Positionen
1999_2

Sophie Wolfrum

Landschaft als Element des Urbanen

Stadt-Landschaft wird im folgenden vor dem Hintergrund der Region Stuttgart betrachtet: Die Region Stuttgart hat eine lange polyzentrische Tradition, die noch heute politisch aktuell ist und die sich räumlich weiterhin abbildet. Die Anzahl der selbständigen Gemeinden innerhalb des Verbandes Region Stuttgart (gegründet 1994) beträgt immer noch 176. Die alten Siedlungskerne machen zwar nur noch wenige Prozent der heutigen Siedlungsfläche aus, sie bilden aber weiterhin den Bezugspunkt im räumlichen Selbstverständnis der Bewohner. Insofern sollte man hier nicht von Suburbanisierung eines Zentrums, sondern von der Urbanisierung einer Region sprechen.
Auf der anderen Seite ist die Region mit ihren 2,6 Mio. Einwohnern eine urbanistische Einheit (in all ihrer Vielheit), die Gründung des Verbandes Region Stuttgart vor 4 Jahren - der allerdings nur ausgewählte Zuständigkeiten hat - trägt dem Rechnung. In den letzten 25 Jahren hat der besiedelte Flächenanteil der Region um etwa ein Drittel zugenommen, während die Bevölkerungszahl nur sehr wenig gewachsen ist. Die Dynamik der Siedlungsentwicklung ist abgesehen von konjunkturellen Schwankungen ungebrochen. Stadt-Landschaft besteht hier aus einem dichten Patchwork von

  • historischer Siedlungsstruktur,

  • einem  urban sprawl mit seinen autistischen Zonen und dem Kriterium der Erreichbarkeit geschuldeten Standorten, die sich ihrem Umland verweigern,

  • dem dichten Netz der Verkehrsinfrastruktur,

  • das wiederum die aktiven Reste der agrikulturellen Kulturlandschaft zerschneidet und sie tendenziell zu monofunktionalen Landschaftsfragmenten werden läßt,

  • zu neuen Landschaften als Bestandteil von Stadt.

 

Wenden wir uns den Landschaften zu:

1

Regionale Landschaften sind in ihrer spezifischen Ausprägung zuerst einmal Produkt einer vergangenen Epoche, historische Überreste. Ihre Buntheit und Vielfalt, ihre Ausdifferenzierung und Spezialisierung sind von den Eigenarten einer vergangenen landwirtschaftlichen Produktionsweise geprägt. Die Bindung an naturräumliche Bedingungen und vor allem die Verhaftung der Menschen mit einem eng begrenzten Lebensort, die starke Beschränkung aller kulturellen Kommunikation auf kleine Regionen führte zu regionalen Kulturen, Gebräuchen, Siedlungsweisen und Landschaftsbildern. Kultur nahm Naturcharakter an (SIEFERLE 1997). (1)

Nebenbemerkung: Naturschutz- und Landschaftsschutz befinden sich demnach in dem Dilemma, Kulturpflege (Denkmalschutz vergangener Produktionsweisen) betreiben zu müssen, um die Artenvielfalt dieser spezifischen Agrikulturlandschaft erhalten zu können.
Und: Wird Natur durch den kulturellen Akt des Naturschutzes geformt, ist auch sie wieder ein Kulturprodukt. (2)

2

Regional differenzierte Landschaften dieser Herkunft verschwinden tendenziell. Sie sind bewahrte Relikte oder historische Folie, bewahren sich dank der unendlichen Zähigkeit des Faktischen oder mit konservatorischen Anstrengungen. Heutige landwirtschaftliche Produktion tendiert zur Nivellierung landschaftlicher Strukturen oder zieht sich gar ganz aus minder ertragreichen Gebieten zurück. In Ballungsräumen produziert sie nicht mehr die Landschaften, die gleichzeitig und quasi naturwüchsig dem vielfältigen sozialen Gebrauch dienen könnten, der dort von Nöten wäre. Zunehmend werden genuin städtische Nutzungen landschaftsprägend. Wenn wir von Stadt-Landschaften sprechen, ist das in seiner Widersprüchlichkeit ein sehr treffender Begriff. Es gibt den Unterschied zwischen Stadt und Land nicht mehr als sich bedingende gegensätzliche Pole. Es gibt weite Gebiete mit einer grundsätzlichen Vermengung der Phänomene, die früher einmal Stadt oder Land bedeuteten. Es entsteht eine schizophrene Situation: Von der Gesellschaft genutzt und produziert wird eine Stadt-Landschaft, an der sie gleichzeitig den Verlust vertrauter Bilder von Stadt und Land beklagt (gemäß dem Verständnis von Land = Landschaft, die der Bauer produziert und in der der Städter sich ergeht und Natur goutiert).

3

Der vertraute Objekt-Begriff von Landschaft verliert sich. Aber erinnern wir uns: Landschaft als ästhetische Kategorie taucht in der Geschichte erst in der Neuzeit auf, indem sie von einem unabhängigen Subjekt wahrgenommen werden konnte, erst das reflektierende Subjekt kann sich ihrer inne werden. So läßt sich zum Beispiel Enea Silvio Picolomini, der das mittelalterliche Dorf Corsignano in die Renaissance-Stadt Pienza umgestaltete, über die Landschaft der Toskana aus, auf die sich der Palazzo mit Loggien und Garten - sowie der Bischofsthron auf den Monte Amiati - orientiert: "Rings um Siena lachten die Hügel im Schmuck ihrer Blätter und Blüten, und in verschwenderischer Fülle ging auf den Äckern die Saat auf. Besonders das sienesische Gebiet, das zunächst an die Stadt grenzt, ist von unbeschreiblich reizvollem Anblick. Sanft ansteigende Hügel, die mit einheimischen Bäumen und Reben bepflanzt oder für das Getreide bestellt sind, schauen auf die heitersten Täler herab, wo Saaten oder Wiesen grünen und nie versiegende Bäche sich sprudelnd verteilen." (3)

