Positionen
1998_1

Petra Stojanik

Eileen Gray oder die Freiheit des Wohnens

  Während Eileen Gray (Abb. 1) infolge ihrer Avantgardisten-Rolle in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts einen bemerkenswerten Bekanntheitsgrad erreicht hatte, geriet sie nach dem 2.Weltkrieg mehr und mehr in Vergessenheit. Da ihr ein langes Leben beschieden war - sie starb 1976 im biblischen Alter von 98 Jahren - konnte sie noch erleben, was einer Mehrzahl von Künstlern verwehrt bleibt: den späten Ruhm.

Denn zu Beginn der 70er Jahre fiel der Blick der Öffentlichkeit erneut auf ihre Person. Dies geschah, als bei der Versteigerung der gesamten Wohnungseinrichtung des berühmten Modeschöpfers und Mäzens der Avantgarde, Jacques Doucet, einige von Grays frühen Möbelentwürfen zu horrenden Preisen den Besitzer wechselten. Neben literarischen Wertschätzungen setzte eine regelrechte Flut von Ausstellungen zur Würdigung ihrer Leistungen ein. 1973 ernannte das Royal Institute of the Architects of Ireland die Architektin zum Ehrenmitglied. Das Antwortschreiben auf die exklusive Auszeichnung ist geprägt von der ihr eigenen Bescheidenheit und Ironie: "Ich fühle mich dieser Ehre nicht würdig, und ich bin bewegt, dass mir am Ende meines Lebens eine solche Auszeichnung zuteil wird. Aber ich nehme sie mit Dankbarkeit an, als eine Huldigung des irischen Volkes, und ich bin bemüht, mich dieser Ehrung durch zukünftige Anstrengungen würdig zu zeigen."1 Sie war zu diesem Zeitpunkt 95 Jahre alt.

Werdegang

Eileen Gray wurde am 9. August 1878 in Irland geboren. Ihre Mutter stammte aus einem vornehmen Adelsgeschlecht, der Vater, von bürgerlicher Herkunft, war ein unbedeutender Maler, der sich schon bald von seiner Familie trennte und vorwiegend auf dem Kontinent aufhielt. Wie bei den meisten Töchtern aus "gutem Hause" beschränkte sich auch bei Eileen Gray die Ausbildung auf Privatlehrer und kurze Aufenthalte an ausländischen Privatschulen. Einer privilegierten Gesellschaftsschicht angehörend, begann sie auf konventionellem Weg, die ihr zugestandenen Spielräume auszuschöpfen.

Um die Jahrhundertwende verliess sie ihr Elternhaus, um an der angesehenen Slade-School of Fine Arts - einer 1871 als Teil der Londoner Universität gegründeten Kunstakademie - Zeichenunterricht zu nehmen. Den dort begonnenen Zeichenunterricht setzte sie 1902 in Paris fort, das sie zum ersten Mal in Begleitung ihrer Mutter zur Weltausstellung 1900 kennengelernt hatte.

Das Paris jener Jahre war ein Refugium und Schmelztiegel für Künstler: Oscar Wilde, James Joyce, Gertrude Stein, Apollinaire, Amedeo Modigliani, um nur einige zu nennen. Das Angebot an neuen Kunstgalerien und Museen war einmalig. Ausserdem wurde 1901 die Société des Artistes Décorateurs gegründet, zu deren Mitgliedern so angesehene Namen wie Hector Guimard, Pierre Chareau und Francis Jourdain zählten. Gegen Ende des Dezenniums trat auch Eileen Gray dieser Vereinigung bei. Ziel der Société war, den dekorativen Künstlern, bzw. dem Kunsthandwerk, ein eigenes Forum zu schaffen und damit sein Ansehen im Vergleich zu den bildenden Künsten und der Architektur zu fördern.

