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Während
Eileen Gray (Abb. 1) infolge ihrer Avantgardisten-Rolle
in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts einen
bemerkenswerten Bekanntheitsgrad erreicht hatte, geriet
sie nach dem 2.Weltkrieg mehr und mehr in Vergessenheit.
Da ihr ein langes Leben beschieden war - sie starb 1976
im biblischen Alter von 98 Jahren - konnte sie noch
erleben, was einer Mehrzahl von Künstlern verwehrt
bleibt: den späten Ruhm. Denn zu Beginn der 70er Jahre fiel der Blick
der Öffentlichkeit erneut auf ihre Person. Dies geschah,
als bei der Versteigerung der gesamten
Wohnungseinrichtung des berühmten Modeschöpfers und
Mäzens der Avantgarde, Jacques Doucet, einige von Grays
frühen Möbelentwürfen zu horrenden Preisen den
Besitzer wechselten. Neben literarischen Wertschätzungen
setzte eine regelrechte Flut von Ausstellungen zur
Würdigung ihrer Leistungen ein. 1973 ernannte das Royal
Institute of the Architects of Ireland die Architektin
zum Ehrenmitglied. Das Antwortschreiben auf die exklusive
Auszeichnung ist geprägt von der ihr eigenen
Bescheidenheit und Ironie: "Ich fühle mich dieser
Ehre nicht würdig, und ich bin bewegt, dass mir am Ende
meines Lebens eine solche Auszeichnung zuteil wird. Aber
ich nehme sie mit Dankbarkeit an, als eine Huldigung des
irischen Volkes, und ich bin bemüht, mich dieser Ehrung
durch zukünftige Anstrengungen würdig zu zeigen."1 Sie
war zu diesem Zeitpunkt 95 Jahre alt.
Werdegang
Eileen Gray wurde am 9.
August 1878 in Irland geboren. Ihre Mutter stammte aus
einem vornehmen Adelsgeschlecht, der Vater, von
bürgerlicher Herkunft, war ein unbedeutender Maler, der
sich schon bald von seiner Familie trennte und vorwiegend
auf dem Kontinent aufhielt. Wie bei den meisten Töchtern
aus "gutem Hause" beschränkte sich auch bei
Eileen Gray die Ausbildung auf Privatlehrer und kurze
Aufenthalte an ausländischen Privatschulen. Einer
privilegierten Gesellschaftsschicht angehörend, begann
sie auf konventionellem Weg, die ihr zugestandenen
Spielräume auszuschöpfen.
Um die Jahrhundertwende
verliess sie ihr Elternhaus, um an der angesehenen
Slade-School of Fine Arts - einer 1871 als Teil der
Londoner Universität gegründeten Kunstakademie -
Zeichenunterricht zu nehmen. Den dort begonnenen
Zeichenunterricht setzte sie 1902 in Paris fort, das sie
zum ersten Mal in Begleitung ihrer Mutter zur
Weltausstellung 1900 kennengelernt hatte.
Das Paris jener Jahre war
ein Refugium und Schmelztiegel für Künstler: Oscar
Wilde, James Joyce, Gertrude Stein, Apollinaire, Amedeo
Modigliani, um nur einige zu nennen. Das Angebot an neuen
Kunstgalerien und Museen war einmalig. Ausserdem wurde
1901 die Société des Artistes Décorateurs gegründet,
zu deren Mitgliedern so angesehene Namen wie Hector
Guimard, Pierre Chareau und Francis Jourdain zählten.
Gegen Ende des Dezenniums trat auch Eileen Gray dieser
Vereinigung bei. Ziel der Société war, den dekorativen
Künstlern, bzw. dem Kunsthandwerk, ein eigenes Forum zu
schaffen und damit sein Ansehen im Vergleich zu den
bildenden Künsten und der Architektur zu fördern.
Die inspirierende Pariser
Szene musste Eileen Gray 1905 aus familiären Gründen
für kurze Zeit verlassen, um nach England
zurückzukehren. Ihr zweiter Londoner Aufenthalt wurde
für ihre zukünftige Entwicklung folgenreich. Bei einem
ihrer gerne unternommenen Stadtrundgänge, die sie auch
auf die ihrer sozialen Klasse nicht angemessenen
Quartiere ausdehnte, entdeckte sie eine
Reparaturwerkstatt für Lackmöbel. Der Inhaber
gestattete ihr, sich mit der Herstellung und Verarbeitung
dieses hochwertigen und komplizierten Materials, das
später ihren Namen als Designerin begründen wird,
vertraut zu machen.