In einem bestimmten Strang der Stadt-Landschafts-Diskussion wird dieser wahrnehmungsorientierte Aspekt des Landschaftsbegriffs so weit verselbständigt, daß er sich vom 'Objekt' unabhängig macht.
"Ist 'Landschaft' geographisch beschrieben als ein bestimmter Bereich mit einem besonderen Erscheinungsbild, das ihn vom Umfeld abhebt - als Gegend in der Unterscheidung vom Rest - so gehört zum Erkennen dieser Differenz ein diese Eigenschaften wahrnehmendes Subjekt substantiell dazu. Also: ohne Wahrnehmung keine Landschaft. Sie ist ein individuelles Konstrukt, ein kulturelles Identifikationssystem, ein Wahrnehmungsmodell." (4)
Diese Haltung erlaubt, Stadt überhaupt als Landschaft zu begreifen, in der sich das Subjekt auf eine ungebundene interpretierende Weise bewegt und neue ästhetische Erfahrungen macht.
Stadt ist als Landschaft nur aus der Bewegung heraus zu erfahren, aus der Sicht des Spaziergangers (siehe die Promenadologie von Lucius Burkhardt), des Wanderers, des Flaneurs. Es gibt eine Stadt-Kulturgeschichte des Flaneurs, die mit der Großstadt-Rezeption Anfang des Jahrhunderts angefangen hat, an die heute wieder angeknüpft wird. (5)
"Im Erlebnis des Städtischen als Landschaft trifft der Wanderer den Flaneur, der Spaziergänger den Nomaden, der Kletterer den Vagabund, ... Heute befinden wir uns verstärkt auf der Suche nach Beschreibungsmodellen für die Stadt, in denen dem Individuum eine zentrale Rolle zukommt. Der öffentliche Raum verändert sich ständig, befindet sich im Fluß. In einer Aufhebung der festgelegten Orte wird der fließende Raum als Planungsparadigma einer 'Stadtlandschaft' ersetzt durch die fließende Bewegung. Das handelnde Individuum hat den fest definierten Freiraum (notwendigerweise) überwunden." (6)

Hier begegnen wir einem Landschafts-Verständnis, das mit Strömungen in der Architektur einhergeht, Aspekte von Landschaft strukturell zu begreifen und als ästhetische Innovationsquelle für das architektonische Objekt zu gebrauchen. Eine Renaissance von Landschaft in diesem erweiterten Sinne ist seit ein paar Jahren in der Architektur- und Urbanismusdiskussion zu bemerken.

4

Kehren wir zurück zum 'Objekt'aspekt des Landschaftbegriffes, zu einem Kern, der die Basis der traditionellen Scheidung von Stadt versus Lanschaft ausmachte. Wenn wir anfänglich feststellten, daß Landschaft im Grunde Kulturcharakter hat, der in der agrikulturellen Landschaft als naturhaft erlebt werden mußte, so können wir Landschaft auch andersherum definieren, als den Ausschnitt von Kultur, in dem Natur gewahr werden kann. Indem wir sie gewahr werden, gebrauchen wir wiederum eine ästhetische Kategorie.

"Wie sehr der Begriff des Naturschönen in sich geschichtlich sich verändert, zeigt am eindringlichsten sich daran, daß, wohl erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, ein Bereich sich ihm eingegliedert hat, der als einer von Artefakten primär für ihm entgegengesetzt gehalten werden muß, der der Kulturlandschaft. Geschichtliche Gebilde, oftmals in Relation zu ihrer geographischen Umgebung, etwa auch ihr durch das verwandte Steinmaterial ähnlich, werden als schön empfunden. In ihnen steht nicht, wie in der Kunst, ein Formgesetz zentral, sie sind selten geplant, obwohl ihre Ordnung um den Kern von Kirche oder Marktplartz im Effekt zuweilen auf etwas dergleichen herausläuft, wie denn überhaupt ökonomisch-materielle Bedingungen zuzeiten Kunstformen aus sich entlassen. Gewiß besitzen sie nicht den Charakter der Unberührbarkeit, der von der gängigen Ansicht mit dem Naturschönen assoziiert wird. Den Kulturlandschaften hat die Geschichte als ihr Ausdruck, historische Kontinuität als Form sich einprägt und integriert sie dynamisch, wie es sonst bei Kunstwerken der Fall zu sein pflegt." (7)

Seit der Romantik läßt der Begriff des Naturschönen es zu (so sagt Adorno in diesem Zitat), daß ein historischer Kirchturm, eine Wassermühle, eine Burgruine etc. als Bestandteil der Natur, ihres außerhalb des menschlichen Willens angesiedelten Werdens und Vergehens gelesen werden können. Die aktive, im Gebrauch und Nutzen stehende Landschaft macht diesen Blick schwer, wenn nicht gar unmöglich. Die Hochöfen von Thyssen in Duisburg konnten erst als Gebirge in einem Landschaftspark naturiert werden, nachdem die Stahlindustrie endgültig historisch geworden war. "Über lange Perioden steigerte sich das Gefühl des Naturschönen mit dem Leiden des auf sich zurückgezogenen Subjekts an einer zugerichteten und veranstalteten Welt; es trägt die Spur von Weltschmerz." (8) Immer noch ist das Gewahr-werden von Natur heillos mit den kulturellen Konnotationen verknüpft, in die es historisch eingebunden ist.
Seit Aristoteles verfügen wir über einen Naturbegriff, der für die alltägliche Erfahrungswelt Gültigkeit hat:
Natur ist Physis - der Bereich des Menschen ist Thesis. Natur ist die vom Menschen unabhängig bestehende, nicht auf seinen Eingriffen beruhende Welt. Sie ist reines zweckfreies Hervorgehen. Jedes Element der Natur hat in sich selbst Anfang, Veränderung und Bestand. In seinen natürlichen Lebensvollzügen gehört der Mensch zu dieser Welt. Durch seine Handlungen schafft er eine Gegenwelt: Das Hergestellte, die in den Begriff gefaßte Form, das Bezweckte. Natur ist das "Nicht Gemachte". Sie stellt dem Menschen das "Andere" gegenüber.

