6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
Ephemeres und Monumentales.
Versuch über Materialität und Architektur im 20. Jahrhundert

 

I. Zur Einleitung

Sinnliche Qualitäten und technische Möglichkeiten, Bedeutung und Geschichte von Materialien spielen in der ästhetischen Praxis des Bauens eine wesentliche Rolle. Mit der Wahl oder dem Erhalt einzelner Materialien und ihrer Verarbeitung artikulieren sich jedoch nicht nur kurzfristige oder situationsspezifische Präferenzen, sondern auch Überlegungen und Einstellungen allgemeinerer Art zu Zeit, Material und Bau, zu Dauerhaftigkeit, Alterungsprozessen und Vergänglichkeit, auch zu Materialität, Entmaterialisierung und Immaterialität. Dieser Beitrag identifiziert drei typische Konzepte des 20. Jahrhunderts, die Zeit, Architektur und Material in Beziehung setzen und versteht sich als Vorschlag zu einer Geschichtsschreibung dieser Beziehungen im 20. Jahrhundert.1

 

Steht die Materialität der Architektur – oder in einem weiteren Sinne, von Bauwerken – zur Diskussion, dann bieten sich ältere wie neuere architektonische Entwürfe an, die eine je spezifische Erfahrung von Materialität im Entwurf verarbeiten. Doch interessanter noch sind die Reaktionen auf das, was als Gebautes schon da ist und die Deutung seiner Materialität. So wird in diesem Beitrag zwar auch von neuen Entwürfen und damit verbundenen Materialästhetiken und -erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Rede sein, doch mehr von Gründen für vollzogenen oder nicht vollzogenen Abriss, soweit sie mit Diskussionen von Materialität verbunden werden.

 

Eine Beobachtung steht am Anfang: Über Jahrhunderte sind alte Gebäude wieder und neu genutzt worden. In Verona und Tours sind Reste antiker römischer Amphitheater und Zirkusbauten Teile von Wehranlagen geworden, in Florenz und Lucca mutierten sie zu Wohnungen. Die französische Revolution und die Säkularisierung im Anschluss daran führte zur Umnutzung von Klöstern etwa als sorgfältig umgebaute Rathäuser; Kirchen und Abteien wurden zu Gefängnissen, zu Handwerks-, auch Industriebetrieben umgenutzt oder ohne jeden Umstand als Ställe verwendet. 

 

Manche Umnutzungen sind symbolisch zu deuten, etwa als Entweihungen. Auch Umwandlungen von Kirchen in Moscheen, von Moscheen in Kirchen, von Schlössern in Verwaltungsgebäude entbehren eines symbolischen Aspektes keinesfalls. Mit dem neuen Nutzen des alten Materials wird seine alte Bedeutung getilgt. Doch sind Umnutzungen im Allgemeinen eine pragmatische Umgangsweise mit Bauten, deren Nutzen sich verflüchtigt hat, während die materielle Hülle, in der sie stattfand, noch da ist. Bei vielen dieser Bauten dürfte einer der Gründe der Umnutzung neben Lage und Brauchbarkeit gewesen sein, dass das Material vor aufwendige Beseitigungsprobleme stellte. Kurz: in den angesprochenen Fällen ist die Nutzung ephemer, der Bau massiv, solide und beständig.

 

Dieser Gedanke ist im 20. Jahrhundert nahezu verschwunden. Mit einem Höhepunkt in den 1950er bis 70er Jahren setzt sich die Praxis durch, für neue Nutzungen neue Bauten zu erstellen - und nach dem Ende einer Nutzung den Bau abzureißen, in dem sie stattgefunden hat. Das entspricht einer monofunktionalen  Auffassung von Bauwerken und zeugt von einem Glauben an eine immer wieder zu überholende Perfektionierbarkeit angesichts neu aufkommender Nutzungsbedürfnisse.

 

Ein solches Vorgehen setzt die Überzeugung voraus, dass die Transformation von Baustoffen in Schutt, mit zunehmenden Verkabelungen, Verklebungen und nicht traditionellen Baumaterialien auch in Sondermüll, keine erwähnenswerten Fragen aufwirft. Diese Auffassungen sind allein dem 20. und dem beginnenden 21. Jahrhundert eigen. Sie verbinden sich mit einer Praxis, die das Überleben und Weiterentwickeln von Baukonzepten und Finanzierungskonzepten in den Vordergrund stellt. Das geht bis dahin, dass der Bau, insbesondere auf Grundstücken, die internationale Spitzenpreise erzielen, zu einer marginalen und damit auch ephemeren Erscheinung des eigentlich relevanten Prozesses der Refinanzierung und Abschreibung werden kann. Kurz: Der Bau und damit auch seine konkrete Materialität wird als ephemer begriffen, die Verpflichtung des Bauens auf aktuelle Zwecke dagegen ist beständig.

 

Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen sich beschleunigt verändernden Zwecken, die den Bau immer mehr zur ephemeren Struktur per se machen, und Beharrungsversuchen, die mit der Monumentalisierung des alten wie des neuen Bauwerks und dementsprechendem Insistieren auf spezifischen Deutungen seiner Materialität einher gehen.

