit dem »Direktor« der Aktion in Verbindung stehen sollten, dessen Aufgabe es war, die Erkundung der Topographie von Amsterdam zu koordinieren und die Auskünfte der Kundschafter zu katalogisieren. Da genau diese Verbindung zwischen der inneren und der äußeren »dérive«-Zone für die Konzeption des Experiments von entscheidender Bedeutung war, wurde das ganze Projekt in letzter Minute abgesagt, als der Museumsdirektor gewisse »unakzeptable« Bedingungen stellte.26

24Wie bereits aus Khatibs Vorschlägen deutlich wird, ist die Datenerfassungmethode des Umherschweifens aufs engste mit einem anderen Schwerpunktverfahren der SI verbunden, dem des »détournement«, des kreativen Plünderns, Aus-dem-Kontext-Reißens und Zweckentfremdens vorhandenen kulturellen Materials. »Alle Elemente, egal woher genommen, können Gegenstand neuer zusammenhänge werden«, so Debord und Wolman in ihrer »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«.27 Immer wieder sind in den psychogeographischen Berichten während einer »dérive« entwickelte Anregungen zu lesen, wie bestimmte Räume umfunktioniert, zur Inszenierung einer Situation dienstbar gemacht werden können. Beiläufig erwähnt Khatib in seiner psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen den Plan der SI, durch eine »spielerische Rückumwandlung« des Eigentums in einer Gruppe von Ledoux-Gebäuden in Saline-de-Chaux eine Folge von Situationen zu konstruieren [nicht im deutschen Text!] — Teil eines größeren Plans, andere europäische Architekturen dem »détournement« zu unterwerfen. In anderen Texten stellt man sich die urbanistische Umsetzung des »détournement« als die präzise Rekonstruktion eines Teils einer Stadt in einer anderen Stadt vor,28 oder die ersten in die Praxis umgesetzten Beispiele für eine »neue Architektur« werden als »détournement« gebauter Räume mit starken und altehrwürdigen affektiven Besetzungen wie etwa eines Châteaus beschrieben.29 Eine wichtige Rolle spielen Urbanismus und »détournement« auch in Debords frühen, in Zusammenarbeit mit Asger Jorn entstandenen Collagen »Mémoires« und »Fin de Copenhague«,30 sowie in Debords kinematographischem Schaffen, das durch einen gnadenlosen Einsatz des »détournement« gekennzeichnet ist, durch ständige Beschwörungen des Umherschweifens als organisierender Mikrologik und ein unübersehbares Übergewicht von Bildern der Stadt.31 Und beim Entwurf einer künftigen situationistischen Architektur lassen Debord und Wolman über die entscheidende Rolle des »détournement« keinen Zweifel:

25Da die neue Architektur anscheinend mit einer barocken Experimentalstufe beginnen muß, wird der architektonische Komplex — den wir als die Konstruktion eines dynamischen Milieus in Verbindung mit Verhaltensstilen verstehen — wahrscheinlich die Zweckentfremdung der bekannten Architekturformen benutzen und sich auf dem Gebiet der Plastik und der Emotionen verschiedene zweckentfremdete Gegenstände in jedem Fall zunutze machen — so werden sachkundig arrangierte Kräne oder Metallgerüste vorteilhaft die tote Tradition der Skulptur ersetzen. Daran können nur die schlimmsten Fanatiker der französischen Gartenbaukunst Anstoß nehmen.32

26Wenn es ein paradigmatisches Beispiel für diese vom »détournement« bestimmte Konzeption der situationistischen Architektur gibt, dann ist es zweifellos das »Palais Idéal«, ein Lieblingsort der SI, ein phantastischer, zwischen 1879 und 1912 von Ferdinand Cheval (1836-1924), einem französischen Landbriefträger und Amateurarchitekten, in Hauterives (Drômes) mit eigener Hand und einzig und allein aus Fundmaterialien errichteter Komplex.33 In einem herrlich verspielten und gleichzeitig erhellenden Text von Debord mit Abbildungen von psychogeographischer Aussagekraft aus verschiedensten Disziplinen ist das einzige angeführte Beispiel für psychogeographische Architektur kein anderes als das Bauwerk des »Facteur Cheval«.34

27Die psychogeographische »Erforschung« der Möglichkeiten des »détournement« mittels der »dérives« schien den Situationisten die praktischen Voraussetzungen für die Konstruktion tatsächlicher Bauten oder, wie sie es lieber nannten, »Situationsumgebungen« in die Hand zu geben. Wie in den letzten beiden Thesen der »Amsterdamer Erklärung« von 1958 dargelegt wurde, kann die »Konstruktion einer Situation« — definiert als »Aufbau einer vorübergehenden Mikroumgebung und eines Satzes von Ereignissen für einen einzigen Augenblick im Leben einiger Personen« — »von der Konstruktion einer allgemeinen, relativ beständigeren Umgebung im unitären Urbanismus nicht getrennt werden.«35 Eine »konstruierte Situation« ist, wie in der letzten These formuliert wird, somit »ein Mittel, sich dem unitären Urbanismus zu nähern, und dieser bildet die unerlässliche Grundlage für die Entwicklung der Konstruktion von Situationen gleichzeitig als Ausdruck von Spiel und Ernst in einer freieren Gesellschaft.«36 Angesichts der allein schon in ihrem Namen zum Ausdruck kommenden engen Beziehung der SI zum Projekt eines realisierten unitären Urbanismus ist es nicht überraschend, daß ihre Schriften mit Verweisen auf die Aussicht durchsetzt sind, eines Tages konkrete situationistische Räume hervorbringen zu können. Es geht dabei sowohl um bescheidene Vorschläge für bestimmte Örtlichkeiten wie etwa den »[Standort für ein Haus für situationistische Zwecke«] auf einem verlassenen Inselstreifen in der Mitte der Seine37 als auch um sehr viel grandiosere Visionen ganzer situationistischer Städte. In seiner Erörterung des Umherschweifens bemerkt Debord zum Beispiel schon 1956:

28[Die Schwierigkeiten des Umherschweifens sind die Schwierigkeiten der Freiheit. Alles führt einen zu der Überzeugung, daß die Zukunft die unumkehrbare Transformation des Verhaltens und der Rahmenbedingungen der heutigen Gesellschaft bringen muß. Eines Tages werden wir für das Umherschweifen gemachte Städte konstruieren.]38

29Doch was würde es bedeuten, städtische Umgebungen speziell für die Praxis des Umherschweifens zu bauen? In ihrem Versuch, die Lehren der Psychogeographie in ein konkretes Architekturprogramm umzusetzen, verfolgte die SI zwei nicht sehr weit voneinander gelegene Richtungen, die beide aus avantgardistischen Architekturdebatten der Nachkriegszeit hervorgegangen waren. Bei der ersten, aus dem Versuch der Vermeidung jeglicher urbanen »Festlegung« entstandenen, handelt es sich um eine Vision von der sich in ständiger zeitlicher und materieller Transformation befindenden Stadt, eine Art nomadischer Metabolismus, der ganz allgemein gesagt das »Walking City«-Projekt vorwegnimmt, das 1963 von Ron Herron und Brian Harrey von [der Zeitschrift] Archigram entwickelt wurde. Von der weitgehend ungeprüften Annahme ausgehend, eine in ihrer Gesamtheit als ein gewaltiger Strömungsprozeß [Verlagerungsprozeß] konzipierte Stadt werde die Ideale Umgebung für die »dérive« ergeben, stellte sich die SI eine nomadische, einem ständigen aktiven Konstruktions- und Zerfallsprozeß unterworfene Metropolis vor:

30So könnte [?] man die Ausnutzung der klimatischen Verhältnisse ins Auge fassen, in denen sich schon zwei grosse Architekturzivilisationen entwickelt haben — in Kambodscha und im Südosten Mexikos —, um bewegliche Städte im Urwald zu bauen. In einer solchen Stadt könnten die neuen Viertel immer weiter in den nach Bedarf erschlossenen Westen gebaut werden, während man gleich grosse Gebiete im Osten der Verwilderung durch die überwuchernde tropische Pflanzenwelt preisgeben würde, die selbst die Zonen eines stufenweisen Übergangs von der modernen Stadt zur wilden Natur schaffen würde. Diese durch den Wald verfolgte Stadt würde ausser der unvergleichlichen sich hinter ihr bildenden Zone zum Umherschweifen und einer kühneren Verbindung mit der Natur als die der Versuche Frank Lloyd Wrights noch den Vorteil einer Inszenierung des Zeitvergehens in einem sozialen Raum anbieten, der sich ständig schöpferisch erneuern muss.39

31Während diese neo-Chtcheglovsche Vision kaum mehr als ein reizvolles, noch lange nachwirkendes Gedankenexperiment blieb,40 nahm der andere Vormarsch der SI in die Realisierungsmöglichkeit einer urbanistischen Konstruktion eine Form an, die man als spielerischen Megastrukturalismus bezeichnen könnte. Einer Richtung folgend, die erst einige Jahre später von dem niederländischen Architekten Nicholas Habraken ausformuliert wurde — den Reyner Banham als den »tolerantesten« Theoretiker des Megastrukturalismus bezeichnete41 —, faßte die SI die Version der Megastruktur ins Auge, die mit gewaltigen Trägerstrukturen den Menschen Rahmen zur Verfügung stellte, innerhalb derer sie ihre eigenen Umgebungen erschaffen konnten. Die neuen, in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren entwickelten Bautechnologien schienen den Konflikt zwischen Gestaltung und Spontaneität, zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Dauerhaften und dem Vergänglichen zu lösen und damit zum ersten Mal diese Kombination von Strukturation und Fluidität zu ermöglichen, die die modernen Labyrinthe einer Architektur des Umherschweifens hätte charakterisieren müssen. Begeistert zitiert Debord 1955 die Beschreibung eines neuen Gebäudes in New York, dessen modulare Bauweise — mit Hilfe beweglicher Wände usw. konnte ein Apartment dramatisch umgestaltet werden — die ersten Anzeichen einer Innenraum-»dérive« offenbarte. Vor dem Hintergrund [der Erwartung] solcher neuartiger Mega-Räume mit offenen Infra-Strukturen, die als bloße Bühnen für extensive, kreative nomadische Lebensformen dienten, kann man verstehen, warum, wie Debord es (nicht ohne eine gewisse Selbstironie) in einem rückblickenden Essay von 1974 formuliert, die Situationisten nicht nur bauen, sondern Städte bauen wollten:

32[Es ist bekannt, daß die Situationisten ursprünglich doch allerwenigstens Städte bauen wollten, eine der unbegrenzten Entfaltung neuer Leidenschaften angemessene Umgebung. Doch das war natürlich nicht einfach, und so sahen wir uns gezwungen, sehr viel mehr zu machen. Und während des ganzen Verlaufs der Ereignisse mußten verschiedene Teilprojekte aufgegeben werden, und reichlich viele unserer ausgezeichneten Kapazitäten kamen nicht zum Einsatz, was ja auch — in welch absoluterem und traurigerem Maße jedoch — für Hunderte von Millionen unserer Zeitgenossen gilt.]42

33Auch wenn Debord zufolge die Situationisten einfach keine Zeit hatten, zu bauen, weil sie ihre Energie der Änderung der Welt und nicht nur bloß der Änderung der Stadtlandschaft zu widmen hatten, so gab es doch zumindest einen frühen, wenn auch »offiziell« schnell aufgegebenen Versuch, die technischen, strukturellen und sozio-politischen Konturen einer künftigen situationistischen Stadtumgebung auszuarbeiten: das »New Babylon«-Projekt des niederländischen Architekten und Situationisten Constant Nieuwenhuys.43

34Als ersten Schritt auf dem Wege, an dessen Ende die Realisierung des Programms des unitären Urbanismus stehen sollte, gründeten Constant (als Künstlername verwendete er seinen Vornamen) und die niederländischen Architekten A. Alberts, Armando und Har Oudejans 1959 in Amsterdam das »Bureau d'Urbanisme Unitaire«. Bis es Ende 1960 vertrieben und das Büro von Attila Kotányi in Brüssel übernommen wurde, bemühte sich dieses Kollektiv darum, das Umherschweifen und die Psychogeographie, die Disziplinen der Lettristen, in ein Forschungsprogramm umzusetzen, dessen erklärtes Ziel es war, tatsächlich auch zu realisierten Bauten zu gelangen. Eine der ersten Aufgaben des Kollektivs war die Überprüfung und Neudefinition des Begriffs »Architekt«, der »[nicht mehr nur der Erbauer von Formen sein wird, sondern vielmehr der Erbauer vollständiger Stimmungen. [...] Alle Architektur wird somit an einer ausgedehnteren und allumfassenderen Aktivität teilhaben, und letzten Endes wird die Architektur wie die anderen zeitgenössischen Künste zugunsten dieser unitären Aktivität verschwinden.]«44 Was das konkret bedeuten könnte, wird aus den Zeichnungen und Modellen deutlich, in denen Constant, wie man vielleicht sagen darf, die Architektur eines situationistischen Urbanismus vor Augen führte. In einem programmatischen, illustrierten Aufsatz mit dem Titel »Eine andere Stadt für ein anderes Leben«45 stellt Constant sein Projekt für ein »Neues Babylon« in den Kontext einer Krise des urbanen Raums: in den großen Wohnungsbauprojekten sieht er »Friedhöfe aus Stahlbeton«, die Straßen sind zu Autobahnen ausgeartet, die Freizeit ist »durch den Touristenverkehr kommerzialisiert und entstellt«, soziale Beziehungen sind fast unmöglich geworden, und vor allem gibt es praktisch keine spielerische Aktivität mehr. Was Not tut, ist eine Architektur, die auf die neuen, durch die zunehmende Befreiung des Menschen von der Arbeit durch die moderne Technologie erreichten Lebensbedingungen reagiert: der neue Homo ludens wird nicht mehr an eine Arbeitsstätte angebunden sein, sondern frei umherschweifen und seine Umgebung in einem unablässig gelebten künstlerischen Spiel hervorbringen und umgestalten können.46 Um das »Bedürfnis nach Freizeit«, das sich als erhofftes Hauptmerkmal einer postindustriellen Kultur auch im Werk anderer zeitgenössischer Megastruktur-Architekten — von Yona Friedman bis zu den Archigram-Herausgebern — manifestiert, befriedigen zu können, bedarf es eines dementsprechend offenen, dynamischen und flexiblen Raums, einer Konstruktion, die der Richtung folgend einen Weg zum Nomadismus weist, die Constant bereits 1956 in seinem Modell für ein permanentes, jedoch ungemein veränderliches Zigeunerlager im italienischen Alba eingeschlagen hatte. Constant verwahrt sich gegen die grüne Stadt mit gewaltigen, durch Grünflächen voneinander getrennten Wolkenkratzern, die sozialen Begegnungen entgegenstehen, und beharrt statt dessen auf der äußersten Dichte, einer »bedeckten Stadt; [der] Entwurf von getrennten Straßen und Gebäuden ist vor einer kontinuierlichen, vom Boden losgelösten Raumkonstruktion gewichen, die sowohl Gruppen von Wohnungen als auch öffentliche Räume umfaßt (was Bestimmungsänderungen je nach den Bedürfnissen des Augenblicks erlaubt).«47

35Constants High-Tech-Megastruktur war als ein Netzwerk miteinander verbundener »Sektoren« konzipiert, das theoretisch die ganze Erdoberfläche bedecken konnte. Jeder einzelne dieser Sektoren, von denen einer, die »gelbe Zone«, im Juni 1960 in der vierten Ausgabe des SI-Journals vorgestellt wurde,48 stellt ein gigantisches Raumtragwerk dar, dessen diagonale und Zugelemente Banham zufolge den bahnbrechenden Konstruktionsinnovationen des vom französischen Ingenieur René Sarger erbauten französischen Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 verpflichtet sind.49 New Babylon, konzipiert als »eine kontinuierliche Tragpfeilerkonstruktion oder als ein ausgedehntes System verschiedenartiger Konstruktionen ..., in denen Wohnungs- und Vergnügungsräume usw. wie auch solche für Produktion und Distribution >aufgehängt< werden; der Boden bleibt frei für Verkehr und öffentliche Versammlungen«,50 sollte mit Hilfe neuester »extrem leichter und isolierender Baumaterialien« zu einer ausgedehnten Stadt aus mehreren Schichten werden, bei der »die Baufläche 100% und die freie Fläche 200% (Parterre und Terrassen) ausmachen — anstatt etwa 80% und 20% in den herkömmlichen Städten«. Die über Treppen und Fahrstühle erreichbaren Freiluftterrassen sollten die ganze Stadt überdecken und als »Sportanlagen und Landeplätze für Flugzeuge und Hubschrauber sowie Parkanlagen« verwendet werden. Die künstliche Steuerung der verschiedenen, in aneinandergrenzende und miteinander in Verbindung stehende Räume unterteilten Stockwerke würden »eine unbegrenzte Variation der Umgebungen« ermöglichen und damit, so Constant, das Umherschweifen fördern. Regelmäßig sollten »die Umgebungen mit Hilfe aller technischen Mittel durch Gruppen von schöpferischen Spezialisten — also Berufssituationisten — verändert« werden. Aller »Verkehr im funktionellen Sinne« sollte auf eine niedrigere oder höhere Ebene verbannt werden, um die »Straße« zugunsten einer großen Zahl verschiedenster durchgehbarer Räume zu eliminieren. Nach neofuturistischen Vorstellungen soll die Natur durch Technologie vervollkommnet und übertroffen werden:

36Wir wollen auf keinen Fall zur Natur zurückkehren und, wie ehedem die einsamen Aristokraten, in einem Park leben; wir denken bei solchen riesigen Konstruktionen an die Möglichkeit, die Natur zu bezwingen und das Klima, die Beleuchtung und die Geräusche in diesen verschiedenen Räumen unserem Willen zu unterstellen.51

37Die Verbannung des Funktionalen, die Variabilität des Raums für spielerische Aktionen aller Art, die Abhängigkeit von professionellen Bautechnikern für die Realisierung räumlicher Umgestaltungen — dies alles und vor allem das Ziel der Maximierung des Vergnügens, dem das New-Babylon-Projekt ganz ausdrücklich verpflichtet war, erinnert in hohem Maße an den »Fun Palace«, der 1964 von Cedric Price für Joan Littlewood ausgearbeitet wurde.52 Anders als die japanischen Metabolisten (die ihre Untereinheiten für die Dauer einer Generation konzipierten) hatten sowohl Price als auch Constant für die Mikrostrukturen innerhalb ihrer Mega-Trägerstrukturen eine radikale Vergänglichkeit ins Auge gefaßt (gedacht war an ein Zeitmaß von etwa einem Tag oder der Dauer eines Spiels), und in mancher Hinsicht war Price mit seinem »Fun Palace« noch radikaler als Constant; nicht nur die Wände, sondern auch die Dach- und Fußbodenelemente sollten voll beweglich sein, und die Lebensdauer der Tragkonstruktion war ausdrücklich auf maximal zehn Jahre begrenzt. Letzten Endes wurde der »Fun Palace« zwar nicht realisiert, doch bevor es — aus vergleichsweise banalen finanziellen Gründen — schließlich fallengelassen wurde, war die Entwicklung dieses visionären Projekts in allen Details bereits so weit fortgeschritten, daß in technischer Hinsicht einer Realisierung nichts mehr im Wege zu stehen schien. Damit scheint sich Constants Behauptung zu bestätigen, daß eine ähnliche situationistische Megastruktur nicht nur philosophisch dringlich, sondern auf einer gewissen Stufe auch tatsächlich machbar war:

38Da das Projekt, von dem wir hier einige Grundlinien dargestellt haben, leicht als phantastischer Traum abgetan werden könnte, betonen wir nachdrücklich, daß es vom technischen Standpunkt her durchführbar und vom menschlichen Standpunkt her wünschenswert ist; vom gesellschaftlichen Standpunkt wird es unumgänglich sein. Die weltweit herrschende und zunehmende Unzufriedenheit wird einen Punkt erreichen, an dem wir alle dazu gedrängt werden, die Projekte durchzuführen, zu denen wir die Mittel besitzen, und die zur Verwirklichung eines reicheren und erfüllteren Lebens beitragen können.53

39So theoretisch ansprechend dieses Projekt jedoch auch war, aufgrund seiner inneren Widersprüche scheint es von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen zu sein. Zunächst einmal war es in einer Größenordnung konzipiert, die, hätte es realisiert werden müssen, zwangsläufig technokratisch gewesen wäre, ein politisches Schicksal, das gegen Ende der sechziger Jahre bestätigt wurde, als die Megastruktur — fallengelassen von der Avantgarde, die sie kaum ein Jahrzehnt zuvor verfochten hatte — für das politische »Establishment« ein Mittel zur Gewinnmaximierung im Bereich der Stadtentwicklung wurde. Darüber hinaus beruhte allein schon der Gestus, das Bauen als ein Mittel zur Änderung der Welt darzustellen, auf der Prämisse einer Politik eines architektonischen/urbanistischen Determinismus — neuartige Räume führen allein schon zu neuen Formen des Begehrens, neuen Formen gesellschaftlicher Beziehungen usw. —, die die Materialität von Macht in der vorhandenen gebauten Welt zu ignorieren schien. Die Gesellschaft des Spektakels konnte nicht durch eine neue Gesellschaft abgelöst werden, so der militantere Flügel der SI, indem man einfach neue Megastruktur-Umgebungen hervorbrachte. Constant — der im Sommer 1960 aus der SI austrat, nachdem seine Mitarbeiter einige Monate zuvor ausgeschlossen worden waren — hatte nicht erkannt, daß der unitäre Urbanismus nicht — oder noch nicht — etwas war, was in materielle Formen übertragen werden konnte; einstweilen konnte er nichts weiter sein als ein Prolegomenon zu einer künftigen SI-Architektur in der Form eines schonungslos kritischen Projekts.54

40Zugunsten einer rigorosen Analyse und Kritik der realen Widersprüche des zeitgenössischen Urbanismus wandte sich die SI in den folgenden Jahren entschlossen von der Schimäre einer situationistischen Architektur ab. Man war noch nicht so weit, ans Bauen denken zu können; statt dessen ging es darum, die Funktion, die Struktur und die Auswirkungen der zeitgenössischen Stadtplanung und städtischen Räume als eine Vorbedingung für künftiges Bauen zu verstehen. Unter der Überschrift »Nichtsein des Urbanismus und Nichtsein des Spektakels« ist zu lesen:

41Der Urbanismus existiert nicht: Er ist nur eine »Ideologie« im Sinne von Marx. Die Architektur existiert wirklich, wie Coca-Cola: Sie ist ein in Ideologie gekleidetes, aber wirkliches Produkt, das auf falsche Weise ein verfälschtes Bedürfnis befriedigt. Der Urbanismus kann dagegen mit einer Reklameauslage für Coca-Cola verglichen werden: reine spektakuläre Ideologie.55

42Oder, wie Raoul Vaneigem es andernorts formuliert: »Wohnen ist das >Trink Coca-Cola!< des Urbanismus — die Notwendigkeit des Trinkens wird durch die, Coca-Cola zu trinken, ersetzt.«56 In der Analyse der Mikro- und Makropolitik der Gesellschaft des Spektakels, der die SI sich immer mehr zuwendet, wird die zentrale Rolle des Urbanismus in diesem herrschenden System enthüllt. Besonders deutlich manifestiert sich dies in den verschiedenen Wohnungsbaugroßprojekten, die auf den Seiten des SI-Journals abgebildet und erörtert werden:

43[In den neuen Städten konstruiert diese Gesellschaft das Terrain, das sie exakt repräsentiert, das die Bedingungen zusammenbringt, die ihrem richtigen Funktionieren am zuträglichsten sind und die gleichzeitig ihr Grundprinzip der Entfremdung und der Gewalt in den Raum, in die klare Sprache der Organisation des täglichen Lebens überträgt. Genau in diesem Raum werden sich deshalb die neuesten Aspekte ihrer Krise mit der größten Klarheit manifestieren.]57

44Die ideologische Funktion der in den frühen sechziger Jahren in Frankreich und insbesondere im Großraum Paris lancierten Suburbanisierungkampagnen wird durch die Analyse ähnlicher Projekte in anderen Ländern des westlichen Spätkapitalismus zutage gebracht. Für die SI ist der Urbanismus nur ein vernachlässigter Zweig der Kriminologie, und sie verweist auf Brasilia als ein perfektes Beispiel für die funktionelle Architektur als Materialisierung einer bürokratischen Weltanschauung.58 Was die Situationisten dem Urbanismus vorwerfen, ist sein, wie sie es nennen, »erpresserisches Geschwätz von der Nützlichkeit«: so wie das Fernsehen sich legitimiert, indem es auf das Informations- und Unterhaltungsbedürfnis pocht, so schließt der kapitalistische Urbanismus Kritik aus, indem er das Schutzbedürfnis im Munde führt. Sowohl die Information/Unterhaltung als auch die Wohneinrichtungen werden jedoch nicht für, sondern gegen die Menschen gemacht: »Die ganze Städteplanung ist nur ein Betätigungsfeld für die Werbung und Propaganda einer Gesellschaft, d. h. die Organisation der Teilnahme an einer Sache, an der man unmöglich teilnehmen kann.«59 Auch der Verkehr ist »die Organisation der Isolation aller und insofern das Hauptproblem der modernen Städte.« Die Mobilität des Privatautos absorbiert die Energien, die zuvor für Begegnungen zur Verfügung standen, »denn in Wirklichkeit wohnt man nicht in einem Stadtviertel, sondern in der Macht. Man wohnt in der Hierarchie.«60 Die kritische Arbeit der SI zu Fragen des Urbanismus ist somit ein integraler Bestandteil ihrer Analyse der Logik des Spektakels: »Das gesamte Spektakel hat das Ziel, die Bevölkerung zu integrieren. Es tritt sowohl als Gestaltung der Städte als auch als permanentes Informationsnetz in Erscheinung und bildet einen festen Rahmen für den Schutz der bestehenden Lebensbedingungen.«61

45In diesem Kontext wird der unitäre Urbanismus zu einer lebenden Kritik an der Manipulation der Städte und ihrer Bewohner, einer durch sämtliche Spannungen des täglichen Lebens genährte Kritik. »Lebende Kritik« bedeutet hier die Einrichtung von Stätten für ein experimentelles Leben; in Bereichen, die dafür angemessen ausgestattet sind, können die Menschen zusammenkommen, um ihr eigenes Leben zu strukturieren. Da der unitäre Urbanismus ohne eine revolutionäre Transformation des täglichen Lebens — erst dann werden alle eben diese Konditionierung annehmen, bereichern, vollenden — nicht realisiert werden kann, kann er in einer vorrevolutionären Umgebung nur dem Urbanismus sein Glücksversprechen vorhalten und dessen eingedenk sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Denunziationen — nicht Konstruktionen — der herrschenden Lebenskonditionierung koordinieren. Typisch für eine solche denunziatorische Polemik des unitären Urbanismus ist der nicht unterzeichnete Text »Geopolitik des Winterschlafs«, [der Schlaftherapie«,] der 1962 in der Zeitschrift der SI erschien.62 In dieser symptomatischen Analyse des »Systems des Jüngsten Gerichts« (Doomsday System) des Kalten Kriegs, worin der thermonukleare Konflikt als die Übertragung der Verweigerung der Geschichte in physikalisch-technische Begriffe beschrieben wird, wird die Entwicklung und Propagandierung der Atombunker im Jahre 1961 als ein entscheidender Wendepunkt identifiziert. Nach einem schnellen Überblick über die in verschiedenen europäischen Ländern getroffenen postnuklearen Vorkehrungen konzentriert sich der Artikel auf die USA, wo von einem ganzen Haufen neuer Unternehmen — so etwa die »Peace O'Mind Shelter Company« in Texas und die »Fox Hole Shelter Inc.« in Kalifornien — dem Verbraucher Überlebensausrüstungen angepriesen werden. Das Kernstück dieser postapokalyptischen Industrie ist natürlich der Atombunker, ein ökonomisches Geschenk des Himmels, das eine unterirdische Kopie der häuslichen Inneneinrichtung verlangt und damit den Einrichtungsmarkt effektiv verdoppelt. Als wirklicher »Schutz« ist er natürlich so gut wie nutzlos, doch die Schutzrhetorik ist, wie im Text dargelegt wird, nur ein Vorwand: »Die Gefügigkeit der Leute zu messen, sie zu verstärken und in eine der herrschenden Gesellschaft passende Richtung zu manipulieren — das ist der wirkliche Nutzen der Atombunker«63 Tatsächlich ist der Atombunker das dramatischste Beispiel dafür, »daß man die Menschen arbeiten lassen kann, um hochkünstliche Bedürfnisse zu befriedigen, die mit Sicherheit als >Bedürfnis weiter bestehen, ohne je Begierden gewesen zu sein<«. Es ist, als ob die Gesellschaft »mit brutaler Offenheit [proklamiert], wie leer und trostlos das Leben ist, das sie den Menschen auferlegt, so daß es allen als beste Lösung [erscheint], sich zu erhängen,« und es ihr doch gelänge, »ein gesundes und rentables Geschäft mit der Herstellung von genormten Stricken zu betreiben.« Einer der psychoanalytischen Topographie, die den potentiell enthüllenden Wert dem »unter der Oberfläche« des Bewußtseins Liegenden zuschreibt, merkwürdig analogen Nachtragslogik gemäß, enthüllen die unterirdischen Atombunker, was es mit den Massenwohnanlagen »darüber« auf sich hat:

46Den neuen, mit den Trabantensiedlungen entstehenden Wohnungsbau kann man von dem der Bunkerarchitektur nicht wirklich trennen. Er stellt nur ihre untere Stufe dar, obwohl beide eng verwandt sind und der Übergang von einem zum anderen lückenlos geplant ist; [...] Die KZ-ähnliche Organisation der Oberfläche ist der normale Zustand einer sich formierenden Gesellschaft, deren unterirdisches Resümee den pathologischen Exzeß darstellt. Durch diese Krankheit wird das Schema jener Gesundheit besser enthüllt.64

47Was die Atombunker wirklich schützen, so das Fazit der Polemik, ist die Macht der Haussmanns des 20. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht entsprechen sie einer Reihe von Städten, in denen die Isolation der »Untertanen« und die Verschanzung der Machthaber auf die Spitze getrieben ist. [!] [Aufgelistet werden die ...] Vaneigem führt die albanische »Militärzone« von Tirana an, »ein von der Stadt getrenntes und von der Armee verteidigtes Viertel, in dem die Wohnungen der albanischen Führer, das ZK-Gebäude sowie die Schulen und Krankenhäuser, Geschäfte und Vergnügungslokale für diese autarke Elite liegen«, die von den Franzosen »auf freiem Feld aus dem Boden gestampfte« Verwaltungsstadt »Rocher Noir«, deren Funktion genau der der »Militärzone« von Tirana entspricht, und natürlich Brasilia.

48Die Humanisierung der Trabantensiedlungen ist eine genauso lächerliche Mystifikation wie die Humanisierung des Atomkrieges — und zwar aus denselben Gründen. Die Bunker führen zwar nicht den Krieg, wohl aber die Kriegsdrohung auf ihr »menschliches Maß« zurück, also auf das, was den Menschen im modernen Kapitalismus definiert: auf seine Pflicht als Konsument.65

49Vaneigem bringt die Sache prägnant auf den Punkt: »Wenn die Nazis die zeitgenössischen Urbanisten gekannt hätten, so hätten sie die KZ's in Sozialbauwohnungen verwandelt. [...] Der Urbanismus ist die vollendetste konkrete Verwirklichung eines Alptraums.«66

50In seiner Konzentration auf Architektur und Stadtlandschaft als Stätten und materiellen Verkörperungen des politischen Kampfes war der Urbanismus der SI als eine Kritik des kapitalistischen Urbanismus von Anfang an auf eine Überwindung der Gesellschaft des Spektakels angelegt, die nach fester Überzeugung der Situationisten sowohl die Vorbedingung für die Architektur/den Urbanismus des Kapitalismus war als auch das bedingte, was mit Hilfe dieser hegemonischen Strukturen reproduziert wurde. Zwar konnten die konstruierte Situation und die Psychogeographie der »dérive« Einblicke in eine irgendwann einmal mögliche alternative urbanistische Ökonomie geben, doch letzten Endes konnte die gelebte Urbanismuskritik nur eine urbane Revolution sein, situationistisches »Bauen« somit buchstäblich nur eine dekonstruktive Architektur im Sinne einer demontage vorhandener Bauten/Strukturen. Und so überrascht es nicht, daß die beiden mit der Unterschrift »Kritik des Urbanismus« versehenen Abbildungen im SI-Journal einen während der Unruhen vom August 1965 in Watts in Los Angeles in Brand gesteckten Supermarkt und unter dem Titel »Detroit: Stadt im Belagerungszustand« einen den Raum des fünftägigen Aufstands von 1967 nachzeichnenden Stadtplan zeigen.67 Die Kritik des Urbanismus wird hier auch als eine Vorbereitung auf die urbanistische Rebellion — und als deren Realisierung — enthüllt; Psychogeographie als eine Erkundungsstrategie der Gegen-Hegemonie, eine kartographische Erfassung von Angriffspositionen und -möglichkeiten, die dem Brettspiel gleicht, das Debord als eine Übung in Strategie und Dialektik entwickelte.68 Und eine sorgfältige Untersuchung des in der psychogeographischen Studie des »Continent Contrescarpe« erkundeten Terrains enthüllt in der Tat, daß es sich bei diesem Gebiet weitgehend genau um das »besetzte Viertel« am linken Seineufer im Mai '68 handelt. In diesem Licht liest sich die folgende Passage aus der psychogeographischen Studie des »Kontinents« mit einem Male wie ein vorgreifender Leitfaden für die Errichtung von Barrikaden:

51[Die bloße Konstruktion von drei oder vier angemessenen architektonischen Komplexen an verschiedenen ausgewählten Stellen in Kombination mit der Absperrung zweier oder dreier Straßen durch andere Gebäude würde zweifellos genügen, dieses Viertel zu einem unwiderlegbaren Beispiel für einen neuen Urbanismus zu machen.]69

52Was war denn der Bau von Barrikaden und die Etablierung und Verteidigung einer freien Zone während der Aufstände vom Mai '68 — eine kollektive, spontane, spielerische »Zweckentfremdung« von Raum für zumindest einen Augenblick lang von der Ökonomie des Spektakels befreite Begierden —, wenn nicht das paradigmatische Beispiel für die »konstruierte Situation«, wie sie in der allerersten Ausgabe der Zeitschrift der SI definiert wurde: »Durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Spiels von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens«?70 Und könnte es als solches nicht ein Hinweis auf die Möglichkeit einer situationistischen Architektur im eigentlichen Sinne sein?

53Wie Debord in einem rückblickenden, 1974 veröffentlichten autohagiographischen Kommentar zu bestätigen scheint, hätte selbst die Aussicht auf die tatsächliche Errichtung situationistischer Städte nicht ausgereicht, um eine situationistische Architektur zu konstituieren:

54[Diejenigen, die vergebens darüber grübeln, welchen Lauf die Geschichte hätte nehmen können — »es wäre besser für die Menschheit gewesen, wenn es diese Leute nie gegeben hätte« — werden sich ein gutes Weilchen über das folgende amüsante Problem den Kopf zerbrechen: Hätte man die Situationisten um 1960 nicht mit Hilfe einiger klar konzipierter wiedergutmachender Reformen beschwichtigen können, will heißen, hätte man sie nicht zwei oder drei Städte errichten lassen sollen, statt sie an den Rand zu drängen und sie damit zu nötigen, die gefährlichste Subversion zu entfesseln, die die Welt je gesehen hat? Andere jedoch werden sicherlich erwidern, daß die Konsequenzen dieselben gewesen wären, und daß, hätte man den Situationisten ein wenig nachgegeben — die sich selbst damals damit nie zufriedengegeben hätten —, hätte man damit ihre Forderungen und ihre Ansprüche nur gesteigert und wäre nur noch schneller zum selben Ergebnis gekommen.]71

55Dies würde sicherlich das Layout der bedeutenden konzeptuellen Karte erklären, die unter einer Luftaufnahme von Paris in dem berühmten Traktat »[Neuer Kampfschauplatz in der Kultur]«72 von 1958 fast alle Schlüsselbegriffe der SI miteinander verbindet: die Psychogeographie, die Konstruktion von Situationen und die Zweckentfremdung vorgefertigter Elemente speisen hier alle den unitären Urbanismus, der allein die »situationistische Architektur« entstehen läßt, nach der gar nichts mehr kommt. Tatsächlich ist die situationistische Architektur mit anderen Worten synonym mit einer transformierten Welt, einer Kultur jenseits des Spektakels, die aus einem wahrhaft unitären Urbanismus erst hervorgehen und ihn zugleich — und damit auch eine situationistische Architektur — ermöglichen könnte. Wie aus der Unterschrift unter der schematischen Darstellung — »[die Auflösung überholter Ideen geht mit der Auflösung überholter Lebensbedingungen Hand in Hand]« — deutlich wird, setzt eine neue Welt die Demontage der alten voraus. Könnte das nicht der architektonische Subtext in den Bildern von Straßenschlachten und Barrikaden sein, die in den späteren Ausgaben des SI-Journals immer wieder auftauchen? Wie anders sollte man die allegorischste aller dieser Fotografien (»Das entpflasterte Paris«) deuten, die eine Straße in der französischen Hauptstadt zeigt, deren Pflastersteine fast alle herausgerissen sind, »zweckentfremdet«, um den berühmten »Strand« darunter offenzulegen, denn als Illustration einer situationistischen Widerstandsarchitektur?73 Und tatsächlich dient die konstruierte Situation der Barrikaden und der Straßenschlacht sogar als Basis für Constants Projekt: der sowjetische Film über die Pariser Kommune, der den Titel »Das neue Babylon« trägt — der Schlüssel-Intertext für Constants Paradies des unitären Urbanismus (und die Erklärung für den andernfalls verwirrend dystopischen Titel des Projekts) —, wurde 1929 zwischen den Barrikaden auf der Straße vor dem Kaufhaus »Novyi Vavilon« gedreht.74 Von einer Megastruktur-Utopie weit entfernt, ist die situationistische Architektur also nicht mehr und nicht weniger als eine Vision eines postrevolutionären Zustands, der aus einem kritischen, rebellischen Urbanismus hervorgehen sollte, dem die psychogeographische Erforschung der generalisierten Geopolitik des Winterschlafs zugrunde liegt. Wenn denn die Situationisten am Bauen interessiert waren — und sie waren es zweifellos —, so waren ihre Megastruktur-Visionen doch politische und gesellschaftliche Visionen, und nicht etwa Visionen einer konkreten Architektur.

