6. Jg. , Heft 1 (September 2001)

___Hans Joas
Berlin

Die Kreativität des Handelns

Handlung" ist heute ein Schlüsselbegriff der Philosophie und fast aller Sozial- und Kulturwissenschaften; Bemühungen um eine "Handlungstheorie" sind in all diesen Fächern ein Brennpunkt gegenwärtigen theoretischen Interesses. In der ökonomischen Theoriebildung ist spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Abstraktion des "homo oeconomicus" und damit eines Typs rationaler Wahl und rationalen Handelns zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen geworden. Zwar sind die Kontroversen über die Berechtigung dieses Ausgangspunktes, insbesondere aber über den genauen logischen Status einer solchen Abstraktion, nie ganz verstummt, doch stellt eine Theorie des rationalen Handelns unbestritten den paradigmatischen Kern der ökonomischen Disziplin dar. In der Psychologie ist die Lage unübersichtlicher. Nachdem in ihr zunächst eine introspektiv verfahrende Erforschung von Bewusstseinstatsachen und eine weitgehend reduktive physiologische Psychologie koexistierten, wurde ab den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts der Behaviorismus zur dominanten Strömung. Der für den Behaviorismus wesentliche und namengebende Begriff des "Verhaltens" war zwar geeignet, die Leitbegriffe "Bewusstsein" oder "Organismus" zu ersetzen; durch seine radikal situationsdeterministische Fassung aber war er von einer Betonung auf Wahl- und Entscheidungsfreiheit, wie sie dem "homo oeconomicus" eigen ist, weit entfernt. In der Psychologie hat deshalb erst die so genannte "kognitive" Wende den Behaviorismus so weit verändert oder überwunden, dass zunächst die Handlungskonzeptionen untersuchter Personen zum Gegenstand werden konnten. Immer mehr setzt sich aber auch der Gedanke durch, dass das ganze konzeptionelle Gerüst der Psychologie vom Begriff des Verhaltens auf den der Handlung umgestellt werden müsse. Für die Soziologie gilt - wie Sie alle wissen - dass die großen Klassiker des Faches in diesem Jahrhundert, die den Hauptstrom der Theoriebildung bestimmten - wie Max Weber oder Talcott Parsons - ihren eigenen Arbeiten und dem Fach insgesamt eine explizite handlungstheoretische Grundlegung zu geben versuchten. Dasselbe gilt für wichtige Nebenströmungen wie die auf George Herbert Mead oder Alfred Schütz zurückgehenden Schulen; hier war zwar der genaue Charakter einer handlungstheoretischen Grundlegung umstritten, keineswegs aber die Notwendigkeit einer solchen Grundlegung selbst. Die wichtigsten soziologischen Theorieentwürfe der Gegenwart sind fast alle durch ihre spezifische Version von Handlungstheorie charakterisierbar. Das Spektrum reicht dabei von der gegenwärtigen verstärkten Anlehnung an ökonomische Modelle des rationalen Handelns über neo-weberianische und neo-parsonianische Versuche hin zu großen und eigenständigen Neuentwürfen, wie in Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns, Giddens' Theorie der (aktivischen) Strukturierung und einer Schöpfertum und Neuheit betonenden neuen Version aristotelischer praktischer Philosophie bei Castoriadis und Touraine. Unter dem Einfluss von Strukturalismus und Systemtheorie gibt es hier freilich auch wichtige Versuche, die gängige handlungstheoretische Grundlegung prinzipiell in Frage zu stellen und soziologische Theorie von einer solchen Grundlegung unabhängig zu machen. Ähnlich ist die Lage in der Philosophie. Zu Anfang der siebziger Jahre konnte der amerikanische Philosoph Richard Bernstein den kühnen Versuch unternehmen, die wichtigsten Schulen modernen Denkens auf den gemeinsamen Nenner ihrer Bemühung zu bringen, den aktiven Charakter des Menschen zu bestimmen und zu betonen. Er fand diese Tendenz sowohl im Marxismus, zumindest überall dort, wo dieser nicht als teleologische Geschichtsphilosophie verstanden wurde, wie im Existenzialismus; im Pragmatismus, der großen philosophischen Strömung Amerikas, steckt das Praktische schon in der Selbstbezeichnung; schließlich wies er die zunehmende Konfrontation der analytischen Philosophietradition mit dem Handlungscharakter des menschlichen Sprechens und die Beschäftigung sprachanalytischer Autoren mit mikroskopischen Klärungsversuchen gegenüber Begriffen nach, die in ungeklärten Verweisungsbezügen zum Begriff des Handelns stehen. In unseren Tagen, in denen etwa durch "poststrukturalistische" Autoren und im Zeichen der Wiederbelebung Nietzsches und des späten Heidegger von vielen philosophischen Stimmen ein skeptisches und ambivalentes Verhältnis zur Handlungsfähigkeit des Menschen artikuliert wird, ist es schwieriger geworden, in der Handlungsthematik den Konvergenzpunkt der philosophischen Bestrebungen zu sehen. Doch gilt Bernsteins These für die von ihm behandelten Strömungen weiterhin und auch die anderen genannten Tendenzen sind durchaus von ihrer spezifischen Abgrenzung gegenüber einem aktivistischen Überschwang der Subjektivität her zu verstehen und deshalb nicht ohne wesentlichen Bezug zum Thema des menschlichen Handelns.

