6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
___Gunter Gebauer
Berlin
Taktilität und Raumerfahrung bei Wittgenstein

Wenn Philosophen das Medium wechseln, in dem sie ihren Gedanken Ausdruck geben, verändert sich auch ihr Denken. Im neuen Medium können sie sich anders bewegen, etwas sagen, was ihnen vorher, aus mancherlei Gründen, nicht möglich war, so dass sie ihr Denken nicht einfach nur in einem anderen Kontext fortsetzen, sondern eine Freiheit zu neuem Ausdruck und damit neue Denkmöglichkeiten gewinnen. Eine solche Öffnung ist insbesondere bei einem Philosophen zu erwarten, der seine Lebensregungen in Philosophie umdachte und für den die Philosophie ein Mittel war, sein Leben zu führen.

1.
Für Ludwig Wittgenstein wurde das Leben sehr früh ein philosophisches Problem und Philosophieren zu einer Lebensnotwendigkeit. Die Schwierigkeit, seine Philosophie zu verstehen, besteht zu einem nicht geringen Teil darin, dieser Verschränkung von Leben und Philosophie einen objektiven Ausdruck zu geben. Als Wittgenstein am Ende des "Tractatus" feststellte, dass es keine Möglichkeit des philosophischen Ausdrucks dieses Problems gibt, wurde auch sein Leben eingeschränkt. "Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort."1 Es bleibt keine streng formulierbare Frage mehr, aber das Leben bleibt fraglich. "Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems." (Satz 6.521) Wittgensteins psychische Verfassung zu jener Zeit, als ihn seine Schwester Margarethe und sein Freund Paul Engelmann zum Bau des Hauses hinzuzogen, war verzweifelt. Kein Problem seines Lebens war verschwunden. Unter der Perspektive seines Lebens ist das Schweigegebot in Satz 7 des "Tractatus" die Rückseite der erfolgreichen Lösung seiner philosophischen Probleme: Es ist Ausdruck des Scheiterns bei der Klärung seiner Lebensprobleme; denn tatsächlich war mit dem Abschluss des "Tractatus" keine der Schwierigkeiten, die ihn in seinem Leben gequält hatten, gelöst. Als Ludwig Wittgenstein das Philosophieren einstellte, wurde ihm sein Leben sehr schwer. Er brauchte offensichtlich seine philosophische Aktivität, um seinem Leben einen Ausdruck zu geben und mit sich ins Reine zu kommen.

Das Haus, das Wittgenstein in Wien für seine Schwester Margarethe gebaut hat, spielt in seinem Leben eine außerordentlich wichtige Rolle. "Wittgenstein macht durch das Bauen, durch seine intensive Beschäftigung mit Architektur, eine Erfahrung an sich selbst, eine künstlerische Erfahrung. Daraus entstehen Fragen für seine philosophische Arbeit".2 An den jetzt in der "Wiener Ausgabe"3 edierten Manuskripten aus der Zeit, die dem Hausbau unmittelbar folgte und in der er seine philosophischen Aktivitäten wieder aufnahm (1929/30), kann man verfolgen, wie sich Wittgenstein Schritt für Schritt vom "Tractatus"-Denken entfernt und sich die Elemente einer neuen Philosophie erarbeitet. Auslöser dafür ist nicht nur die lange Pause, welche seine Identifizierung mit deren Lösungen gewiss lockerte, sondern Wittgenstein selbst wird schnell klar, dass er selbst sich verändert hat. Die Aufzeichnungen beginnen mit Datum vom 2.2.1929: "Wieder in Cambridge. Sehr merkwürdig. Es ist mir manchmal, als ob die Zeit zurückgegangen wäre. Ich mache diese Eintragung zögernd. Ich weiß nicht, was mich noch erwartet. Es wird sich etwas ergeben! Wenn der Geist mich nicht verlässt. Jetzt schwinde ich sehr unruhig, weiß aber nicht um welche Gleichgewichtslage. Die Zeit hier sollte oder soll in Wirklichkeit eine Vorbereitung auf etwas sein. Ich soll mir über etwas klar werden."4

Gleich nach der Wiederaufnahme der Arbeit lassen sich einige neue charakteristische Züge seines Philosophierens erkennen, die wesentlich zur Entwicklung der Gebrauchskategorie beitragen.. Seine Wahrnehmung hatte sich verändert; man kann sie als eine sinnliche, aisthetische Öffnung für die Gegenstandswelt kennzeichnen, als eine neue Art zu sehen, die sich in einer ästhetischen Art zu schreiben, Gleichnisse zu finden, mit sich selbst zu sprechen, ausdrückt. Erst ganz allmählich wirken sich diese Veränderungen in seinem Denken aus; erkennbar werden sie an den Aufzeichnungen aus der Zeit nach seiner Rückkehr nach England. Sein Denken verläuft, zuerst gelegentlich, dann in Form von kreativen Schüben und Durchbrüchen, in anderen Bahnen als früher und durchstößt immer häufiger den Kokon der Tractatus-Philosophie, in den es sich eingesponnen hatte. Diesen Übergangsprozess will ich genauer betrachten und dabei Merkmale hervorheben, die für seine neue Denkweise typisch sind.

