6. Jg. , Heft 1 (September
2001)
|
|||||
___Frank
R.
Werner Wuppertal |
Politische Felder der
Architektur oder:
|
||||
Bis weit in das 19.
Jahrhundert hinein sind städtische Freiräume eigentlich wie selbstverständlich
immer auch als Denk-Räume im Sinne „politischer Landschaften“ begriffen und
verstanden worden. Der sog. „öffentliche Raum“ spiegelte selbstredend den
Machtanspruch der herrschenden Kräfte wieder, reflektierte aber gleichzeitig
auch sehr präzise das jeweilige Maß an Emanzipation, welches eben jene Kräfte
dem Individuum bzw. dem Kollektiv gegenüber den staatstragenden Institutionen
einzuräumen bereit waren. Mithin konnte der „öffentliche Raum“ für das
Selbstverständnis einer Stadt und ihrer Bürger mitunter wichtiger sein als die
ihn umgebenden Bauwerke.[1]
Darüber hinaus diente er auswärtigen Besuchern als unumgängliche „Dechiffrierhilfe“
zum Verständnis der lokalen Machtverhältnisse. Selbst Stadtpläne und
Stadtansichten aus dieser Zeit dienen meist eher politischen Informationen als
akribischen Darstellungen des tatsächlich Vorhandenen.
Erst die Zeit nach den
europäischen Revolutionen von 1918 verändert die öffentlichen Räume in ihrer
Funktion als politische Landschaften einschneidend. Schließlich wird jetzt das
Leben bislang unterprivilegierter Bevölkerungsschichten im Kollektiv neu
erdacht, verplant und gestaltet. Noch heute werden mitunter jene revolutionären
„Wohnformen für das Existenzminimum“ mitverantwortlich gemacht für die
fortschreitende Degeneration stadträumlicher Qualitäten. Das Gegenteil ist der
Fall! Vertreter des „Neuen Bauens“, wie etwa Bruno Taut und dessen
Landschaftsgestalter Leberecht Migge, haben den Topos „politische Landschaft“ tiefenschärfer einzusetzen gewusst als viele
ihrer Nachfolger. Womit gemeint ist, dass das Kollektiv nunmehr beschützte
„Freiräume“ mit programmatischem Charakter als „Denkraum“ zur eigenen sozialen
Emanzipation erhält und auch nutzt. Und ist es nicht Leberecht Migge, dem es
mit seiner „Siedlerbewegung“ gelingt, den in jeder Beziehung „heilenden“, also
auch sozialmoralischen, politischen Wert der städtischen Natur immer wieder in
überzeugende Grünraum-Metaphern zu gießen?
Aber auch politisch
verantwortungsvollere Grundhaltungen sozialdemokratischer Stadtplaner und
Landschaftsgestalter der Weimarer Republik sollten nicht darüber hinweg
täuschen, dass die großen Städte in den zwanziger und dreißiger Jahren immer unkontrollierbareren
Transformationsprozessen ausgesetzt sind, ausgelöst durch konzertierte
Wirtschaftsinteressen. Die Metropole wird zur „Metropolis“, zum „Moloch“, der
sich mit unaufhaltsamer Beschleunigung verändert. Schlichte Plätze mutieren zu
Knotenpunkten von Geschwindigkeit und Verkehrsrausch, zu Kommunikationszentren
für eine neue Art von gesellschaftlicher „Bildung“ im Windschatten des
Kapitals. Die Wohnquartiere verkümmern zu „Fuchsbauten“, in denen nur der überlebt,
der über die geringsten sozialen Skrupel verfügt. Zwecks Kompensation der
städtischen Härte verwandeln sich öffentliche urbane Erholungslandschaften
vielerorts in Lunaparks, welche die Unerträglichkeit des Seins vorübergehend
vergessen lassen.