"Als sie Ende 1906
nach Paris zurückkehrte, führte sie in ihrem Gepäck
eini-ge Materialproben mit und die Namensliste von
einigen Experten."2 Auf diese Weise lernte sie den
Japaner Sugawara kennen, der zu ihrem Mentor in Sachen
Lackarbeit wird und mit dem sie über viele Jahre hinweg
zusammenarbeitet. In einem kleinen Notizbuch notierte
sich Gray sorgfältig die verschiedenen Kunstgriffe und
Techniken zur Herstellung unterschiedlicher Farben und
Texturen in der Lackkunst. Mit kleinen
Gebrauchsgegenständen wie Schalen und Tellern beginnend,
erweiterte sie aufgrund ihrer erworbenen Fertigkeiten ihr
Repertoire auf Lackpaneele und Wandschirme.
Erste öffentliche
Auftritte
1913 forderte die
Société des Artistes Décorateurs Eileen Gray auf,
einige ihrer Arbeiten auszustellen. Es war das erste Mal,
dass ihre Entwürfe einem breiten Publikum vorgestellt
wurden. Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten. Zu
ihren - vorwiegend prominenten - Kunden zählte auch der
einflussreiche Modeschöpfer Jacques Doucet.
Jacques Doucet avancierte
- nachdem er auf einer spektakulären Auktion seine
komplette Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Möbeln
des 18. Jahrhunderts verkauft hatte - zu einem der
bekanntesten und angesehensten Sammler und zu einem
Experten zeitgenössischer Kunst. Um 1912 bezog er eine
neue Wohnung, deren Einrichtung von den modernsten und
exklusivsten Desigern zusammengestellt wurde. Auch Gray
gehörte zu dieser Equipe und entwarf drei Tische für
die neuen Räumlichkeiten (Abb. 2). Doucet verfügte
über zahlreiche Beziehungen und bewegte sich in den
gehobenen, mondänen Kreisen von Paris. Indirekt kam
durch ihn Grays erster grösserer Auftrag zustande.
Erste
Innenraum-Ausstattungen
Madame Mathieu-Lévy,
Inhaberin eines berühmten Modesalons, betraute Gray mit
der Neugestaltung ihrer Wohnung in der Rue de Lota in
Paris. Zum ersten Mal hatte die Designerin Gelegenheit,
ihr Können nicht nur anhand einzelner Möbelstücke zu
demonstrieren, sondern ein gesamtes Interieur zu
entwerfen, incl. Wandtäfelungen, Teppichen und Lampen.
Das Ergebnis demonstriert trotz der vorhandenen
Widersprüche - aus denen es aber auch seinen speziellen
Reiz und seine Spannung bezieht - eine harmonische
Einheit. Neben bizarren, luxuriösen und extravaganten
Möbelstücken (Abb. 3), die der Exzentrik der
Auftraggeberin entsprochen haben mögen, existieren
solche von extremer Klarheit und Nüchternheit, die ihre
kubistischen Einflüsse nicht verleugnen (Abb.4). Neben
rein dekorativen Eingriffen stehen solche
architektonischer Art wie z.B. die Gestaltung der
Eingangssituation (Abb.5). Die Wände des langen,
schmalen Korridors wurden mit Lackpaneelen verkleidet -
insgesamt 450 Stück -, die an einer Stelle wie ein
Paravent aufgefaltet wurden, somit den Raum gliederten
und seine tatsächlichen Dimensionen optisch
veränderten. Das Thema der durch Möbel veränderten
Raumsituationen wird Gray in ihren späteren Entwürfen
noch weiter ausbauen und verfeinern.