Die Veränderungen lassen sich, gestützt auf die "Wiener Ausgabe", recht genau angeben, so dass man sich nicht mit Hinweisen auf den allgemeinen Lebensprozess zufrieden geben braucht. Sie lassen den Einfluss des Bauens erkennen, der praktischen Arbeit als Architekt in einem materialgesättigten Medium, einer Arbeit, die auf Kooperation mit anderen angewiesen ist. Auch das Lehrerdasein hatte Wittgenstein beeinflusst,5 aber beim Bauen geht es um den expliziten, öffentlichen und geformten Ausdruck seines Denkens in einem anderen symbolischen Medium als der Schrift. Es soll hier nicht Wittgensteins Biographie in jenen Jahren verfolgt, sondern eingeschätzt werden, welche Wahrnehmungen, Erfahrungen, Überlegungen es waren, die Wittgenstein zur Kategorie des Gebrauchs und ihrer Ausarbeitung geführt haben. Die Rekonstruktion der Genese dieses Konzepts ermöglicht es uns, ein genaueres Verständnis dieses vagen Begriffs und seiner Rolle in Wittgensteins Denken zu gewinnen.

2.
In seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1929/30 sieht man Wittgenstein gleichsam bei der Arbeit zu, wie er Vorschläge formuliert, sich langsam voran tastet, manche Formulierungen aufgibt, an ihrer Stelle neue sucht und schließlich seine Linie findet. Anders als in den "Philosophischen Untersuchungen", wo der Gebrauchsbegriff umstandslos wie ein Fachterminus zur Lösung philosophischer Probleme eingeführt und verwendet wird, lässt sich hier seine Genese erkennen. Nachdem er Eingang in das Denken Wittgensteins gefunden hat, wird er bei der weiteren Arbeit gelegentlich wieder hervorgeholt; er scheint vielversprechend zu sein, aber er findet noch nicht seine rechte Rolle. Anfangs versucht Wittgenstein, ihm einen Platz in der Abbildtheorie zuzuweisen, doch hier kann er seine Problemlösungs-Qualitäten noch nicht entfalten, weil er nicht zu der im "Tractatus" vertretenen Auffassung passt, die Sprache bestehe aus Bildern. Aber er erweist sich im weiteren Nachdenken als geeignet, das Funktionieren der Sprache besser zu beschreiben als die alte Abbildtheorie, die Wittgenstein zunehmend als hinderlich empfindet, obwohl er an ihr noch festhält.

"Gebrauch" wird in dieser Zeit des Suchens und probierenden Formulierens noch nicht zu einem philosophischen Begriff ausgearbeitet, sondern er dient zur Kennzeichnung eines komplexen Zusammenhangs. Welche Bestimmungsstücke in dieses Konstrukt eingehen, lässt sich mit den Wittgenstein zur Verfügung stehenden Mitteln der analytischen Philosophie noch nicht hinreichend darstellen. Auch später gibt Wittgenstein nie eine Explikation dieses Begriffs, was von der Wittgenstein-Gemeinde zum Anlass genommen wird, den Gebrauch entweder zu mystifizieren oder als unexplizierbaren Term zu verwenden, der an den Common Sense und an ein von Theoriebildung unbehelligtes Verstehen appelliert. Beide Begriffsdeutungen gehen an der Sache vorbei; sie haben nicht erkannt, dass Wittgenstein offenkundig noch keine entwickelten Begriffe zur Verfügung standen, die geeignet sind, die in diesem Konzept enthaltenen Bezüge zu gesellschaftlichem Handeln, zum intentionalen Aspekt der sozialen Welt und zur Bedeutung des Körperlichen zu erfassen. Wittgenstein entfaltete sein theoretisches Denken auf seine Weise, indem er Gleichnisse und Beispiele erfand. Seinem Denken gab er so eine faszinierende erzählerische Form, die seine Geschichten in ihrer Rätselhaftigkeit stehen lässt. Gewiss wird man seine Gleichnisse und Mini-Erzählungen nicht einfach in rationales Denken auflösen können, aber es gibt heute einige Begriffswerkzeuge, die den mit der Gebrauchskategorie dargestellten komplexen Zusammenhang genauer zu explizieren erlauben. Bourdieus Konzept des Habitus liefert ein wichtiges, Wittgensteins Denken sehr nahe stehendes theoretisches Konstrukt.6 Eine nützliche Ergänzung ist weiterhin der Begriff der Intentionalität, aber nicht jener aus dem Umkreis Husserls, der dem analytischen Denken zu fremd ist, sondern die von John Searle entwickelte Theorie der intentionalen Beschaffenheit der sozialen Welt.7 Schließlich sind neuere historisch-anthropologische Arbeiten geeignet, den Aspekt der Körperlichkeit von Handeln und Sprache hervorzuheben.8 Mit Hilfe dieser – unter dem hier gewählten Aspekt - eng verwandten Konzeptionen lässt sich zeigen, wie Wittgenstein mit der Gebrauchskategorie das Vermögen und die praktische Fähigkeit entwirft, die das handelnde Subjekt in die Lage versetzen, die intentionale Struktur der Welt in sich aufzunehmen, ein "funktionelles Äquivalent" (Searle) von dieser zu bilden und selber der Welt gegenüber intentional zu handeln.