 

Drei Themenkreise sollen hier angesprochen werden, da sie für die Diskussionen um die Materialität gebauter oder zu bauender Strukturen im 20. Jahrhundert besonders charakteristisch sind. Sie betreffen drei verschiedene Erfahrungen mit Materialität, die heute allesamt nicht fremd anmuten, ohne aber auf die heutige Situation hinführen. Es soll um das Monumentale, das Ephemere und um Metabolismen gehen. Die dabei angesprochenen Aspekte stehen für verschiedene Fragen die Materialität von Bauwerken betreffend, nicht aber für aufeinander folgende Phasen. Wenn die Darstellung dennoch einer chronologischen Ordnung folgt, so ist das nicht im Sinne einer sich entwickelnden Tradition oder einer inhaltlichen Abfolge zu verstehen. Die Inszenierung der Massivität und des Monumentalen, die Feier des Ephemeren und die Faszination durch Modelle des Metabolismus führen in viele Debatten, die je eigene Vorläufer und Fortsetzungen haben.

 

Die erste der hier vorgestellten Debatten führt zeitlich an den Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie betrifft die Materialität des Monuments, des Denkmals. Es geht um eine Auseinandersetzung aus der Frühzeit des institutionalisierten Denkmalschutzes. Die Wahl dieser Diskussion als Beispiel ist mit einer These verbunden: Denkmalschutz macht nämlich nur dann Sinn, wenn Materialität und ihre konkrete Erfahrung zum Thema wird, das heißt, ihre Bedeutung diskutabel ist und in Frage steht.

 

Der zweite Themenbereich betrifft das Ephemere. Es wird in Kunst und Bau eines langen 20. Jahrhunderts aufgesucht, nicht an den prominentesten Kunst- und Bauwerken, sondern, ganz im Gegenteil, vor allem an den selbstverständlich ephemeren Bauten der Industrie. Ihre Beziehung zur Zeit wie zur Materialität findet – so die These – eine Entsprechung in moderner Kunst und ist ihr hierin weitgehend zu parallelisieren. Deshalb wird hier vorgeschlagen, und, soweit es ein kurzer Beitrag erlaubt, der Versuch unternommen, das Konzept des Ephemeren, in der Deutung ästhetischer Phänomene eine aussagekräftige und zentrale Kategorie, auf den Umgang mit (Nutz)Bauten und ihren Materialien zu beziehen.

 

Die dritte und letzte Station führt zeitlich in die 1980er Jahre. Sie betrifft mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Kreislaufmodelle, die verschiedenen Formen des Wiedernutzens vorhandener Bauten zu Grunde liegen. Hier geht es unter anderem um „postmoderne“ Entwicklungen, die weder auf das Konzept des denkmalgeschützten Monuments, noch auf das Ephemere zurückgreifen, und sich doch auf beides beziehen. Darüber hinaus werden Vorschläge angesprochen, die Denkmalschutz und Ressourceneffizienz zu verbinden suchen.

 

 

II. Monumentales

In der theoretischen Begründungsphase des Denkmalschutzes zeigen sich wie in einem Brennglas einige grundlegende Annahmen des 20. Jahrhunderts über die Materialität des Bauwerks wie der Architektur. Die hier ausgewählten Argumente stammen aus einer berühmten Diskussion zwischen Alois Riegl und Georg Dehio. Während Riegl eine Ästhetik des Flüchtigen, des Verschwindenden vorzeichnet und dazu neigt, Verfallsprozesse zu begleiten, besteht Dehio auf der materiellen Stillstellung von Monumenten.

 

Die Positionen Alois Riegls und Georg Dehios stehen so für extreme Standpunkte in einem Konfliktfeld, das um 1900 in allen europäischen und europäisch beeinflussten Ländern an konkreten Fällen debattiert wurde. Denn mit der Frage des Denkmalschutzes geht es um die Einschätzung der zentralen Qualitäten des Dinghaften und den daraus abgeleiteten Haltungen zu gegebenem Material. Damit sind grundlegende Auffassungen des Vergehens, Verschwindens, Vernichtens und des Verfalls verbunden, die sich wiederum als unmittelbar abhängig von Überzeugungen erweisen, die das Verhältnis zu Natur und Kultur, zu Identität und Geschichte betreffen.

 

In seinem Aufsatz über den „modernen Denkmalkultus" hatte Riegl 1903 festgestellt, dass zwei im 19. Jahrhundert prägende Kriterien für den Denkmalwert ausgefallen seien: der Kunstwert und der historische Erinnerungswert, beides übrigens heute noch durchaus gebräuchliche Kriterien, wo die Denkmalwürdigkeit eines Bauwerks in Frage steht. An ihre Stelle, so Riegl nun 1903, sei der "Alterswert" zu setzen. Dieser bestimme sich einzig aus der Bedeutung, die ihm in der heutigen, das heißt, der zeitgenössischen Rezeption zukomme. Die Gegenwart macht Denkmäler, die Legitimation kommt nicht aus der Vergangenheit, ebenso wenig wie die Bedeutung des Gegenstandes.2

 

Der "Alterswert", den Riegl als Kriterium für Denkmalwürdigkeit postuliert, bezieht sich auf die Rezeption alter Gegenstände nicht durch Experten, sondern durch die nicht mit Expertenwissen ausgerüstete Bevölkerung. Der Alterswert ist ihnen über eine von Riegl als unmittelbar verstandene Sinnlichkeit deutlich, während die Gegenstände, Dokumente, Denkmäler als solche für die Nichtexperten bedeutungslos sind und nur atmosphärisch wirken: Sie vermitteln eine "Stimmung".

