6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
Einleitung

 

Während der letzten Jahrzehnte wurde unter Mitwirkung nahezu aller fashionablen Architekturströmungen trotz deren Heterogenität gemeinsam an einer Immaterialisierung der Architektur gearbeitet.

 

I.

Man könnte meinen, der Vorwurf der Immaterialisierung sei absurd, da Architektur ja stets gebaut und deshalb auch materialisiert werde.

Das eigentlich Architektonische wird jedoch in letzter Zeit immer weniger in einem inneren Zusammenhang mehr mit seinem Material gesehen; vielmehr benötigt es dieses nur noch als Trägersubstanz: das Materiale der Architektur ist nur noch banaler Stoff und neutraler Grund oder Folie, ohne das eigentlich Architektonische in irgendeiner Weise zu tangieren oder gar zu konstituieren.

Das Architektonische selbst ist zu einem intellektuellen Spiel mit formalen Sprachen, mit kognitiven Vorein­stellungen und Erwartungen geworden, es besteht im Konzept, in der Idee. Architektur wird auf einen intellektuellen Diskurs reduziert und dabei von der Praxis losgelöst.

Der Bau dient nur noch als General-Anzeiger privater Philosopheme und nicht mehr als stilvolle und anmutige Bewältigung praktischer Probleme, nicht mehr als kunstvolle Ordnung von Wirklichkeit. Der Architekt versteht sich immer mehr als Philosoph (zumindest hat er immer einen an der Hand).

 

Das Architektonische existiert rein nur in der Zeichnung, im Modell, im kurz vor der Nutzung durch ein Foto eingefrorenen Zustand, und ist nur dann eigentlich Architektur.

 

Das Architektonische hat das Medium gewechselt und wird zur Literatur.

Erst das Reden macht die Architektur, deren adäquate Aneignung nicht das Sehen oder gar das Bewohnen, sondern allein das Zuhören und das Lesen ist. 

 

Die Immaterialisierung ist nicht nur auf die Verdrängung des Baustofflichen aus der Konstitution des Architektonischen beschränkt, Entmaterialisierung meint nicht nur eine Ent-material-isierung, also das Unwichtigwerden der Stofflichkeit der Architektur, sondern es meint auch eine Entgegenständlichung der Architektur, wobei als Ding und Gegenstand zusammen kommt, was sich dem bloßen Denken und subjektiven Wollen an Stofflichkeit sowie an materialisierten sozialen Strukturen, gesellschaftlichen Regelungen, Geschichtlichkeit, Zweckgerichtetheit, Sinn und Ordnung entgegen stellt.

 

Architektur immaterialisiert sich zudem durch Virtualisierung.

Allerorten wird in ‚Telecities‘ der Versuch gemacht, durch Bau und Ausbau von Datennetzen bisher in direkter körperlicher Interaktion auszuführende Tätigkeiten, wie Arbeit und Dienstleistungen, die betriebliche und alltägliche Kommunikation, die Informationsbeschaf­fung, den Einkauf, Organisations­tätigkeiten und die Freizeit durch virtuelle Regelungen abzulösen. Ziel ist die Herstellung eines ‚Global Village‘ (McLuhan), in dem nicht nur der Bau durch Neue Medien ersetzt, sondern auch die Nutzer von jeder materialen Beschränkung und Bindung und der eigenen fleischlichen Natur befreit werden.

Diese virtuelle Welt ist abstrakt, denn in konstruierten Welten fehlt das individuell Konkrete und das Spezifische. Architektur ist ohne Faktizität, genius loci, Verbindlich­keit, Erinnerung und Geschichte.

 

II.

Mit der Untersuchung der ‚Architektur als ästhetischer Praxis‘ wird dieser Immaterialisierung der Architektur und Lebenswelt entgegen gesteuert, ohne allerdings ins andere Extrem, in einen nackten Materialismus  zu fallen und Architektur allein auf den handwerklich gelungenen Umgang mit Baumaterialien zu reduzieren.

 

Dabei gibt es in der Geschichte der philosophischen Ästhetik, der Kunst- und Architekturtheorie, sowie in praktischen Umsetzungen in der Architektur  immer wieder Versuche,  Ästhetik und Praxis (wenn man so will, Leib und Seele),  Produzent und Nutzer, Wirklichkeit und Kritik zusammenzusehen.

Vor allem im 18. und 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten Architekten und Philosophen, Praxis und Kunst miteinander zu einer ‚praktischen Ästhetik‘ zu integrieren. Ihnen ging es dabei um die Frage, was Schönheit, insbesondere auch, was Proportionen und was ästhetische Ordnungen sind, welchen Bezug Schönheit zur Wahrheit hat und wie sie im Alltag realisiert werden kann.

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So spricht - um nur einige Positionen zu benennen - im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum Alexander Gottlieb Baumgarten mit der ersten ausformulierten modernen Ästhetik in der Überschrift zum zweiten, dann allerdings nicht ausgeführten Teil von einer ‘Praktischen Ästhetik’. Für den englischsprachigen Raum entwickelt Shaftesbury in seiner Schrift ‚Die Moralisten‘ eine Art ‚praktischer Ästhetik‘. Im 19. Jahrhundert nimmt dann z. B. Adam Müller den Versuch wieder auf. Im 20. Jahr­hundert sehen wir eine Reihe von Philosophen und philosophisch orientierten Soziologen und Psychologen (sei es in phänomenologischer, ‚kritischer‘ oder pragmatistischer Orientierung) , die an einer ‚praktischen Ästhetik‘, an der Analyse und Explikation der Art der Vermitteltheit von Ästhetik und Praxis, arbeiten.

 

Im Architekturgeschehen des 19. Jahrhundert versteht Gottfried Semper ganz explizit Architektur als ‚praktische Ästhetik‘, ebenso wie etwa Camillo Sitte (Vorwort zu ‘Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889) und seine Nachfolger (Heinrich Maertens, Karl Henrici).

Im 20. Jahrhundert hat es sich die ‚Moderne‘ (Loos, Taut, Gropius, Meyer usw.) zur Aufgabe gemacht, den Zusammenhang von Ästhetik und Praxis zu bedenken und in ihren Gebäuden zu realisieren.

 

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