Thema
5. Jg., Heft2
Dezember 2000

Yelena Remizova

Ausbildung zu künstlerischer Kreativität als evolutionärer Prozess

In Folge der Komplizierung und Veränderung des Charakters der Entwurfsaufgaben wird im letzten Jahrzehnt in der Architekturtheorie und –pädagogik immer größeres Augenmerk auf die gedankliche Verarbeitung der Prozesse zur Vervollkommnung der kompositorischen Meisterschaft gelegt. Gegenstand der Analyse werden die unterschiedlichen Erscheinungsformen künstlerischer Kreativität. Dabei stehen Techniken und Methodiken der kompositorischen Tätigkeit und der eigentliche Vorgang der Schaffung eines Kunstwerkes im Mittelpunkt. Derzeit kann die moderne Architekturtheorie den Prozess der künstlerischen Kreativität und insbesondere der kompositorischen Arbeit eines Architekten allerdings nur annähernd und sehr schematisch beschreiben. Dieser Prozess ist schwer fassbar, und wie Sand rinnt er durch die Finger; denn unser Gedächtnis speichert Muster und imaginäre Bilder, aber nicht den Ablauf eines kreativen Prozesses. Einem Studenten soll aber gerade die Organisation kreativer Prozesse und kompositorischer Tätigkeit vermittelt werden.

Das Interesse an der Kompositionspädagogik ist an der Schwelle zum dritten Jahrtausend durch sehr komplizierte Veränderungen bedingt, die sich im Architekturberuf vollziehen. Das zum Ende des 20. Jahrhunderts in der nationalen Architekturpädagogik entstandene starre Ausbildungssystem, in dem der Student „Finalwissen" lernt, das im Bewusstsein ein starres Gefüge von Kenntnissen und Fertigkeiten und deren Anpassung an die jeweiligen praktischen Aufgaben fixiert, wird der notwendigen Lösung nichttraditioneller und ungewöhnlicher Aufgaben nicht gerecht. Eine Analyse macht deutlich, dass der Akzent in der Ausbildung künftiger Fachleute auf die Herausbildung eines auf die Selbstentwicklung ausgerichteten Denksystems zu übertragen ist.

Von entscheidender Bedeutung für die Erreichung dieser Zielstellung kann eine Umkehr der für den Architekturberuf grundlegenden Ausbildungsfächer sein, wie z.B. Entwerfen, Berufsgeschichte und Komposition. Die Ausbildung in Architektur und Komposition hat stets auf dem Studium der Geschichte beruht, wenn man einmal von der zwar kurzzeitigen, aber äußerst radikalen Abkehr in den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts absieht. Die Kompositionslehre wurde jedoch in den zurück liegenden 70 Jahren von diesem offensichtlichen und sogar trivialen Gedanken losgelöst. Die Zuwendung zu den formalistischen Ansätzen von Bauhaus, Wchutema Ulm und anderen Schulen und Strömungen erwies sich für die Kompositionspädagogik als verhängnisvoll. Schaut man sich einmal die Ausbildungsprogramme heutiger Kompositionskurse an, sieht man sich zu der Feststellung genötigt, dass diese ihres historischen Inhaltes verlustig gegangen sind und die Vielfalt der im Laufe der historischen Entwicklung der Architektur entstandenen Ansichten zur kompositorischen Meisterschaft in keiner Weise Einfluss hat auf den Inhalt des Gegenstandes der Lehre.

Die Wurzeln dieser Erscheinung entführen uns in die „formale Kompositionstheorie", die in den eingangs genannten Schulen entwickelt wurde. Die Kompositionstheorie hat sich als Wissenschaft verstanden. Das Bestreben, eine Architekturtheorie auf streng wissenschaftlicher Basis aufzubauen, hat die Einbeziehung wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden aus anderen Wissensgebieten in die Architektur stimuliert. Die Suche nach objektiven Gesetzmäßigkeiten für die Formgestaltung wurde durch die Forschungen auf dem Gebiet der Psychologie und Psychophysiologie untermauert.