Während die umfangreichen
und aufwendigen Arbeiten für Madame Mathieu-Lévy noch
im Gange waren, stellte Gray 1923 wieder im Salon des
Artistes Décorateurs aus. Ihr Beitrag, das sogenannte Bedroom-Boudoir
Monte-Carlo (Abb. 6) - eine Kombination von Wohn- und
Schlafraum -, war eine konsequente Weiterentwicklung der
in der Rue de Lota ansatzweise vorhandenen
Gestaltungsprinzipien. Sämtliche Teile der Einrichtung
werden in die abstrakte Komposition aus Formen, Farben
und Texturen einbezogen. Die Reaktionen der Kritiker auf
diesen aussergewöhnlichen, mit keinem anderen Beitrag
vergleichbaren Vorschlag, waren sehr unterschiedlich.
Während die einen ihren Entwurf als "völlig
übergeschnappt" und die Künstlerin selbst als
"die Tochter von Caligari"3
bezeichneten, nannte
man sie andererseits in einem Atemzug mit den führenden
Designern jener Zeit.
Der Architekt Robert
Mallet-Stevens - ebenfalls in der Ausstellung vertreten -
war von der Modernität ihres Beitrages so begeistert,
dass er Gray direkt eine Zusammenarbeit anbot. Auch
Pierre Chareau zollte ihr Anerkennung. Der Kunstkritiker
Christian Zervos rückte die Designerin aufgrund der
ihren Arbeiten eigenen Feinheit, Strenge und
Sensibilität in Chareaus Nähe, allerdings mit
Einschränkungen. Was Zervos trotz seines eindeutigen
Lobes vor allem missfiel, war der suggestive Charakter
von Grays Inneneinrichtung - "Ses intérieurs
veulent être suggestifs."4 -, das von ihnen ausströmende
Atmosphärische, das bestimmte Gefühle und Handlungen
Hervorrufende. Er kritisierte damit genau jene
Eigenschaften, die wir heute als eine Stärke
qualifizieren würden und die Grays Inneneinrichtungen
von denjenigen ihrer avantgardistischen Kollegen
unterscheiden und auszeichnen.
Das Bedroom-Boudoir
Monte-Carlo stellte einen Höhe- aber auch Wendepunkt
in Grays Schaffen dar. Dieser Entwurf ist in seiner
Einfachheit, Strenge und seiner tektonischen
Möbelgestaltung richtungsweisend für ihre weitere
Entwicklung. Zukünftig wird sich ihr Interesse auf den
Bereich der Architektur ausweiten, was nicht ohne Folgen
für die Gestaltung der Möbel und ihre Beziehung zum
Raum sein wird. Nicht mehr auf das exklusive Einzelstück
richtet sich vorrangig ihre Aufmerksamkeit, sondern auf
die Entwicklung von Prototypen, die das Ergebnis aus
funktionaler Analyse und ästhetischer Vorstellung sind,
oftmals mit einem Schuss Grayscher Ironie gewürzt.
Daneben entwirft sie Möbel, die zu raumdefinierenden
Elementen und schliesslich zu einem Teil der Architektur
werden.
Diese Entwurfstendenzen
sollen anhand von drei Projekten demonstriert werden, die
Eileen Gray im Hinblick auf einen männlichen Benutzer
entworfen hat:
- petite maison pour un
ingénieur, 1926
- maison en bord de mer -
E 1027 in Roquebrune, 1926-29
- appartement rue de
Chateaubriand, 1929-31.
Auf dem Weg zur
Architektur
Auf Eileen Grays Weg von
der Innenraumgestaltung zur Architektur war eine Person
von besonderer Bedeutung: Jean Badovici. Als sie den 15
Jahre jüngeren Rumänen kennenlernte, stand dieser
gerade vor seinem Abschlussexamen an der Ecole
Supérieure d'Architecture. Er war jung, mittellos und -
wie man heute sagen würde - ein Architekturfreak.
Nachdem sich Badovici zunächst mit Gelegenheitsarbeiten
durchgeschlagen hatte, gelang es ihm zusammen mit seinem
Freund Christian Zervos einen Verleger zu finden und 1923
die Zeitschrift L'Architecture Vivante herauszugeben,
die sich in kürzester Zeit zu einer der führenden
Fachzeitschriften entwickelte.