Der Mensch braucht das Bewußtsein von dem "Anderen", um zu sich selbst zu finden, um eine Identität herauszubilden. Es bleibt die Frage: Kann unsere Gesellschaft dieses Grundthema von Landschaft - das Gegenwärtig-werden von Natur in ihrer kulturellen Sublimierung - von der Fixierung auf traditionelle Landschaften mit ihren vertrauten Bildern (in denen wie gesagt auch kulturelle Artefakte als Natur verstanden werden konnten) befreien und es in den 'Neuen Landschaften' wiederfinden?

5

Die Neuen Landschaften gleichen sich tendenziell, Stadt-Landschaften zeitgenössischer Prägung sind scheinbar beliebig austauschbar, die regionale Differenzierung verschwindet. Sie haben die Konfrontation bzw. Identifikation mit der Natur (das Aufscheinen von Natur) nicht mehr per se eingeschrieben, wie es bei den traditionsverhafteten Resten der Agrikultur-Landschaften immer noch empfunden wird. Auch dort, wo die Landschaftsproduktion wie zum Beispiel im Braunkohletagebau extrem standortbedingt ist, eine Transformation natürlicher Ressourcen darstellt, wird sie als Naturzerstörung und nicht als das Aufscheinen von Natur begriffen.

Landschaft kann heute nicht mehr nur als der Ausschnitt der Umwelt definiert werden, der durch Landwirtschaft produziert wird. Längst haben sich Landschaftspflege und Landwirtschaft professionell entkoppelt, auch wenn es an Modellen nicht mangelt, sie wieder in eins zu bringen. In den uns hier interessierenden Stadtregionen wird Landschaft so komplex produziert, daß dies kaum wieder zu entwirren ist. Und auch wenn wir sie als die räumlichen Flicken der Regionen definieren, die nicht im engeren Sinne bebaut sind, sondern in relativ direktem Sinne dem Reproduktionskreislauf des Naturhaushaltes zur Verfügung stehen, so erlauben sie doch nie wieder eine isolierte, dem Komplex des Urbanen entgegenstehende Betrachtungsweise.

Einerseits sind die Neuen Landschaften also Ergebnis einer komplexen gesellschaftlichen Produktion, andererseits wirken sie auf uns seltsam uniform (so verwendet Sieferle z.B. den Begriff der 'totalen Landschaft' im Gegensatz zur 'segmentierten Landschaft' der früheren Industrialisierung, die zuerst einmal die sowieso schon vielfältige agrikulturelle Landschaft um weitere Extreme bereicherte). Ihre kulturellen Bedingungen und ihre ökonomischen Triebkräfte unterscheiden nicht mehr zwischen den Regionen. Die Globalisierung der Wirtschaft tendiert zur Vereinheitlichung der von ihr erzeugten räumlichen Bilder.

Die zweite Quelle aktueller Raumproduktion: Das mobile moderne Individuum produziert seinen optimalen Entfaltungsraum: die Stadt à la carte (9) ohne Rücksicht auf Verluste für die Allgemeinheit oder andere Individuen. Auch dies ist ein Prozeß, der einerseits zu einer Homogenisierung von Raumstrukturen führt (zu einem Zustand der Entropie: größtmöglicher Abstand aller von allem), der aber andererseits neue - von uns noch schwer zu deutende - Durchdringungen und Vernetzungen erzeugt. Der lokale und individuelle Reiz der Neuen Landschaften liegt in der überraschenden Collage von scheinbar banalen Tätigkeiten: Pommesbude neben Acker neben Flughafen.

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Neue Landschaften entstehen.

Seit etwa 20 Jahren zeichnet sich in der ästhetischen Befassung ein Paradigmenwechsel ab. Waren die ersten Publikationen noch als Anklage an die fordistische Zurichtung der Stadt kommentiert, so transportierte die ästhetische Sprache der Bilder doch eine andere Botschaft: rätselhaft und hintergründig, abstoßend faszinierend, grotesk und ätzend witzig, gleichzeitig subversiv und borniert. (10)

Diese Landschaften sind voller Widersprüche, das macht sie spannend und herausfordernd. Erst werden die neuen Phänomene registriert, der Blick wird geschärft, die Verarbeitung findet nur im Subjekt statt. Eine Uminterpretation beginnt. Dieser Prozeß wurde durch Film und Photographie eingeleitet (die Filme von Wim Wenders, Road-Movies).
Seit wenigen Jahren geht die Interpretation weiter, ohne affirmativ oder resignativ zu werden: Die Stadt-Landschaften sind die Städte unserer Epoche!
Jeweils verschiebt sich das authentisch Urbane auf die Zonen der Stadt, die wir den "Niederlagen der Stadtplaner verdanken":  (11)  Waren es in der ersten Jahrhunderthälfte die Vororte und Peripherien der Großstädte, so sind es heute die Gebiete, bei denen wir uns noch scheuen, sie überhaupt Stadt zu nennen - die eigenschaftlose Stadt, die vor lauter Banalität so offen ist, daß sie "einzelne spezifische Situationen mit geradezu poetisch zugespitzter Intensität besitzt".   (12)

Wieder scheinen bildende Künstler wie Fischli + Weiss dies eher zu spüren. (13) Dort - in der eigenschaftlosen Stadt - finden wir Situationen, die offen sind für Interpretationen und offen für Veränderungen, mit neu zu entdeckenden Atmosphären, unergründbaren Details, poetischen Überraschungen, semantisch unbesetzt und unverbraucht. Das ungezähmte 'Andere' als Bedingung für Urbanität.
"Statt Ganzheit kann die Großstadt die Erfahrung von Differenz vermitteln. Die Kraft, die die Stadt zu entfalten vermag, wenn sie die Menschen in dieser Weise neu orientiert, erwächst aus ihrer Mannigfaltigkeit; im Angesicht der Unterschiede haben die Menschen jedenfalls die Möglichkeit, aus sich herauszutreten." (14) Diese Erfahrung von Differenz als genuinem Element von Urbanität (in diesem Zitat von R. Sennett auf die soziale Vielfalt der Großstadt gemünzt) findet sich in jeder Epoche an anderen Stellen der Stadt. Heute vielleicht am wenigsten da, wo Urbanität zu produzieren versucht wird.