Die inspirierende Pariser Szene musste Eileen Gray 1905 aus familiären Gründen für kurze Zeit verlassen, um nach England zurückzukehren. Ihr zweiter Londoner Aufenthalt wurde für ihre zukünftige Entwicklung folgenreich. Bei einem ihrer gerne unternommenen Stadtrundgänge, die sie auch auf die ihrer sozialen Klasse nicht angemessenen Quartiere ausdehnte, entdeckte sie eine Reparaturwerkstatt für Lackmöbel. Der Inhaber gestattete ihr, sich mit der Herstellung und Verarbeitung dieses hochwertigen und komplizierten Materials, das später ihren Namen als Designerin begründen wird, vertraut zu machen.

"Als sie Ende 1906 nach Paris zurückkehrte, führte sie in ihrem Gepäck eini-ge Materialproben mit und die Namensliste von einigen Experten."2 Auf diese Weise lernte sie den Japaner Sugawara kennen, der zu ihrem Mentor in Sachen Lackarbeit wird und mit dem sie über viele Jahre hinweg zusammenarbeitet. In einem kleinen Notizbuch notierte sich Gray sorgfältig die verschiedenen Kunstgriffe und Techniken zur Herstellung unterschiedlicher Farben und Texturen in der Lackkunst. Mit kleinen Gebrauchsgegenständen wie Schalen und Tellern beginnend, erweiterte sie aufgrund ihrer erworbenen Fertigkeiten ihr Repertoire auf Lackpaneele und Wandschirme.

Erste öffentliche Auftritte

1913 forderte die Société des Artistes Décorateurs Eileen Gray auf, einige ihrer Arbeiten auszustellen. Es war das erste Mal, dass ihre Entwürfe einem breiten Publikum vorgestellt wurden. Der Erfolg liess nicht lange auf sich warten. Zu ihren - vorwiegend prominenten - Kunden zählte auch der einflussreiche Modeschöpfer Jacques Doucet.

Jacques Doucet avancierte - nachdem er auf einer spektakulären Auktion seine komplette Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Möbeln des 18. Jahrhunderts verkauft hatte - zu einem der bekanntesten und angesehensten Sammler und zu einem Experten zeitgenössischer Kunst. Um 1912 bezog er eine neue Wohnung, deren Einrichtung von den modernsten und exklusivsten Desigern zusammengestellt wurde. Auch Gray gehörte zu dieser Equipe und entwarf drei Tische für die neuen Räumlichkeiten (Abb. 2). Doucet verfügte über zahlreiche Beziehungen und bewegte sich in den gehobenen, mondänen Kreisen von Paris. Indirekt kam durch ihn Grays erster grösserer Auftrag zustande.

Erste Innenraum-Ausstattungen

Madame Mathieu-Lévy, Inhaberin eines berühmten Modesalons, betraute Gray mit der Neugestaltung ihrer Wohnung in der Rue de Lota in Paris. Zum ersten Mal hatte die Designerin Gelegenheit, ihr Können nicht nur anhand einzelner Möbelstücke zu demonstrieren, sondern ein gesamtes Interieur zu entwerfen, incl. Wandtäfelungen, Teppichen und Lampen. Das Ergebnis demonstriert trotz der vorhandenen Widersprüche - aus denen es aber auch seinen speziellen Reiz und seine Spannung bezieht - eine harmonische Einheit. Neben bizarren, luxuriösen und extravaganten Möbelstücken (Abb. 3), die der Exzentrik der Auftraggeberin entsprochen haben mögen, existieren solche von extremer Klarheit und Nüchternheit, die ihre kubistischen Einflüsse nicht verleugnen (Abb.4). Neben rein dekorativen Eingriffen stehen solche architektonischer Art wie z.B. die Gestaltung der Eingangssituation (Abb.5). Die Wände des langen, schmalen Korridors wurden mit Lackpaneelen verkleidet - insgesamt 450 Stück -, die an einer Stelle wie ein Paravent aufgefaltet wurden, somit den Raum gliederten und seine tatsächlichen Dimensionen optisch veränderten. Das Thema der durch Möbel veränderten Raumsituationen wird Gray in ihren späteren Entwürfen noch weiter ausbauen und verfeinern.