 

Die Erzeugung der "Stimmung" hatte Riegl bereits in einem früheren Aufsatz nach dem Muster des harmonisierenden, landschaftlichen Blicks beschrieben, der sich von einem Berggipfel auf die umgebende Landschaft richtet und sich von den Plagen der Wirklichkeit und ihren Kämpfen entfernt. Diese Haltung ist nach Riegls Überzeugung auch am Denkmal zu gewinnen, denn Werden und Vergehen, die Menschen- und Menschheitsgeschichte als gesetzmäßige, erlösende Naturgeschichte komme an ihm zur Anschauung: Ein melancholisch gestimmtes Subjekt erlebt sich hier als Teil eines Naturzusammenhangs.3

 

Die Konsequenz für Riegl ist, dass aktive Konservierung, das heißt, die Stillstellung der Prozesse des Materials, nicht zur Denkmalpflege gehört, wohl aber die Sicherung einer Möglichkeit: Alten Bauten ist die Zeit zuzugestehen, die sie zum Verfall brauchen, und zwar einzig aus dem Grund, weil "sie überhaupt etwas in früheren Zeiten Gewordenes von bestimmtem individuellen Charakter sind und damit ein Recht darauf erworben haben, sich womöglich nach ihren eigenen Erhaltungsbedingungen auszuleben." 4

 

Als Haltung gegenüber den zerfallenden Zeugnissen früherer Leben bleibt die Achtung des Eigensinns der Dinge und die versöhnende und versöhnte Kontemplation des Verfalls - als Teil eines Naturzusammenhangs, in dem auch die Betrachtenden stehen. Das damit verbundene Gefühl braucht zwar Anhaltspunkte, doch hängt es nicht ab von dem Erhalt eines spezifischen Gegenstandes in seiner konkreten Materialität.

 

Gegen diese Position vertritt Georg Dehio die Notwendigkeit nicht nur des rechtlichen Schutzes eines Bauwerks, den auch Riegl befürwortet, sondern auch den Schutz seiner Materialität durch Erhaltungsanstrengungen und das heißt, durch die Stillstellung seiner Prozesse. Denkmalschutz ist für Dehio kein passives Geschehenlassen, sondern eine aktive Tätigkeit, die in der Gegenwart dafür sorgt, dass die Vergangenheit in die Zukunft vermittelt und überliefert wird. Dazu dienen die Immobilisierung und Immunisierung des Monuments gegen Veränderungen so lange wie eben möglich.

 

Dehio versteht diese Art des Denkmalschutzes als Antwort auf die Frage: "Wie kann die Menschheit die geistigen Werte, die sie hervorbringt, sich dauernd erhalten?"5 und identifiziert also deutlich den materiellen Erhalt eines Bauwerks mit seinem „geistigen“. Dieser „geistige“ Wert bemisst sich nicht an ästhetischen Kriterien, sondern im Hinblick auf einen historischen und nationalen Reichtum: "Wir konservieren ein Denkmal nicht, weil wir es für schön halten, sondern weil es ein Stück unseres nationalen Daseins ist", sagt Dehio, eine Position, gegen die Riegl "das Kollektivgefühl für Menschenwürde" und den Eigensinn der Dinge, auch der Naturdinge setzt.6 Dehio dagegen identifiziert das Denkmal mit dem Gedächtnis einer Nation: Von der erhaltenen Materialität des Bauwerks hängt die Möglichkeit der nationalen Achtung, Selbstachtung, Identität und Erinnerung ab, die mit dem je einzelnen Bauwerk verteidigt wird.

 

Bei aller Gegensätzlichkeit der Position in Bezug auf Aktivität und Passivität, in Bezug auf die Interpretation der Zeitverhältnisse, in Bezug auf die Geschichte ist Riegl und Dehio eine Position gemeinsam: die Ablehnung der Restaurierung von Altem. Was für Dehio als "Fiktion" erscheint – "Mitten unter die ehrliche Wirklichkeit Masken und Gespenster sich mischen sehen, erfüllt mit Grauen"7 – erscheint für Riegl als Eingriff in den natürlichen Verfallsprozess, der doch gerade den Gegenstand der Betrachtung ausmachen soll.

 

Doch in "letzter Not", wenn die Konservierung an ihr Ende zu kommen droht, ist Dehio zum restaurierenden Eingriff bereit: "Man bereite beizeiten alles auf diese Möglichkeit vor, durch Messungen, Zeichnungen, Photographie und Abguss - wie man um des Friedens willens den Krieg vorbereitet -, aber tue alles, diesen Augenblick hinauszuschieben."8 Halten wir fest, dass mit der Assoziation des Kriegsfalls nicht nur eine Ablehnung, sondern eine Aggression gegen Abriss, Vernichtung, Vergehen, Verfall des Materials ausgesprochen ist.

 

Riegl wie Dehio, auch das eine Gemeinsamkeit, argumentieren aus einer defensiven Position. Denn dass überhaupt der materiale Erhalt von Bauten diskutiert und organisiert werden muss, heißt, dass er sich nicht von selbst versteht, sondern als Sonderinteresse vertreten werden muss. Doch Materialität hat in dieser Debatte höchst unterschiedliche Bedeutungen: Für Dehio ist das organisierte und geformte Material Gedächtnis, nicht einfach nur Zeugnis, das auch durch irgend eine Art des Berichts oder der Repräsentation ersetzt werden könnte. Es handelt sich vielmehr im je konkreten Fall einzelner Bauten um das einzig mögliche Gedächtnis, das identitätsstiftende Funktion für ein national gedachtes Kollektiv hat.

 

Für Riegl dagegen hat die konkrete Materialität eines bestimmten Bauwerks wenig zu sagen. Es ist nicht Gedächtnis, sondern Anlass für eine naturästhetisch inspirierte Betrachtung. Was nun genau zu dieser Betrachtung Anlass gibt, ist ihm, jenseits der generell geforderten Achtung vor dem Eigensinn der Dinge, gleichgültig. Denn es wird immer wieder genug Altes geben, das die Funktion, Gegenstand dieser Betrachtung zu werden, eintreten kann.