Die Erreichung der absoluten Wahrheit bzw. des absoluten Wissens, das man auf wissenschaftlich-analytischem Weg erhält, beendet damit weiteres Forschen. Denn die Entdeckung der Gesetze des Aufbaus der reinen Form war eine Verheißung der Meisterung von Ewigkeit. Das Ziel schient erreicht – in der Herausbildung einer Sprache der reinen abstrakten geometrischen Formen. Diese Sprache ist ewig und unveränderlich, und deshalb macht es keinen Sinn, sich der Geschichte zuzuwenden, weder in der Gegenwart, noch in der Zukunft.

Anfangs war die Komposition ein eigenständiges Lehrfach; sie stand in einer Reihe mit Geschichte und Entwerfen. Dabei wurde der Inhalt des Kompositionsbegriffes stark eingeschränkt, er wurde mit der Form gleich gesetzt und vom historischen Stoff los gelöst. Dadurch wurde die Komposition verdinglicht, zu einer Sache, einem Gegenstand, einem Werk gemacht. Die Vorstellung von Komposition wurde in eine Reihe gestellt mit den Begriffen von Funktion, Konstruktion, Masse, Raum usw.; daher wurde sie genau so zu einem Objekt des Entwerfens wie diese.

Die formale Logik wurde kombiniert mit einem starren praktisch-methodischen Ansatz, der auf die Entwicklung eines Systems praktischer Aufgabenstellungen ausgerichtet war, die die so genannten „Mittel" der Formbildung offenbarten. Dabei hatte die Suche nach den objektiven Gesetzen der Harmonie der Welt einen Verlust an persönlichen, individuellen Qualitäten, einen Tausch des Konkreten gegen das Abstrakte und Universelle zur Folge.

Im Gegensatz zu dieser Methodik muss die Strategie zur Gestaltung eines neuen Studienganges zur Kompositionsausbildung unserer Meinung nach auf den theoretisch-methodologischen Grundlagen und der historisch-genetischen Erschließungsmethode der historischen Erfahrungen des Architekturberufes beruhen. Von einem formalen Ansatz ist zu einem Studium der Evolution des kompositorischen Denkens und Handelns des Architekten überzugehen und auf dieser Basis die Untersuchung des Gesamtsystems von Begriffen, Mitteln und Techniken der kompositorischen Kreativität aufzubauen.

Da es in der eigentlichen Kompositionstheorie keine Mittel für die Zusammenführung sämtlicher im Evolutionsverlauf entstandener Ansichten, Vorstellungen, Mittel, Verfahren und Methoden gibt, stellt sich die Aufgabe der Einbeziehung architekturferner theoretischer Mittel, die einen Seitenblick auf die komplizierte Situation und die Gestaltung eines Gesamtbildes möglich machen. So etwas könnte ein Systemansatz sein, bei dem die Betrachtung einer Komposition nicht als Summe einer riesigen Anzahl von Mustern verstanden wird, sondern als spezifisches künstlerisch orientiertes System von Denken und Handeln. In diesem Fall wird professionelles Denken und Handeln von Architekten, Künstlern und damit verwandten Berufen zum Gegenstand der Pädagogik.

Die neue Konzeption appliziert eine Reihe methodologischer Gedanken:

  • Abkehr von der Suche nach ewigen Wahrheiten und nach Normgerechtigkeit beim Wissenserwerb;
  • Idee des Primats der Entwurfstätigkeit und der Zweitrangigkeit ihres Ergebnisses – des Architekturentwurfes;
  • inhaltlich-genetischer Ansatz bei der Erschließung des kompositorischen Erfahrungsschatzes;
  • Anerkennung des Meinungspluralismus und der Mehrdeutigkeit der Vorstellungen über Komposition.

Ein Anstoß zu einer derart radikalen Wende bestand darin, dass man sich durch die verschiedenen Architekturströmungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Unvollständigkeit der Methode der abstrahierten Formbildung bewusst wurde. Immer häufiger richtet sich der Blick der Architekten auf die Geschichte als eine Quelle professioneller Ideen. Solche Architekturströmungen wie die Postmoderne und der Dekonstruktivismus wendeten sich von einem formalen Ansatz ab und richteten ihr Augenmerk auf die inhaltlichen Aspekte des Entwerfens und der Komposition. Die aus formalistischer Sicht als unlogisch erscheinenden Experimente der Vertreter der Postmoderne sind vollkommen normal und folgerichtig für ihre historisch-assoziative Denkmethode bei der Entstehung eines Werkes durch das Zusammenfließen von semantischen Formen, Zeichen und Inhalten verschiedener Zeitebenen. Die bei den Meistern der Postmoderne zu beobachtende Formencollage ist lediglich ein äußeres Erscheinungsbild, eine Spur der Verbindung logischer Ansätze der verwendeten Stile. Eine Störung der gefestigten Logik und deren Kongruenz mit Ansätzen aus anderen Kompositionsparadigmen ist für die Postmoderne ganz natürlich.