Während die umfangreichen und aufwendigen Arbeiten für Madame Mathieu-Lévy noch im Gange waren, stellte Gray 1923 wieder im Salon des Artistes Décorateurs aus. Ihr Beitrag, das sogenannte Bedroom-Boudoir Monte-Carlo (Abb. 6) - eine Kombination von Wohn- und Schlafraum -, war eine konsequente Weiterentwicklung der in der Rue de Lota ansatzweise vorhandenen Gestaltungsprinzipien. Sämtliche Teile der Einrichtung werden in die abstrakte Komposition aus Formen, Farben und Texturen einbezogen. Die Reaktionen der Kritiker auf diesen aussergewöhnlichen, mit keinem anderen Beitrag vergleichbaren Vorschlag, waren sehr unterschiedlich. Während die einen ihren Entwurf als "völlig übergeschnappt" und die Künstlerin selbst als "die Tochter von Caligari"3 bezeichneten, nannte man sie andererseits in einem Atemzug mit den führenden Designern jener Zeit.

Der Architekt Robert Mallet-Stevens - ebenfalls in der Ausstellung vertreten - war von der Modernität ihres Beitrages so begeistert, dass er Gray direkt eine Zusammenarbeit anbot. Auch Pierre Chareau zollte ihr Anerkennung. Der Kunstkritiker Christian Zervos rückte die Designerin aufgrund der ihren Arbeiten eigenen Feinheit, Strenge und Sensibilität in Chareaus Nähe, allerdings mit Einschränkungen. Was Zervos trotz seines eindeutigen Lobes vor allem missfiel, war der suggestive Charakter von Grays Inneneinrichtung - "Ses intérieurs veulent être suggestifs."4 -, das von ihnen ausströmende Atmosphärische, das bestimmte Gefühle und Handlungen Hervorrufende. Er kritisierte damit genau jene Eigenschaften, die wir heute als eine Stärke qualifizieren würden und die Grays Inneneinrichtungen von denjenigen ihrer avantgardistischen Kollegen unterscheiden und auszeichnen.

Das Bedroom-Boudoir Monte-Carlo stellte einen Höhe- aber auch Wendepunkt in Grays Schaffen dar. Dieser Entwurf ist in seiner Einfachheit, Strenge und seiner tektonischen Möbelgestaltung richtungsweisend für ihre weitere Entwicklung. Zukünftig wird sich ihr Interesse auf den Bereich der Architektur ausweiten, was nicht ohne Folgen für die Gestaltung der Möbel und ihre Beziehung zum Raum sein wird. Nicht mehr auf das exklusive Einzelstück richtet sich vorrangig ihre Aufmerksamkeit, sondern auf die Entwicklung von Prototypen, die das Ergebnis aus funktionaler Analyse und ästhetischer Vorstellung sind, oftmals mit einem Schuss Grayscher Ironie gewürzt. Daneben entwirft sie Möbel, die zu raumdefinierenden Elementen und schliesslich zu einem Teil der Architektur werden.

Diese Entwurfstendenzen sollen anhand von drei Projekten demonstriert werden, die Eileen Gray im Hinblick auf einen männlichen Benutzer entworfen hat:

- petite maison pour un ingénieur, 1926

- maison en bord de mer - E 1027 in Roquebrune, 1926-29

- appartement rue de Chateaubriand, 1929-31.

Auf dem Weg zur Architektur

Auf Eileen Grays Weg von der Innenraumgestaltung zur Architektur war eine Person von besonderer Bedeutung: Jean Badovici. Als sie den 15 Jahre jüngeren Rumänen kennenlernte, stand dieser gerade vor seinem Abschlussexamen an der Ecole Supérieure d'Architecture. Er war jung, mittellos und - wie man heute sagen würde - ein Architekturfreak. Nachdem sich Badovici zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatte, gelang es ihm zusammen mit seinem Freund Christian Zervos einen Verleger zu finden und 1923 die Zeitschrift L'Architecture Vivante herauszugeben, die sich in kürzester Zeit zu einer der führenden Fachzeitschriften entwickelte.