 

Anmerkungen

* Diese »dérive« durch verschiedene, sich mit Fragen des Urbanismus befassende lettristische und situationistische Texte ist Bestandteil eines längeren »work in progress« über Guy Debord und die Situationistische Internationale. Als Vortrag wurde sie zuerst im November 1989 an der School of Architecture, Princeton University, präsentiert, und dann wieder 1995 an der Yale University School of Architecture und in der Abteilung für die Theorie und Geschichte der Architektur an der ETH Zürich. Danken möchte ich vor allem meinen mäeutischen Gastgebern an diesen Veranstaltungsorten, Mark Wigley, Eva Pelkonen und Kurt Forster, sowie Tom McDonough, der mich dazu angetrieben hat, erneut zu diesem Projekt zurückzukehren. Außerdem gilt mein Dank Tom Keenan, Laura Kurgan, Greil Marcus, Keith Sanborn und Georges Teyssot für ihre Ermutigungen und ihre großzügig gewährten vielfältigen und einsichtsvollen Vorschläge und Kommentare.

1 Während man sich in den siebziger und achtziger Jahren im Diskurs der zeitgenössischen Kunst und Urbanismustheorie im großen und ganzen nur sporadisch auf die SI berief, fand sie nach der ersten größeren ihrer Arbeit gewidmeten Ausstellung, die zuerst im Centre Pompidou in Paris und danach, 1989, in der ICA (»International Cartographic Association«) in London und in Boston gezeigt wurde, eine sehr viel größere Beachtung, die auch auf das zu diesem Anlaß von der ICA veröffentlichte Buch zurückzuführen ist: On the passage of a few people through a rather brief moment in time: The Situationist International 1957-1972, hg. von Elisabeth Sussman, Boston (MIT Press/ICA) 1989. Nach der Legitimierung, die dieser Katalog repräsentierte, wurde das Werk der SI in Darstellungen der Kunst und des Urbanismus der Nachkriegszeit in immer stärkerem Maße berücksichtigt. Beispielhaft dafür stehen die Ausstellung The Power of the City / The City of Power, die das New Yorker Whitney Museum of American Art 1992 in seiner damaligen Zweigstelle in Downtown-Manhattan zeigte und worin die SI überzeugend als Bezugsrahmen diente, oder, in jüngster Zeit, Thomas Crows The Rise of the Sixties: American and European Art in the Era of Dissent, New York (Abrams) 1996, S. 51ff. Urbanisten gehörten zu den ersten, die der SI kritische Beachtung schenkten — siehe zum Beispiel M. J. Thomas' 1975 erschienener Essay »Urban Situationism« in Planning Outlook 17, S. 27-39 —, und noch heute zählen ihre Auseinandersetzungen mit situationistischen Fragestellungen zu den bezwingendsten. Typisch in dieser Hinsicht ist das »Project Atol« in Ljubljana (Slowenien), ein Stadtkartographierungsprojekt, worin GPS-Empfänger (GPS = global positioning system) für die Echtzeit-Aufzeichnung psychogeographischer Streifzüge verwendet wurden; die daraus resultierenden psychogeographischen Daten wurden dann auf einen WWW-Site geladen und dort katalogisiert (http://lois.kudfp.si/atol/ucog/). Daß dieses Projekt ganz offensichtlich der SI verpflichtet ist, wird nicht zuletzt durch den Nachdruck (in englisch und slowenisch) von fünf situationistischen Texten zum Urbanismus in der zu diesem Projekt erschienenen Dokumentation bestätigt: Documents-Writings-Rules of Engagement, Ljubljana 1996. Aufmerksam gemacht wurde ich auf dieses Projekt von Laura Kurgan, einer in New York ansässigen Cyber-Architektin, die sich in ihren Arbeiten über die GPS-Kartographierung und deren digitaler Darstellung mit vielen von der SI aufgeworfenen Fragen auseinandersetzt; vgl. Laura Kurgan, »You are Here: Information Drift«, in: Assemblage 25 (1995), S. 15-43, und Laura Kurgan und Xavier Costa (Hgg.), You are Here: Architecture and Information Flows, Barcelona (Llibres de recerca) 1995.

2 Guy-Ernest Debord, »Rapport sur la construction des situations et sur les conditions de l'organisation et de l'action de la tendence situationniste internationale«; wie in einer Notiz auf der Umschlagrückseite des 20seitigen Pamphlets erklärt wurde, wurde dieser Bericht 1957 »den Mitgliedern der Lettristischen Internationale, der Internationalen Bewegung für ein Imaginistisches Bauhaus und dem Psychogeographischen Komitee London als interne Diskussionsgrundlage dieser Organisation und als Dokument für ihre Propaganda vorgelegt« und sollte »unter keinen Umständen zum Verkauf angeboten werden.« Vollständig als Faksimile nachgedruckt wurde er in der anläßlich der gleichnamigen Ausstellung veröffentlichten Broschüre Sur la passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps: à propos de l'Internationale Situationniste 1957-1972, Ein weiterer Nachdruck findet sich in der von Gerard Berreby herausgegebenen unentbehrlichen und umfassenden Primärmaterialsammlung Documents relatifs à la fondation de l'Internationale Situationniste 1948-1957, Paris (Editions Allia) 1985, S. 607-619; Zitat: S. 609. Eine deutsche Übersetzung findet sich unter dem Titel »Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz« in Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, aus dem Französischen von Pierre Gallissaires, Hanna Mittelstädt und Roberto Ohrt, Hamburg (Edition Nautilus) 1995, S. 28-44; Zitat: S. 28. Für diese Textsammlung, der die meisten der folgenden Zitate entnommen sind, wurden die zuvor ebenfalls in der Edition Nautilus in verschiedenen Publikationen erschienenen Übersetzungen neu bearbeitet. Die ursprünglich im Organ der Situationistischen Internationale erschienenen Texte, die nicht in diese Sammlung aufgenommen wurden, werden zitiert nach Situationistische Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I. in zwei Bdn., von Hanna Mittelstädt bearbeitete Übersetzung aus dem Französischen von Pierre Gallissaires, Hamburg 1976 (Bd. 1; S.I. Nr. 1-7) und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12). Zitate aus Texten, die nicht in deutscher Übersetzung vorliegen, wurden nach den französischen Quellen vom Verfasser übersetzt, der in einigen Fällen auch die zitierten Stellen aus den genannten deutschen Veröffentlichungen anhand der französischen Originaltexte revidiert hat.

3 Debord, »Rapport sur la construction des situations«, in: Berreby, Documents, S. 610; »Rapport über die Konstruktion von Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 29.

4 Ebd., S. 615; S. 37f.

5 Ebd., S. 613; S. 34.

6 [ungenannter Verfasser], »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 87.

7 Der SI zufolge wurde der Begriff »unitärer Urbanismus« 1953 »entdeckt« und Ende 1956 in einem unter dem Titel »Manifestate a favore dell'Urbanesimo Unitario« von italienischen Situationisten in Turin verteilten Flugblatt zum ersten Mal verwendet (nachgedruckt in Mirella Bandini, L'estetico il politico: Da Cobra all'Internazionale situazionista, 1948-1957, Rom [Officina Edizione] 1977, S. 275). Vgl. »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 11; »Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 87.

8 Debord, »Rapport sur la construction des situations«, in: Berreby, Documents, S. 616; »Rapport über die Konstruktion von Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 39.

9 »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 87.

10 Debord, »Rapport sur la construction des situations«, in: Berreby, Documents, S. 616; »Rapport über die Konstruktion von Situationen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 39.

11 Ebd., S. 616; S. 40.

12 Ebd.

13 Gilles Ivain, »Formulaire pour un urbanisme nouveau«, in: IS 1 (Juni 1958), S. 15-20; nachgedruckt in Internationale Situationniste 1958-69, Amsterdam (van Gennep) 1972/Paris (Editions Champ Libre) 1975, und in Berreby, Documents, S. 259-261. Deutsche Übersetzung unter dem Titel »Formular für einen neuen Urbanismus« in: Der Beginn einer Epoche, S. 52-56. Zusammen mit einer großen Vielfalt anderer SI-Texte — Primär- wie Sekundärliteratur und in französisch und in englischer Übersetzung — ist eine von Ken Knabb besorgte englische Übersetzung unter dem Titel »Formulary for a New Urbanism« auf einem interessanten Web site mit dem Namen »SI Archive« zu finden: http://www.nothingness.org/SI/.