3.
Das Wittgenstein-Haus ist nicht nur ein bauhistorisches Denkmal, sondern vor allem ein konkretes Objekt, an dem sich Wittgensteins Sinnlichkeit und Kreativität entfaltet hat. Bauen ist eine Praxis im Material und ist von ihrer Ingebrauchnahme durch Menschen nicht abzulösen. In Räume tritt man ein und lebt in ihnen, durch Flure geht man hindurch, Treppen werden bestiegen, Türen werden mit Türgriffen geöffnet, Schlüssel schließen ab, indem sie in den Schlüssellöchern gedreht werden. Der Architekt muss sich, zumindest in Gedanken, in seinem Haus bewegen; er muss sich vorstellen, was man mit diesem macht, wozu es dienen soll. Bernhard Leitner schreibt über das Wittgenstein-Haus, es sei ein "Haus in Bewegung", das heißt: ein "Haus im Gebrauch" (B. Leitner, a.a.O., S. 11). Wir lernen ein Haus kennen, wenn wir es in unserem Leben benutzen. So lange es auf dem Papier steht, erfassen wir mit dem Sehsinn nur seine Geometrie; es bleibt flach. Als gebautes Haus erhält es Tiefe, Räumlichkeit, Materialität und wirkt auch auf die anderen Sinne. Ich kann es nicht länger sehen wie ein geometrisches Gebilde; es liegt nicht unter meinen Augen wie eine Zeichnung. Ich selbst stehe im Raum; es gibt einen Raum vor meinem Körper und hinter mir; ich kann mich umdrehen und hinter mich sehen. "Ich will wissen, was hinter mir vorgeht und drehe mich um. Wäre ich daran verhindert, würde nicht die Vorstellung bleiben, dass sich der Raum um mich herum ausdehnt? Gewiss. Und dass ich die Gegenstände, die jetzt hinter mir sind, dadurch zu sehen kriege, dass ich mich umdrehe. Also ist es die Möglichkeit des Mich-Umdrehens, die mir zu jener Raumvorstellung verhilft. Der Resultierende Raum um mich ist also ein gemischter Sehraum und Muskelgefühlsraum." (Wiener Ausgabe, Bd. I, 195)9 Hätte ich nicht "das Gefühl der Fähigkeit ‚mich umzudrehen‘ wäre meine Raumvorstellung eine wesentlich andere" (I, 195).

Das Räumliche hatte Wittgenstein schon seit einiger Zeit in sein Denken einbezogen; er hatte das Konzept des "logischen Raums" und des "Farbraums" entwickelt, die schon vorhanden sein müssen, wenn wir einen Gegenstand oder eine gegebene Farbe identifizieren. In der zitierten Überlegung kommt zum ersten Mal der Begriff des Körpers ins Spiel. Neu ist der Gedanke, dass die visuelle Wahrnehmung nicht ausschließlich eine Sache des Sehsinns ist, sondern sich mit Körperbewegungen und dem auf sich selbst gerichteten taktilen Sinn, der Propriozeption, verbindet. In einer der folgenden Notizen bemerkt Wittgenstein: "Aber auch im normalen Sehen ist es klar, dass die Ausnahmestellung meines Körpers im Gesichtsraum nur von anderen Gefühlen herrührt, die in meinem Körper lokalisiert sind und nicht von etwas/rein/Visuellem" (I, 196).

Mit diesen Überlegungen öffnet Wittgenstein die Tür zu einem Denken, das er in der Tractatus-Philosophie von sich ferngehalten hat. Das Körperliche war dort etwas strikt Privates; es wurde aus dem Philosophieren ausgesperrt. Sinnlichkeit wurde auf den Sehsinn eingeschränkt, Bewegungen spielten keine Rolle für sein Denken. Die Welt wurde wie durch eine Glasscheibe wahrgenommen; sie war das materielle Objekt, dem das Denken des Subjekts selbst nicht angehört. "Beiläufig gesprochen: Die Gegenstände sind farblos" (Tractatus, Satz 2.0231).

In der Tractatus-Philosophie stellte sich Wittgenstein mit seinem Denken außerhalb der Welt; er dachte sich aus der Welt hinaus. Seine Haltung ist die eines Nicht-zur-Welt-gehören-Wollens: Der Denker ist ganz bei sich, wenn er sich in die Welt der logischen Idealsprache stellt, in eine Welt eigenen Rechts, die sich freilich auf die Welt außerhalb der Logik bezieht - als deren Abbildung mit Hilfe von logischen Zeichen und Relationen, welche jene Welt zeigen, allerdings in klarer, gereinigter, immaterieller Form. Hier hat der Denker die Welt in perfekter Klarheit und Transparenz; hier kann diese zu absoluter Schönheit aufsteigen. In Cambridge bemerkt Wittgenstein sarkastisch über sein früheres Denken: "Die Philosophen, die glauben, dass man im Denken die Erfahrung gleichsam ausdehnen kann, sollen daran denken, dass man durchs Telefon die Rede, aber nicht die Masern übertragen kann" (II, 190).

Das Prinzip des "Tractatus", sich im Denken von der gewöhnlichen Welt fernzuhalten und sich eine zweite, schöne künstliche Welt zu errichten, hätte mit dem Bau des Hauses konkrete Gestalt annehmen können. Tatsächlich wird das Wittgenstein-Haus oft als eine materielle Realisierung des Tractatus-Ideals verstanden. Es spricht einiges dafür, dass sich Wittgenstein die Sache zuerst auch so gedacht hatte: eine umschlossene, ideale Welt für sich, in der man die Umwelt wegblendet und für diese unsichtbar wird. So lange diese auf dem Papier und im Denken war, schien eine solche Konstruktion durchführbar zu sein. Aber als gebaute, materialisierte räumliche Welt gehört das Haus in die normale alltägliche Umgebung. Das Hineingehen in die Räume des Hauses ist ein körperlicher Akt. Wenn ich mich im Haus aufhalte, bin ich selbst im Raum dieser Welt; der eigene Körper ist als ein Teil in ihr enthalten. "‘Ich‘ bedeutet offenbar meinen Körper, denn ich bin in diesem Zimmer; und ‚ich‘ ist wesentlich etwas, was an einem Ort ist und an einem Ort desselben Raums, in dem auch die anderen Körper sind" (II, 133). Was ich von diesem Umgebungsraum in mir aufnehme, ist meine Raumvorstellung; diese ist mit mir, mit meinem Ich verknüpft, insofern sie direkt auf mich, auf meine Muskeln und Gefühle wirkt. Der Wahrnehmungsraum ist auf das Subjekt mit seinen Bewegungen und Stellungen im Raum bezogen.