Dieser ausführliche Hinweis auf die Vielfalt von Bemühungen um das Thema "Handeln" in den verschiedenen akademischen Disziplinen soll allerdings nicht die Schlussfolgerung nahe legen, dass eine Integration der Handlungstheorien der verschiedenen Disziplinen oder wenigstens eine Verknüpfung dieser Debatten schon auf dem Wege sei. Im Gegenteil! Eine der Hauptschwierigkeiten der gegenwärtigen Lage in der Handlungstheorie ist es, dass viele Beiträge von der Vielfalt möglicher Vorgehensweisen noch nicht einmal Notiz nehmen. So bewegt sich die soziologische Handlungstheorie zumeist zwischen zwei Polen hin und her: dem "rationalen Handeln" und den normativistischen Kritiken eines sozusagen "rationalistischen" Ansatzes. Dabei fällt die soziologische Theoriediskussion reicher aus als die ökonomische, aber doch ärmer als die psychologische und die philosophische. In diesen zwei Disziplinen und in mehr oder weniger randständigen Strömungen der soziologischen Disziplin können wir eine dritte Möglichkeit jenseits der permanenten Kontroverse zwischen "rationalistischen" und "normativistischen" Ansätzen ausmachen - und diese dritte Möglichkeit nenne ich die Theorie der Kreativität des Handelns. Zweck des ersten Kapitels meines gleichnamigen Buches ist es, die Entstehung und die Geschichte der soziologischen Handlungstheorie nachzuzeichnen und dadurch die Gründe aufzudecken, warum die Kreativität des menschlichen Handelns von den soziologischen Klassikern Durkheim, Weber, Tönnies und Simmel zwar keineswegs ignoriert wurde, im Prozess der Kodifikation ihrer Theorien, insbesondere in Parsons' in vieler Hinsicht bahnbrechendem Werk "The Structure of Social Action" von 1937 aber an den Rand der soziologischen Theoriebildung gedrängt wurde. Im zweiten Kapitel des Buches - und damit setze ich diese kurze Zusammenfassung fort - versuche ich, unter dem Titel "Metaphern der Kreativität" die wichtigsten geistesgeschichtlichen Beiträge zum Verständnis der Kreativität des Handelns darzustellen. Ich unterscheide hier aus systematischen Gründen die Paradigmen "Ausdruck", "Produktion", "Revolution", "Leben" und "Intelligenz" bzw. "Rekonstruktion". Das dritte Kapitel umreißt die Grundlinien der hier vorgeschlagenen Handlungstheorie, und das vierte Kapitel bietet erste Folgerungen aus einer so revidierten Handlungstheorie für die makrosoziologische Theoriebildung und eine soziologische Zeitdiagnose. Da es offensichtlich nicht sinnvoll wäre, diese Gedankengänge hier alle im Geschwindschritt zu absolvieren, beschränke ich mich auf einige Aspekte des dritten Kapitels. Dieses scheint mir an einem Ort, an dem die Theorie des rationalen Handelns namhafte Vertreter hat, für eine - beiden Seiten nützliche - Kontroverse am besten geeignet.

Jede Handlungstheorie, die beim rationalen Handeln einsetzt, produziert ein Gegenbild des Nicht-Rationalen. Sie wirft über die phänomenale Vielfalt des Handelns sogleich ein wertendes Raster. Die soziologische Handlungstheorie hatte immer - auch in ihren normativistischen Versionen - die Tendenz, Typen des Handelns als Stufen der Abweichung vom vollen Begriff der Rationalität zu erfassen. Wolfgang Schluchter hat gezeigt, dass hinter Max Webers klassischer Unterscheidung von vier Typen des Handelns als typologisches Prinzip der schrittweise Verzicht auf die Rationalisierung je einer Dimension des Handelns steckt. Nur das zweckrationale Handeln erfüllt so den Anspruch, Handlung im vollen Sinne zu sein; im wertrationalen Handeln wird die Reflexion auf die Handlungsfolgen, im affektuellen Handeln die Reflexion auch auf die Werte und im traditionalen Handeln sogar die Reflexion auf die Zwecke unterlassen. Ideal bleibt damit auch in dieser Denkweise ein Handeln, das Zwecke, Werte und Folgen des Handelns rationalisiert. Das Argument gilt unabhängig von der Bestimmung des Rationalitätsbegriffs in der jeweiligen Handlungstheorie, ob diese eine Maximierung der Effizienz der Zielerreichung bezeichnet oder im moralphilosophischen Sinne Kants oder Habermas' gemeint ist. Man kann die Konzeption kommunikativer Rationalität durchaus überzeugend finden, wenn es um eine Theorie der Rationalität geht, und dennoch davor zurückschrecken, die Handlungstheorie so umstandslos, wie Habermas dies tut, aus demselben Gedankengang heraus zu entwickeln wie die Rationalitätstheorie.

Aber was ist die Alternative zu dem geschilderten Vorgehen? So empirisch ertragreich mikrosoziologische Untersuchungen tatsächlichen Handelns in seiner Kontextabhängigkeit und Sequentialisierung im Stile von phänomenologischer Soziologie, Ethnomethodologie und Konversationsanalyse zweifellos sind, ergeben sie von sich aus keine alternative Handlungstheorie. Sie klagen zwar und zu Recht gegen die bloße begriffliche Arbeit an der Entwicklung eines Kategorienrahmens etwa bei Parsons empirisch feststellbare Charakteristika realen menschlichen Handelns ein. Dabei kann aber der Bezug zur Rationalitätsthematik fast völlig verloren gehen. Die wirkliche Alternative zum Ausgang bei der rationalen Handlung und der daraus folgenden Erzeugung einer Residualkategorie scheint mir deshalb in der rekonstruktiven Einführung des Begriffs rationalen Handelns zu liegen. Unter rekonstruktiver Einführung ist hier die Aufklärung der stillschweigenden Voraussetzungen in den Vorstellungen über rationales Handeln zu verstehen. Alle Handlungstheorien, die von einem Typus rationalen Handelns ausgehen, unterstellen mindestens dreierlei - und zwar unabhängig davon, ob sie Rationalität enger oder weiter, utilitaristisch oder normativistisch fassen. Sie unterstellen den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Eine geringe Konzentration des Handelnden auf zielgerichtetes Handeln, ein Verlust oder ein niedriger Grad an Körperbeherrschung, ein Verlust oder Verzicht auf die Autonomie des Individuums lassen aus dieser Perspektive den Handelnden als weniger rationalen oder nicht-rationalen Akteur erscheinen und verringern die Wahrscheinlichkeit, dass seine Handlungen als rational klassifiziert werden dürften. Nun wissen die Vertreter solcher Konzeptionen sehr wohl, dass im empirisch vorfindlichen Handeln die im Modell des rationalen Handelns unterstellten Voraussetzungen sehr häufig nicht gegeben sind; sie sind aber gezwungen, die eingeschränkte Gültigkeit solcher Voraussetzungen als Defizit nicht ihrer Theorie, sondern den Handelnden selbst zuzuschreiben. Ähnlich ergeht es der im Alltagswissen enthaltenen Kenntnis, dass der Mensch nicht schon zum Zeitpunkt seiner Geburt über die genannten Voraussetzungen verfügt. Aus der Perspektive der Verfechter rationaler Handlungsmodelle im weiteren Sinne handelt es sich bei der kindlichen Entwicklung nur um den Prozess des Erwerbs rationaler Handlungsfähigkeit; über die Struktur des Handelns und der Handlungsfähigkeit selbst können wir nach ihrer Meinung aus einer solchen genetischen Analyse nichts lernen. Dem analytisch fixierten Typus des rationalen Handelns kann ja durch kein empirisches Wissen über die Handlungsfähigkeit und ihre Entwicklung etwas hinzugefügt werden.