Badovicis theoretische
Kenntnisse und seine engen Kontakte zu den
avant-gardistischen Architekten waren für Gray, genauso
wie die mit ihm unternommenen Reisen zu den Brennpunkten
der modernen Bewegung, wichtige Informationsquellen. So
machte sie z.B. durch Badovici die Bekanntschaft mit Le
Corbusier und kam durch seine Arbeit für die
holländische Fachzeitschrift Wendingen mit der
De-Stijl-Bewegung in Berührung. Durch die Lektüre von L'Esprit
Nouveau - eine von Le Corbusier und dem Maler
Amédée Ozenfant seit 1920 herausgegebene Zeitschrift -
und der schon erwähnten L'Architecture Vivante,
"die das gesamte Spektrum der modernen Architektur
und des Designs vermittelte, war Eileen über alle neuen
Trends der Architektur (...) aufs beste informiert."5
Ergänzt wurden diese auf
einer eher intellektuellen, theoretischen Ebene erzielten
Kenntnisse, die Gray als eine Meisterin der Kompilation
geschickt in ihre eigenen Entwürfe einfliessen liess,
durch praktische Studien (Abb. 7). So studierte sie zum
Beispiel auf Reisen die Massverhältnisse ihres
Hotelzimmers oder ihrer Schiffskabine und hielt diese in
Form kleiner Skizzen fest. Auf diese Weise sammelte sie
eine Menge Erfahrungen im Hinblick auf die konzentrierte
Ausnutzung einer beschränkten Wohnfläche, die sie dann
in ihren architektonischen Entwürfen einsetzte.
1925 vertraute Badovici
Eileen Gray den Bau eines für ihn konzipierten kleinen
Refugiums in Südfrankreich an. Sie wählte in der Nähe
von Saint-Tropez, das damals gerade begann populär zu
werden, ein in Roquebrune gelegenes Grundstück und
begann mit einer Arbeit, die sie bis 1929 in Anspruch
nahm.
Zeitgleich mit dem Beginn
der Arbeiten an dem Haus in Roquebrune entsteht der
Entwurf für ein petite maison pour un ingénieur
(1926), das früheste umfassend dokumentierte
architektonische Projekt von Gray (Abb. 8, 9).
Tendenziell zeigt es schon alle Charakteristika ihrer
Architektursprache: Trennung von tragenden und
begrenzenden Teilen, Durchdringung von innen und aussen,
Raumkontinuum, Möbel als raumdefinierende Elemente. Die
Nichtübereinstimmung zwischen Grundriss und Aufriss
verweist auf das Projektstadium des Entwurfes. Gewisse
Ähnlichkeiten mit Badovicis Haus - so lässt sich
feststellen - sind offensichtlich.
Das maison en bord de
mer E-1027 (Abb. 10, 11, 12) wird von Eileen Gray und
Badovici, dessen entwerferischer Anteil sich im
nachhinein nur schwer feststellen lässt, aufgrund seiner
sonstigen Tätigkeiten aber eher gering einzuschätzen
ist, in einer 1929 erschienenen Sondernummer von L'Architecture
Vivante folgendermassen beurteilt: "La maison
que nous allons décrire ne doit pas être considérée
comme une maison parfaite, où tous les problêmes
seraient résolus. Ce ne qu'une tentative, un moment dans
une recherche plus générale."6 Gray und Badovici wählten für
ihre Präsentation die Form des Dialogs - also den Weg
des Austauschs, der Zusammenarbeit - und nicht diejenige
des Manifestes, welche die Heroen der Architektur
weitgehend bevorzugten.
Das Terrain war eine
Herausforderung - nicht nur für eine Anfängerin, die
Gray im Alter von 48 Jahren immerhin war. Steil und
felsig mit direktem Blick auf das Mittelmeer, wurde es
zum Teil von Geländeterrassen durchzogen, die mittels
Bruchsteinmauern abgefangen wurden. Gray benutzt in ihrem
Verhalten zur Topographie unterschiedliche Strategien
(Abb. 13). Indem sie das Haus aus der durch die
Geländeterrassen vorgegebenen Struktur herausdreht setzt
sie es bewusst von seiner Umgebung ab, ein Eindruck, der
durch die zum Teil verwendeten Pilotis noch unterstützt
wird. Andererseits nutzt die zweigeschossige Organisation
des Hauses die vorhandenen Niveauunterschiede. Die neu
angelegten Aussenbereiche greifen das schon existierende
terrassenförmige Prinzip auf und setzen es
architektonisch in Form eines Sockels oder Plateaus um.