Auf der anderen Seite steht
seinerzeit indes die wachsende Zahl intellektueller Flaneure, die nachgerade
dieser Prozess des hektischen Wandels fasziniert, die das städtische Gebrodel
wie eine herausfordernde archäologische Fundstätte
betrachten und täglich neue metaphorische Spuren einer gänzlich anders
gearteten „Denkraum-Kultur“ in der „Natur der Stadt“ ausmachen. Sie
interessieren sich weniger für die realpolitischen Dimensionen Paris, London,
Rom oder Berlin, sondern weitaus stärker für
die konstruktiven wie destruktiven Fußnoten des urbanen Lebens. Sie betrachten
Städte und ihre Freiräume einzig und allein als Raum-Zeit-übergreifende
Collagen, die es zu entziffern gilt. Wie zuvor schon die italienischen
Futuristen schwärmen sie für Geschwindigkeit, Rausch, Prostitution, Zerfall des
Städtischen und seine Wiedergeburt. All dies
wird von ihnen in einem Atemzug mit den „Kathedralen einer neuen Gesellschaft“
notiert, als da wären Bahnhöfe, Kaufhäuser, Passagen, Museen, aber auch Verkehrsknotenpunkte
oder die Lasterhöhlen urbaner Subkulturen. Walter Benjamin fordert gar, man
müsse sich unbedingt „wieder verirren
lernen in den großen Städten.“ Nicht von ungefähr verdanken wir dieser kurzen
Zeitspanne die aufregendsten Aussagen zum Thema „Stadtlandschaft“ im 20. Jahrhundert.
So ist etwa der Schriftsteller Siegfried Kracauer unablässig der „von selber gewachsenen,
ungestellten Landschaft“ der modernen Stadt auf der Spur, die für ihn ganz
selbstverständlich einen unerschöpflichen Fundus auch politisch aufregender
„Denkräume“ verkörpert. Und ist nicht Kracauers Feststellung, dass „die
Erkenntnis der Städte an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder
geknüpft“ sei[2], bis heute
ungeschmälert gültig?
Dieses ungezügelte
Freiraum-Denken, diese unvoreingenommene Lektüre „politischer Landschaften“,
die man vielleicht als existentielle Suche nach einer neuen urbanen Identität
unter Zuhilfenahme der letzten Brachen und Nischen der modernen Stadt bezeichnen
könnte, wird nur kurze Zeit später als dekadent, sozialistisch, jüdisch, kurzum
„undeutsch“ apostrophiert. Was diejenigen, die derartige Zensuren erteilen (die
Nationalsozialisten also) dem realiter entgegenzusetzen haben, sprengt alle
Definitionsversuche öffentlicher Freiräume. Schließlich müssen ab jetzt nur
noch marginal an historische Vorbilder erinnernde Schneisen und Flächen in die
Stadtkörper eingeschnitten werden, denen allerdings weder die Funktion
kollektiver Emanzipation noch die der subjektiven Orientierung zugebilligt
wird. Stattdessen sollen und wollen die ephemeren Leerräume des Dritten Reichs
das Denken paralysieren. Die räumliche Begreifbarkeit wird ausgelöscht mit
Hilfe megalomaner, anonymer Freiflächen, die (unabhängig von militärischen
Hintergedanken) einer speziellen Inszenierung bedürfen, für die als Rohmaterial
der Mensch herzuhalten hat. Der unkontrollierbare Flaneur wird mit anderen in
Reih und Glied gebracht, die Masse wird in Szene gesetzt. Das Individuum soll
lernen, seine Ohnmacht in der Vereinzelung, seine Stärke in der hypertrophen Vervielfachung
zu begreifen. Was hätte diese Haltung wohl besser verdeutlichen können als die
gigantischen, fast schon mit kosmischen Bezügen operierenden Lichtdome, mit
deren Hilfe Albert Speer Menschen auf Massen einzuschwören wusste. Dekoriert
werden diese nur über die „Masse Mensch“ begreifbaren „Un-Räume“ mit
Naturstein-Kulissen, deren Rohmaterial man in KZ-Steinbrüchen aus dem Fels
schlagen lässt. Sklaven liefern also das Rohmaterial für politischen
Kulissenzauber: Die Stein gewordene
Deformation „politischer Landschaften“.
Die Zeitspanne, die nach dem
Zweiten Weltkrieg den Scherbenhaufen dieser Raum- bzw. Landschaftsdeformation
aufräumen muss, besinnt sich nolens volens auf die „Charta von Athen“. Man hat
die Nase gründlich voll von Stadtplanungen jedweder Art. Städtische Freiräume
(vorhandene wie durch Bomben neu entstandene) werden jetzt zu Anti-Räumen, zu
Rest-Räumen, für die sich niemand mehr zuständig fühlt. Scharouns legendärer
Entwurf für den Wiederaufbau der Stadtmitte Berlins kümmert sich um politische
„Denk-Räume“ traditionellen Zuschnitts ebenso wenig, wie dies kurze Zeit später
die flockigen Skizzen der Planer des Hansa-Viertels tun. Ihnen steht eine ganz
andere politische Vision vor Augen: eine Art von unverbindlicher „democratic
urban landscape“, offen zugänglich für jedermann, formal möglichst nirgendwo
festgelegt, jedwede ideologische Bevormundung scheuend wie der Teufel das
Weihwasser, neutral und pflegeleicht. „Pleasureground“ für gebaute Solitäre und
(man achte auf die antisteinerne, textile Referenz!) „Teppich“-Siedlungen. Aus
heutiger Sicht muten derartige Planungen wie verspätete Paraphrasen auf Frank
Lloyd Wrights „Broadacer-City“ (ab 1934/35) an. Wright, dieser programmatische
Verfechter wirklich „unpolitischer Landschaften“, hatte freilich schon 1932 ein
vorbereitendes Traktat verfasst, dessen Titel heute aktueller denn je klingt:
„The Disappearing City“.