Badovicis theoretische Kenntnisse und seine engen Kontakte zu den avant-gardistischen Architekten waren für Gray, genauso wie die mit ihm unternommenen Reisen zu den Brennpunkten der modernen Bewegung, wichtige Informationsquellen. So machte sie z.B. durch Badovici die Bekanntschaft mit Le Corbusier und kam durch seine Arbeit für die holländische Fachzeitschrift Wendingen mit der De-Stijl-Bewegung in Berührung. Durch die Lektüre von L'Esprit Nouveau - eine von Le Corbusier und dem Maler Amédée Ozenfant seit 1920 herausgegebene Zeitschrift - und der schon erwähnten L'Architecture Vivante, "die das gesamte Spektrum der modernen Architektur und des Designs vermittelte, war Eileen über alle neuen Trends der Architektur (...) aufs beste informiert."5

Ergänzt wurden diese auf einer eher intellektuellen, theoretischen Ebene erzielten Kenntnisse, die Gray als eine Meisterin der Kompilation geschickt in ihre eigenen Entwürfe einfliessen liess, durch praktische Studien (Abb. 7). So studierte sie zum Beispiel auf Reisen die Massverhältnisse ihres Hotelzimmers oder ihrer Schiffskabine und hielt diese in Form kleiner Skizzen fest. Auf diese Weise sammelte sie eine Menge Erfahrungen im Hinblick auf die konzentrierte Ausnutzung einer beschränkten Wohnfläche, die sie dann in ihren architektonischen Entwürfen einsetzte.

1925 vertraute Badovici Eileen Gray den Bau eines für ihn konzipierten kleinen Refugiums in Südfrankreich an. Sie wählte in der Nähe von Saint-Tropez, das damals gerade begann populär zu werden, ein in Roquebrune gelegenes Grundstück und begann mit einer Arbeit, die sie bis 1929 in Anspruch nahm.

Zeitgleich mit dem Beginn der Arbeiten an dem Haus in Roquebrune entsteht der Entwurf für ein petite maison pour un ingénieur (1926), das früheste umfassend dokumentierte architektonische Projekt von Gray (Abb. 8, 9). Tendenziell zeigt es schon alle Charakteristika ihrer Architektursprache: Trennung von tragenden und begrenzenden Teilen, Durchdringung von innen und aussen, Raumkontinuum, Möbel als raumdefinierende Elemente. Die Nichtübereinstimmung zwischen Grundriss und Aufriss verweist auf das Projektstadium des Entwurfes. Gewisse Ähnlichkeiten mit Badovicis Haus - so lässt sich feststellen - sind offensichtlich.

Das maison en bord de mer E-1027 (Abb. 10, 11, 12) wird von Eileen Gray und Badovici, dessen entwerferischer Anteil sich im nachhinein nur schwer feststellen lässt, aufgrund seiner sonstigen Tätigkeiten aber eher gering einzuschätzen ist, in einer 1929 erschienenen Sondernummer von L'Architecture Vivante folgendermassen beurteilt: "La maison que nous allons décrire ne doit pas être considérée comme une maison parfaite, où tous les problêmes seraient résolus. Ce ne qu'une tentative, un moment dans une recherche plus générale."6 Gray und Badovici wählten für ihre Präsentation die Form des Dialogs - also den Weg des Austauschs, der Zusammenarbeit - und nicht diejenige des Manifestes, welche die Heroen der Architektur weitgehend bevorzugten.

Das Terrain war eine Herausforderung - nicht nur für eine Anfängerin, die Gray im Alter von 48 Jahren immerhin war. Steil und felsig mit direktem Blick auf das Mittelmeer, wurde es zum Teil von Geländeterrassen durchzogen, die mittels Bruchsteinmauern abgefangen wurden. Gray benutzt in ihrem Verhalten zur Topographie unterschiedliche Strategien (Abb. 13). Indem sie das Haus aus der durch die Geländeterrassen vorgegebenen Struktur herausdreht setzt sie es bewusst von seiner Umgebung ab, ein Eindruck, der durch die zum Teil verwendeten Pilotis noch unterstützt wird. Andererseits nutzt die zweigeschossige Organisation des Hauses die vorhandenen Niveauunterschiede. Die neu angelegten Aussenbereiche greifen das schon existierende terrassenförmige Prinzip auf und setzen es architektonisch in Form eines Sockels oder Plateaus um. Auf formal-ästhetischer Ebene liegt die Betonung auf dem Gegensatz von Artefakt und landschaftlicher Umgebung. Der Bezug zur Topographie hingegen zeigt ein von Kontrast bis Vermittlung reichendes Verhalten. Die Drehung des Hauses aus der Geometrie der Geländeterrassen und die damit verbundene Ausrichtung, sowie die funktionale Anordnung der Räume, sind auf das Studium von Sonnenverlauf und Blickrichtungen zurückzuführen(Abb. 14).