Verwunderlich ist allerdings, dass in der Ukraine die nahezu 30 Jahre der Entwicklung der Ideen der Postmoderne und des Dekonstruktivismus in der Pädagogik der kompositorischen Kreativität praktisch nicht zum Ausdruck gekommen sind. Das System der Begriffe und die komplizierte Kombinatorik der für diese Strömungen logischen Ansätze sind in keinem Lehrplan beschrieben und artikuliert und aus diesem Grunde für die Studierenden schwer zugänglich.

Die neue Methodik für die Kompositionslehre beruht auf theoretisch-methodologischen Grundlagen, auf einem systematischen Ansatz und einer historisch-genetischen Methode für die Erschließung des historischen Erfahrungsschatzes des Architekturberufes. Das ermöglicht einen Übergang von der objekt-morphologischen Lehrmethode zum Studium der Evolution des kompositorischen Denkens und Handelns des Architekten, sowie ein Verständnis vom Begriff, von den Methoden und Mitteln der kompositorischen Kreativität als sich entwickelndes System. Die Komposition stellt sich in diesem Falle nicht in Form einer Summe aus einer unendlichen Anzahl künstlerischer Muster und formaler Verfahren, Normen und Regeln dar, sondern als ein spezifisches System des Denkens und Handelns. Der Begriff der Komposition wird als mehrdeutig und sich entwickelnd verstanden, wozu ein breites Spektrum an Vorstellungen gehört, die sich im Verlaufe der Jahrhunderte langen Entwicklung künstlerischer Tätigkeit heraus gebildet haben.

Die Idee von der Entwicklung einer neuen Methodik für die Kompositionslehre besteht darin, dass den Studierenden die Vielgestaltigkeit von Kompositionswissen und –vorstellungen offenbart und vorgeführt wird (und ihnen im Idealfall vermittelt wird, wie sie diese selbst extrahieren können), indem sie in eine methodische Form der Lehre überführt werden. Zur Anwendung dabei kommen eine Schematisierung des Evolutionsprozesses, die sowohl die Zeiträume des stabilen Zustandes jeden Typs von kompositorischem Denken, als auch die Entstehungszeitpunkte und Brüche fixieren. Bei einem solchen Ansatz werden nicht nur der objekt-morphologische Typ des kompositorischen Denkens und dessen formale Methoden und Verfahren deutlich, sondern auch der kanonische, dialogische, normativ-rationalistische, historisch-typologische, stilistische, historisch-assoziative und destruktive Typ. Der formale Ansatz ist eines von vielen, aber nicht das einzige Kompositionsverfahren. Diese Reihe ist offen und kann je nach der Entwicklung des Berufes und der Vertiefung der historisch-theoretischen Forschung fortgeführt werden.

Jedem der genannten Typen des kompositorischen Denkens entsprechen eine oder mehrere Kompositionstechniken (Logiken), die in der modernen Architekturpraxis nicht zu Grunde gehen, sondern in komplizierten Kombinationen und Verflechtungen fortbestehen. In der vorgeschlagenen Methodik wird der Versuch unternommen, den Studierenden eine Vorstellung von jeder Technik kompositorischer Arbeit und von der Vielgestaltigkeit moderner kompositorischer Vorstellungen durch die Realisierung einer Serie von kompositorisch-analytischen Aufgaben zu vermitteln. Die Vollständigkeit der Lösungen wird erreicht durch die Herstellung einer Anpassung der unterschiedlichen Begriffe und Vorstellungen über die Komposition an die verschiedenen Verfahren und Methoden der kompositorischen Arbeit, die spezifische Art und Weise ihrer Wechselbeziehung in jedem Typ der kompositorischen Tätigkeit.