7

Mit großem planerischen Aufwand versucht man heute 'Urbanität' zu produzieren: die Innenentwicklung der alten Kernstädte, die Konversion brachfallender Nutzungen und die Pflege (bis hin zu Kosmetik) des Bestandes. Gleichzeitig haben sich die ehemaligen Randzonen scheinbar naturwüchsig zum Hauptakteur beschleunigter Entwicklung gemausert. Dort kollidiert der neue Typ Stadt mit den überkommenen kleinstädtischen und den nur noch scheinbar dörflichen Strukturen. Der Städter, der seinem Auto sei Dank aufs "Land" gezogen zu sein glaubte, wird in Kürze wieder von der Stadt eingeholt, deren Bestandteil er immer war. So spannend diese "offene" Stadt sein mag, es genügt nicht mehr, sich ihr nur beobachtend zuzuwenden. Indem die bildende Kunst die ästhetische Borniertheit gesprengt hat, besteht eine Voraussetzung, daß in Folge die planerischen Borniertheiten der Zunft gesprengt werden könnten.

Das traditionelle Repertoire der Regionalplanung, der Landschaftsplanung und der Bauleitplaung greift zu kurz. Es gilt neue Instrumente der planerischen Zuwendung für diese Stadt-Landschaften zu entwickeln. Als Stadt ohne Eigenschaften, semantisch unbesetzt, ist sie für neue Sichtweisen und Interpretationen offen. Sie müßte auch neuen Handlungsweisen und neuen planerischen Strategien offen stehen. Neue Strategien, die ihr nicht ihr Potential austreiben, sondern es geschickt zu nutzen wissen.

8

An diesem Punkt setzt als Strategie der Regionale Landschaftspark an. Die Region Stuttgart steht stellvertretend für mehrere Regionen in Europa, die nach vergleichbaren Wegen suchen, an ihrem Beispiel soll der Ansatz verfolgt werden. (15) Im Gegensatz zur herkömmlichen Bedeutung des Wortes "Landschaftspark" - ist jetzt ein Parktypus gemeint, der nicht wie ein Idealbild von Natur/Landschaft aussieht, sondern der Landschaft ist, die zunehmend die Aufgaben eines Parks erfüllt. Beiden Bedeutungen gemeinsam ist ein ästhetischer Blick.

Wo Baugebiete nur bedingt und eingeschränkt zur Erzeugung der Stadt führen, die wir brauchen, wo sie beziehunglose private Territorien ausgrenzen, ist der "Regionale Landschaftspark" eine Strategie, Landschaft als ein Element des Urbanen einzusetzen. (Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis von Urbanität: Stadt als Raum der Möglichkeiten, als Raum der Konfrontation mit dem Fremden, Stadt als Toleranz erzeugend, vor allem Stadt als Raum physischer und nicht nur medialer Öffentlichkeit.) Die vorhin beschriebene 'reizvolle Collage' von Stadtfragmenten ist ohne Landschafts-Fragmente nicht mehr zu denken.

Gebaute Räume werden zunehmend privatisiert. Landschaft bleibt öffentlich zugänglich, eine europäische Tradition, die noch weitgehend ungebrochen ist. Die Regionalpark-Projekte versuchen, diese Tatsache in den Dienst zu nehmen. Landschaft wird vom individuellen Kontemplationsraum zum individuellen Erfahrungsraum und zum Schauplatz einer urbanen Öffentlichkeit.

Landschaft in erster Linie könnte zur Unverwechselbarkeit der Regionen beitragen. Das geschieht allerdings nicht mehr automatisch und umsonst. Es bedarf einer gezielten Anstrengung, einer kulturellen Leistung der Gesellschaft, um die Widersprüchlichkeit der Stadt-Landschaften ästhetisch zu formulieren und erfahrbar zu machen, sie nicht nur zu interpretieren.

Damit wird regionale Landschaftsgestaltung zur urbanen Entwicklungsstrategie. Wir sehen dies als ein spannendes Paradoxon und auch als ein Experiment an: Mit Landschaft Stadt machen.

 

Landschaftspark Region Stuttgart

Der Landschaftpark Region Stuttgart arbeitet mit einem mehrschichtigen Konzept, in der Hoffnung, damit in das komplexe Gefüge von Raumstruktur, Bedürfnissen und Steuerungsmöglichkeiten einsteigen zu können. (16)
Wir nennen diese Ebenen: 1. das Netz, 2. die Parks, 3. Punkte, Linien, Orte.

 

Das Netz (Ebene 1)

Das Netz bietet den Raum für das Offene, für die Vielfältigkeit, für das Diffuse und das Informelle. Dieser Denkansatz liegt in der Luft. Der begriffliche Niederschlag in der Metapher des Netzes ist allgegenwärtig.

In einer überzeugenden Begriffsklärung wird das Wesen des Netzes von Martin Burckhardt so dargestellt: "Ein Netz, in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, ist ein Geflecht zusammengeknoteter, geflochtener Bänder, ein Maschenwerk. Ein Netz besteht nicht aus mehreren Teilen, sondern es bildet einen Zusammenhang, es ist einfach. Genaugenommen, seine Einfachheit besteht darin, daß es einfach kompliziert ist, oder andersherum, daß seine "complexio", seine Verknüpfung in einer einzigen Figur, in der Einfachheit des Netzes endet. Freilich ist dieser Zusammenhang, für den das Netz - archetypisch - fast steht, nicht eigentlich als etwas Abgeschlossenes zu nehmen. Denn das Netz als solches ist leer. Es ist dazu da, daß sich in ihm etwas verfängt: verfänglicher Zusammenhang. Die ihm eingewobene Leere ist ein konstitutives Moment seiner Funktion, es ist verfänglich nur in dem Maß, in dem es leer ist. So paßt es sich der Kontur und der Bewegung dessen an, was sich in ihm verfängt." (17)

Beim regionalen Landschaftspark wird der "verfängliche" Zusammenhang wirksam, indem alles, was sich im Netz verfängt, damit in dessen Kontext einbezogen wird. Dieser Kontext wiederum ist abhängig von der Textur, also der Beschaffenheit des Gewebes, die es an den verschiedenen Stellen besitzt.