4.
Die Handlungen in der räumlich-sinnlichen Welt des Hauses öffnen einen Erfahrungshorizont, der weit über das Sehen, "was der Fall ist", hinausgeht. Mit seinem Körper tritt Wittgenstein in seine Welt ein. Bewegung, Taktilität, Sensibilität werden mindestens ebenso wichtig wie der Sehsinn. Die äußere Welt ist nicht mehr nur eine gesehene Bilder-Welt, sondern hat eine Beziehung zum handelnden Subjekt. Haus und Körper richten sich aufeinander. An den Elementen, aus denen es besteht, drückt sich aus, was mit ihnen zu tun sei. Sie zeigen dem Blick des Benutzers die Erwartung ihres Gebrauchs. Der Türgriff zeigt der Hand, wie sie zu ergreifen und zu drücken ist; die Hand vollzieht die geforderten Akte, und die erfahrenen Umgangsqualitäten werden in den Körper übernommen. Wenn diese zu einem selbstverständlichen Handeln geworden sind, lassen sie sich von den Gegenständen ablesen. Oft genügt nur ein Blick, um die Umgangsqualitäten und damit den möglichen Gebrauch zu erkennen. Es ist wie im Märchen, wenn die Dinge zu den Menschen sprechen und sagen, was mit ihnen getan werden soll. Der Apfelbaum will gepflückt, die Betten geschüttelt, das Brot aus dem Backofen geholt werden. Es gehört sich, dass man auf diese Forderungen eingeht; die fleißige Marie liest die Anforderungen ihrem Anblick ab. Aber die Antwort des Handelnden auf die Gegenstände ist nicht automatisch; sie setzt die Bereitschaft voraus, auf die Anforderungsstruktur der Welt einzugehen. Die faule Marie verschließt Augen und Ohren und kommt an allen diesen Dingen vorbei, ohne einen Finger krumm zu machen; aber sie ist die staunenswerte Ausnahme.

Wittgenstein zieht in seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1929/30 ständig Parallelen zwischen dem Haus und der Sprache. In der Sprache, so stellt er nun fest, verhält es sich nicht anders als mit einem Türgriff; auch die Wörter richten Anforderungen an den Verstehenden und erwarten Antworten. Und wie die sprachlichen Ausdrücke bietet sich ein explorierter Gegenstand wie ein Bild dar. Aber hier stößt er auf die Grenzen der Abbildtheorie: Ein Ding ist keine zweidimensionale Zeichnung, sondern hat eine Tiefendimension, die durch seine möglichen Verwendungen gebildet wird. Der Bildbegriff ist nur auf den ersten Blick geeignet, die Umgangsqualitäten und Erwartungen der Dinge zu beschreiben. Tatsächlich aber unterschlägt er das Zusammenspiel des Auges mit dem Körper und seinen Bewegungen. Er ist sogar systematisch irreführend. Wie eine Fliege aus dem Fliegenglas musste er den Weg ins Freie finden, schreibt Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen". Was die Gegenstände an möglichen Gebrauchsweisen enthalten, entdecken wir nicht durch bloße Betrachtung, sondern in den Erfahrungen des Tastens, des Manipulierens, Sich-Bewegens. Im Umgang mit dem Haus spielt das Ineinandergreifen von Behandlung durch das Subjekt und Umgangsqualitäten der Gegenstände die wesentliche Rolle. Wenn der Betrachter sieht, wie die Gegenstände ihre Gebrauchsweisen zeigen, hat dies für ihn einen Aufforderungscharakter, der direkt an seinen Körper appelliert und auf den er, unterhalb des bewussten Denkens, mit seinem Handeln antwortet.

Ich sehe ein Zimmer nicht als Gegenstand der Geometrie, sondern als Körperumwelt. Meine Wahrnehmung wird zu einem Sehen-als. Dieser Begriff, der später in den "Philosophischen Untersuchungen" auftreten wird, ist hier noch nicht gebildet. Wittgenstein hat aber erkannt, dass wir den Dingen ihre Funktionsangebote und Versprechungen, mit einem modernen Begriff ausgedrückt: ihre Intentionalität ansehen. Die Gegenstände sind nicht von uns abgetrennte Entitäten, wie in der Tractatus-Philosophie, sondern ihre Dinghaftigkeit bildet sich in ihren Beziehungen zu uns. Sie erhalten ihre Gestalt und Bedeutung in einem Zusammenspiel zwischen ihrer Beschaffenheit, die sie uns zum Handeln anbieten, und der Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen. Auch die Bedeutung eines Bildes entsteht in einem Zusammenwirken der Eigenschaften und Handlungsmöglichkeiten, die es dem Betrachter darbietet, und seiner Behandlung durch diesen. Was die Dinge und Bilder einem Handelnden sagen, welche Eigenschaften und Anforderungen dieser aufnimmt und wie er darauf antwortet, hängt wesentlich von seinen Fähigkeiten ab, auf sie einzugehen. Bourdieu nennt dieses Gespür für den Umgang mit Dingen und Bildern den "sens pratique", den praktischen Sinn, welcher sich unter Einfluss von Sensibilität, Lebensgeschichte und Erfahrungen ausbildet. Auch Wittgenstein wird auf diese Fähigkeit aufmerksam; er bemerkt, wie wichtig sein Feingefühl für die Materialien ist, die er auswählt, für die Formen, die er diesen gibt. Das Material verlangt eine bestimmte Behandlung, die sich dem sensiblen Blick zeigt; es fordert vom Benutzer Respekt vor seinen Qualitäten und erlaubt nur bestimmte Arten der Verarbeitung und Verbindungen mit anderen Materialien. Die Unerbittlichkeit, die Wittgenstein bei seinen Forderungen an die Handwerker ausdrückte, wird verständlicher, wenn man sie als eine ethische Haltung deutet, die die vom Haus und seinen Materialien gestellten Anforderungen konsequent umsetzt.