14 Ivain, »Formulaire pour un urbanisme nouveau«, in: IS 1 (Juni 1958), S. 18-19; »Formular für einen neuen Urbanismus« in: Der Beginn einer Epoche, S. 55. Angesichts Ivains positiver Beschwörung der Kathedrale — für die militanteren Lettristen wie Debord ein rotes Tuch — überrascht es kaum, daß er — 1954 — wegen »[Mythomanie, interpretatorischem Delirium — Mangel an revolutionärem Bewußtsein]« zu den ersten gehörte, die aus der LI ausgeschlossen wurden. Diese erste von vielen Exkommunikationslisten wurde unter dem Titel »A la porte« in Potlatch 2 (29. Juni 1954) veröffentlicht, einer Wochenzeitschrift der LI, die mit einer Einführung von Debord als Potlatch 1954-1957 vollständig nachgedruckt wurde (Paris [Editions Gérard Lebovici] 1985); siehe auch Berreby, Documents, S. 164. In dem 1955 ohne Namensnennung veröffentlichten »[Projekt zu rationalen Verschönerungen für die Stadt Paris]« verlangt Debord die vollständige Zerstörung aller religiösen Bauwerke welcher Konfession auch immer, und Gil J. Wolman schlägt vor, sie als Kinderspielplätze zu verwenden, sobald sie von allen religiösen Spuren bereinigt sind. Jacques Fillon will sie dagegen durch eine Akzentuierung ihrer vorhandenen Atmosphäre in Spukhäuser verwandeln. Vgl. »Projets d'embellissements rationnels de la ville de Paris«, Potlatch 23 (13. Oktober 1955); Berreby, Documents, S. 227.

15 Guy-Ernest Debord, »Introduction à une critique de la géographie urbaine«, in: Les lèvres nues 6 (September 1955), S. ##-##; nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. ##-##; Zitat: S. 288; deutsche Übersetzung unter dem Titel »Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 17-20; Zitat: S. 17.

16 So definiert, läßt sich bereits hier ausmachen, daß das Umherschweifen auch zur Auskundschaftung einer Stadtlandschaft für strategische — sowohl utopische als auch militärische — Zwecke diente (Barrikaden, Verteidigungslinien, usw.).

17 Guy-Ernest Debord, »Théorie de la dérive«, in: Les lèvres nues 9 (November 1956), S. 6-10; Berreby, Documents, S. 312-316; Zitate: S. 312-313; deutsche Übersetzung unter dem Titel »Theorie des Umherschweifens«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 64-67; Zitate: S. 64. Dieser wichtige Text wurde nachgedruckt in IS 2 (Dezember 1958), S. 19-23, allerdings ohne die beiden »dérive«-Berichte, die in Les lèvres nues als Anhänge beigefügt waren. Unter dem Titel »Two Accounts of the Dérive« wurden sie von Thomas Y. Levin ins Englische übersetzt: Sussman, On the passage (siehe Anm. 1), S. 135-139.

18 In Debords Worten: »[...] der hauptsächlich städtische Charakter des Umherschweifens, das in Kontakt mit den durch die Industrie veränderten Großstädten als Zentren der Möglichkeiten und Bedeutungen steht, [entspräche] vielmehr dem Marxschen Satz: >Die Menschen können nichts um sich herum sehen, was nicht ihr Gesicht ist, alles spricht zu ihnen von ihnen selbst. Selbst ihre Landschaft ist beseelt.<« (Debord, »Théorie de la dérive«, in: Berreby, Documents, S. 313; »Theorie des Umherschweifens«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 65). Debord zufolge kann man zwar auch allein umherschweifen, doch »am fruchtbarsten« seien mehrere Kleingruppen »von je zwei bis drei gleichermaßen bewußten Personen« (höchstens jedoch vier bis fünf), »wobei der Vergleich der Eindrücke dieser verschiedenen Gruppen es ermöglichen sollte, objektive Schlüsse zu ziehen.« Die »durchschnittliche Dauer des Umherschweifens« wird grob als »der Tag als Zeitspanne zwischen zwei Schlafperioden« definiert. Mit Ausnahme »andauernden Regenwetters«, das »das Umherschweifen quasi absolut verhindert«, sind klimatische Bedingungen irrelevant. Ebenso vage ist der »Spielraum« des Umherschweifens definiert; er wird maximal nur durch die Grenzen der Stadt und ihrer Vororte bestimmt und hängt nicht zuletzt davon ab, ob das Umherschweifen »die Erforschung eines Geländes oder verwirrende emotionale Ergebnisse bezweckt«: Geht es vor allem um das »persönliche Gefühl des Sich-Fremd-Fühlens«, können Taxis strategisch, aber nicht-teleologisch genutzt werden (man fährt »zwanzig Minuten nach Westen«), geht es dagegen vorrangig um die »Erforschung eines psychogeographischen Urbanismus«, bewegt man sich ausschließlich zu Fuß fort (trotz dieses merkwürdigen Fußgänger-Essentialismus stand die SI im allgemeinen der Technologie nicht feindlich gegenüber). Die minimale räumliche Ausdehnung kann ein einzelnes Stadtviertel, eine Insel oder sogar ein einzige großes Gebäude umfassen. Als »äußerste Grenze« für das Minimum führt Debord das »statische Umherschweifen« auf der »Gare Lazare« an, wobei der Bahnhof einen ganzen Tag lang nicht verlassen werden darf (systematisch eliminierte die SI alle religiös besetzten Begriffe wie etwa »Saint«).

19 Guy-Ernest Debord, »Introduction à une critique de la géographie urbaine«, in: Les lèvres nues 6 (September 1955), S. 13; nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 290; »Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 18f.

20 »[Die nackte Stadt]« (1957), deren graphische Elemente den Rückumschlag von Sussmans On the passage schmücken (siehe Anm. 1), ist als Frontispiz zu einer Erörterung situationistischer Karten mit besonderer Berücksichtigung ihrer Dankesschuld an das Werk des Sozialgeographen Chombart de Lauwe reproduziert: Thomas F. McDonough, »Situationist Space«, in: October 67 (Winter 1994), S. 59-77. Debords großformatiger (60 x 74 cm) »Guide psychogéographique de Paris« (Kopenhagen [Permild & Rosengreen] 1957) ist stark verkleinert, aber in Farbe reproduziert in: Sites & Stations: Provisional Utopias / Lusitania #7, New York (Lusitania Press) 1996, S. 192. Rumneys zuerst in Ark #24 (1958), der Zeitschrift des Royal College of Art in London, veröffentlichte »Psychogeography of Venice« ist nachgedruckt in Iwona Blazwick, Hg., An endless adventure ... an endless passion ... an endless banquet: A Situationist Scrapbook, London (Verso/ICA) 1989, S. 45-49. Eine Tafel ist zu finden in Crow, The Rise of the Sixties (siehe Anm. 1), S. 54-55. Rumney, Gründer und einziges Mitglied der London Psychogeographic Society, wurde schon bald nach ihrer Gründung aus der SI ausgeschlossen.

21 Jacques Fillon, »Déscription raisonnée de Paris (Itinéraire pour une nouvelle agence de voyages)«, in: Les lèvres nues 7 (Dezember 1955), S. 39; nachgedruckt als Faksimile (Paris [Editions Plasma] 1978) und in: Berreby, Documents, S. 300. Das kurze »dérive«-Manifest, das Fillon zusammen mit Debord unter dem Titel »Résumé 1954« verfaßte (Potlatch 14 [November 1954]), ist nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 188. Unter dem Titel »Neue Spiele!« findet sich eine deutsche Übersetzung in Ulrich Conrads, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg & Sohn) 21981 S. 174. (Debord ist dort merkwürdigerweise als Koautor nicht genannt.)

22 »Position du Continent Contrescarpe (Monographie établie par le Groupe de Recherche psychogéographique de l'Internationale lettriste)« [»Position des Kontinents Contrescarpe (Eine von der psychogeographischen Forschungsgruppe der lettristischen Internationale verfaßte Monographie)«], in: Les lèvres nues 9 (November 1956), S. 38-40; nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 324-326; Zitat: S. 326.

23 »Projets d'embellissements rationnels« (siehe Anm. 14), in: Berreby, Documents, S. 227.

24 Abdelhafid Khatib, »Essai de description psychogéographique des Halles«, in: IS 2 (Dezember 1958), S. 13-17; Zitat: S. 17; »Versuch einer psychogeographischen Beschreibung der Pariser Hallen«, in: S.I., Bd. 1, S. 52-57; Zitat: S. 56f. Da Khatibs »Forschungsarbeit« sich »im wesentlichen mit der nächtlichen Hallenstimmung« beschäftigte und seit September 1958 eine Polizeivorschrift »den Nordafrikanern nach 21 1/2 Uhr die Straße [verbot]«, führten seine psychogeographischen Streifzüge wiederholt zu seiner Verhaftung, weshalb er das Projekt aufgeben mußte. In einer hier schon zitierten »Anmerkung der Redaktion« wurden diese Umstände detailliert geschildert und als weiterer Beleg für den im wesentlichen politischen Charakter der Psychogeographie angeführt. Die Leser wurden gebeten, bei der Fortsetzung des Projekts zu helfen, indem sie ihre Antworten auf die 16 Fragen eines Fragebogens über ihre Erfahrungen mit dem Hallenviertel — nichts anderes als ein Leitfaden für die Praxis der Psychogeographie — an Khatib ins SI-Büro schickten.

25 Ebd.; IS 2 (Dezember 1958), S. 17; S.I., Bd. 1, S. 57.

26 Detaillierte Informationen über das SI-Projekt und detaillierte Zeichnungen für das geplante Labyrinth sowie ein Bericht über die Verhandlungen mit dem Museum finden sich in »Die Welt als Labyrinth«, in: IS 4 (Juni 1960), S. 5-7; S.I., Bd. 1, S. ##-##.