Da Gray ihre Kenntnisse auf autodidaktischem Weg erwerben musste, ist es nicht verwunderlich, dass sich in ihren Entwürfen Affinitäten zu anderen Projekten nachweisen lassen. Erstaunlich dagegen ist, dass das Resultat nicht als eine Collage aus mehr oder weniger bewusst verwendeten Vorbildern und Fragmenten erscheint, sondern eine eigenständige, neuartige Qualität besitzt. Auf zwei architektonische Einflüsse, die das maison en bord de mer mitbestimmt haben könnten, möchte ich näher eingehen, und zwar auf die petite maison von Le Corbusier und die maison particulière von Cornelis van Eesteren und Theo van Doesburg.

1923 hatte Le Corbusier am Genfer See in der Nähe von Vevey für seine Eltern ein kleines Haus gebaut. Ebenfalls für spezielle Benutzer geplant, ent-warf er einen grossen Raum, der mittels leichter Trennwände gegliedert wird und das neuartige Konzept des fliessenden Raumes umsetzte (Abb. 15). Die verschiedenen funktionalen Bereiche werden durch eine ringförmige Bewegungsführung erschlossen. Zur eindrücklichen Landschaft öffnet sich ein elf Meter messendes Langfenster. Während das traditionelle Lochfenster die Aussenwelt jeweils nur ausschnitthaft, fragmentarisch wiedergab, stellte das fenêtre en longueur das gesamte Panorama zur Verfügung. Diese Entwurfsprinzipien lassen sich auch im maison en bord de mer nachweisen, jedoch nicht tel quel.

Der Bezug zur Landschaft zum Beispiel bleibt bei Grays Projekt nicht auf das Visuelle beschränkt, sondern wird durch vorgelagerte Balkone, überdeckte Bereiche und Terrassen ergänzt, die den Innenraum erweitern und eine mehr oder weniger starke Verknüpfung mit dem Aussenraum zur Folge haben. Während Le Corbusiers petite maison als klarer, prismatischer Körper in Erscheinung tritt, und innerhalb der von ihm später aufgestellten vier Kompositionsmöglichkeiten der "composition cubique très difficile" zuzurechnen ist, handelt es sich bei Grays Entwurf um einen gegliederten Baukörper, der auf weitere Einflüsse schliessen lässt.

Ebenfalls 1923, dem Erbauungsjahr der petite maison, fand in der Galerie von Léonce Rosenberg die Pariser De-Stijl-Ausstellung statt. Cornelis van Eesteren und Theo van Doesburg stellten unter anderem zwei Entwürfe einer maison partuculière vor. Die Grundrisse zeigen von Mauerscheiben definierte Räume, ihre Schichtung und Kontinuität (Abb. 16). Diese im Grundriss durch Flächen gebildete Komposition tritt - in die Dreidimensionalität eines Modells übertragen - allerdings als die Addition von rechtwinkligen, nebeneinandergesetzten und verschobenen Volumen auf (Abb.17). Zwischen Grundriss und Modell besteht eine Diskrepanz, die erst in den ideellen, abstrakten Kontra-Konstruktionen (Abb. 18) überwunden wird, bei denen die Elemente, aus denen nach Auffassung der De-Stijl-Anhänger die Architektur besteht - nämlich Fläche, Linie und Volumen - frei in einem dreidimensionalen Verhältnis angeordnet sind.