Auf formal-ästhetischer Ebene liegt die Betonung auf dem
Gegensatz von Artefakt und landschaftlicher Umgebung. Der
Bezug zur Topographie hingegen zeigt ein von Kontrast bis
Vermittlung reichendes Verhalten. Die Drehung des Hauses
aus der Geometrie der Geländeterrassen und die damit
verbundene Ausrichtung, sowie die funktionale Anordnung
der Räume, sind auf das Studium von Sonnenverlauf und
Blickrichtungen zurückzuführen(Abb. 14).
Da Gray ihre Kenntnisse
auf autodidaktischem Weg erwerben musste, ist es nicht
verwunderlich, dass sich in ihren Entwürfen Affinitäten
zu anderen Projekten nachweisen lassen. Erstaunlich
dagegen ist, dass das Resultat nicht als eine Collage aus
mehr oder weniger bewusst verwendeten Vorbildern und
Fragmenten erscheint, sondern eine eigenständige,
neuartige Qualität besitzt. Auf zwei architektonische
Einflüsse, die das maison en bord de mer mitbestimmt
haben könnten, möchte ich näher eingehen, und zwar auf
die petite maison von Le Corbusier und die maison
particulière von Cornelis van Eesteren und Theo van
Doesburg.
1923 hatte Le Corbusier am
Genfer See in der Nähe von Vevey für seine Eltern ein
kleines Haus gebaut. Ebenfalls für spezielle Benutzer
geplant, ent-warf er einen grossen Raum, der mittels
leichter Trennwände gegliedert wird und das neuartige
Konzept des fliessenden Raumes umsetzte (Abb. 15). Die
verschiedenen funktionalen Bereiche werden durch eine
ringförmige Bewegungsführung erschlossen. Zur
eindrücklichen Landschaft öffnet sich ein elf Meter
messendes Langfenster. Während das traditionelle
Lochfenster die Aussenwelt jeweils nur ausschnitthaft,
fragmentarisch wiedergab, stellte das fenêtre en
longueur das gesamte Panorama zur Verfügung. Diese
Entwurfsprinzipien lassen sich auch im maison en bord
de mer nachweisen, jedoch nicht tel quel.
Der Bezug zur Landschaft
zum Beispiel bleibt bei Grays Projekt nicht auf das
Visuelle beschränkt, sondern wird durch vorgelagerte
Balkone, überdeckte Bereiche und Terrassen ergänzt, die
den Innenraum erweitern und eine mehr oder weniger starke
Verknüpfung mit dem Aussenraum zur Folge haben. Während
Le Corbusiers petite maison als klarer,
prismatischer Körper in Erscheinung tritt, und innerhalb
der von ihm später aufgestellten vier
Kompositionsmöglichkeiten der "composition cubique
très difficile" zuzurechnen ist, handelt es sich
bei Grays Entwurf um einen gegliederten Baukörper, der
auf weitere Einflüsse schliessen lässt.
Ebenfalls 1923, dem
Erbauungsjahr der petite maison, fand in der
Galerie von Léonce Rosenberg die Pariser
De-Stijl-Ausstellung statt. Cornelis van Eesteren und
Theo van Doesburg stellten unter anderem zwei Entwürfe
einer maison partuculière vor. Die Grundrisse
zeigen von Mauerscheiben definierte Räume, ihre
Schichtung und Kontinuität (Abb. 16). Diese im Grundriss
durch Flächen gebildete Komposition tritt - in die
Dreidimensionalität eines Modells übertragen -
allerdings als die Addition von rechtwinkligen,
nebeneinandergesetzten und verschobenen Volumen auf
(Abb.17). Zwischen Grundriss und Modell besteht eine
Diskrepanz, die erst in den ideellen, abstrakten
Kontra-Konstruktionen (Abb. 18) überwunden wird, bei
denen die Elemente, aus denen nach Auffassung der
De-Stijl-Anhänger die Architektur besteht - nämlich
Fläche, Linie und Volumen - frei in einem
dreidimensionalen Verhältnis angeordnet sind.