 

Das Beharren auf der Relevanz der konkreten Materialität eines Bauwerks und das überzeugte Abstreiten dieser Relevanz stehen so in dieser berühmt gewordenen Auseinandersetzung nebeneinander und gegeneinander. Diese Konstellation eröffnet würdig ein Jahrhundert, das Zweifel hat daran, welche Erfahrung mit der Materialität von Bauten zu machen sei.  

 

 

III. Das Ephemere

Der zweite Themenkreis betrifft das Ephemere. Es ist dem Monumentalen, soweit es als dauerhaft und unveränderlich verstanden wird, entgegengesetzt, doch auch einer ruhigen Kontemplation des Verfalls nicht offen, Melancholie ist eine unangebrachte Haltung, wenn man ihm begegnet. Das Ephemere ist mit einer besonderen und modernen Art des Verschwindens verbunden. Es handelt sich um etwas Flüchtiges, Augenblickliches, Transitorisches, ein Vergehen, manchmal um ein Ausdünnen des Materials, auch um ein Fragilwerden, ein schließlich möglicherweise spurloses nicht mehr Anwesendsein. Ephemersein charakterisiert Prozesse eines als leblos imaginierten Materials. Was belebt ist, war oder auch nur so gedacht wird, ist nicht mit einer Ästhetik des Ephemeren verbunden, sondern mit Bildern aus dem älteren und reichen Arsenal der Ruinenmotive. Das Ephemere ist nicht mit Naturbegriffen assoziierbar, sondern ein von der Natur und der Naturästhetik entferntes Konzept der Erfahrung von Stofflichkeit, von Material.

 

Es ist ein modernes Konzept im Sinne der von Charles Baudelaire charakterisierten „ästhetischen Modernität“. Er sah sie gekennzeichnet durch das Transitorische, das notorisch Flüchtige und identifizierte sie mit dem Vorübergehenden und Zufälligen. Suche nach Modernität heißt für ihn, „der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen."9 Das authentische moderne Kunstwerk ist "radikal dem Augenblick verhaftet; gerade weil es sich in Aktualität verzehrt, kann es den gleichmäßigen Fluss der Trivialitäten anhalten, die Normalität durchbrechen und das unsterbliche Verlangen nach Schönheit für den Augenblick einer flüchtigen Verbindung des Ewigen mit dem Aktuellen befriedigen", hat Jürgen Habermas kommentiert.10

 

Die Zeit ihrer Werke und damit auch Qualitäten, die hier dem Ephemeren zugewiesen werden, beschäftigt Künstler seit Ende des 19. Jahrhunderts - in Spannung zum postulierten Ewigkeitscharakter der Kunst. Gegen ihre Monumentalisierung sperren sich (Kunst)Werke des 20. Jahrhunderts beispielsweise, indem sie nicht in den Institutionen zur Pflege des Ewigkeitscharakters erscheinen, also in der Kunstsammlung oder im Museum, oder auch dadurch, dass sie sich der materialen Feststellung entziehen wie im Falle von vorübergehenden Tableaus, Aktionen und Happenings. Keine Reliquie einer Fluxus-Veranstaltung täuscht darüber hinweg, dass das Werk ein Ereignis war und nun vorbei und unwiderruflich abwesend ist. Den Umgang mit Material, Zeit und Werk treiben einige Künstler und Künstlerinnen sehr weit, in ein Extrem,  etwa Bob Verschueren in seinen Wind Paintings aus farbigen Erden, die auf Felder und Wiesen aufgetragen werden, wo sie mit dem Wind Formen gewinnen, die verwehen. 

Es ist dieses dem nicht-organisch Flüchtigen aufgeschlossene Verhältnis zu Zeit und Material, das die Bildenden Künste, die Architektur und allgemeiner, das Bauen verbindet: Die Parallele zeigt sich da, wo sie den Umgang mit Materialien, ihren Eigenarten und Verwandlungen, die Permanenz von Zuständen, die Form von Produkten der Zeitdauer eines Ereignisses annähern. In beiden Fällen geht es um die Organisierung des beschleunigten Durchzugs von Material verschiedenster Qualität durch nicht auf Dauer angelegte Formen und Objekte hindurch.

 

Die verschiedenen Weisen, in denen mit dem Ephemeren assoziierte Qualitäten im Bauen und in der Rezeption von Bauten zum Tragen kommen, fordern einen differenzierenden Kommentar, der Träume von einem Ephemeren zur Kenntnis nehmen muss, die in der Architektur seit den 1920er Jahren geträumt worden sind.

 

Sie sind zunächst verbunden mit dem Wunsch nach einer ästhetischen "Entmaterialisierung" des Bauens, wie sie Sigfried Giedion angesichts der Bauten des Bauhauses, von Umsetzungen industriellen Bauens in den Wohnbereich unter reichlicher Verwendung von Glas, realisiert sah.11 Dazu kommt die Faszination durch die Industrie, denn mit der Industrialisierung und Normierung des Bauens war eine Verwendung von Stoffen möglich, die weniger dem Prinzip der Dauerhaftigkeit und Solidität verpflichtet war als einem Zweck, einer "Sache", einem Programm, das jederzeit wieder die selbe Struktur entstehen lassen und sie in Zeit und Raum identisch multiplizieren konnte.