Doch das Wirtschaftswunder
steht vor der Tür. Und mit derselben Konsequenz, mit der städtischer Grund
alsbald zur knappen, spekulativen Ware wird, verkümmert die Vision weitläufiger
demokratischer Selbstverwirklichungsräume zu wertlosen Restflächen, werden
„Freiräume“ zunehmend identisch mit Verkehrsbrachen. Ende der sechziger Jahre
kommt es schließlich zu jener weltweiten Krise von Architektur und Städtebau,
die der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich auf die griffige Kurzformel von
der „zunehmenden Unwirtlichkeit unserer Städte“ bringt. Während eiligst neu ins
Leben gerufene Disziplinen, wie das unsägliche „Urban Design“, im Auftrag der Politik
vergeblich versuchen, die Verfallssymptome städtischer (und damit auch
politischer) Landschaften ausschließlich mit ästhetischen, stadtgestalterischen
Mitteln zu kurieren, flüchten sich die kreativsten Vertreter von Architektur
und Städtebau weltweit in die Traumwelten der sog. Metabolisten-Bewegung.
Die Metapher vom
„Pflasterstrand“, sprich die Quintessenz der europäischen Studentenrevolten der
späten sechziger Jahre steht dabei wie eine greifbare, unmittelbar einzulösende
Vision im Raum. Nicht das Individuum, so hieß es damals, sondern die emotional
versteinerte spätkapitalistische Gesellschaft müsse sich so radikal und rasch
verändern, dass es sich wieder in ihr zu leben lohnen werde. In diesem Sinne
fordern Archigram, Superstudio, Yona Friedmann, Eckhard Schulze-Fielitz, Coop
Himmelblau, Haus-Rucker-Co, Hans Hollein, Walter Pichler, Kenzo Tange und
unendlich viele andere in radikaler Negation alles Bestehenden eine
fundamentale Transformation von Städtebau und Architektur, von Tektonik und
Konstruktion, um künftigen Genrerationen politisch „befreiter“ Stadtnomaden
adäquate Raumkonfigurationen anzubieten. Der daraus resultierende neue
Städtebau, die ihn konstituierenden räumlichen Gebilde und Freiräume sollen körpergerecht sein, sollen
pulsieren, riechen, tönen, Farben ausstrahlen und elektronisch miteinander
kommunizieren. Mobile Wohneinheiten sollen in Koffern verstaut und binnen
Minuten an jedem Ort der Welt zu klimatisierten Hüllen für Wohnzwecke
aufgeblasen und mit Hilfe von Kommunikationseinrichtungen untereinander
vernetzt werden können. Wenn heute vor allem Jüngere derartige Vorstellungen
mit leichter Hand als zynische High-Tech-Phantasmorgien abtun, dann verkennen
sie fast immer die zutiefst politischen Beweggründe, die hinter diesen Attacken
auf die in Konventionen erstarrte alte Stadt standen.
In der gebauten Realität
kommt es freilich erst gegen Ende der siebziger Jahre zu einer qualitativen
Veränderung im Städtebau. Denn die seinerzeit proklamierte Postmoderne
fokussiert sich gleichsam aus dem Stand heraus auf die öffentlichen Räume. Binnen
kürzester Zeit entsteht jetzt eine regelrechte Flut inszenierter Stadträume.