Der Welt ihre Anforderung ansehen heißt: dass man in der Welt etwas zu erledigen hat. Wenn man Schnee mit Hilfe einer äußerst differenzierten Skala von Abstufungen in die verschiedensten Schneesorten unterscheiden kann, hat man ein Gespür für Schnee entwickelt, insofern man etwas in einer Welt des Schnees zu erledigen hat. Sehen-als bereitet ein Eingreifen in die Welt vor. Wenn man die Decke eines Zimmers als zu tief sieht, verlangt dies für Wittgenstein, dass die Höhe verändert werden muss, koste es, was es wolle – sie muss angehoben werden, und wenn es nur um 2 mm ist. Sehen-als ist ein Indiz dafür, dass die Welt dem handelnden Subjekt nicht fremd gegenübersteht, sondern dieses selbst verändert: Das Subjekt organisiert sein Handeln und sich selber in Funktion der Anforderungen, die es von der Welt empfängt. In dem Maße, wie es sich die Welt aneignet und nach seinem Gespür modelliert, passt es sich selber an die Welt an. Es bildet in seinem Inneren eine funktionelle Äquivalenz der Welt aus, eine Entsprechung der von der Welt herkommenden Anforderungen, die es in seinen Habitus übernimmt.

Wittgenstein war davon überzeugt, dass er einen hohen Sinn für die Kultur seiner Zeit und für die Architektur besitzt; im Rückblick auf den Hausbau sagt er: "... mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur, etc.)."10 Sein Sinn für die Dinge war so hoch entwickelt, dass manche seiner Forderungen der Umwelt unverständlich blieben. Die von ihm entworfenen Eckradiatoren mussten eine "genau symmetrische Winkelstellung von 90 Grad" haben und "in der Form der Rippen und Maßhaltigkeit der Rippenabstände" sowie der "glatten Verschlussstücke" exakt seinem Entwurf entsprechen.11 An den von seiner ästhetischen Wahrnehmung geforderten Vorgaben hielt er unerbittlich fest. So musste im Ursprung der zwei Achsen ein genau festgelegter Zwischenraum eingehalten werden, so dass dieser als ein im ästhetischen Sinne richtiger Abstand zu sehen war, weder als Loch (wenn er zu breit wird), noch als Spalt (wenn er zu eng wird). Er musste dem Raum eine Form geben, so dass er als Ausgangspunkt einer rhythmischen, durch die Radiatoren markierten Bewegung gesehen wird. Wittgenstein geht mit den Gegenständen um, und die Gegenstände gehen mit seiner Sensibilität um. Die Dinge sprechen mit dem Betrachter; sie sind auf das gerichtet, was man mit ihnen in Zukunft tun wird und mit ihnen tun soll. Mit seinem Sehen-als richtet sich der Betrachter auf die Gegenstände; auf diese Weise ist er in die Welt engagiert.

Ein hervorstechendes Merkmal von Wittgensteins Architektur ist, dass er alle konstruktiven Elemente speziell für dieses Haus entworfen hat. Nach den bisherigen Überlegungen ist dies keine Frage von Design. Es geht ihm um die Konstruktion einer Welt aus Gegenständen, die mit der Bewohnerin ‚sprechen‘ und auf deren Anforderungen antworten. Die Griffe, Schalter, Schlüssel, Verschlüsse, Handläufe sind Orte des Ineinandergreifens von Haus und Benutzer, von Dinganforderungen und Handlungen; an diesen Orten des Gebrauchs treffen die Welt und der Habitus zusammen. Ein Türgriff macht uns zu Eintretenden in ein Haus und in dessen Zimmer. Das Zugreifen, Anfassen, die Bewegung des Herunterdrückens sind inkorporierte Gesten. Wir besitzen sie in unserem Körper; mit ihnen begegnen wir dem Haus. Sie sind minimale Rituale, die anzeigen, dass wir mit dem Haus, das uns schützt, zusammengehören; sie machen unseren Umgang mit dem Raum sichtbar, praktisch, taktil – es ist wie ein verkürztes Handgeben, ein Zusammentreten von Objekt- und Lebenserfahrung. Ein Sensor anstelle eines Türgriffs, wie im Haus Sobek, würde uns diese Besorgung abnehmen; seine Wirkungsweise tritt an die Stelle unserer Körperbewegungen. Er symbolisierte die Abdankung des Körpers, ebenso wie bei Computerspielen alle Tätigkeit der Spieler in deren Zeigefinger gelegt ist - eine Körpervergessenheit wie bei den Bewohnern des Schlaraffenlands, denen alles in den Mund fliegt; sie antworten nicht mehr, sie schlingen nur noch hinunter. Die Berührung eines Sensors markiert keine Schwelle mehr, daher auch kein Eintreten; sie kommandiert die Dinge und ist mit ihnen nicht mehr solidarisch. Wenn Maschinenbefehle ausreichen, um unsere Umgebung zu bewegen, gehen wir als Kommandeure durch unsere Häuser: Sollten diese uns nicht gehorchen, werden sie abgebaut und ihre Teile recycelt, wie bei einem ungehorsamen Roboter.