 

Was die verbürgte Erfahrbarkeit einer ästhetischen „Entmaterialisierung“ angeht, so ist zu erinnern an die damals zeitgenössische Rezeption der großen Hallenkonstruktionen am Ende des 19. Jahrhunderts, Prototypen des industriellen Bauens, die auf die Zeitgenossen körper- und schwerelos wirkten. Der Anblick einer geschlossenen Masse des Baukörpers fiel hier aus, und der Ingenieurbau wurde sichtbar, beides um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert für die Wahrnehmung äußerst störende Umstände. Davon zeugt die bekannte Diskussion um die Verkleidung des Eiffelturms in Paris, und hierher gehört auch das wunderbar ironische Zitat von Hermann Muthesius von 1908: "Der konstruierende Ingenieur teilte halb die Ansicht, dass seine Bauten zwar nützlich, aber nicht schön seien. Er rief in allen Fällen, wo nach der alten Gewohnheit Schönheit in Frage kam, die Hilfe seines Halbbruders, des Architekten an, der seine Brückeneingänge, seine Bahnhofshallen und das Innere seiner Dampfer mit sogenannter Kunst, das heißt, mit historischen Architekturformen behing"12, und ihnen also optisch neben Ornamentik auch eine Massivität verlieh, die sie konstruktiv nicht brauchten. 

 

Über die Nutzung von Eisen und Glas in Bahnhofshallen oder Markthallen assoziierte sich mit ihnen neben dem Minimieren des Materials ein weiterer Aspekt des Ephemeren, nämlich das Transitorische. Diese Assoziation entsteht über die Nutzung, durch ihre Verbindung mit Reisen, Warenzirkulation, mit einem Wechsel und einer Beweglichkeit, die bisherige Geschwindigkeiten deklassiert. Walter Benjamin hat hier einen historischen Wahrnehmungswandel gesehen, eine Verbindung von  Glas-Eisenkonstruktion und Vorübergehendem, bemerkt aber schon in den 1930er Jahren eine Veränderung des Urteils darüber, was als vorübergehend angesehen werden kann, und was als fest erscheint: "Die ersten Eisenbauten dienten transitorischen Zwecken: Markthallen, Bahnhöfe, Ausstellungen. Das Eisen verbindet sich also sofort mit funktionalen Momenten im Wirtschaftsleben. Aber was damals funktional und transitorisch war, beginnt heute in verändertem Tempo formal und stabil zu wirken."13

 

Der zweite mit dem Ephemeren zu assoziierende Aspekt des Bauens ist seine Ausrichtung auf funktional bestimmte Programme. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs ist in den USA, auch in Großbritannien, eine Industriearchitektur zu sehen, die keine traditionellen ästhetischen Ansprüche zu erfüllen sucht. Die Faszination besteht in der Beobachtung, dass es sich hier, bei Getreidesilos und Lagerhallen, bei Hochöfen und Verkehrsanlagen, um auf das Äußerste vereinfachte Zweckbauten handelt. Entwürfe von Mies van der Rohe, Le Corbusier und Gropius übernehmen bis zur Imitation Typen dieses industriellen Bauens, um sie auf klassische Bauaufgaben anzuwenden. Die Ergebnisse werden sofort in diesem Sinne gelesen, nämlich als Bauten, die auf die "nackte" Sichtbarkeit des Zwecks setzen, das heißt auch, auf die entsprechende Nutzung mit der Aussicht auf unmittelbare Erledigung und dann auch Beseitigung nicht mehr im geplanten Sinne nutzbarer Bauten.

 

Industriebauten sind die Bauwerke, bei denen am deutlichsten eine der „Sache“ verpflichtete, damit auch überholbare und wiederholbare bauliche Realisierung die prinzipielle Dauerhaftigkeit des Materials zu einem marginalen Kriterium seiner Wahl degradiert. Prototyp dieser Entwicklung ist die Fabrik; die Fagus-Werke in Alfeld an der Leine von 1911 sind als die Ikone dieser Entwicklung zu betrachten. Das Programm dieser Architektur beschreibt Adolf Behne 1927: "Die konstruierte Fabrik ist nichts anderes als der klarste, technisch sauberste Ausdruck des Betriebsganges“, und: "Die Sache hat sich durchgesetzt - gegen formale Konventionen."14 Korrelat dieser Beziehung zum Bau und der daraus folgenden zum Material ist der homo faber auf dem Höhepunkt seiner Unbestrittenheit.

 

Während die Fagus-Werke oder auch das FIAT-Werk in Lingotto in der Rezeption ihr Talent nicht nur zum Vorbild, sondern auch zum Monument der Moderne zeigen, ist das von vielen in der Anonymität gebliebenen Industriegebäuden des 20. Jahrhunderts nicht zu behaupten. Mit der Beschleunigung der Innovationszyklen werden sie zu ephemeren Konstruktionen im oben bestimmten Sinne, von ihren Besitzern und Betreibern begriffen und behandelt als "Wegwerfarchitekturen"15. In ihrer ephemeren Materialität können sie als Gegenstände begriffen werden, an denen sich eine moderne Ästhetik exemplifizieren ließe.

 

Ständiger Umbau von Anlagen, das Experimentieren mit Lösungen, vorläufige Bauten, Anfügungen und Abrisse charakterisieren den Umgang mit Produktionsstätten und sind ihnen häufig abzulesen. Während Industrieunternehmen nicht vorrangig in Gebäude investieren, in denen produziert wird, sondern sich das Gewicht auf Investitionen in Maschinen, Organisation und Abläufe verschiebt, steigert sich die Geschwindigkeit, mit der Bauten und Geräte verschwinden. Im Grenzfall ist der Bau reduziert auf eine Haut, deren Beschaffenheit elementaren Funktionen des Baues, dem Witterungsschutz, der für die Produktion notwendigen Klimaregulierung, genügt, und deren Bestand auf Zeit angelegt ist.