Die empirische Nützlichkeit rationaler Handlungsmodelle für Analysen von bestimmten sozialen Phänomenen soll hier in keiner Weise bestritten werden. In Frage gestellt wird allerdings der Anspruch, aufgrund solcher Nützlichkeit das voraussetzungsreiche Modell rationalen Handelns ohne gründliche Reflexion seiner inhärenten Annahmen auf immer neue Gegenstandsbereiche anzuwenden. Deshalb müssen der intentionale Charakter menschlichen Handelns, die spezifische Körperlichkeit und die ursprüngliche Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit analysiert werden. Diese Analyse der stillschweigenden Annahmen in den vom rationalen Handeln ausgehenden Handlungstheorien verändert - so meine Überzeugung - auch unser Verständnis von (instrumenteller) Rationalität und Normativität. Aus einer solchen Analyse erwächst ein Bild des menschlichen Handelns in seiner Kreativität. Mit ihr wird der handlungstheoretische Gehalt der Kreativitätsideen des Pragmatismus und der zur Hermeneutik geläuterten ausdrucksanthropologischen Tradition in die sozialwissenschaftliche Entwicklung der Handlungstheorie eingeführt.

Mein erster Schritt besteht hier in einer nicht-teleologischen Deutung der Intentionalität des menschlichen Handelns. Von vielen klassischen Soziologen, wie z. B. von Max Weber, wurden die Kategorien "Zweck" und "Mittel" zu zentralen und absolut unvermeidlichen Kategorien für die Analyse menschlichen Handelns erklärt. Die wichtigste soziologische Kritik dieser scheinbaren Binsenwahrheit hat Niklas Luhmann in seinem Buch "Zweckbegriff und Systemrationalität" vorgelegt. Folie seiner Kritik sind die Handlungstheorie und das Bürokratiemodell Max Webers. Dabei interessiert ihn besonders deren Verknüpfung. Unbestritten ist ja, dass Webers Handlungstypologie am Typus zweckrationalen Handelns ausgerichtet war. Ebenso deutlich ist, dass Webers Bürokratiemodell die Rationalität dieses Organisationstypus behauptete. Dachte Weber also, dass rationale Organisationen das rationale Handeln aller Beteiligten voraussetzen? In Luhmanns Interpretation wird diese Frage eingeschränkt bejaht. Die Rationalität der (bürokratischen) Organisation liege für Weber gerade in ihrer Vermeidbarkeit für vielerlei Zwecke. Sie sei ein Mittel für diejenigen, die Zwecke setzen können - für Unternehmer, Herrscher, Führer, die ihren Willen durch Befehl und Anweisung über das Handeln anderer verwirklichen. Die empirische organisationssoziologische Forschung hat dieses Bürokratiemodell nicht bestätigt. Luhmann sammelt vielerlei Belege aus dieser Forschung, die nicht nur die Differenz zwischen Rationalmodell und Realität empirisch aufweisen sollen - eine Differenz, die auch die Vertreter des Rationalmodells in der Regel zugestehen - sondern die das Ziel haben, die empirische Unfruchtbarkeit des Ausgangs bei diesem Modell darzutun. Luhmanns eigene Konsequenz aus dieser Sachlage besteht darin, eine Umkehrung der Fragestellung vorzuschlagen. Er fragt nicht mehr nach der Ableitung von Organisationsstrukturen aus einem Zweck, sondern nach der Funktion der Zwecksetzung für Organisationen. Damit wird die Zwecksetzung der Systemerhaltung untergeordnet. Diesen Gedanken baut Luhmann äußerst fruchtbar für eine konsistente Deutung all der Befunde aus, die sich vom Rationalmodell der Organisation aus wie bloße Irregularitäten ausnehmen.

Dieser Übergang von einer Kritik am Zweck/Mittel-Schema zu seiner Unterordnung unter ein Systemmodell ist logisch freilich keinesfalls zwingend, und Luhmann versucht auch gar nicht, diesen Eindruck zu erwecken. Gezeigt ist ja zunächst nur, dass sich das Rationalmodell der Handlung in einem Verhältnis der Wahlverwandtschaft zum Rationalmodell der Organisation befindet und dass dieses empirische Mängel hat. Die unmittelbare Folgerung daraus ist lediglich, dass eine andere Deutung des Handelns als die im Rationalmodell vorliegende ein Beitrag zur Bewältigung dieser Schwierigkeit sein könnte. Tatsächlich bewegt sich Luhmanns Argumentation zugleich auch auf handlungstheoretischer Ebene. Er geht auf das Handeln als einen Prozess zurück, der im alltäglichen Erleben keineswegs nach Zwecken und Mitteln, auch nicht nach Zweck-Mittel-Ketten, in denen Zwecke immer wieder Mittel für höhere Zwecke sein können, gegliedert ist. Nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch der Handelnde selbst kann aber auf den natürlichen Fluss seines Handelns ein teleologisches Deutungsschema anwenden. Luhmann bezeichnet das Zweck/Mittel-Schema als jene Abzweigung von einer kausalistischen Deutung des Handelns in Kategorien von Ursache und Wirkung, bei dem das Ich des Handelnden selbst in die Position der Ursache einrückt. Ein vergleichender Blick auf das antike Denken, etwa die aristotelische Handlungsphilosophie, zeigt schnell, dass eine kausalistische Deutung des Handelns keineswegs selbstverständlich ist; die Vorstellung vom "telos" als einem ins Handeln eingebauten Reife- und Vollendungspunkt ist für das moderne Bewusstsein aber nur noch schwer nachzuvollziehen. Der Sinn des Zweckbegriffs hat sich von der Antike zur modernen Deutung in Richtung einer radikalen Subjektivierung verändert. Gemeinsam ist die Heraushebung eines stabilen Ziels aus dem Fluss des Handelns. Die kausalistische Deutung wird liberalisiert, wenn man davon spricht, dass in allem Handeln eine Fülle von Ursachen am Werke ist und jede Handlung eine Vielzahl von Wirkungen verursacht. Das Deutungsschema ist dabei aber im Prinzip noch dasselbe geblieben. Luhmanns charakteristische Wendung besteht darin, nach der Funktion einer kausalistischen Deutung des Handelns überhaupt und nach der Funktion des Zweck/Mittel-Schemas im besonderen für das menschliche Handeln zu fragen.