5.
Die Dinge, aus denen das Haus zusammengesetzt ist, warten auf ihre Erledigung. Die Dinge versprechen uns, dass wir eben jene Handlungen mit ihnen erledigen können, die man ihnen ansieht. Ebenso sind die sprachlichen Ausdrücke, die wir "intentionale" nennen, so angelegt, dass wir bei einem Versprechen – Wittgensteins Beispiel - dessen Erfüllung in dem Moment erwarten, in dem es gegeben wird. Nicht erst die zukünftig eintretende Erfüllung gibt uns die Bedeutung des Versprechens an – das Versprochene könnte ja auch ausbleiben, und das Versprechen wäre trotzdem gegeben. Die Bedeutung muss in dem Augenblick erzeugt werden, in dem das Versprechen gegeben wird. Ein Versprechen besteht nicht in einem Bild des versprochenen Zustands, sondern ist eine Form der Erwartung.

Die Dinge, als Bilder betrachtet, geben nichts anderes als ihren gegenwärtigen Zustand an. Aber sie zeigen dem Benutzer die im Gebrauch erfahrenen Umgangsqualitäten, die in dessen Körper übernommen und zu einem selbstverständlichen Aspekt des Handelns geworden sind. Wenn man diesen Anblick immer noch "Bild" nennen will, so ist dieser nicht mehr einer zweidimensionalen Zeichnung vergleichbar, sondern er hat eine Tiefendimension, die durch seine möglichen Verwendungen gebildet wird. Die Intentionalität von Bildern ist keine innere Eigenschaft von diesen; sie ist auf beiden Seiten – beim Benutzer und in den Bildern. Sie entfaltet sich auf beiden Seiten, als Angebot und als Erwartung; beide zusammen bilden und wirken sich in konkreten Akten für die Beteiligten sichtbar aus: im Gebrauch. Im materiellen Akt des Gebrauchs treffen beide zusammen und nehmen konkrete Gestalt an.

Die Anforderungen der Gegenstände bilden eine Struktur der Welt, und diese organisiert sich als eine funktionelle Äquivalenz im Handelnden. In diese Struktur passt Wittgenstein die Sprache mit ihren einfachen instrumentellen Gebrauchsweisen ein: "Wie in einem Stellwerk mit Handgriffen die verschiedensten Dinge ausgeführt werden, so mit den Wörtern der Sprache, die Handgriffen entsprechen. Ein Handgriff ist der Handgriff einer Kurbel, und diese kann kontinuierlich verstellt werden; einer gehört zu einem Schalter und kann entweder nur umgelegt oder aufgestellt werden, ein dritter gehört zu einem Schalter, der drei oder mehr Stellungen zulässt, ein vierter ist der Handgriff einer Pumpe und wirkt nur, wenn er auf und ab bewegt wird etc.; aber alle sind Handgriffe, werden mit der Hand angefasst" (II, 166). An dieser Bemerkung wird der körperliche Aspekt des Gebrauchs schärfer hervorgehoben als später in der feinen literarischen Schreibweise der "Philosophischen Untersuchungen". Hier geht Wittgenstein die Bedeutung des Gebrauchsbegriffs endgültig auf: "Etwas spricht für die Auffassung, dass die Interpretation des Bildes im Gebrauch liegt, den man vom Bild macht." (II, 294) Das Bild, das durch die Sprache der Erwartung gegeben wird, kann erst verstanden werden, wenn man es gebraucht.

Etwas später nimmt Wittgenstein einen neuen Anlauf; er überträgt die Überlegungen, die er zur Klärung der Bildhaftigkeit des Hauses angestellt hat, erneut auf die Sprache, auf ihre "versprechenden" Wörter (die intentionalen Ausdrücke): "Die Sprache hat die Erwartung nicht beschrieben, sie hat sie ausgedrückt... sie war die Erwartung" (II, 316). Die Sprache selbst hat eine intentionale Struktur. "Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht damit ihre ganze Funktion zusammen" (II, 196). Bei einem Versprechen vollzieht die Sprache einen Vorgang anderen Typs als bei logischen Operationen: "Sie hat ja nicht einen Zustand/einer Einstellung/beschrieben, sondern sich eingestellt" (II, 316). Zwar hält Wittgenstein weiterhin an der Konzeption des Bildes fest, integriert dieses aber in körperliche Lebensprozesse: "Ich verleibe beim Denken sozusagen ein Bild meinem Leben ein" (II, 311). Das Bild ist in mir; es ist in meiner Welt, in meinem Körper und in dem, was dieser wahrnimmt. Die Sprache füllt den ganzen Raum des Sprachmäßigen aus; sie bezieht den Körper und die Empfindungen ein. "Ich bin darauf vorbereitet einen roten Fleck zu sehen – diese Vorbereitung ist sozusagen etwas Praktisches - ähnlich, wenn ich meine Muskeln zum Halten eines Gewichts vorbereite" (II, 315). Diese besondere "Vorbereitung ist quasi selbst die Sprache..." (ebd.).

Die Sprache verhält sich zur Anforderungsstruktur der Welt wie die Muskelspannung. Körper und Sprache stellen sich auf diese Struktur ein und gehören in dieser Vorbereitung zusammen; sie sind zwei Seiten des selben Vorgangs. Wie das Haus mit seinen Anforderungen organisiert die Sprache eine Art Spiel mit seinem Benutzer, und dieser weiß genau, was dabei von ihm verlangt wird. Er ist voller Erwartung, wenn er das Haus betritt, ebenso wie er auf einem Spielfeld – Wittgensteins Gleichnis - erwartet, dass ihm der Ball zugeworfen wird. In ihm stellt sich eine vorbereitende, erwartende Haltung ein. "Es wirft mir jemand einen Ball, ich strecke die Hände aus und richte sie zum Erfassen des Balls". (II, 315) Ich war auf den Wurf vorbereitet; die Muskelspannung ist die Erwartung des Subjekts, sie ist auf die Anforderungen der Welt gerichtet. Die Sprache ist die Erwartung; sie enthält die Anforderungen der Welt. Wenn der Handelnde auf die Gegenstände eingeht, stellt er sich im körperlichen und im sprachlichen Register auf diese ein.