27 Guy-Ernest Debord und Gil G. Wolman, »Mode d'emploi du détournement«, in: Les lèvres nues 8 (Mai 1956), S. ##-##; Zitat: S. 2; Berreby, Documents, S. ##-##; Zitat: S. 302; »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 20-26; Zitat: S. 21.

28 Ebd.; Berreby, Documents, S. 307; Der Beginn einer Epoche, S. 26.

29 [ungenannter Verfasser], »La frontière situationniste«, in: IS 5 (Dezember 1960), S. 9; »Die situationistische Grenze«, in: S.I., Bd. 1, S. 161[f]. Einen Eindruck von der Spezifität der situationistischen Architekturzweckentfremdung erhält man, wenn man sie mit der von wirtschaftlichen Interessen bestimmten Aneignung [!] dieser Strategie vergleicht, wie sie üppig dokumentiert ist in Sherban Cantacuzino, Re/Architecture: Old Buildings/New Uses, New York (Abbeville Press) 1989.

30 In Debords Mémoires (Kopenhagen [Permild & Rosengreen] 1959; Faksimile-Nachdruck mit einem kurzen Vorwort von Debord, Paris [Jean-Jacques Pauvert] 1993) sind Asger Jorn die »[tragenden Konstruktionen]« zugeschrieben, und in Asger Jorns Fin de Copenhague (Kopenhagen [Permild & Rosengreen] 1957; Faksimile-Nachdruck Paris (Editions Allia) 1985; auch in: Berreby, Documents, S. 553-592) wird Debord als »Berater für Zweckentfremdung« angeführt. Auf den wichtigen urbanistischen Subtext in diesen beiden Büchern kann hier nicht näher eingegangen werden, doch interessanterweise wird in einem nicht unterzeichneten, in The Architectural Review veröffentlichten Text Jorns Collage aus Action-painting und Zeitschriftenschrott als eine »urbanistische kalte Dusche« bezeichnet, die »das >gemütliche< Europa im allgemeinen, die Heimatstadt des Autors, Kopenhagen, im besonderen und im Vorübergehen Le Corbusier« verspottet. Die vielen verschiedenen Textelemente in dem Buch erinnern, so diese Rezension, »alle an die Propaganda für la Ville Radieuse, und Kopenhagen wird nicht nur als die Heimstätte alteingesessener Langeweile und in anderer landläufiger Hinsicht verhöhnt, sondern auch als eine >gut geplante Stadt<«. Wie Roberto Ohrt vermutet, dürfte diese — dem Faksimile-Nachdruck der Editions Allia beigefügte — Rezension tatsächlich aus Jorns eigener Feder stammen (siehe Ohrt, Phantom Avantgarde: Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg [Edition Nautilus] 1990, S. 129, Fußnote 35).

31 Ikonographisch angedeutet wird die Bedeutung, die der Urbanismus für Debords Kino hat — das psychogeographischste Medium überhaupt, denn was wäre das Kino und die Konstruktion kinematographischer Bedeutung anderes als eine Geographie der Psyche? —, bereits durch die Wahl eines Pariser U-Bahn-Plans für den Vorder- und Rückumschlag des Buches, das die Szenarios seiner ersten sechs Filme enthält (Guy Debord, Oeuvres Cinématographiques Complètes 1952-1978, Paris [Editions Champ Libre] 1978). Eine detailliertere Erörterung des kinematographischen Schaffens Debords findet sich in meiner Studie »Dismantling the Spectacle: The Cinema of Guy Debord«, in: Sussman, On the passage (siehe Anm. 1), S. 72-123, bes. 87-89.

32 Debord und Wolman, »Mode d'emploi du détournement«, in: Berreby, Documents, S. 307; »Gebrauchsanweisung für die Zweckentfremdung«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 25.

33 Aus den vielen Büchern über dieses bemerkenswerte Bauwerk seien hier nur zwei hervorgehoben: Jean-Pierre Jouve, Le palais ideal du facteur Cheval, Paris (Editions du Moniteur) 1981, und Claude Boncompain, Le facteur Cheval, piéton de Hauterives, Valence (Le Bouquin-Peuple libre) 1988. Bezeichnenderweise ließen sich sowohl Debord als auch André Breton vor diesem magischen Ort fotografieren: Das Bild von Breton findet sich in seinem Buch Les vases communicants (Paris [Gallimard] 1955), S. 163); das Foto von Debord vor dem Palais Idéal, das die Aufschrift »wo der Traum Wirklichkeit wird« trägt, befindet sich im Asger-Jorn-Archiv in Silkeborg, Dänemark.

34 Guy-Ernest Debord, »Exercice de la psychogéographie«, in: Potlatch 2 (29. Juni 1954); Berreby, Documents, S. 164. Der erste Name in der Liste ist Piranesi, [!] der als »psychogeographisch im Bereich der Treppen« bezeichnet wird. Wenige Nummern später wird der »unjustifizierbare Palais Idéal« erneut als »die erste Manifestation einer Architektur der Entfremdung/Verlagerung [dépaysement]« hervorgehoben; die für das Bauwerk kennzeichnende militante Anwendung des »détournement« diene keinem anderen Zweck, so heißt es, als dem, sich selbst zu verlieren, und die sonderbare Leidenschaft, die das bizarre Bauwerk motiviert habe, wird mit der verglichen, die Ludwig II. von Bayern zur Erbauung seines Wahnsinnsschlosses Neuschwanstein führte (vgl. [ungenannter Verfasser], »Prochaine planète«, in: Potlatch 4 [13. Juli 1954], nachgedruckt in: Berreby, Documents, S. 168).

35 Debord und Constant, »La déclaration d'Amsterdam«, in: IS 2 (Dezember 1958), S. 31-32; [Zitat: S. 32]; »Die Amsterdamer Erklärung«, in: S.I., Bd. 1, S. 71-72; Zitat: S. 72.

36 Ebd.; ich zitiere hier die modifizierte Fassung der letzten These, wie sie in »Corrections pour l'adoption des onze points d'Amsterdam« veröffentlicht wurde, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 27-28; »Korrekturen zur Billigung der 11 Amsterdamer Punkte«; in: S.I., Bd. 1, S. 103.

37 Dieses Projekt ist in einem illustrierten Begleittext mit dem Titel »Emplacement pour une maison à usage situationniste« zu dem Text »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50« beschrieben, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 13. [nicht in der deutschen Ausgabe; vgl Bd. 1, S. 91!]

38 Debord, »Théorie de la dérive«, in: Berreby, Documents, S. 316; Hervorhebung vom Verfasser. Interessanterweise wurde diese Passage aus dem letzten Absatz des zuerst 1956 in Les lèvres nues veröffentlichten Textes weggelassen, als der Aufsatz im Dezember 1958 in IS 2 nachgedruckt wurde, weshalb sie auch in der deutschen Übersetzung unter dem Titel »Theorie des Umherschweifens« in Der Beginn einer Epoche fehlt (vgl. dort, S. 67).

39 »L'urbanisme unitaire à la fin des années 50«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 12; »Der unitäre Urbanismus am Ende der fünfziger Jahre«, in: S.I., Bd. 1, S. 89.

40 Noch Jahre später stößt man auf Beschwörungen dieser Vision von der situationistischen Stadt, zum Beispiel in Uwe Lausens Vorhersage von 1963: »Eines Tages haben wir die passenden Begegnungen und wir finden Abenteuer in einer neuen, aus neuartigen Dschungeln, Steppen und Labyrinthen bestehenden Stadt.« (Uwe Lausen, »Repétition et nouveauté dans la situation construite«, in: IS 8 [Januar 1963], S. 58; »Wiederholung und Neuigkeit in der konstruierten Situation«, in: S.I., Bd. 2, S. 71.

41 Reyner Banham, Megastructure: Urban Futures of the Recent Past, London (Thames and Hudson) 1976, S. 9. Habrakens theoretische Position ist in seiner Studie De dragers en de mensen dargelegt, die unter dem Titel Supports: An Alternative to Mass Housing von B. Valkenburg ins Englische übersetzt wurde (New York [Praeger] 1972).

42 Guy-Ernest Debord, »De l'architecture sauvage« [1972]«, in: Le Jardin d'Albisola, Turin (Edizioni d'Arte Fratelli Pozzo) 1974; nachgedruckt in: Debord, Textes rares: 1957-1970, Paris (n.p.) 1981; S. 47-48; unter dem Titel »On Wild Architecture« von Thomas Y. Levin ins Englische übersetzt, in: Sussman, On the passage (siehe Anm. 1), S. 174-175.

43 Die Pläne und (aus Perspex und Metall gefertigten) Modelle für New Babylon wurden zuerst Anfang 1960 in der Galerie van de Loo in Essen präsentiert. Der Katalog zu dieser Ausstellung, Konstruktionen und Modelle, enthielt Essays von Constant und Debord. Darauf folgte 1963 ein Loseblattbuch mit 10 Lithographien von Constant und einem Text von Simon Vinkenoog mit dem Titel New-Babylon (Amsterdam [Galerie le Canard]). Die erste »vollständige« Ausstellung der »imaginären Stadtlandschaften« wurde Ende 1964 im Museum Haus Lange in Krefeld gezeigt und in einem Katalog mit dem Titel New Babylon: Imaginäre Stadtlandschaften umfassend dokumentiert. Zu Constant siehe H. van Haaren, Constant, ins [Englische] übersetzt von Max Schuchart, Amsterdam (J. M. Merlenhoff) 1966, und aus jüngerer Zeit Ed Ball, »Case Study: New Babylon«, in: Sites & Stations (siehe Anm. 20), S. 194-199.