Er sieht diese Funktion in beiden Fällen in einer Herstellung von Übersichtlichkeit für den Handelnden. Bezogen auf die kausalistische Deutung menschlicher Erfahrung überhaupt heißt das, dass ihre Funktion darin besteht, "die im natürlichen Erleben sich zeigenden Erfahrungs- und Verhaltenspotentialitäten zu systematisieren und so zu interpretieren, dass sie für Vergleichszwecke verfügbar, also rationalisierbar werden." Bezogen auf die Deutung des Handelns nach dem Schema von Zweck und Mittel behauptet Luhmann eine Selektionsfunktion dieses Schemas für Wahrnehmung und Wertung von Handlungsfolgen. Er bestreitet zunächst die Fruchtbarkeit der Vorstellung, Handelnde orientierten sich an einem von der Wirklichkeit abgelösten einheitlichen Wertsystem. Wie Pragmatisten und Phänomenologen geht auch er auf die Dynamik natürlichen Erlebens zurück, in dem wir sehr wohl wissen, dass die Bedeutung von Werten für unser Handeln von ihrer Realisierbarkeit und vom Befriedigungsstand anderer Werte abhängig ist. Die Funktion des Zweckbegriffs kann Luhmann dann in einer Bewertung von Handlungsfolgen sehen. "Der Zweckbegriff bezeichnet diejenige Wirkung bzw. den Komplex von Wirkungen, die das Handeln rechtfertigen sollen, also stets nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex der Wirkungen. Sein 'Thema' ist nicht die Bewirkung jener ausgezeichneten Wirkungen, sondern das Verhältnis ihres Wertes zu den Werten der Nebenwirkungen (einschließlich der Wirkungen anderer Möglichkeiten des Handelns, auf die man bei einem bestimmten Engagement verzichten muss). Die Zwecksetzung besagt, dass der Wert der bezweckten Wirkungen ungeachtet der Werte oder Unwerte der Nebenwirkungen bzw. der aufgegebenen Wirkungen anderer Handlungen das Handeln zu begründen vermag. Der Mittelbegriff erfasst dieselbe Wertrelation von der anderen Seite der benachteiligten Werte aus. Er geht von den Ursachen aus, die zum Erreichen einer bezweckten Wirkung geeignet sind, und besagt, dass die Wertimplikationen der Folgen dieser Ursachen außerhalb des Zwecks vernachlässigt werden dürfen." Mit diesem Gedankengang richtet Luhmann also den funktionalistischen Blick nicht nur auf Organisationen, sondern auch auf die Dynamik des menschlichen Handelns. Die Frage nach der Zweckfunktion in Handlungssystemen bezieht sich auf dieses wie jenes.

Kaum jemand hat bemerkt, und viele mag es erstaunen, dass die Quelle für diese Überlegungen Luhmanns, die bis in den Wortlaut der Formulierungen hinein spürbar ist, das Denken des amerikanischen Pragmatisten John Dewey ist. Es gibt aber eine entscheidende Differenz zwischen Deweys eigener Version und ihrer Rezeption bei Luhmann. Luhmann verwendet Deweys Argumente zur Rechtfertigung seiner weit über Parsons hinausgehenden Radikalisierung funktionalistischer Argumentation. Seine funktionale Analyse des Zweck/Mittel-Schemas im Handeln ist deshalb nicht wie Deweys Kritik dieses Schemas an einem positiven Begriff eines Handelns orientiert, das über dieses Schema erhaben ist. Deweys Kritik der teleologischen Deutung des Handelns ist bezogen auf die Möglichkeit von "genuine instrumentality"; für dieses Ideal findet sich in Luhmanns Theorie kein Pendant. Die Kritik am Rationalmodell der Organisation ist aber mit beiden Formen der Relativierung des Rationalmodells der Organisation sehr wohl verträglich.

Dewey beginnt an dieser Stelle mit einer scharfen Unterscheidung zwischen Zielen und Ergebnissen von Handeln. Die Auffassung von Zielen als antizipierter Zukunftszustände beschreibe ihre Rolle im gegenwärtigen Handeln nur unzureichend. Er braucht die Betonung dieser trivialen Unterscheidung, um seine These von einer reziproken Beziehung zwischen Handlungszielen und Handlungsmitteln verständlich zu machen. Er geht nicht davon aus, dass dem Handeln im Regelfall klare Ziele vorausgingen, auf die sich dann die Mittelwahl bloß noch auszurichten hat. Vielmehr seien Handlungsziele meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert. Reziprozität von Zielen und Mitteln bedeutet also ein Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielklärung. Die Dimension der Mittel ist damit nicht neutral gegenüber der Dimension der Ziele. Indem wir erkennen, dass uns bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, stoßen wir erst auf Ziele, die uns vorher gar nicht zu Bewusstsein kamen. Mittel spezifizieren also nicht nur Ziele, sie erweitern auch den Spielraum möglicher Zielsetzung. Deweys Begriff der "genuine instrumentality" richtet sich dagegen, Ziele aus den ins Handeln eingebauten Reflexionsprozessen auszunehmen. In solchem Fall werden die Ziele oberhalb der Handlungsprozesse fixiert und drücken damit die Handlungsmittel erst in den Status reiner Mittel herab. Aus den ethischen Schriften Deweys wird klar, dass nicht nur Fremdzwang, sondern auch Selbstzwang unter seine Kritik an der Fixierung von Zwecken fällt. Jede Heiligung eines Zweckes als eines Wertes an sich verdeckt vor dem Handelnden die übrigen Folgen seiner Zielsetzung und Mittelwahl, als würden diese wundersamerweise nicht eintreten oder ignoriert werden können. Deweys Orientierung gilt aber nicht der Verehrung von Werten und einer scheuklappenhaften Verfolgung von Zielen, sondern einer pragmatischen Teilhabe am kollektiven Handeln, in dem alle Werte und alle Ziele Gegenstand der Reflexion und Diskussion werden können.

Deweys Kritik des Zweck/Mittel-Schemas für die Deutung menschlichen Handelns ist also motiviert von seiner Weigerung, ein unter Fremd- oder Selbstzwang stehendes (Arbeits-)Handeln als Prototyp für eine Handlungstheorie zu akzeptieren. Für ihn ist der Unterschied zwischen Zielen, die der Handlung äußerlich und vorgegeben sind, und Zielen, die sich im Handeln einstellen, aber auch revidiert und aufgegeben werden können, wesentlich. Die Skepsis des Pragmatisten gegenüber einer Verdeckung dieses Unterschieds trifft sich hier mit den Vorbehalten lebensphilosophisch beeinflusster Denker gegen das Zweck/Mittel-Schema. So hat auch Tönnies sich dem Problem einer umfassenden Verwendbarkeit dieses Schemas gestellt und davon gesprochen, dass es in zwei Fällen ganz offensichtlich nicht der Selbsterfahrung des Handelnden entspreche: wenn er aus Neigung und Lust handle, trenne er ebenso wenig Zweck und Mittel, wie wenn er eingeschliffenen Handlungsgewohnheiten folge. Die beiden Fälle entsprechen genau den Ideen des Pragmatisten über ein sinnerfülltes und ein in unreflektierte Routine abgesunkenes Handeln. Noch weiter geht Georg Simmel, der in seinem metaphysischen Spätwerk die Freiheit des Menschen gerade nicht in seiner Fähigkeit zu zweckmäßigem Handeln, sondern in der Durchbrechung der Zweckmäßigkeit sehen will. Er definiert geradezu den Menschen als das "unzweckmäßige", aus der Zweckmäßigkeit entlassene Wesen. Am radikalsten hat dann Heidegger die Unmöglichkeit dargelegt, das menschliche Leben als ganzes im Sinn einer Zweck-Mittel-Kette aufzufassen. Wir eilen ja nicht von einer Handlung zur nächsten, um am Lebensende unser erstrebtes Ziel zu erreichen. Das Verhältnis zu uns selbst und zum Ganzen unseres Lebens bedarf vielmehr ganz anderer Kategorien, die Heidegger als "Um - willen" anstelle von "Um - zu " bezeichnet und mit seiner Analyse des Verhältnisses zum Tode näher zu fassen versucht. Nimmt man diese ja durchaus verschiedenen Argumente zur Begrenztheit der Anwendbarkeit des Zweck/Mittel-Schemas zusammen, dann ergibt sich, dass weder routiniertes noch sinnerfülltes, weder kreatives noch existenziell reflektiertes Handeln nach diesem Schema zu denken ist. Die scheinbare Selbstverständlichkeit, von diesem Schema in der Handlungstheorie auszugehen, ist damit dahin. Zu klären ist aber weiterhin, aus welchen Annahmen heraus sich diese scheinbare Selbstverständlichkeit ergab und wie - nach einem Bruch mit diesen Annahmen - ein alternatives Verständnis der Zwecksetzung und Zweckorientierung im menschlichen Handeln möglich ist.