Handelt es sich bei diesen
Beispielen um eine Addition von Raumvolumen, geht es bei
Grays Entwurf eher um die Zerlegung eines Volumens und
die Verschiebung der daraus entstehenden Raumteile. Durch
diese Verschiebungen ergeben sich zum einen Nahtstellen,
die für Tür- und Fensteröffnungen genutzt werden, zum
anderen entstehen Zirkulationszonen und Terrassen7
Verlagern wir nun die
Betrachtung der Entwurfstechnik vom Volumen, von den
Raumkonzepten und Bewegungsführungen auf die
Einrichtung. Welche Konsequenzen hatte Grays
Interessenverlagerung hin zur Architektur auf ihre
Innenraumgestaltung? Integrierte sie ihre Erfahrungen als
Designerin, und inwieweit flossen neue Tendenzen in ihre
Arbeit ein?
1925 fand in Paris die l'Exposition
Internationale des Arts Décoratifs statt, zu der man
Eileen Gray für uns heute unverständlicherweise nicht
eingeladen hatte. Le Corbusier stellte, sozusagen als
enfant terrible, seinen Pavillon de l'Esprit Nouveau
aus, dessen Programm es war, wie er selbst es
formulierte, das Kunstgewerbe zu verleugnen.8
Dieser Affront führte dazu, dass die Ausstellungsleitung
einen 6 Meter hohen Palissadenzaun um den Pavillon
errichten liess, der nur bei der Eröffnung durch den
Minister der Schönen Künste kurzfristig entfernt wurde.
Die Einrichtung des
grossen Raumes im Erdgeschoss (Abb. 19) bestand im
wesentlichen aus zwei Arten von Möbeln: den casiers
standard und den objets types. Während
erstere von Le Corbusier entworfen wurden, handelte es
sich bei den objets types um anonyme
Serienprodukte, "die ihre formale Perfektion durch
vielfache Neuschöpfung und ihre Legitimation durch den
Gebrauch über lange Zeit erworben hatten."9
Die casiers standard waren frei kombinierbare
Anbaumöbel, die die Vielzahl der traditionellen
Schrankmöbel wie Truhen, Anrichten, Vitrinen etc.
ablösen sollten. Sie zeichneten sich durch ein
homogenes, einfaches, prismatisches Erscheinungsbild aus
und wurden nur durch ihren inneren Ausbau der speziellen
Funktion angepasst. "Das Zusammenwirken der
verschiedenen Teile" - also der casiers standard
und der objets types - "war (...) etwas ganz
anderes als das, was die offizielle Kunst des Ensemble
damals beinhaltete: die Verschmelzung von Raum, Möbel
und Kunstwerk zu einem unauflösbaren, einheitlichen
Ganzen."10 Die aus der Verknüpfung von
anonymen Serienprodukten und neu entworfenen,
standardisierten Möbeln resultierende Heterogenität
entsprach - genausowenig wie die demonstrierte Kargheit -
dem gewohnten Bild eines Interieurs. Möbel und Raum
stellen zwei voneinander unabhängige Elemente dar.
Die modernen ensembliers,
angeführt von Pierre Chareau - in gewisser Hinsicht ihr
Protagonist - zeigten zwar eine Tendenz zu
stereometrischen, kubischen Formen mit glatten
Oberflächen und scharfen Ecken. Ihr Bezug zur Maschine
blieb aber auf einer metaphorischen Ebene und ihre
Entwürfe stellten individuelle, personifizierbare
Lösungen dar.
Die von Le Corbusier
gestalteten Räume wirkten hingegen "in der Tat eher
wie das Privatmuseum eines urbanen Sonderlings als wie
der Prototyp einer familienfreundlichen Wohnung für die
breite Masse der Bevölkerung."11
Auf den ersten Blick
scheint Eileen Grays Einrichtung der maison en bord de
mer (Abb. 20) den Prinzipien zu folgen, die Le
Corbusier beim Pavillon de l'Esprit Nouveau
anwendete. Auch sie benutzte statt des Ensemble das
Additionsprinzip von Möbeln, die unterschiedlichen
Kategorien angehören. Aber ihre objets types
waren im Gegensatz zu den anonymen Serienprodukten Le
Corbusiers selbstentworfene Prototypen, die in
Serienproduktion herstellbar sein sollten. Grays
Schränke, Raumteiler und Einbaumöbel waren, auch wenn
sie der Sprache der Moderne verpflichtet sind, keineswegs
neutral, sondern Lösungen für bestimmte Nutzungen und
räumliche Situationen, was durch Form und
Materialisierung zum Ausdruck gebracht wurde. Mit diesen
Elementen schaffte sie subtile Übergänge von der
Architektur zur Innenraumgestaltung (Abb. 21).