44 Constant, »Rapport inaugural de la conférence de Munich«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 26-27. Siehe auch A. Alberts, Armando, Constant, Har Oudejans, »Première proclamation de la section Hollandaise de l'I.S.«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 29-30. [Beide Texte auch in der deutschen Ausgabe?]

45 Constant, »Une autre ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 37-40; »Eine andere Stadt für ein anderes Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 80-82.

46 So Constant in einem einflußreichen, [1960] in [vor] der ICA gehalten und später veröffentlichten Vortrag: Constant Nieuwenhuys, »New Babylon: An Urbanism of the Future«, Architectural Design 34:6 (Juni 1964), S. 304-305. Vgl. auch den Auszug unter dem Titel »Neu Babylon« in Conrads, Programme und Manifeste (siehe Anm. 21), S. 170f. Eloquent zum Ausdruck gebracht wird das idyllische Versprechen solcher utopischer Megastruktur-Visionen aus Norman O. Browns in der britischen »pro-situ«-Zeitschrift King Mob Echo #1 (London, 1. April 1968) veröffentlichtem »The Return of the Repressed« (»Die Rückkehr des Unterdrückten«):

Mein Utopia ist / eine so gut funktionierende Umgebung / daß wir darin frei herumtoben können / Anarchie in einer funktionierenden Umgebung / die Umgebung schafft und funktioniert, erledigt alles / eine vollautomatische Umgebung / alle Versorgungseinrichtungen

oder Kommunikationsnetze / (der technische Beitrag zur Vereinheitlichung; / Vereinheitlichung ist auch eine Frage der Technik) / War es nicht eine göttlich absurde Voraussicht, wenn Marx / oder Engels sagten, die von Menschen ausgeübte Herrschaft werde / durch die von Dingen ausgeübte Verwaltung ersetzt werden?

47 Constant, »Une autre ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 38; »Eine andere Stadt für ein anderes Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 81.

48 Constant, »Description de la zone jaune«, in: IS 4 (Juni 1960), S. 23-26; »Beschreibung der gelben Zone«, in: S.I., Bd. 1, S. 139-141.

49 Banham, Megastructure (siehe Anm. 41), S. 59.

50 Constant, »Une autre ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 39; »Eine andere Stadt für ein anderes Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 82.

51 Ebd., S. 38f.; S. 81. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die erste größere Ausstellung des Werks der Situationistischen Internationale 1989 im 1977 eröffneten Centre Pompidou von Richard Rogers und Renzo Piano veranstaltet wurde, einem im Schatten der zerstörten Hallen errichteten Bauwerk, das aufgrund der extremen Flexibilität seiner Räume gemeinhin als Verkörperung des metabolistischen Erbes betrachtet wird; siehe Sur la passage de quelques personnes (Anm. 2).

52 Banham, Megastructure (siehe Anm. 41), S. 83, 88.

53 Constant, »Une autre ville pour une autre vie«, in: IS 3 (Dezember 1959), S. 40; »Eine andere Stadt für ein anderes Leben«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 82.

54 Zwar arbeitete Constant noch bis 1972 an New Babylon, doch schon [Anfang] Mitte der sechziger Jahre wird in seinen veröffentlichten Schriften zu diesem Projekt dessen essentiell visionärer Status immer mehr betont. In seinem Vortrag von 1960 (siehe Anm. 46) [In einem Katalogbeitrag von 1967] hebt er zum Beispiel nachdrücklich hervor, daß New Babylon primär weder ein urbanistisches Projekt noch ein Kunstwerk im traditionellen Sinne oder ein architektonisches Strukturbeispiel ist. »Man kann New-Babylon in seiner augenblicklichen Gestalt als einen Vorschlag auffassen, als den Versuch die Theorie von einem unitären Urbanismus zu materialisieren, ein kreatives Spiel mit einer imaginären Umwelt zu erhalten, die an die Stelle der unzureichenden, unbefriedigenden Umwelt des heutigen Lebens gesetzt ist.« (Zitiert nach Conrads, Programme und Manifeste [siehe Anm. 46], S. 170.) [(Vgl. Constant, »Von Cobra bis New Babylon«, München [Galerie Heseler] 1967.)]

55 Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, »Programme élémentaire du bureau d'urbanisme unitaire«, in: IS 6 (August 1961), S. ##-##; Zitat: S. 16; »Elementarprogramm des Büros für einen unitären Urbanismus«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 95-98; Zitat: S. 95.

56 Raoul Vaneigem, »Commentaires contre l'urbanisme«, in: IS 6 (August 1961), S. 33-37; Zitat: S. 34; »Anmerkungen gegen den Urbanismus«, in: S.I., Bd. 1, S. 240-245; Zitat: S. 241.

57 [ungenannter Verfasser], »Critique de l'urbanisme«, in: IS 6 (August 1961), S. 8. [auch in der deutschen Ausgabe?]

58 Ebd., S. 9.

59 Kotányi und Vaneigem, »Programme élémentaire du bureau d'urbanisme unitaire«, in: IS 6 (August 1961), S. 16; »Elementarprogramm des Büros für einen unitären Urbanismus«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 96.

60 Ebd., S. 17; S. 96.

61 Ebd.

62 [ungenannter Verfasser], »Géopolitique de l'hibernation«, in: IS 7 (April 1962), S. 3-10; deutsche Übersetzung unter dem Titel »Geopolitik der Schlaftherapie«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 106-113. Aus unersichtlichen Gründen wurde auch in dieser überarbeiteten Übersetzung an »Schlaftherapie« — statt besser »Winterschlaf« oder auch »Überwinterung« — für »hibernation« festgehalten.

63 Ebd., S. 6; S. 108f.

64 Ebd., S. 6f.; S. 109.

65 Ebd., S. 8; S. 111.

66 Vaneigem, »Commentaires contre l'urbanisme«, in: IS 6 (August 1961), S. 33; »Anmerkungen gegen den Urbanismus«, in: S.I., Bd. 1, S. 240.

67 Das Watts-Foto ist in IS 10 (März 1966) auf S. 5 abgebildet ([S.I. Bd. 2, S. ##]; auch in Der Beginn einer Epoche, S. 175), das Foto aus Detroit in IS 11 (Oktober 1967), S. 59 ([S.I. Bd. 2, S. ##]).

68 Ein detaillierter Bericht über einen Verlauf von Debords Kriegspiel [sic], einem auf Clausewitz' Kriegstheorie beruhenden Spiel, ist als Le jeu de la guerre erhältlich (Paris [Editions Gérard Lebovici] 1987).

69 »Position du Continent Contrescarpe« (siehe Anm. 22), in: Berreby, Documents, S. 326.

70 [ungenannter Verfasser], »Définitions«, in: IS 1 (Juni 1958), S. 13; »Definitionen«, in: Der Beginn einer Epoche, S. 51.

71 Debord, »De l'architecture sauvage« (siehe Anm. 42); Textes rares, S. 48; Sussman, On the passage, S. 175.

72 »Nouveau théâtre d'opérations dans la culture« (SI-Flugblatt, 1958). Das Flugblatt ist in McDonough, »Situationist Space« (siehe Anm. 20), reproduziert, wo fälschlicherweise die erste Ausgabe des SI-Journals als Quelle angegeben ist. Die einzige Komponente dieses Flugblatts, auf dem die neue Zeitschrift angekündigt wurde, die dann in der ersten Ausgabe reproduziert wurde, war die Luftaufnahme von Paris; vgl. IS 1 (Juni 1958), S. 17, [S.I., Bd. 1, S. ##, und Der Beginn einer Epoche, S. 53.]

73 IS 7 (April 1962), S. 15, und IS 12 (September 1969), S. 9, 27, 34 & 42; [S.I., Bd. 1, S. ##, und S.I., Bd. 2, S. ##, ##, ## & ##; siehe auch Der Beginn einer Epoche, S. 291.]

74 Leonid Trauberg und Grigori Kosinzew, »Novyi Vavilon« (»Das neue Babylon«), UdSSR 1929.

 

Literatur

[Roberto Ohrt (Hg.)], Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg (Edition Nautilus) 1995.

Situationistische Internationale 1958-1969, Gesammelte Ausgaben des Organs der S.I. in zwei Bdn., Hamburg 1976 (Bd. 1; S.I. Nr. 1-7) und 1977 (Bd. 2; S.I. Nr. 8-12).

Reyner Banham, Megastructure: Urban Futures of the Recent Past, London (Thames and Hudson) 1976.

Gerard Berreby (Hg.), Documents relatifs à la fondation de l'Internationale Situationniste 1948-1957, Paris (Editions Allia) 1985.

Iwona Blazwick (Hg.), An endless adventure ... an endless passion ... an endless banquet: A Situationist Scrapbook, London (Verso/ICA) 1989.

Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden (Vieweg & Sohn) 21981.

Constant: 1945-1983, Bonn (Rheinisches Landesmuseum) und Köln (Rheinland-Verlag) 1986.

Thomas Crow, The Rise of the Sixties: American and European Art in the Era of Dissent, New York (Abrams) 1996.

Guy-Ernest Debord, Textes rares: 1957-1970, Paris (n.p.) 1981.

Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde: Eine Geschichte der Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg [Edition Nautilus] 1990.

Elisabeth Sussman (Hg.), On the passage of a few people through a rather brief moment in time: The Situationist International 1957-1972, Boston (MIT Press/ICA) 1989.

 

Positionen Positions positii