Ich werde diesen Weg im Augenblick nicht weiterverfolgen und darauf verzichten, den Begriff der Intentionalität aus der Idee präreflexiver Einbettung des Handelns in Situationen und der Transformation von "Wünschen" zu "Zielen" zu entwickeln. Der kreative Akt der Zielsetzung setzt bekanntlich die Konstitution einer Wirklichkeit voraus, die als unabhängig vom Akteur erfahren wird, zugleich aber die Bewahrung der Fähigkeit des Akteurs, sich diese Wirklichkeit anders zu wünschen, als sie ist. Ich verzichte hierauf, um wenigstens kurz die beiden anderen stillschweigenden Annahmen in der Idee des "rationalen Handelns" zu streifen.

Die zweite stillschweigende Voraussetzung in den meisten Handlungstheorien ist die Unterstellung, Handelnde seien zur Kontrolle ihres Körpers fähig. Anders als im Fall des Zweck/Mittel-Schemas, das offensichtlich die Ausrichtung rationaler Handlungsmodelle bestimmt und nur nicht weiter befragt wird, ist die Unterstellung der Beherrschbarkeit des Körpers im Sinne seiner Einsetzbarkeit für die Zwecke des Handelnden tatsächlich eine verborgene Annahme, denn explizit tritt der Körper in den meisten Handlungstheorien überhaupt nicht auf. Die soziologische Theorie setzt in der Regel den Körper schlicht als faktische Grundlage des Handelns voraus, widmet ihm aber - in einer Art theoretischer Prüderie - keine weitere Aufmerksamkeit. Der Begriff der Handlung wird in der soziologischen Theorie meist nur dann in Verbindung mit den biologischen bzw. anthropologischen Voraussetzungen des Menschen gebracht, wenn es darum geht, die Identität der Sozialwissenschaften gegen biologistische oder psychologistische Reduktionsversuche zu verteidigen.

Außer der Bedeutung der Körperlichkeit für ein nicht-teleologisches Verständnis von Intentionalität sprechen mindestens zwei Gründe gegen eine Bescheidung mit diesem Stand der Dinge. Der erste Grund liegt darin, dass die Handlungstheorie sich mit dem Vorwurf auseinander zu setzen hat, sie weise ihrer ganzen Anlage nach eine Schlagseite zu einem aktivistischen Verhältnis zur Welt auf, das offensichtlich kulturspezifisch, vielleicht auch geschlechtsspezifisch sei und damit den behaupteten Universalitätsanspruch nicht erfüllt. Wenn die Handlungstheorie das Handeln selbst als wertvoll interpretiert, dann geraten die Kultivierung handlungsentlasteter ästhetischer Sensibilität und die Bereitschaft zur Hinnahme des Schicksals, der unbeabsichtigten und unerwarteten Ereignisse des Lebens, entweder aus dem Blick oder sie werden als minder wertvoll eingestuft. Mit diesen Vorwürfen kann sich die Handlungstheorie aber nur auseinandersetzen, wenn ihr Handlungsbegriff so angelegt ist, dass er auch Passivität, Sensibilität, Rezeptivität, Gelassenheit umschließt. Dies bedeutet einen Handlungsbegriff, der nicht die ununterbrochene Aktivität als Hervorbringung einzelner Akte bezeichnet, sondern eine bestimmte Struktur des Verhältnisses zwischen dem Organismus Mensch und seiner Umwelt. Eine Vermeidung aktivistischer Untertöne in der Handlungstheorie ist deshalb auf die Einbeziehung der Körperlichkeit angewiesen.

Der zweite Grund, warum der Körper nicht zur unthematischen Voraussetzung der Handlungstheorie erklärt werden darf, liegt in der Problematik einer instrumentalistischen Einschränkung der Rolle des Körpers. Eine solche Einschränkung liegt vor, wenn der Körper als beliebig verfügbares Instrument der reinen Intentionalität gedacht wird, sei es als technisches Instrument im instrumentalen Handeln, sei es als beherrschbarer Körper im Rahmen normativ orientierten Handelns, sei es auch als bloßes Medium der Ausdrucksintentionen, ohne Widerständigkeit und eigenes Gewicht, beim kommunikativen Handeln. Die großen historisch-anthropologischen Entwürfe etwa von Norbert Elias oder von Michel Foucault lassen sich als Versuche verstehen, die historische Entstehung eines instrumentalistischen Verhältnisses zum eigenen Körper zu analysieren. Sie zielen dabei mit Recht nicht einfach auf den Einfluss kultureller Werte auf individuelle Einstellungen, sondern rücken die Herausbildung und Durchsetzung körperbezogener Disziplinierungstechniken in den Vordergrund. Wenn sie auch dazu neigen, die Geschichte als mehr oder minder lineare Zunahme der Disziplinierung des Körpers zu betrachten, so dass - wie Giddens über Foucault gesagt hat - nur noch "Körper ohne Gesicht", d. h. entsubjektivierte Objekte der Disziplinierung übrig bleiben, stellen ihre Arbeiten doch wesentliche Schritte zu einer "Kulturgeschichte des rationalen Akteurs" dar. Eine solche Kulturgeschichte ist das historische Pendant zur rekonstruktiven Einführung der im Begriff des rationalen Handelns steckenden stillschweigenden Annahmen. Sie kann allerdings von der begrifflichen Rekonstruktion lernen, dass die simple Unterstellung der Instrumentalisierbarkeit in naiven Rationalmodellen nicht in den Gedanken einer historischen Totalisierung der Disziplinierung umschlagen muss. Die Instrumentalisierung des Körpers durch den Handelnden oder durch verselbständigte "Disziplinen" darf nicht als vollständig gedacht werden, wenn überhaupt Handlungsfähigkeit angenommen werden soll. Es geht also um labile Gleichgewichte von Instrumentalisierung des Körpers und anderer, nicht-instrumenteller Beziehungen zum Körper. Der Körperkontrolle auf der Bühne des Lebens entspricht immer die periodische Lockerung der Kontrolle hinter den Kulissen. Die Handlungstheorie muss sich deshalb ebensowohl mit der Herausbildung der Körperkontrolle wie mit der Entwicklung der Fähigkeit zu ihrer Lockerung, d.h. mit der intentionalen Reduktion der Instrumentalisierung des Körpers beschäftigen.