Eine Eigentümlichkeit dieses Gewebes ist seine Wirksamkeit auf zwei verschiedenen Objektebenen: Die erste ist die von Wegen, Gewässern, Baumreihen, Wiesenstreifen und gestalteten Einzelementen. Was sich in diesem Netz der ersten Betrachtungsebene verfängt, sind z. B. die landwirtschaftlichen Flächen, welche damit im Kontext des Netzes als Teile des Landschaftsparks erfahren werden.

Auf der zweiten Objektebene - der Metaebene des wesentlich groberen Gewebes von Freiraumbändern zwischen den Ortschaften - sind es die Siedlungen, die sich in diesem Netz verfangen und nun in dessen Kontext zu Bestandteilen einer durchgrünten und als Landschaftspark erfahrbaren Stadt-Landschaft werden.

Der allgemeine Netzbegriff wird in unterschiedlicher Hinsicht konkret. Wir unterscheiden vier Kategorien:
Den Aspekt der Ästhetik, den der Erholungs- und Aufenthaltsqualität (Aktivitäten und Bewegung), den Aspekt der Ökologie (der Vernetzung von biologischen Lebensräumen) und schließlich die Thematik von Umsetzung und Methodik der Planung.

 

Eine andere Ästhetik

Spätenstens seit Informel und Tachismus, den Drippings von Jackson Pollock und Minimal Art kennen wir neben der Ästhetik der geordneten Komposition, der prägnanten Gestalt und der erkennbaren Figur auch eine partikularistische Ästhetik der Gewebe und der diffusen Verteilung. Deleuze und Guattari verwenden den Ausdruck glatter Raum, um ein neues Denken in gestaltneutralen Strukturen von gegliederten Ordnungen im gekerbten Raum zu unterscheiden. (18)
Die Empfänglichkeit für eine derart veränderte Ästhetik geht mit einer gewandelten Lebensweise einher: Einem nomadischen Verhalten, das von Mobilität statt von Ortsfestigkeit geprägt ist, einer anderen Art der Bewegung und des Umgangs mit der Stadt und unserem Lebensraum generell, also vermutlich auch mit der Stadt-Landschaft.

Voraussetzung dafür, daß wir mit der Wahrnehmung von diffusen Strukturen oder mit der Bewegung in ihnen mehr verbinden als die banale Alltagserfahrung des ohnehin Bekannten, wäre aber

- eine ästhetische, d.h. nicht unbedingt auch räumliche Dichte dieser Strukturen,

- eine Erfahrung von atmosphärischer Intensität trotz unbestimmter Gestalt,

- das Vernehmen eines spezifischen Charakters trotz Flexibilität.

Wie läßt sich das Spezifische von Situationen auf der Grundlage des Netzes herstellen? Es wird nicht durch gezielte Setzungen an bestimmten Stellen (das ist das Thema der Komponente "Punkte, Linien, Orte") und nicht durch die Bildung von prägnanten Raumfiguren (das ist die Aufgabe der Teilparks) erzielt, sondern eher durch die Körnigkeit der verwendeten Mittel oder durch immer wiederkehrende Motive mit dem Ziel einer diffusen, aber allgegenwärtigen intensiven Wirkung.

 

Aufenthalt und Bewegung

Gestalterische, landschaftsräumliche Qualität, die mit Vernetzung erreicht werden kann, dient nicht nur der Herstellung einer "Parkgestalt", die einer gewandelten Ästhetik entspricht, sondern auch der Überwindung von Barrieren und Störungen durch Verknüpfung von Wegeverbindungen oder Bewegungsräumen, mit dem Ziel, Landschaft als zusammenhängenden (Erholungs-) Raum zu erfahren, Landschaft als Bewegungsraum dem Fußgänger zu öffnen (s.o. die Bemerkungen zur Stadt-Landschaft des Flaneurs).

 

Das ökologische Netz

Während sich die ästhetische Thematik vorwiegend auf die Wahrnehmung bezieht, Aufenthaltsqualität und Bewegung den Aspekt der Nutzung betreffen und die Planungsmethodik auf die Umsetzung zielt, bildet das ökologische Netz gewissermaßen die materielle Basis.

Biotopvernetzung und Gewässerverbund sind die wichtigsten Komponenten, in denen das Netz sich materialisiert, der Kanon der klassischen Landschaftsplanung greift eigentlich nur an dieser Stelle.

Auch hier gilt: Das Netz lehnt Hierarchie als Ordnungsstruktur ab. Es gibt keine Haupt- und Nebenglieder, keine Ober- und Unterstrukturen, keine unwichtigen Elemente. Stattdessen gilt das Prinzip der Konnexion, d. h. jeder Punkt steht zu jedem in Beziehung.

 

Moderation

Die Verwendung des Begriffes Netz ist auch eine programmatische Aussage im Sinne eines Netzwerks. Darunter ist das Zusammenwirken von unterschiedlichen Maßnahmenträgern auf regionaler, kommunaler und standortbezogener Ebene zu verstehen.

Das Ziel der Planung ist nicht, eine bestimmte Netzgestalt zu erzielen, sondern vor allem, dem Wachsen Spielräume zu verschaffen. Das Netz ist Wachstumsmodell, nicht Darstellung eines angestrebten Endzustandes.