6.
Motorische Schemata, Muskelgefühle und Sprache sind solidarisch in ihrem Eingehen auf die Anforderungsstrukturen der Welt. Sie sind verschiedene Weisen, funktionelle Äquivalenzen der Anforderungsstruktur der Welt zu erzeugen. Im Körper sind sie nicht einfach nur abgelagert, sondern sie werden, bei geeigneter Gelegenheit, auch angewendet. Dies ist ein neuer Aspekt in Wittgensteins Denken, ein Aspekt der Veräußerlichung dessen, was im Inneren ist. Mit dem Körper-Denken entsteht auch die Vorstellung eines Zusammenspiels von Inkorporierung und sozialem Gebrauch. Wittgenstein ist peinlich darauf bedacht, diesem Gedanken keine psychologische Interpretation zu geben, sondern er greift wieder auf das Gleichnis des "Werkzeugkastens der Sprache" zurück, aus dem wir "Werkzeug zum zukünftigen Gebrauch herrichten" (II, 314) und bei Bedarf gebrauchen.

Die Intentionalität der Welt besteht in einer Art Spiel von Aufforderung und Bereitschaft zur Erledigung. Man kann sagen, dass der Habitus eine "Erledigungs-Bereitschaft" besitzt, eine bestimmte Weise der Hinwendung zur Welt, eine Aufmerksamkeit dieser gegenüber, die nicht so sehr die Welt verändern will, sondern in Übereinstimmung mit dieser wirkt, so dass es zu einem gemeinsamen Funktionieren kommt. Mit dem ganzen Körper, mit allen Sinnen erkennen wir, was die Dinge im Umgang mit uns sein werden. Im Umgang mit diesen laufen die Gebrauchswerte der Dinge, die Erwartungen der Handelnden ineinander. "Erwartung" ist Teil des Habitus; die Erledigungs-Bereitschaft macht dessen intentionale Struktur aus; sie richtet diesen auf Erledigung, d.h. auf die Welt und das zukünftige Handeln.

Im Ausdruck "Erledigungs-Bereitschaft" ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Personen enthalten. In § 2 der "Philosophischen Untersuchungen" gibt Wittgenstein ein Beispiel für ein sehr einfaches Funktionieren der Sprache: "Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache bestehend aus den Wörtern ‚Würfel‘, ‚Säule‘, ‚Platte‘, ‚Balken‘. A ruft sie aus; - B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf."12 Der Ausruf "Steine" drückt aus, was man den Dingen selbst ansehen kann. Zwar ist diese Sprache ganz gewöhnlich und für jede Art komplexen Ausdrucks ungeeignet, aber ihr Vorteil ist, dass sie in Vertrautheit mit "den Phänomenen des täglichen Lebens" (Wiener Ausgabe I, 103) funktioniert und die Anforderungen der Situation erledigt. Die Bauenden haben einen Blick für den Gebrauchswert der Dinge ihrer Welt und dafür entwickelt, wie sie mit den Handlungen verschmelzen. Wittgenstein, der Philosoph, entdeckt als Architekt den Gebrauchswert von Wörtern. Die Gewöhnlichkeit der Welt ist nur scheinbar gewöhnlich. So ist vorgefertigtes Material, wie Stahlbänder, Glühbirnen, Eisenstangen nur auf den ersten Blick ordinäres Gerät. Man kann es formen und ihm neue Gestalten und Gebrauchswerte geben. Die Sprache auf dem Bau scheint einem Bellen zu ähneln, es sind Ein-Wort-Sätze, beim Arbeiten hervorgestoßen. Aber sie sind Ausdruck einer komplexen Struktur von miteinander verschalteten Umgangsqualitäten, Gebrauchswerten, Erwartungen und Erledigungen.

7.
Um diese Struktur zu erkennen, muss man freilich die arbeitenden Körper genau, aus der Nähe ansehen und für diesen Anblick eine neue Beschreibungsweise entwickeln. Man muss genau auf die Welt schauen; dazu war Wittgenstein vorher nicht in der Lage. Jetzt bemerkt er, dass er sich nicht in einem objektiven Raum bewegt, sondern in einer "Vorstellungswelt", die nur darum niemanden auffällt, weil sie so vertraut ist – "...wie selbstverständlich ist doch das Gegebene" (II, 156). Die Umgangswelt bildet den Horizont der Sprache. "Die Selbstverständlichkeit der Welt drückt sich eben darin aus, dass die Sprache nur sie bedeutet, und nur sie bedeuten kann" (II, 157).

Meine Sprache entsteht in meinem Umgang mit der Welt, meiner Wahrnehmung ihrer Umgangsqualitäten. "... beim ersten Lernen der Sprache (werden) gleichsam die Verbindungen zwischen der Sprache und den Handlungen hergestellt... – also die Verbindungen zwischen den Hebeln und der Maschine" (II, 198). Insofern meine Sprache eine Antwort, eine Erledigung der Aufforderungsstruktur der Welt ist, empfängt sie ihre Bedeutung von der Welt: "Denn da die Sprache die Art ihres Bedeutens erst von ihrer Bedeutung, von der Welt, erhält, so ist keine Sprache denkbar, die nicht diese Welt darstellt" (II, 157). Eine Sprache, die auf die Anforderungsstruktur der Welt antwortet, hat die Welt schon akzeptiert; sie ist dem Leben verpflichtet. Wenn sie auf die Umgangswelt richtig antwortet, wenn sie ihre Praxis in Ordnung hält, ist sie eine vollkommene Sprache. Am Gedanken einer idealen Sprache hält Wittgenstein immer noch fest; es ist, als sei er immer noch an seine alten asketischen, weltverneinenden Ideale gebunden. Später, als er sich freier fühlte, wird er fähig, an seinem eigenen Haus Kritik zu üben; die oben schon erwähnte Einschätzung seines Feingefühls setzt er wie folgt fort: "Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Leben, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte auch sagen, es fehlt ihm die Gesundheit ...".13 Wenn man dieses Urteil im Sinne von Nietzsches Philosophie, deren Sprechweise er hier aufnimmt, deuten darf, fordert Wittgenstein hier eine stärkere Beteiligung des Leibes ein.