Pragmatismus, Phänomenologie und Philosophische Anthropologie haben die Begrenztheit eines aktivistischen Verständnisses von Handlung und eines instrumentalistischen Bezugs des Handelnden zu seinem Körper in vielen Beiträgen überwunden. Zu nennen ist vor allem die Deutung von Handlungen mit den Ideen passiver Intentionalität und eines selber sinnhaften Verlusts der Intentionalität. Als "passive Intentionalität" lassen sich diejenigen Handlungsweisen bezeichnen, in denen der Körper intentional freigesetzt, losgelassen, nicht kontrolliert werden soll. Ein berühmtes Beispiel liegt in Merleau-Pontys Analyse des Einschlafens vor. Wir alle wissen, dass die Absicht einzuschlafen - als "aktive" Intentionalität verstanden - sich selbst vereitelt. Dennoch verstehen wir uns darauf, unsere Intention zu verwirklichen, indem wir die vorreflexiven Intentionen unseres Körpers, die zum Schlaf streben, zulassen und fördern: ("Ich strecke mich in meinem Bette aus, auf der linken Seite, die Knie leicht angezogen, ich schließe die Augen, ich atme langsamer, ich löse mich von jederlei Vorhaben. Doch hier hat das Vermögen meines Willens oder meines Bewusstseins seine Grenze. Wie in den dionysischen Mysterien die Gläubigen den Gott anriefen, indem sie Szenen seines Lebens mimisch darstellten, so beschwöre ich die Heimsuchung durch den Schlaf herauf, indem ich Atem und Haltung eines Schläfers nachahme. Der Gott ist da, wenn die Gläubigen sich von der Rolle, die sie spielen, nicht mehr unterscheiden, wenn ihr Leib und ihr Bewusstsein ihm nicht mehr ihre undurchdringliche Besonderheit entgegensetzen, vielmehr gänzlich mit dem Mythos verschmolzen sind. So gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem der Schlaf "kommt": er überlagert sich jener Nachahmung seiner, die ich ihm darbot, es gelingt mir zu werden, was ich zu sein fingierte: diese blicklose und fast gedankenlose Masse, wie festgenagelt an einem Punkt des Raumes, zur Welt nur mehr durch die anonyme Wachsamkeit der Sinne.") Was Merleau-Ponty brillant beschreibt, ähnelt dem, was die Pragmatisten als Zwischenphase im Problemlösungsverhalten herausgestellt haben. Um ein Problem zu lösen, darf man sich eben nicht auf eine Handlungsweise versteifen, sondern muss man sich freisetzen für die Einfälle und neuen Handlungsansätze, die sich aus der vorreflexiven Intentionalität des Körpers ergeben. Auch aus dem Gebiet der Sexualität lassen sich leicht parallele Beispiele anführen.

Der sinnhafte Verlust der Intentionalität liegt nicht dort vor, wo körperliche Phänomene zum Indikator für uneingestandene Intentionen werden: wenn wir etwa vor Scham erröten. Unsere Fähigkeit zu intentionalem Handeln ist dabei ja nicht prinzipiell in Frage gestellt; unser Körper verrät nur andere Intentionen, als wir intentional gerne mitgeteilt hätten. Zu denken ist vielmehr an Handlungsformen, deren Einbeziehung in den Gegenstandsbereich der Handlungstheorie Verfechter rationaler Handlungsmodelle sicher nicht ernsthaft in Erwägung ziehen: das Lachen und das Weinen. Lachen und Weinen sind Handlungen, die nur der Mensch kennt, die aber gleichwohl im vollen Sinne nicht intentional hervorgebracht werden können. Wir "müssen" lachen oder weinen; aber nur das handlungsfähige Wesen Mensch kennt dieses Muss. Es war Helmuth Plessners geniale Idee, aus diesem scheinbaren Paradox den richtigen Ausweg zu finden, indem er Lachen und Weinen aus dem situativen Verlust der Intentionalität zu begreifen versuchte. Während Sprache und Gestik die intentionale Beherrschbarkeit des Körpers voraussetzen und die Mimik des Gesichts oder die Haltung des ganzen Körpers einem Handlungspartner un-intentional eine Affektlage signalisieren, die durchaus im Widerspruch zu den Kommunikationsintentionen stehen kann, lassen sich das Lachen und das Weinen diesen beiden Formen körpergebundenen Ausdrucksverhaltens nicht subsumieren. In der sprachlichen und gestischen Kommunikation ist die Herrschaft über den Körper unbedroht; in der unintentionalen Expressivität werden Grenzen dieser Herrschaft deutlich, ohne dass diese Herrschaft innerhalb der gesteckten Grenzen in Frage gestellt würde. Im Lachen und Weinen geht dagegen die Herrschaft über den Körper schlagartig verloren: "Körperliche Vorgänge emanzipieren sich. Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht gewissermaßen mit ihm, was sie will." gf Der Ausdruckswert des Lachens und Weinens liegt eben darin, dass sie den Verlust beherrschter Reaktionsfähigkeit anzeigen. Sie treten in Situationen auf, deren Mehrdeutigkeit das Subjekt überfordert. Wenn der Handelnde die Sinnzumutungen einer Situation als so widersprüchlich und mehrdeutig empfindet, dass ihm keine Integration der provozierten Handlungsweisen in eine konsistente Handlung mehr möglich ist, entlädt sich die Handlungserregung, so Plessner, im Lachen: "Unbeantwortbarkeit durch (mehrfach) sich gegenseitig ausschließende Beantwortbarkeit begründet den Widerstand gegen den Rückstoß von der fraglichen Situation, d.h. die Spannung, die sich im Lachen löst. So beantwortet der Mensch das Unbeantwortbare in seiner Mehrsinnigkeit. So quittiert er das vital, spirituell und existentiell "Widersinnige" mit einer Reaktion, die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät. Indem er lacht, überlässt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn. Mit dieser Kapitulation als leibseelisch-geistige Einheit behauptet er sich als Person." Das Weinen ereignet sich nach Plessner dagegen in Situationen, deren Sinnzumutung so stark ist, dass sie die reflexive Distanz des Handelnden zur Situation und zu den eigenen Handlungen völlig überfordert. Die Ohnmacht, die sich im Weinen ausdrückt, ist nach Plessner nicht einfach die Überwältigung durch überlegene Gewalten, sondern der Verlust an jener Distanz, die intentionales Handeln ermöglicht: "ein Mangel an Distanz - nicht zum jeweiligen Gefühl, sondern zu dem Gehalt, der mich im Gefühl füllt, hochreißt, erschüttert." - Wenn es überhaupt zulässig ist, innerhalb der Handlungstheorie die phänomenale Vielfalt menschlichen Handelns zur Geltung zu bringen, und entsprechend Phänomene wie das Einschlafen, das Lachen und das Weinen Anspruch auf die Aufmerksamkeit der Handlungstheoretiker haben, dann zeigen "passive Intentionalität" und "sinnhafter Verlust der Intentionalität" die Notwendigkeit auf, das Verhältnis des Handelnden zum Körper als eine der zentralen Fragen der Handlungstheorie anzuerkennen.