Den avantgardistischen
Manifesten folgte sie nicht bedingungslos. Sie hatte ihre
Zweifel an einer Wohnform, die sie ironisch mit
"style camping" um-schrieb, und die ihrer
Meinung nach durch die fehlende Intimität eine Verarmung
des häuslichen Lebens zur Folge hatte. Für Gray war
"la formule camping" nur im Zusammenhang mit
"la formule normale" denkbar, die dem
Individuum sein Recht auf Unabhängigkeit und
Zurückgezogenheit garantierte.
Sie hatte die Lehren aus
ihren früheren Einrichtungsentwürfen nicht vergessen.
Vielleicht könnte man die These wagen, dass Eileen Grays
Innenraumgestaltungen für die Avantgarde der 20er Jahre
das hätten sein können - realiter waren sie es nicht,
denn sie war kein Trendsetter und bewegte sich ausserhalb
des heroischen männlichen Zirkels - was Pierre Chareaus
Entwürfe für die historistischen Interieurs des 19.
Jahrhunderts waren, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Er
reinigte und sie bereicherte.
Der zusammen mit Badovici
verfasste Artikel "De l'Eclectisme au doute" in
L'Architecture Vivante erscheint als eine Art
Glaubensbekenntnis dieser aussergewöhnlichen
Architektin, Designerin und Künstlerin wenn man liest:
"Plus d'intimité, plus d'atmosphère! On
simplifiait jusqu'à la mort. (...) Les formules ne sont
rien: la vie est tout. Et la vie est esprit et coeur tout
à la fois."12
Schon bald nach
Fertigstellung seines Hauses in Roquebrune wurde Badovici
noch einmal zu Grays Auftraggeber. 1929 hatte er in Paris
in der Rue Chateaubriand ein Appartement erworben, das
die Architektin nun umbauen sollte. Gray teilte die
unregelmässige, ca. 40 qm grosse Fläche zunächst ganz
pragmatisch in dienende und bediente Raumbereiche ein
(Abb. 22).
Die Servicezone, bestehend
aus Entrée, Küche und Bad/WC, wurde in ihren
Dimensionen minimalisiert. Eine begehbare, abgehängte
Decke stellte trickreich den notwendigen Stauraum bereit,
ohne dass wertvolle Wohnfläche hätte geopfert werden
müssen (Abb. 23). Mittels verschiebbarer Metallvorhänge
konnte dieser Bereich verwandelt und seine
Raumverhältnisse verändert werden.
Die Spiegelwand im Wohn-
und Arbeitsbereich zielte einerseits auf eine optische
Vergrösserung der realen Raumdimensionen und regulierte
andererseits die vorhandenen räumlichen
Unregelmässigkeiten. Die diagonale Stellung des zentral
positionierten Bett-Sofas definierte funktional
unterschiedliche Raumsegmente. Eine Vielzahl der schon im
maison en bord de mer verwendeten Möbel kamen
erneut zum Einsatz, andere wurden den veränderten
Ansprüchen entsprechend neu entwickelt. Eileen Gray
schrieb in ihr Notizbuch: "Es ist wichtig, in
kleinen Zimmern den zur Verfügung stehenden Raum nicht
zuzustellen. Das kann man manchmal durch technische
Kunstgriffe erreichen; einige Gegenstände erlauben
verschiedene Anwendungsmöglichkeiten."13
Obwohl sie das kleine Appartement laut ihren Aussagen
"bis auf das letzte Zahnglas"14eingerichtet
hatte, entbehren die Räume jener sterilen Perfektion wie
sie für die im Zeichen des Gesamtkunstwerks gestalteten
Interieurs oftmals charakteristisch ist. Der Benutzer
besitzt noch das Recht auf die Freiheit des Wohnens.