 

Prototypen des industriellen Bauens im 20. Jahrhunderts, der Flugzeughangar, das Öllager, die Baracke, der Hochofen, sind dem Verfall und dem schnellen Austausch nahe und damit einem Ephemeren, das aus dem Verbrauch von Materialien hervorgeht. Die Entwicklung zum Ephemeren in diesem Sinne, zum Verschwinden von festen Strukturen in immer kürzeren Zeiträumen ist nicht nur ein Phänomen des schnellen Verbrauchs von Produkten, sondern ebenso eines der Produktion, ihrer Gebäude und Anlagen. Das Ephemer-Sein betrifft alle Maschinerie des 20. Jahrhunderts, auch die heute als mögliche Skulpturen identifizierten Gebäude oder Hochöfen.

 

Nur daraus ist die Provokation zu verstehen, die der Versuch von Bernhard und Hilla Becher in den 1960er Jahren bedeutete, dem abrissreifen Gerät, dem unbrauchbaren Ingenieurbau im Nachhinein Fotodokumentationen zu widmen, die Würde des Kunstwerks zuzusprechen und tatsächlich zu behaupten, es handele sich um „Architektur“. Das waren der Vorschlag und die Zumutung, ein „(Kunst)Werk“ zu finden im bislang in dieser Hinsicht völlig unverdächtigen Objekt. Es war auch eine Gelegenheit für die Architektur, sich produktiv der Herausforderung ihres baukünstlerischen Anspruchs zu stellen angesichts industrieller Bauten, industrialisierten Bauens und der Affinität zum Ephemeren, die Bauten und ihre Prozesse zeigen.

 

 

IV. Metabolismen

Um 1980 liegt der Schwerpunkt einer Diskussion um das Material von Bauten an anderer Stelle. Materialität wird neu zur Frage, wobei weder die Immobilisierung von Materialien noch ihr Verschwinden im Vordergrund stehen, sondern in mehr oder weniger klarer Ausprägung Modelle von Metabolismen.

 

Um 1980 ist die Umnutzung alten Stils mit neuer Absicht eine prominente Bauaufgabe. Was dabei an möglichen Objekten dieser Umnutzungen besonders fasziniert, ist etwas im 20. Jahrhundert sonst nicht Faszinierendes, nämlich die schlichte materielle Solidität vorgefundener Strukturen, die meist aus dem 19. Jahrhundert stammen, oft aber auch älter sind.

 

Die in den 1980er Jahren typischerweise verfolgte Strategie der Umnutzung erlaubt, das stoffliche Wieder-Holen alter Gebäude, Infrastrukturen und Stadtgebiete zu organisieren, indem neuer Sinn und neue Funktionen geboten werden. "Spuren", die die Vergangenheit hinterlassen hat, werden dabei in genau gewählten Zügen präsentiert. In den 1980er Jahren umgenutzte Bauten verweisen meist auf eine vorherige, eine abgeschlossene Nutzung, die sie explizit in ihren materiellen Relikten vorweisen – doch selten, um dabei archäologische oder denkmalpflegerische Präzision walten zu lassen. Statt dessen spielt historische Imagination eine wichtige und so bislang noch nicht bekannte Rolle: Sie dient dazu, unspezifisch auf Früheres zu verweisen. Sie geht mit einer neuen, zukunftsweisenden alltäglichen Nutzung eine sichtbare und zweifach zu lesende Verbindung ein. Lesbar sind „postmoderne“ Umbauprojekte als dreidimensionale Vexierbilder, als „Vexierskulpturen", die auf unspezifische Weise Vergangenheit und/oder Zukunft zu zeigen vermögen, oder auch als "Geisterzeichen, die auf die Vergangenheit anspielen", wie Charles Jencks in einem Gespräch mit Peter Eisenman jede Architektur beschrieben hat, die er der Postmoderne zurechnet.16

 

Der Architekt Philippe Robert, selber engagiert in Wieder-Holungsprozessen, spricht von einer Architektur, deren Ergebnisse als Palimpseste zu entziffern sind, und verbindet diesen Gedanken mit der durchaus nicht modernem Verständnis des Architekten entsprechenden Feststellung, dass auch alte Bauten dem Architekten Kreativität erlauben, denn sie sind re-crées, wieder- und neugeschaffen. Der alte Bau ist nicht nur in seinen Stoffen, sondern auch in seiner Konzeption ein Rohstoff, der einer Formung zu unterwerfen ist. Es entstehen Konstruktionen, die sich in verschiedener Weise des Alten bemächtigen, und gebaut werden dedans, dessus, autour, à côté, also jenseits, darüber, daneben und drumherum.17 Adaptionen an neue Nutzungen und rein stoffbezogenes, also von allen Bedeutungen abstrahiertes Recycling von Materialien spielen ebenso eine Rolle wie construire de manière de, also Konstruieren in der Art von Etwas – und das ist der Schritt, an dem deutlich wird, dass genau der genommene und umgestaltete alte Bau eigentlich nicht gebraucht wird, um reconversion zu betreiben, sondern dass es hier um die Deutung der Relationen des Alten und des Neuen geht, ohne Angewiesenheit auf ein bestimmtes, so oder so gestaltetes Material, so dass jedes Material zum Ausgangsstoff dieses Prozesses werden könnte.