Handelt es sich bei diesen Beispielen um eine Addition von Raumvolumen, geht es bei Grays Entwurf eher um die Zerlegung eines Volumens und die Verschiebung der daraus entstehenden Raumteile. Durch diese Verschiebungen ergeben sich zum einen Nahtstellen, die für Tür- und Fensteröffnungen genutzt werden, zum anderen entstehen Zirkulationszonen und Terrassen7

Verlagern wir nun die Betrachtung der Entwurfstechnik vom Volumen, von den Raumkonzepten und Bewegungsführungen auf die Einrichtung. Welche Konsequenzen hatte Grays Interessenverlagerung hin zur Architektur auf ihre Innenraumgestaltung? Integrierte sie ihre Erfahrungen als Designerin, und inwieweit flossen neue Tendenzen in ihre Arbeit ein?

1925 fand in Paris die l'Exposition Internationale des Arts Décoratifs statt, zu der man Eileen Gray für uns heute unverständlicherweise nicht eingeladen hatte. Le Corbusier stellte, sozusagen als enfant terrible, seinen Pavillon de l'Esprit Nouveau aus, dessen Programm es war, wie er selbst es formulierte, das Kunstgewerbe zu verleugnen.8 Dieser Affront führte dazu, dass die Ausstellungsleitung einen 6 Meter hohen Palissadenzaun um den Pavillon errichten liess, der nur bei der Eröffnung durch den Minister der Schönen Künste kurzfristig entfernt wurde.

Die Einrichtung des grossen Raumes im Erdgeschoss (Abb. 19) bestand im wesentlichen aus zwei Arten von Möbeln: den casiers standard und den objets types. Während erstere von Le Corbusier entworfen wurden, handelte es sich bei den objets types um anonyme Serienprodukte, "die ihre formale Perfektion durch vielfache Neuschöpfung und ihre Legitimation durch den Gebrauch über lange Zeit erworben hatten."9 Die casiers standard waren frei kombinierbare Anbaumöbel, die die Vielzahl der traditionellen Schrankmöbel wie Truhen, Anrichten, Vitrinen etc. ablösen sollten. Sie zeichneten sich durch ein homogenes, einfaches, prismatisches Erscheinungsbild aus und wurden nur durch ihren inneren Ausbau der speziellen Funktion angepasst. "Das Zusammenwirken der verschiedenen Teile" - also der casiers standard und der objets types - "war (...) etwas ganz anderes als das, was die offizielle Kunst des Ensemble damals beinhaltete: die Verschmelzung von Raum, Möbel und Kunstwerk zu einem unauflösbaren, einheitlichen Ganzen."10 Die aus der Verknüpfung von anonymen Serienprodukten und neu entworfenen, standardisierten Möbeln resultierende Heterogenität entsprach - genausowenig wie die demonstrierte Kargheit - dem gewohnten Bild eines Interieurs. Möbel und Raum stellen zwei voneinander unabhängige Elemente dar.

Die modernen ensembliers, angeführt von Pierre Chareau - in gewisser Hinsicht ihr Protagonist - zeigten zwar eine Tendenz zu stereometrischen, kubischen Formen mit glatten Oberflächen und scharfen Ecken. Ihr Bezug zur Maschine blieb aber auf einer metaphorischen Ebene und ihre Entwürfe stellten individuelle, personifizierbare Lösungen dar.

Die von Le Corbusier gestalteten Räume wirkten hingegen "in der Tat eher wie das Privatmuseum eines urbanen Sonderlings als wie der Prototyp einer familienfreundlichen Wohnung für die breite Masse der Bevölkerung."11

Auf den ersten Blick scheint Eileen Grays Einrichtung der maison en bord de mer (Abb. 20) den Prinzipien zu folgen, die Le Corbusier beim Pavillon de l'Esprit Nouveau anwendete. Auch sie benutzte statt des Ensemble das Additionsprinzip von Möbeln, die unterschiedlichen Kategorien angehören. Aber ihre objets types waren im Gegensatz zu den anonymen Serienprodukten Le Corbusiers selbstentworfene Prototypen, die in Serienproduktion herstellbar sein sollten. Grays Schränke, Raumteiler und Einbaumöbel waren, auch wenn sie der Sprache der Moderne verpflichtet sind, keineswegs neutral, sondern Lösungen für bestimmte Nutzungen und räumliche Situationen, was durch Form und Materialisierung zum Ausdruck gebracht wurde. Mit diesen Elementen schaffte sie subtile Übergänge von der Architektur zur Innenraumgestaltung (Abb. 21).