Anmerkungen
1 Adam, Peter. Eileen Gray: Architektin /
Designerin. (Originalausg.: New York, Harry N. Abrams,
1987). Schaffhausen: Stemmle, 1989, S.370
2 ebd. S.49
3 ebd. S.135
4Vellay, Marc. Pierre Chareau: Architecte -
meublier 1883-1950. Paris: Edition du Regard, 1984, S.48
5 s. Anm.1, Peter Adam, S.149
6Gray, Eillen und Jean Badovici. De
l'Eclectisme au Doute. In: L'Architecture Vivante,
Automne-Hiver 1929, S.16
7 zu Grays Entwurfsmethode und ihre
Beeinflussung durch die De-Stijl-Bewegung vgl. Bruno
Reichlin. Das Fass des Diogenes wird wohnlich. In:
archithese, 21. Jg. 1991, H. 4
8 Le Corbusier. Oeuvre complète, 1910-1929,
S.105
9 Rüegg, Arthur. Der Pavillon de l'Esprit
Nouveau als Musée Imaginaire. In: Stanislaus von Moos.
L'Esprit Nouveau: Le Corbusier und die Industrie
1920-1925. Berlin: Ernst & Sohn, 1987, S.136
10 ebd. S.138
11 ebd. S.141
12 s. Anm.7, Eileen Gray und Jean Badovici,
S.7
13 s. Anm.1, Peter Adam, S.251
14 ebd.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Eileen Gray 1925,
Portrait von Bernice Abbott, aus: Adam 1989, S. 184
Abb. 2: Jacques Doucets
orientalisches Kabinett Ende der 20er Jahre mit
'Lotus'-Tisch von Eileen Gray, aus: Philippe Garner,
Eileen Gray - Designer and Architect. Köln: Benedikt
Taschen Verlag GmbH, 1993, S. 59
Abb. 3: Rue de Lota,
'Serpent'-Lehnstuhl, Paris, Eileen Gray, 1919-22, aus:
Garner 1993, S. 71
Abb. 4: Rue de Lota,
Bücherregal, aus: Adam 1989, S. 103
Abb. 5: Rue de Lota,
Eingangssituation, aus: Adam 1989, S. 96
Abb. 6:
Monte-Carlo-Zimmer, Paris, Eileen Gray, 1923, , aus: Adam
1989, S. 132
Abb. 7: Skizze von Eileen
Gray, aus: Adam 1989, S. 151
Abb. 8: Petite Maison pour
un Ingénieur, Modell, Eileen Gray, 1926, aus: Adam 1989,
S. 179
Abb. 9: Petite Maison pour
un Ingénieur, Grundrisse, aus: archithese 1991, S. 41
Abb. 10: Maison en Bord de
Mer, Roquebrune, Eileen Gray, 1926-29, aus:
L'Architecture Vivante 1929
Abb. 11: Maison en Bord de
Mer, Grundriss Hauptgeschoss, aus: archithese 1991, S. 45
Abb. 12: Maison en Bord de
Mer, Grundriss Untergeschoss, aus: archithese 1991, S. 45
Abb. 13: Maison en Bord de
Mer, Lageplan, aus: archithese 1991, S. 42
Abb. 14: Maison en Bord de
Mer, Grundriss mit Zirkulations- und
Sonnenverlauf-Studien, aus: L'Architecture Vivante 1929
Abb. 15: La Petite Maison,
Vevey, Le Corbusier, 1923, aus: Le Corbusier 1910-1929,
S. 74
Abb. 16: Maison
Particulière, Cornelis van Eesteren und Theo van
Doesburg, 1923, aus: Giovanni Fanelli, Stijl-Architektur.
Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt, 1985, S. 148
Abb. 17: Maison
Particulière, Modell, aus: Giovanni Fanelli 1985, S. 149
Abb. 18: Maison
Particulière, Kontra-Konstruktion, aus: Giovanni Fanelli
1985, S. 150
Abb. 19: Pavillon de
L'Esprit Nouveau, Paris, Le Corbusier, 1925
Abb. 20: Maison en Bord de
Mer, Essbereich, aus: L'Architecture Vivante 1929
Abb. 21: Maison en Bord de
Mer, Eingangssituation, aus: L'Architecture Vivante 1929
Abb. 22: Rue de
Chateaubriand, Paris, Eileen Gray, 1929-31, aus:
archithese 1991, S. 47
Abb. 23: Rue de
Chateaubriand, Deckenausschnitt für Oberschrank, aus:
Garner 1993, S. 146
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