 

Die Parks (Ebene 2)

Das Verhältnis von Landschaft als Hintergrund und Stadt als Körper (ein klassisches Figur-Grund-Thema) ist verloren gegangen, das haben wir als Voraussetzung festgestellt. Im Ballungsraum der Region Stuttgart, ist Landschaft zu Zwischenräumen geschrumpft, die in einigen Fällen Figurqualität vor dem Hintergrund eines diffusen Siedlungsgemenges gewinnt. Das Figur-Grund-Schema ist nicht ganz suspendiert, es kann umspringen. Teilweise sind Situationen entstanden, die Vexierbildern gleichen: Ob Landschaft oder Bebauung zum Körper oder zum Hintergrund wird, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab.

Diese Landschaften bilden den klassisch flächenhaften Parktypus im regionalen Maßstab, sie werden bisher als Teilparks oder als Kernflächen bezeichnet. Im wesentlichen handelt es sich um drei Typen von Landschaft: Wälder, Versunkene Welten, Felder.

Die Felder stellen die größte Herausforderung bei der Umsetzung eines Landschaftspark-Konzeptes dar. Auf den fruchtbaren Lößböden stehen Felder unvermittelt wie in Verteidigungsstellung den Siedlungsflächen gegenüber. Zwischenräume fehlen, die Feldfluren müssen zunehmend Erholungsnutzung und Ressourcenschutz in sich aufnehmen, und das bei sich verschärfendem wirtschaftlichen Druck, dem die Landwirte ausgesetzt sind. Die Landwirtschaft prägt diese Naturräume seit Jahrhunderten, nur über den Erhalt dieser Nutzung kann die charakteristische Weite der Landschaft z.B. auf den Fildern erhalten werden. Das Problem (oder die Chance) des Brachfallens von Flächen gibt es hier im Ballungsraum nicht. Die sehr hochwertigen Böden in Verbindung mit der Marktnähe erlauben die Bewirtschaftung jedes Quadratmeters von Boden.

Sicherung durch Gestaltung ist hier die notwendige Strategie, um den Erhalt dieser Böden nicht nur dem schwindenden Berufsstand der Bauern zu überlassen. Und es ist gleichzeitig die am meisten konfliktbehaftete Strategie, denn jede Gestaltmaßnahme, die Fläche kostet, wird von der Landwirtschaft erst mal als eine weitere Konkurenz angesehen und vehement abgelehnt. Die Landwirtschaft aus sich heraus produziert monofunktional genutzte Areale, die hier nur deshalb noch mit vertrauten ästhetischen Bildern belegt werden können, da extrem kleine Parzellen mit Gemüse den Klischees einer bäuerlichen Kulturlandschaft sehr nahe kommen.

Diese Kernflächen des Landschaftsparks Region Stuttgart sind in der Tendenz klassische Landschaftsparks, mit der allen Regionen gemeinsamen Suche nach zeitgemäßen Ausdrucksformen. Die größte Gefahr besteht darin, sie zu neuen Stadtparks durch zu designen, und so die Chance der Offenheit zunichte zu machen.

 

Hier könnten sich allerdings Zweifel an der Logik des Gesamtkonzepts einstellen:
Kann man nach den in der Ebene des Netzes verarbeiteten Erkenntnissen (und den Thesen der Einleitung) noch den Verlust der Stadt als Form beklagen und stattdessen die Landschaft zum Statthalter einer verloren gegangenen Gestaltqualität unserer Umwelt machen? Sind diese großflächigen Gestaltsetzungen nicht kontraproduktiv zu dem ersten Ansatz oder sind sie nicht zumindest illusionär?

Wir denken, daß beide Ansätze nebeneinander Gültigkeit haben. Die Idee des gekerbten Raumes steht neben dem glatten Raum des Netzes. Die Beliebigkeit wild wuchernden Wachstums in der neuen Regionalstadt führt jedoch nicht automatisch zu einer lebendigen Vielfältigkeit. Die Entwicklung könnte über räumliche Brüche und Überraschungen als einem Zwischenstadium, das als belebend empfunden wird, zu einem Zustand der Entropie führen, wo alles wieder gleich ist in seiner Ungleichzeitigkeit. Die allgegenwärtige Gleichheit diffuser Strukturen führt verstärkt zu dem Bedürfnis nach starken gestalterischen Setzungen als Komplementär. Es ist Landschaft, die uns die je einmalige Situation einer Region vor Augen halten kann. Sie hat das Potential, in einer in der Tendenz 'totalen Landschaft' eine Schicht des Besonderen und Spezifischen aufscheinen zu lassen, mit Natur als dem Anderen zu konfrontieren, und zwar in einer kulturell sublimierten Weise.

 

Punkte, Linien, Orte (Ebene 3)

Es wird unmöglich sein, das großangelegte Projekt eines Regionalen Landschaftsparkes flächendeckend in absehbarer Zeit zu realisieren. Es geht ja nicht nur darum, durch eine neue Benennung vorhandene Landschaftselemente umzudeuten, sondern es sind tatsächliche Eingriffe und ein neues Umgehen mit der Landschaft angestrebt. Startprojekte oder Initialaktionen können jedoch aus praktischen Gründen nur punktueller Art sein. Sie müssen Orte besetzen, die so etwas wie eine strategische Position in der Landschaft einnehmen.

Regionaler Landschaftspark konkurriert zwar einerseits mit privater Flächennutzung muß aber ganz grundlegend auch mit dieser harmonieren. Folglich müssen Eingriffe in diese Nutzungsstrukturen immer begrenzte sein: Einzelne Orte des Aufenthalts sollen geschaffen werden oder Wege, die Verbindungen schaffen, oder Markierungen, die einzelne Orte hervorheben.