Den avantgardistischen Manifesten folgte sie nicht bedingungslos. Sie hatte ihre Zweifel an einer Wohnform, die sie ironisch mit "style camping" um-schrieb, und die ihrer Meinung nach durch die fehlende Intimität eine Verarmung des häuslichen Lebens zur Folge hatte. Für Gray war "la formule camping" nur im Zusammenhang mit "la formule normale" denkbar, die dem Individuum sein Recht auf Unabhängigkeit und Zurückgezogenheit garantierte.

Sie hatte die Lehren aus ihren früheren Einrichtungsentwürfen nicht vergessen. Vielleicht könnte man die These wagen, dass Eileen Grays Innenraumgestaltungen für die Avantgarde der 20er Jahre das hätten sein können - realiter waren sie es nicht, denn sie war kein Trendsetter und bewegte sich ausserhalb des heroischen männlichen Zirkels - was Pierre Chareaus Entwürfe für die historistischen Interieurs des 19. Jahrhunderts waren, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Er reinigte und sie bereicherte.

Der zusammen mit Badovici verfasste Artikel "De l'Eclectisme au doute" in L'Architecture Vivante erscheint als eine Art Glaubensbekenntnis dieser aussergewöhnlichen Architektin, Designerin und Künstlerin wenn man liest: "Plus d'intimité, plus d'atmosphère! On simplifiait jusqu'à la mort. (...) Les formules ne sont rien: la vie est tout. Et la vie est esprit et coeur tout à la fois."12

Schon bald nach Fertigstellung seines Hauses in Roquebrune wurde Badovici noch einmal zu Grays Auftraggeber. 1929 hatte er in Paris in der Rue Chateaubriand ein Appartement erworben, das die Architektin nun umbauen sollte. Gray teilte die unregelmässige, ca. 40 qm grosse Fläche zunächst ganz pragmatisch in dienende und bediente Raumbereiche ein (Abb. 22).

Die Servicezone, bestehend aus Entrée, Küche und Bad/WC, wurde in ihren Dimensionen minimalisiert. Eine begehbare, abgehängte Decke stellte trickreich den notwendigen Stauraum bereit, ohne dass wertvolle Wohnfläche hätte geopfert werden müssen (Abb. 23). Mittels verschiebbarer Metallvorhänge konnte dieser Bereich verwandelt und seine Raumverhältnisse verändert werden.

Die Spiegelwand im Wohn- und Arbeitsbereich zielte einerseits auf eine optische Vergrösserung der realen Raumdimensionen und regulierte andererseits die vorhandenen räumlichen Unregelmässigkeiten. Die diagonale Stellung des zentral positionierten Bett-Sofas definierte funktional unterschiedliche Raumsegmente. Eine Vielzahl der schon im maison en bord de mer verwendeten Möbel kamen erneut zum Einsatz, andere wurden den veränderten Ansprüchen entsprechend neu entwickelt. Eileen Gray schrieb in ihr Notizbuch: "Es ist wichtig, in kleinen Zimmern den zur Verfügung stehenden Raum nicht zuzustellen. Das kann man manchmal durch technische Kunstgriffe erreichen; einige Gegenstände erlauben verschiedene Anwendungsmöglichkeiten."13 Obwohl sie das kleine Appartement laut ihren Aussagen "bis auf das letzte Zahnglas"14eingerichtet hatte, entbehren die Räume jener sterilen Perfektion wie sie für die im Zeichen des Gesamtkunstwerks gestalteten Interieurs oftmals charakteristisch ist. Der Benutzer besitzt noch das Recht auf die Freiheit des Wohnens.