Das Bewusstwerden der Mehrdeutigkeit des Begriffes der Komposition und der Vielfalt der Kompositionslogiken führt zu einer solchen Technik der künstlerischen Kreativität, die als „Polylog" bezeichnet werden könnte. Die Beherrschung verschiedener Kompositionslogiken ermöglicht dem Architekten, diese in der eigenen Praxis als gleichwertige, in Gesprächsbeziehungen zueinander tretende Beziehungen zu nutzen und damit seine eigenen „künstlerischen Texte" zu schaffen.

In der gegenwärtigen Architekturpraxis befindet sich eine Vielzahl unterschiedlichster Begriffe und Vorstellungen in Umlauf. Deren Entstehung ist durch die Vielzahl zeitlich verschiedener Ereignisse und Situationen bedingt. Jeder Begriff wurde zur Lösung bestimmter historischer Aufgaben geschaffen, dessen mechanische Herauslösung aus dem Kontext führt zu einer Kastration seines Inhaltes. Wenn es um Begriffe geht wie Komposition, Symmetrie, Tektonik u.ä., sollte man sich deshalb genau bewusst sein, dass das bei weitem keine einfachen, allgemein verständlichen Termini sind, sondern komplizierte, polysemantische, die die Bürde der evolutionären Entwicklung tragen. In ihnen sind viele Bedeutungen und Inhalte akkumuliert und summiert. Ihre Beziehung zu operationalen Mitteln, wie Proportionierung, geordnete und symmetrische Struktur u.a., ist ebenfalls nicht eindeutig. Eine mechanische Anwendung dieser Mittel stört das semantische Wesen des zu entwerfenden Objektes. Deshalb ist es für die Studierenden so wichtig, dass sie den Ursprung und den Sinn dieses oder jenen kompositorischen Begriffes oder Verfahrens begreifen.

Die Tiefe dieses Brunnens ist unerschöpflich, und wahrscheinlich ist es nicht möglich und auch gar nicht nötig, sämtliche Verfahren und Varianten der Anwendung zu beschreiben. Durch die Einführung analytischer Übungen können den Studierenden jedoch die Technik und die Fertigkeit zur selbständigen Wahl der Kompositionsmittel aus den historischen Architekturerfahrungen vermittelt werden. Damit werden sie in der Lage sein, ihr Reservoir je nach der Entstehung neuer praktischer Aufgaben aufzufüllen.

Die Fähigkeit, sich im uferlosen Meer der Kompositionsmittel sowohl in begrifflicher, als auch in operationaler Hinsicht zurecht zu finden, wird in der vorliegenden Methodik durch die Korrelation der Aufgaben gegründet, die bei der Entwurfs- und Analysearbeit gestellt werden, mit einem Fächer von Methoden und Verfahren zu deren Lösung im Rahmen der verschiedenen Ansätze. Dazu wird in der Kompositionstheorie eine Typologie von Vorstellungen über die Komposition, die Methoden ihres Funktionierens und die Fixierung erarbeitet.

Gegenwärtig vollzieht sich ein Prozess der Abstraktion des kategorialen Apparates und die Summierung eines neuen Systems von Architekturbegriffen. Deshalb wird ein Wechsel der Prioritätsbegriffe zum Mittel für die Vervollkommnung der Methodik der Kompositionsausbildung der Architekten. Das vorgeschlagene pädagogische System ist offen und setzt die Einbeziehung neuer Inhalte voraus. Das bedeutet, dass parallel zu den Begriffen, die historisch tief verwurzelt sind, die Einführung völlig neuer, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandener Termini erforderlich ist. Damit sind solche Begriffe gemeint wie z.B. Dramatisierung und Inszenierung, Montage und Collage, Zitieren und Codieren, Destruktion und Superposition usw.

Die Vollständigkeit des Begriffsapparates und die logische Beziehung der Vorstellungen über die Komposition auf der Handlungsebene ist oberstes Prinzip des neuen pädagogischen Ansatzes.

 

Anmerkung:

In diesem Beitrag geht es um die Vorlesungsreihe „Künstlerische Methoden der Architekturkomposition" und um die Methodik der Kompositionsausbildung, die am Lehrstuhl Grundlagen der Architektur der Staatlichen Technischen Universität für Bauwesen und Architektur Kharkov entwickelt wurde.

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