Erneut breche ich an dem Punkt ab, an dem zwar die Notwendigkeit einer Problemlösung plausibilisiert sein könnte, die Lösung selbst aber noch nicht verständlich ist. Ich habe versucht, die Lösung durch die Untersuchungen zur Entwicklung des Körperschemas oder Körperbildes des Handelnden zu finden. Meine These ist dabei, dass der Körper dem Handelnden nicht unmittelbar gegeben sei, sondern nur über ein Körperschema, und dass nachgewiesen werden kann, dass dieses Körperschema selbst Resultat eines intersubjektiven, eines sozialen Prozesses ist. Wenn diese These sich halten lässt, dann lässt sich zeigen, dass Sozialität bereits in der menschlichen Handlungsfähigkeit enthalten ist. Ich spreche von "primärer Sozialität", um auszudrücken, dass Sozialität in diesem Sinne nicht das Ergebnis bewusster Orientierung der Handelnden aneinander ist, sondern der Fähigkeit, als ein Individuum zu handeln, vorausgeht. Dies betrifft dann zugleich die dritte genannte stillschweigende Annahme.

Von den im Begriff des rationalen Handelns enthaltenen Annahmen lässt sich die Unterstellung einer ursprünglichen Autonomie des handelnden Individuums heute wohl am wenigsten als stillschweigende Voraussetzung bezeichnen. Während die Annahme eines teleologischen Charakters der Intentionalität des Handelns und auch die einer Instrumentalisierbarkeit des eigenen Körpers durch den Handelnden weithin unreflektiert bleiben und eine rekonstruktive Einführung der Fähigkeiten zur Zwecksetzung oder Körperbeherrschung deshalb zuerst auf eine Destruktion scheinbarer Selbstverständlichkeiten angewiesen ist, gilt dies für die dritte Annahme viel weniger. Zwar hat die unreflektierte Behauptung, das eigeninteressierte, autonome Individuum sei der natürliche Ausgangspunkt aller Sozialtheorie, sicher ihre tiefen Wurzeln im Besitzindividualismus der westlichen Kultur. Doch waren die Gegenstimmen zu dieser Behauptung immer deutlich vernehmbar und in einigen Ländern, Zeiten oder Sphären des geistigen Lebens durchaus dominant. Innerhalb des Spektrums der heutigen Sozialwissenschaften ist die ™konomie die wichtigste Domäne individualistischer Annahmen. Gerade in dieser Disziplin aber hat sich auch das Bewusstsein am stärksten ausgeprägt, dass es sich bei diesen Annahmen um einen methodologischen Ausgangspunkt handelt. Ungenügend geklärt wird dabei allerdings, ob sich in der Präferenz für diesen methodologischen Ausgangspunkt nicht doch Neigungen zu einer individualistischen Ontologie verbergen. Auch in Psychologie und Philosophie gibt es starke individualistische Strömungen. Aber zugleich stellen doch Teile der Sozialpsychologie, die Entwicklung der sozialkognitiven Forschung und die Wendung der Psychoanalyse von einer Triebtheorie zu einer Theorie der Objektbeziehungen ein Gegengewicht dar. In der Philosophie finden sich individualistische Annahmen vor allem in der analytischen Philosophie; die Besinnung auf ihren sprachtheoretischen Ausgangspunkt ist allerdings geeignet, die individualistischen Prämissen in Zweifel zu ziehen. Andere philosophische Schulen wie Hermeneutik, Pragmatismus und Marxismus waren von vornherein nicht- oder sogar anti-individualistisch eingestellt oder haben - wie die Phänomenologie - sich im Laufe ihrer Entwicklung entsprechend verändert. In der Soziologie wiederum kann man den Widerstand gegen individualistische Ausgangsannahmen allenthalben beobachten; oft wird dieser Widerstand geradezu als Rettung der eigenen disziplinären Identität gegenüber einer Reduktion auf (individualistische) Psychologie betrachtet. Insbesondere für die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnde soziologische Forschung über "Sozialisation" ist die Frage nach den sozialen Bedingungen einer Genese des autonomen Individuums konstitutiv. Es lässt sich deshalb wohl nur von der engsten Version der Theorien rationalen Handelns mit Recht behaupten, dass sie die Individualität des Akteurs selbst schlicht voraussetzt und deren Genese mit ihren Mitteln nicht aufhellen kann. Ein normativistisches Verständnis von Rationalität ist dagegen mit einer Theorie der Bildung von Persönlichkeitsstrukturen durch die Verinnerlichung von Normen verbunden, und die Theorie kommunikativer Rationalität und kommunikativen Handelns zielt selbst auf die Erarbeitung einer Konzeption ursprünglicher Intersubjektivität. Es wäre deshalb ein Kampf gegen einen Popanz, wollte man die Argumente gegen die Vorstellung von einem vorsozialen, substantiellen Selbst hier so breit entwickeln, als sei die Theorie der Identitätsbildung weithin unbekannt.