 

Gelegentlich erwähnt Jemand, dass das, was heute, also in den 1980er Jahren, für öffentliche Nutzungen gebaut werden kann, im Allgemeinen ärmlich sich ausnimmt gegenüber den alten Bauten, deren räumliche Großzügigkeit, deren Material, dessen handwerkliche Bearbeitung nicht mehr in neuen Bauten möglich sind. Fassaden, Mauern, Pflaster und Treppen aus Naturstein sind unerreichbar, alte Bauten weisen aus der Sicht der 1980er Jahre oft Luxuselemente auf, die funktionales und als finanzierbar angesehenes Bauen nicht mehr zulassen würde. Dazu geht in die Wiederverwendung alten Materials seine physische Präsenz ein, seine Körperlichkeit, das Wissen um seine Alterungsprozesse und sonstige alltagsphysikalische Eigenschaften. Damit sind auch Sinnzuweisungen verbunden. In der Wiederverwendung des alten Materials wird die Geschichte seines verallgemeinerten Gebrauchs ablesbar in Form der Spuren, die die sinnlichen Qualitäten des Materials in den Vordergrund rücken. Ein Zitat dazu von Dieter Boehminghaus: "Bei der Umwidmung werden vorhandene Ressourcen genutzt. Im weitesten Sinne wird an Energie gespart und somit die Umweltbelastung eingeschränkt, die durch die Gewinnung neuer Rohstoffe notwendig würde. Alte, wertvolle Materialien (Ziegel, Holz, Naturstein), die man heute in solcher Qualität und ihrem großzügigen Ausmaß nicht mehr herstellen, verarbeiten und bezahlen könnte, werden nicht vernichtet, sondern sinnvoll wiederverarbeitet.“18 Die stoffliche Verwertung über Abriss, Verschrottung und dann folgendes Recycling erscheint dagegen als Downcycling und defizitär insofern, als das Vorhandene entformt und degradiert wird.

Dieser Aspekt im Diskurs über Materialien setzt sich fort und konturiert den Vorschlag einer neuen Ökonomie, die schließlich Altes generell, inklusive ausgesonderten und ausgezeichneten, denkmalgeschützten Bauten als Vorhandenes und als solches als Material eines Wieder-Holens sieht. In diesem Sinne argumentieren Michael Petzet und Uta Hassler in der Einleitung zu einem Tagungsband von 1996 zu der Frage "Das Denkmal als Altlast?": Mit der Masse vorhandener Altbauten böten sich weitaus umfassendere Interventionsmöglichkeiten für ein aus ökologischer Sicht ohnehin notwendiges Ressourcenmanagement, als sie durch Einflussnahme auf die Neubautätigkeit je erreicht werden könnten. „In diesem Sinne stellen die vorhandenen Gebäude nicht nur kulturelle Werte, sondern auch wichtige materielle und energetische Ressourcen dar."19

 

So verbindet sich mit der Praxis der Reparatur, die Denkmalpflege immer schon zum Erhalt von Baudenkmälern einsetzen musste, der von einigen Schulen der Denkmalpflege angestrebten Minimierung der Eingriffe in Vorhandenes, sowie dem Ziel der möglichst lange dauernden Erhaltung zwanglos das Konzept der Ressourceneffizienz.

 

Das führt dazu, dass sich auch Denkmalpfleger in einer neuen Rolle sehen, die keinesfalls mehr darauf beschränkt bleibt, dem Monument und damit der Vergangenheit Referenz zu erweisen und die Pflege zu sichern: "Auf einer Denkmalpflegertagung im Frühjahr 1995 in Chicago sprach ein Referent davon, die wachsende Einsicht in die Endlichkeit der Ressourcen führe neuerdings dazu, dass die Denkmalpfleger den Anspruch erhöben, als Experten verantwortlich zu sein für das 'universelle Management' der gesamten Welt. Dieser Anspruch schien dem Redner reichlich verstiegen – um nicht zu sagen, lächerlich, denn konservatorische Tugenden seien ja 'per se' vergangenheitsorientiert und keinesfalls als Leitideen neuer Weltentwürfe brauchbar. Wir denken darüber anders und glauben, dass im Bauwesen die Frage der Ressourceneffizienz nur im Umgang (im intelligenten Umgang) mit dem Bestand zu lösen sind."20 Denkmalpflege qualifiziert sich dann für die Wieder-Holung jeglichen Materials - und jegliches Material sich für eine ihm gemäße Denkmalpflege.

 

 

V. Zum Schluß

Soweit die drei Stationen diesen Beitrags, verbunden mit der Hoffnung, dass es besonders mit dem letzten gelungen sein möge, die Frage der Materialität und ihrer Qualitäten noch einmal rückzubiegen in einen Diskurs, der sich nicht vom Material entfernt, sondern ganz im Gegenteil, fest am Material hängt und dazu ein organisches Moment in den Diskurs über Materialien einführt.

 

Dieser Diskurs der letzten Jahre findet seine Ergänzung - und nicht etwa seinen Gegenspieler - in einem anderen, der Materialität zum Akzidens von informationellen Prozessen erklärt und ihre Qualität deshalb auf eine neue Weise versteht, übrigens der heimliche Fluchtpunkt der Überlegungen soweit. Darauf ein kurzer Hinweis, der mit einer Referenz an Vilém Flusser begonnen sei. Denn er geht davon aus, dass die Solidität des Dinghaften eine beruhigende Überzeugung der Aufklärungsära war, die ohnehin hinter uns liegt. Dass sie hinter uns liegt, ist ein Ergebnis und eine Erfahrung des ganzen langen 20. Jahrhunderts, seines numerischen Denkens, das die physikalische Welt als Welt aus Teilchen, das Ich als einen Knoten im intersubjektiven Gewebe und das einzelne Lebewesen als Phänotyp beschrieb, durch das hindurch ein Strom genetischer Information fließt.21

 

Vom Anfang des 20. Jahrhunderts an bis heute wird dieser Typ von Wissen auch in der Theorie wie der Praxis des architektonischen und im weiteren Sinne baulichen Prozesses verarbeitet und nicht zuletzt auch gefördert. Aus dieser Sicht wird aber das produktive Unbehagen erklärlich, dass heute die Diskussion von Materialiätserfahrungen in der Architektur durchzieht. Der Eindruck, dass solide aussehende Mauern, fest schließende Türen und gut abgedichtete Fenster außer Regen nicht mehr viel ausschließen, ist schließlich kaum abzuweisen.