Über diese eher instrumentelle Definition hinaus wird mit der Park-Ebene der Orte ein grundsätzliches Anliegen verfolgt: Orte zu festigen, entgegen der vorherrschenden Tendenz der Entstehung von Nicht-Orten, um mit   Marc Augé zu sprechen. (19)

Nun stehen diese beiden Kategorien nicht abstrakt nebeneinander, sondern sie kollidieren in einem konkreten Raum. Und sie kollidieren mit Konflikt, nicht nur weil die physische Fläche begrenzt und knapp ist, sondern auch deswegen, weil sie verschiedene Interessen, Lebenswelten, Ökonomien und Menschen repräsentieren und betreffen. Das heißt nicht, daß diese verschiedenen Welten nicht auch in einem Menschen zusammentreffen können: Auch der Bewohner der Randgemeinde in der Region, der sich vermeintlich aufs Land geflüchtet hat, benutzt die Autobahn und fliegt mit dem Flugzeug in die Ferien.

Der regionale Landschaftspark verabschiedet sich von Idealplanungen und arbeitet mit den Brüchen, Fragmenten und Widersprüchen der Realität. Es ist nicht so, daß der Ort die Vergangenheit repräsentiert und zum Untergang verurteilt ist, und mit dem Nicht-Ort ein Teil der Zukunft seine Fühler in die Gegenwart streckt. Damit wäre die Wirklichkeit wieder zu einfach interpretiert, im Sinne einer vereinfachten und unausweichlichen Linearität der Geschichte. Die Wirklichkeit ist widersprüchlich, auch künftig. Der Landschaftspark wird sein Scherflein zu dieser Widersprüchlichkeit beitragen. Er wird Bereiche der Natur in einer modernen Kommunikationslandschaft sichern. Er wird die Widersprüche der Landschaft, das Aufeinanderprallen verschiedener Zeiten und kultureller Modelle offen zeigen. Er wird diese sogar lustvoll inszenieren. Und er wird neue Orte schaffen. Denn Ort ist nicht ein Relikt der Vergangenheit, sondern entspricht einem tief verankertem Bedürfnis des Menschen als sozialem Wesen.

Dieser Begriff von Ort hat vorwiegend eine soziale und kulturelle Konnotation. Es gilt, ihn für die Raumplanung und in Kategorien der Landschaftsarchitektur zu konkretisieren. In ihrer Essenz repräsentiert aber diese Planschicht (Punkte, Linien, Orte) den Ort als symbolisierten Raum.

 

Regionaler Landschaftspark als urbane Entwicklungsstrategie

Rekapitulieren wir noch einmal die entscheidenden Thesen des Konzepts. Es weist auf der einen Seite Argumente auf, die vor dem Hintergrund der aktuellen Stadt-Diskussion eher als traditionelle Komponenten von Urbanität erscheinen:

 

Öffentlichkeit. Gebaute Räume werden zunehmend privatisiert. Landschaft bleibt öffentlich zugänglich. Die Regionalpark-Projekte versuchen diese Tatsache in den Dienst zu nehmen. So wird auch hier Landschaft vom individuellen Kontemplationsraum für die Begegnung mit der Natur zum bewußt als sozialem Ort geplanten Park, für den Auftritt des Einzelnen in der Gemeinschaft, also zum Schauplatz einer Öffentlichkeit. Öffentlichkeit, und nicht nur mediale Öffentlichkeit, ist die Voraussetzung unseres Verständnisses von Urbanität.

 

Gestalt. Als Reaktion auf die eingangs benannte Enträumlichung von Stadtentwicklung und regionaler Entwicklung wird der Versuch unternommen, in ausgewählten Bereichen einer identifizierbaren räumlichen Gestalt zur Durchsetzung zu verhelfen. Ihre Form wird aus der Landschaft heraus erzeugt. Die Kernflächen des Landschaftsparkes Region Stuttgart könnten die Räume sein, über die sich die Region wieder spezifisch definiert. Es ist hier in aller Munde, daß man Stuttgart wegen seiner schönen Landschaft liebt, diese ist das Besondere. Von den architektonischen Großprojekten der letzten Jahrzehnte läßt sich das nicht sagen.

 

Ort. Die großen architektonischen Projekte schaffen Nicht-Orte, die Siedlungsgebiete werden austauschbar - nur die Landschaft hat noch das Potential, Ort zu sein.

Das ist eine etwas gewagte These, die sich nur mit Anstand halten läßt, wenn man den Begriff der Landschaft sehr großzügig faßt. Die Tätigkeiten, Lebensvollzüge, Institutionen der Menschen müssen in den konkreten Raum integriert werden, wenn sie mehr sein wollen als Transitposten der wirtschaftlich Erfolgreichen und Verschleißposten einer Ökonomie, für die Fläche nur "Standort" bedeutet - Standort als Rechengröße unter anderen, der abgestoßen wird, wenn er abgeschrieben ist. Dem steht weiterhin das Bedürfnis gegenüber, sein Leben im konkreten Raum zu verorten. Landschaft ist konkreter Raum mit unverwechselbaren Eigenschaften. Es geht um Höhe, Länge, Breite, Relief und Neigung, Rauhigkeit, Klüftigkeit und Glätte, und auch um Licht und Schatten, Wasser, Feuchte und Trockenheit, Staub und Sumpf, Feld und Baum, Steinriegel und Wald, Weg und Rand - und um Geschichte, die in all dem zu Form geronnen ist. Es ist alles das, was zu dem oft strapazierten Begriff des genius loci beiträgt.

Öffentlichkeit, Gestalt und Ort - es stellt sich die Frage: Ist auf dieser Basis "Landschaft-Umbauen als urbanistisches Instrument" nicht der Versuch, unser altes Verständnis von europäischer Stadt in neue Verhältnisse hinüberzuretten?