Ein möglicher Einwand gegen diese Betonung der ursprünglichen Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit kann allerdings darin liegen, dass es bei dieser nur um eine genetische Voraussetzung für Entstehung oder Erwerb dieser Handlungsfähigkeit gehen könne, nicht aber um eine für die Struktur allen Handelns wichtige Dimension. Der Nachweis, dass die Handlungsfähigkeit von Individuen oder Gruppen nicht ein für allemal erworben wird, sondern der periodischen Neubelebung bedarf, und dass diese aus dem zeitweisen Einzug der symbolischen Abgrenzung des Ichs der Handelnden gegenüber Mitwelt und Umwelt erwächst, macht es freilich nötig, von den gemächlich abzuschreitenden Wegen der Sozialisationsforschung abzugehen und die Aufmerksamkeit auf die eher eruptiven Formen der Entdeckung einer die Ich-Grenzen in Frage stellenden Sozialität umzulenken. Die starke emotionale Aufladung dieses Gedankens und seine tiefe Ambivalenz - zwischen lustvoller Verschmelzung und angsterregender Gestaltlosigkeit - schlägt sich auch in den denkerischen Versuchen nieder, in denen eine Annäherung an die Phänomene der Selbstentgrenzung gewagt wurde. In romantischen Spekulationen begann die Wiederentdeckung des Dionysos als des Gottes des Rausches und der wahnsinnigen Verzückung, von dessen Wiederkehr sich die zunehmend zerrissene Sozialwelt des christlichen Abendlandes eine Erneuerung ihrer sozialen Bindekräfte und ihres vitalen Schwungs versprechen konnte. An diese romantischen Spekulationen und vor allem an Richard Wagners Kunst und Selbstverständnis konnte Friedrich Nietzsche anknüpfen, um die Kunst als moderne Möglichkeit einer Wiedergewinnung des Dionysischen und das Dionysische als Ausweg aus den Aporien der Moderne zu deklarieren. Sein leidenschaftlicher Drang nach einer Selbststeigerung der schöpferischen Person sensibilisierte ihn für das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis der Kreativität und den Ausgrenzungsmechanismen einer auf Geschlossenheit und Konsistenzwahrung bedachten Ich-Identität. Und Nietzsche war bereit, zugunsten der Kreativität auf Identität zu verzichten, oder besser: die schöpferische Selbststeigerung als Befreiung vom Zwang der Eingrenzung in die Bestimmtheiten eines Individuums zu sehen. Nietzsches scharfe Opposition von Kreativität und Identität beeinflusste breite Ströme linker und rechter Kulturkritik. Sie ließ die Suche nach einem Persönlichkeitsbild, das die Kreativität sehr wohl als verträglich mit der Bildung einer konsistenten Ich-Identität zeigte, als bloße Ausflucht vor dem Ernst der von Nietzsche aufgewiesenen Problemlage und als naiven Versöhnungsoptimismus erscheinen. Deshalb wohl kamen der kulturkritische, an Nietzsche anschließende Diskurs der Selbstentgrenzung und der positiv-wissenschaftliche, an Durkheim anschließende Diskurs der Revitalisierung von Kollektiven in einer als Selbstüberschreitung gedachten religiösen Erfahrung kaum je zusammen.

Fruchtbarer für die Soziologie als diese romantischen und lebensphilosophischen Spekulationen ist gewiss dieser klassische Versuch Emile Durkheims in seiner Studie über die elementaren Formen des religiösen Lebens. Durkheims Analyse der kollektiven Efferveszenz und der Ursprünge des Sakralen zielt nicht einfach auf die Entstehung obligatorischer Regeln und Normen, sondern auf die Genese von Werten und weltkonstitutiven Prinzipien. Die Erfahrung des Selbstverlusts und der Selbsttranszendenz sind für Durkheim das Geheimnis der religiösen Erfahrung. In diesem Typus von Erfahrung sieht er nicht ein primitives oder irrationales Randphänomen der Sozialität, sondern die konstitutive Voraussetzung jeder affektiv geladenen Bindung an andere Individuen, an Kollektive und Werte. Aus diesen Bindungen fließen unsere tiefsten Motive und gewinnen wir die Kohärenz unserer Person. Wir haben deshalb die Fähigkeit zu handeln nie ein für allemal erreicht, sondern wir leben in der ständigen Notwendigkeit, unsere Identität angesichts der unantizipierbaren Ereignisse des Lebens zu rekonstruieren.

Die drei stillschweigenden Annahmen, die ich hier ans Licht zu bringen versuchte, stellen die Hauptrichtungen dar, in denen mir eine Revision der Handlungstheorie heute als wichtig erscheint. Eine solche Revision wäre zugleich eine Reaktion auf die Provokation, die der Postmoderne-Diskurs für die Grundlagen der soziologischen Theorie darstellt. Eben diese stillschweigenden Voraussetzungen der Handlungstheorie werden ja von dieser Diskussion bloßgelegt. Die Skepsis gegenüber einer aktivistischen Einstellung zur Welt, die Forderung nach Gelassenheit und Geschehenlassen provoziert die Annahme zweckgerichteter Orientierung und nötigt zum Bruch mit einem teleologisch verengten Verständnis von Intentionalität. Die Aufmerksamkeit auf den Körper, seine Disziplinierung und Widerständigkeit provoziert die Annahme einer Instrumentalisierbarkeit des Körpers für die Zwecke des Handelns und nötigt zur Entwicklung eines Begriffs nichtinstrumentellen Körperbezugs. Der Spott über den Glauben an ein substanzhaftes Selbst provoziert die Annahme autonomer Individualität und nötigt zur Einsicht, dass Identität nicht in einem unbeweglichen Sichselbstgleichbleiben besteht, sondern in einer aktiven, ja kreativen Verarbeitung von Widerfahrnissen und ich-fremden Regungen und der Bereitschaft zur Öffnung gegenüber anderen Identitäten. Rationalistisches Pathos hilft in der Postmoderne-Debatte nicht weiter. Die soziologische Handlungstheorie muss vielmehr zeigen, dass sie den Einwänden der Postmoderne-Theoretiker durch eine Selbstrevision Rechnung zu tragen versteht.

Zur entscheidenden Front wird dann freilich, wie die Kreativität des Menschen genauer gefasst wird. Während die pragmatistische Denkweise die Kreativität im alltäglichen Handeln verankert und die wissenschaftliche Forschung als eine besonders klare Form der Anwendung dieses Potentials betrachtet, setzt die nietzscheanische Tradition die Kreativität dem Alltagsleben und der "normal science" strikt entgegen. In der Lebensphilosophie, zu der Nietzsche gehört, wird der Nexus von Kreativität und Alltagshandeln zerschnitten, und Kreativität erscheint hier als willkürliche Produktion von Bedeutungen und unkontrolliertes Spiel.

Der Pragmatismus als eine Theorie situierter Kreativität sieht dagegen die Kreativität eben in der ständigen Reorganisation unserer Handlungsgewohnheiten und Institutionen am Werk. Die Differenz zwischen einem Nietzscheschen postmodernen und einem pragmatistischen Verständnis von Kreativität scheint mir deshalb nicht ein obsoleter Gegenstand für Ideenhistoriker zu sein, sondern eine wesentliche Trennlinie, sowohl für die soziologische Grundlagentheorie, wie für eine Diagnose unserer kulturellen Situation.

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