Anmerkungen

1 Adam, Peter. Eileen Gray: Architektin / Designerin. (Originalausg.: New York, Harry N. Abrams, 1987). Schaffhausen: Stemmle, 1989, S.370
2 ebd. S.49
3 ebd. S.135
4Vellay, Marc. Pierre Chareau: Architecte - meublier 1883-1950. Paris: Edition du Regard, 1984, S.48
5 s. Anm.1, Peter Adam, S.149
6Gray, Eillen und Jean Badovici. De l'Eclectisme au Doute. In: L'Architecture Vivante, Automne-Hiver 1929, S.16
7 zu Grays Entwurfsmethode und ihre Beeinflussung durch die De-Stijl-Bewegung vgl. Bruno Reichlin. Das Fass des Diogenes wird wohnlich. In: archithese, 21. Jg. 1991, H. 4
8 Le Corbusier. Oeuvre complète, 1910-1929, S.105
9 Rüegg, Arthur. Der Pavillon de l'Esprit Nouveau als Musée Imaginaire. In: Stanislaus von Moos. L'Esprit Nouveau: Le Corbusier und die Industrie 1920-1925. Berlin: Ernst & Sohn, 1987, S.136
10 ebd. S.138
11 ebd. S.141
12 s. Anm.7, Eileen Gray und Jean Badovici, S.7
13 s. Anm.1, Peter Adam, S.251
14 ebd.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Eileen Gray 1925, Portrait von Bernice Abbott, aus: Adam 1989, S. 184

Abb. 2: Jacques Doucets orientalisches Kabinett Ende der 20er Jahre mit 'Lotus'-Tisch von Eileen Gray, aus: Philippe Garner, Eileen Gray - Designer and Architect. Köln: Benedikt Taschen Verlag GmbH, 1993, S. 59

Abb. 3: Rue de Lota, 'Serpent'-Lehnstuhl, Paris, Eileen Gray, 1919-22, aus: Garner 1993, S. 71

Abb. 4: Rue de Lota, Bücherregal, aus: Adam 1989, S. 103

Abb. 5: Rue de Lota, Eingangssituation, aus: Adam 1989, S. 96

Abb. 6: Monte-Carlo-Zimmer, Paris, Eileen Gray, 1923, , aus: Adam 1989, S. 132

Abb. 7: Skizze von Eileen Gray, aus: Adam 1989, S. 151

Abb. 8: Petite Maison pour un Ingénieur, Modell, Eileen Gray, 1926, aus: Adam 1989, S. 179

Abb. 9: Petite Maison pour un Ingénieur, Grundrisse, aus: archithese 1991, S. 41

Abb. 10: Maison en Bord de Mer, Roquebrune, Eileen Gray, 1926-29, aus: L'Architecture Vivante 1929

Abb. 11: Maison en Bord de Mer, Grundriss Hauptgeschoss, aus: archithese 1991, S. 45

Abb. 12: Maison en Bord de Mer, Grundriss Untergeschoss, aus: archithese 1991, S. 45

Abb. 13: Maison en Bord de Mer, Lageplan, aus: archithese 1991, S. 42

Abb. 14: Maison en Bord de Mer, Grundriss mit Zirkulations- und Sonnenverlauf-Studien, aus: L'Architecture Vivante 1929

Abb. 15: La Petite Maison, Vevey, Le Corbusier, 1923, aus: Le Corbusier 1910-1929, S. 74

Abb. 16: Maison Particulière, Cornelis van Eesteren und Theo van Doesburg, 1923, aus: Giovanni Fanelli, Stijl-Architektur. Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt, 1985, S. 148

Abb. 17: Maison Particulière, Modell, aus: Giovanni Fanelli 1985, S. 149

Abb. 18: Maison Particulière, Kontra-Konstruktion, aus: Giovanni Fanelli 1985, S. 150

Abb. 19: Pavillon de L'Esprit Nouveau, Paris, Le Corbusier, 1925

Abb. 20: Maison en Bord de Mer, Essbereich, aus: L'Architecture Vivante 1929

Abb. 21: Maison en Bord de Mer, Eingangssituation, aus: L'Architecture Vivante 1929

Abb. 22: Rue de Chateaubriand, Paris, Eileen Gray, 1929-31, aus: archithese 1991, S. 47

Abb. 23: Rue de Chateaubriand, Deckenausschnitt für Oberschrank, aus: Garner 1993, S. 146

 

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