Ist Stadt nicht mittlerweile durch die Folgen von Mobilität und Telematik zu einem Thema geworden, das sich durch konkrete Räumlichkeit und Verortung gar nicht mehr beschreiben und bearbeiten läßt? Das würde jedoch bedeuten, daß alles heute an der Stadt neu und anders wäre. Daß der Mensch tatsächlich wieder zum Nomaden wird, wie Flusser diagnostiziert hat, und daß Raum bedeutungslos werden wird, wie das Stichwort Telepolis suggeriert. So sinnvoll solche diagnostischen Thesen sein mögen, um einen Trend überhaupt erkennen zu können, so absurd ist die Ausschließlichkeit, mit der so argumentiert wird. Der Mensch mit seinem Leib wird weiter ein sich räumlich definierendes Wesen bleiben. Er wird weiter wohnen. Er wird weiter als soziales Wesen mit anderen persönlich und materiell agieren. Stadt hat sich dafür als kulturelle und soziale Maschine herausgebildet. Sie wird sich ändern. Aber sie muß nicht neu erfunden werden.

Vielleicht müssen sich die Mittel ändern, mit denen man Stadt gestalten kann. Ein neues Instrument: zum Beispiel Landschaft. Denn damit können wir an charakteristischen Merkmalen der heutigen Situation ansetzen. Wir können das spezifische Potential einer mit Eigendynamik wuchernden Kulturlandschaft durch gleitende Intervention für urbanistische Ziele nutzen.

 

Geschmeidigkeit. Im Landschaftspark Region Stuttgart ist es die Ebene des Netzes, die die notwendige Geschmeidigkeit bietet, um unserem heutigen Stadt-Typus gerecht zu werden. Landschaft - der Stadt bisher fremd, aber nun von ihr vereinnahmt - wird als ihr Teil begriffen. Als ein Bestandteil von Stadt, der zu ihrer Komplexität beiträgt. Das Netz bietet den Raum für das Offene, für die Vielfältigkeit, für das Diffuse und das Informelle.

Geschmeidigkeit riskiert zwar - als bloßes Konzept verstanden -, für eine Instrumentalisierung zu diffus zu bleiben und auf die Praktikabilität eines Biotopverbundes heruntergespielt zu werden. Dennoch gilt es, der Fährte weiter zu folgen. Vor allem liegt hier das spannende Experimentierfeld, neue ästhetische Mittel zu entwickeln. Als Interaktionsmuster ermöglicht es die Integration von disparaten Elementen, von solchen, die täglich unerwartet auftauchen, aber auch die von Gewachsenem und von neuen Gestalten und Orten im traditionellen Sinn.

 

Kleine Eingriffe. Auch das Prinzip der punktuellen Maßnahmen an ausgewählten Schlüsselstellen oder entlang von strategischen Linien ist Bestandteil eines Konzepts der weichen Intervention. Der punktuelle Eingriff soll für ein Gebiet keine eindeutigen und endgültigen Festlegungen treffen, vielmehr soll er Bezüge offen halten. Auch er kann zwar im traditionellen Sinn zur stabilen Verortung dienen, aber kann gleichzeitig vieldeutige Relationen aufspannen. Da wir uns unserer Sache nie ganz sicher sein können, ist der sparsame Eingriff das adäquate Mittel für eine effektive, aber reversible urbanistische Strategie.

Wir meinen, der Komplexität des Problems mit der Mehrschichtigkeit des Konzeptes für den Landschaftspark Region Stuttgart gerecht zu werden. Wir wollen nicht die eine Ebene des Konzeptes gegen die andere ausspielen. Nur in ihrer Summe taugen sie zu einer Strategie, Strukturprobleme der heutigen Stadt mit der Thematisierung der regionalen Landschaft zu behandeln.

 

 

Anmerkungen

1 Rolf Peter Sieferle, Rückblick auf die Natur - Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. München 1997, S. 113 ff

2 Rolf Peter Sieferle, a.a.O. S. 24

3 zitiert nach Hubertus Fischer, Nur wer den Garten bebaut, weiß, was Wildnis ist. In: Die Gartenkunst, H.1/97, S. 29

4/6 Jochem Schneider, A discussion of the individual in the city as landscape.
In: nuevos paisajes / new landscapes, Katalog Museu d'Art Contemporani de Barcelona, Barcelona 1997

5 Cees Nooteboom, Die Sohlen der Erinnerung - Die Stadt, die Frau und der Flaneur- ein sehr persönlicher Streufzug durch die Geschichte einer Denkfigur.
In: Die Zeit Nr.49 / 1995, S. 63

7 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 102

8 Theodor W. Adorno, a.a.O. S. 100

9 Robert Fishman, Die befreite Megalopolis : Amerikas neue Stadt.
In: Arch+ 109/10 1991, Der Sprawl - Die Auflösung der Stadt in die Region, S.73

10 Martin Manz, Reinhard Matz, Unsere Landschaften. Köln 1980 Helmuth Baruth, Klaus Steinke, Hessen vermessen. Frankfurt a. M. 1982

11/12 Frank-Bertolt Raith, Die Utopie des Urbanen. In: Bauwelt 37 / 1998, S. 2122

13 Fischli + Weiss, Abbildungen
In: Walter Prigge (Hrsg.), Peripherie ist überall. Frankfurt / New York 1998

14 Richard Sennett, Civitas - Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt a. M. 1994, S. 161

15 Sophie Wolfrum, Ulrike Sacher, Brigitte Schmelzer, Alban Janson, Landschaftspark Mittlerer Neckar Region Stuttgart, Auftraggeber und Herausgeber Regionalverband Stuttgart. Stuttgart 1994 Sophie Wolfrum, Brigitte Schmelzer, Thomas Friedemann, Alban Janson, Landschaftspark Naturraum Filder - Filderpark Region Stuttgart - Teil 2, Auftraggeber und Herausgeber Verband Region Stuttgart. Stuttgart 1997

16 Der folgende Text basiert auf: Sophie Wolfrum, Alban Janson, Landschaftspark Region Stuttgart. 3 / 1998  [zur Veröffentlichung vorgesehen in: Potz, Selle (Hrsg.), Spazi Aperti. Dortmund 1999]

17 Martin Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt / New York 1994, S. 294

18 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992, S. 657 ff

19 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a.M. 1994

Positionen Positions ðÏÚÉÃÉÉ