 

Misstrauen betrifft auch das, was sie einschließen. Es könnte von jener Un-Heimlichkeit sein, die der Architekturtheoretiker Anthony Vidler schon in romantischen Texten am Werk sah, in denen im vermeintlich sicher abgeschlossenen Haus Dinge ans Licht kommen, die eigentlich verborgen bleiben sollten und über zwei Jahrhunderte die Analyse der Psyche bewegt haben.22

 

Die Situation, die Flusser vor allem in seinen letzten Schriften angesprochen hat, hat nun immer noch nichts damit zu tun, dass Architektur oder das Bauen eine „Entmaterialisierung“ jenseits der ästhetischen erfahre oder gar "immateriell" werde, wohl aber damit, dass die Qualität erfahrbarer Materialität weiter Thema sein muss. Zwar gibt es das Bedürfnis nach Materialerfahrung als Erfahrung von Solidität, doch ist nach den Erfahrungen mit dem fraglichen Monumentalen und dem Ephemeren, mit dem Bewusstsein für Prozessualität und Geschwindigkeit selbst der Wunsch anachronistisch: den Abschluss, den Ausschluss und den Halt durch solides Material zu erleben. Was wir wünschen und machen, sei besser etwas Anderes.

 

 

Anmerkungen:

 

1 Der Beitrag stellt früher bereits präsentierte Materialien und Überlegungen in einen neuen Kontext. S. Susanne Hauser (2001), Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale. Frankfurt/M., New York: Campus. Teil V, 149-180.

 

2 Alois Riegl (1988), Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen und seine Entstehung. In: Georg Dehio / Alois Riegl, Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Mit einem Kommentar von Marion Wohlleben und einem Nachwort von Georg Mörsch (= Bauwelt Fundamente 80). Braunschweig / Wiesbaden: Vieweg. 43-87.

 

3 S. Alois Riegl (1988), Neue Strömungen in der Denkmalpflege. In: Dehio / Riegl, a.a.O. 104-119.

 

4 Ebd. 109.

 

5 Georg Dehio (1988), Denkmalschutz und Denkmalpflege im 19. Jahrhundert. Festrede an der Kaiser-Wilhelm-Universität zu Straßburg, den 27. Januar 1905. In: Dehio /Riegl, a.a.O. 88-103. Zitat: 89.

 

6 Ebd. 92.

 

7 Ebd. 97.

 

8 Ebd. 98.

 

9 Charles Baudelaire (1989), Sämtliche Werke / Briefe in acht Bänden, herausgegeben von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860. München / Wien: Hanser. Zitat 225f.

 

10 Jürgen Habermas (1991), Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt/M: Suhrkamp. 3. Auflage. Zitat: 19.

 

11 Sigfried Giedion (1976), Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition (Space, Time, Architecture, dt). Basel u.a.: Birkhäuser. Vgl. 311ff.

 

12 Hermann Muthesius (1908), Die Einheit der Architektur. Betrachtungen über Baukunst, Ingenieurbau und Kunstgewerbe. Vortrag, gehalten am 13. Februar 1908 im Verein für Kunst in Berlin. Berlin: Karl Curtius. Zitat: 22.

 

13 Walter Benjamin (1983), Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften. Werkausgabe Bd. V1 und V2, herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Zitat: V1, 216. - Der weiteren Geschichte der Assoziation von Materialien und Geschwindigkeiten soll hier nicht weiter nachgegangen werden.  

 

14 Adolf Behne (1927), Die moderne Fabrik. In: Der Schünemann-Monat. Deutsche Blätter für Kunst und Leben. 1927, 2. 160-167. Zitate: 162ff.

 

15 Eberhard Neumann, Zur Geschichte der Ingenieurbaukunst im 19. Jahrhundert. In: Baugeschichte und Europäische Kultur II (= Forschung und Information 38). Berlin: Colloquium Verlag. 76-89. Zitat: 88.

 

16 Peter Eisenman (1995), Aura und Exzess. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur. Wien: Passagen. Zitat: 255.

 

17 Philippe Robert (1989), Reconversions. Adaptions. New uses for old buildings. Paris: Le Moniteur. Zitate: 6ff.

 

18 Dieter A. Boeminghaus et al. (1988), Umwidmung. Dargestellt am Beispiel Textilfabrik Ermen & Engels, Engelskirchen (Dt. / Engl.). Aachen: Sepia. Zitat: 58.

 

19 Michael Petzet und Uta Hassler (1996), Einleitung: International Council on Monuments and Sites. „Das Denkmal als Altlast?“ (Hefte des Deutschen Nationalkomitees XXI). Zitat: 3.

 

20 Uta Hassler (1996), Einführung ins Thema. In: „Das Denkmal als Altlast“ a.a.O. Zitat: 11.

 

21 Vilém Flusser (1989), Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Herausgegeben von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Frankfurt/M.: Fischer. Vgl. 12ff.

 

22 Anthony Vidler (1992), The Architectural Uncanny. Cambridge/Mass. / London: The MIT Press.

 

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