Im Zusammenspiel von Anforderungsstruktur der Welt und Erledigung durch die Subjekte kommt den Handlungen die zentrale Rolle zu, die im Tractatus die Bilder gespielt haben. In seinen Überlegungen verwandelt Wittgenstein die logischen Abbilder versuchsweise in bewegte Bilder von Handlungen, wie in einer Bemerkung über "das Wesen des negativen Satzes": "So könnte einer z.B. das Verständnis des Satzes `das Buch ist nicht´ dadurch zeigen, dass er bei der Anfertigung des Modells die rote Farbe wegwirft." (3.1.1930) Einige Tage später, am 17.1.30, ist Wittgenstein bereit, die Bild-Annahme ganz aufzugeben: "Ich will – glaube ich – sagen, dass die Annahme, der vertretende Vorgang sei ein Bild, mir nicht hilft, da auch der Übergang von Bild zum Dargestellten nicht wegfällt" (II, 173).

Wittgenstein ist an dem Punkt angelangt, wo er an die zentrale Stelle seiner Philosophie anstelle des Bildbegriffs den "Gebrauch" setzt. Mit dieser neuen Kategorie verflochten sind eine Reihe weiterer Annahmen, die ich als eine komplexe Struktur von Erwartungen und Erledigungen gekennzeichnet habe. Es scheint mir einleuchtend zu sein, dass er in der nachträglichen Reflexion seiner Arbeit als Architekt und des Umgehens mit seinem Bau auf die Bedeutungen, die er ursprünglich Bildern zugeschrieben hatte, in Handlungen verlegt. "Gebrauch" ist eine komplexe Handlungskategorie; sie verbindet die Anforderungsstruktur der Welt mit dem Habitus der Handelnden. Als Beschreibungsbegriff stellt er sich auf die Seite der Subjekte, insofern er deren Handeln beschreibt, als Antwort auf die Welt. Er ist insofern kein subjektivistischer Begriff, als er im Habitus abgelagert ist, wie sich nach Bourdieu annehmen lässt. Das Subjekt und die Anforderungsstruktur der Welt, Innen und Außen treffen im Gebrauch zusammen. Wenn wir in einem Haus leben, mit diesem umgehen und es gebrauchen, es anfassen und begreifen, entwickeln wir einen Sinn für das Haus: Wir verleiben es unserem Körper ein, wir passen uns diesem körperlich an, wie auch das Haus, wenn es sich denn fassen und modellieren lässt, unserem Körper seinen Spielraum gibt.

1 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, in: Ders.: Schriften, Frankfurt a. M. 1963, Satz 6.52.

2 Bernhard Leitner: Das Wittgenstein-Haus, Ostfildern-Ruit 2000, S. 19.

3 Ludwig Wittgenstein: Wiener Ausgabe, hg. v. Michael Nedo, Bd. 1 Philosophische Bemerkungen, Bd. 2 Philosophische Betrachtungen, Philosophische Bemerkungen, Wien, New York 1994

4 Ludwig Wittgenstein: Wiener Ausgabe,Bd. 1 Philosophische Bemerkungen, S. 3.

5 K. Wünsche hat diese Einflüsse in seiner sensiblen Studie bis in feine Details exploriert; vgl. Konrad Wünsche: Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1985.

6 Vgl. u.a. Pierre Bourdieu: Der Habitus als Vermittler zwischen Struktur und Praxis, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a. M. 1974. In seiner Arbeit: Entwurf einer Theorie der Praxis, auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, bezieht Boudieu sein Habitus-Konzept auf die Struktur des kabylischen Hauses sowie auf die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern.

7 Vgl. John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie gesellschaftlicher Tatsachen, Reinbek 1997. Zum Vergleich der Gesellschaftstheorien von Bourdieu und Searle siehe Gunter Gebauer: Die Konstruktion der Gesellschaft aus dem Geist? Searle versus Bourdieu, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 52, Heft 3, 2000, S. 428 – 449.

8 Vgl. u.a. Gunter Gebauer: Gesten und Sprachspiele, in: Jürgen Trabant (Hg.): Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1995.

9 Alle weiteren Wittgenstein-Zitate beziehen sich, so weit nicht anders vermerkt, auf die Wiener Ausgabe. Die eigenwillige Rechtschreibung und editorischen Siglen werden aus dieser Quelle übernommen.

10 Zitiert nach Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 1992, S. 260.

11 Thomas Sperling: Daten, Pläne und Erläuterungen zum Haus Kundmanngasse 19, in: Gunter Gebauer, Alexander Grünenwald, Rüdiger Ohme, Lothar Rentschler, Thomas Sperling, Ottokar Uhl: Wien, Kundmanngasse 19. Bauplanerische, morphologische und philosophische Aspekte des Wittgenstein-Hauses, München 1982, S. 75. Vgl. auch Bernhard Leitner: The Architecture of Ludwig Wittgenstein. A Documentation, Halifax 1973, S. 29.

12 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Ders.: Schriften, Frankfurt a.M. 1963.

13 Zitiert nach Ray Monk, S. 260.

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