Skeptisch eingestellt gegenüber jeder Form der Vergegenwärtigung und daher
retrospektiv orientiert, pocht die postmoderne Stadtraumgestaltung auf
strategische Forderungen wie Behübschung, Vergessen-machen-wollen, urbane
Konflikte unter den Teppich kehren. Somit flüchtet sie sich mit ihren vermeintlichen
Rekonstruktionen der Stadt-Landschaft entweder in die heile, vorindustrielle Welt
der Restauration oder in die unverbindlichen Kulissenwelten des „schönen
Scheins“. Es gibt sie übrigens bis heute, jene restaurativen Modelle, die
städtische Räume vornehmlich mit den Mitteln von gestern als gesellschaftlich
ausgegrenzte, pseudoregionalistische Scheinwelten für gehobene Ansprüche zu
regenerieren versuchen. Es gibt sie noch immer, sie erfreuen sich sogar bei
einer bestimmten Klientel zunehmender Beliebtheit. Nicht von ungefähr werden
noch heute ganze Stadtzentren ohne Sinn und Verstand in den Zustand von
vorgestern zurückversetzt, erlebt das „déjà-vu“ städtischer Vergangenheiten auf
gespenstische Weise auch in politischer Hinsicht eine regelrechte Wiedergeburt.
Und die zahlreichen „Instant Cities“ der Gegenwart verkörpern wohl einen weiteren
Versuch, das Thema „politische Landschaften“ ein für allemal auszublenden.
Erreicht haben sie bislang allerdings das glatte Gegenteil, sind doch derartige
Städte-in-der-Stadt oder „walled neighbourhoods“ zum regelrechten Fanal eines
politisch fragwürdigen, weil gesellschaftliche Realitäten gezielt ausgrenzenden
Zitadellen-Städtebaus geworden.[3]
Aber selbst wenn man derartige Fehlentwicklungen ausblenden wollte, ist das
Erscheinungsbild der Normalstadt von heute immer noch verheerend genug: „Der
Niedergang des Politischen als des Öffentlichen wird“ nach Bernd Guggenberger
nämlich „nirgends so augenfällig wie im Bild der modernen Stadt als einer
Ansammlung beziehungsloser Großgebäude: sozial ebenso tot wie technisch perfekt
funktionierend, ohne die ordnende, verdichtende Mitte öffentlicher Plätze und
Parks. Das Ausfasern des städtischen Gewebes und der Verlust des urbanen
Kraftfeldes in den metropolitanen Wucherregionen bringen mit dem Leben auch die
Politik zum Verschwinden. Die ‘privatisierte’ Großstadt mit ihrer gigantischen
Grabsteinarchitektur verkommt immer mehr zur beziehungslosen Addition von
Baumasse. Die Stadt als belebtes Außen verschwindet; sie lässt in ihrer
Sterilität Leben, Begegnung, Öffentlichkeit und ‘Repräsentation’ nicht mehr
zu.“[4]
Halten wir uns daher lieber
an Strategien, die offensiver, kritischer, kreativer mit dem Thema Stadt bzw.
„politische Landschaften“ im urbanen Kontext umgegangen sind und umgehen.
Bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erscheint beispielsweise
eine heute fast vergessene Anthologie mit dem Titel „Panik Stadt“. Sie ist vor
allem deshalb aufschlussreich, weil dort lange
vor der aktuellen Debatte befremdlich anmutende, scheinbar völlig am Rande
liegende Themen wie „nutzbringende Zerstörungen“, „Kathedralschatten“ oder
„Inszenierungen der Zerstörung“ verhandelt werden. „Ortsgeschichten sind
Improvisationen“, schreibt darin der Historiker Michel de Certau zum Thema
Stadt als sprachliche Metapher. „Sie werden aus den Überresten der Welt
hergestellt. Aus solch heterogenen, ja gegensätzlichen Elementen setzt sich die
homogene und überkommene Form des Berichts zusammen. Man hat auf diese Weise
das Verhältnis des Gebrauchs von Raum zur gebauten Ordnung. An der Oberfläche
zeigt sich diese Ordnung überall zerhackt und durchlöchert von
Sinn-Auslassungen, Abweichungen und Fluchten: es ist die Ordnung eines Siebes.“[5]
Dem Bild der Stadt in Gestalt eines durchlöcherten Siebes begegnet der
Soziologe Henry-Pierre Jeudy mit der Feststellung, dass das städtebauliche
Ästhetisieren von Zerbersten und Aushöhlen aber keinesfalls dazu geeignet sei,
Stadt wirklich zu erfassen. „Die Analyse der Demolierung in der Stadt kann“, so
Jeudy, „nicht für sich beanspruchen, das Faktum Stadt genauer eingegrenzt zu
haben, als ob sich eine ästhetisierende Auffassung von Städtebau in den
Phänomenen des Auseinanderberstens, der Aushöhlung der mythischen Darstellung
der ‘Stadt als Kunstwerk’ wiederfände.“[6]
Sie waren seinerzeit schon sehr wichtig, solch erste interdisziplinäre Verweise
darauf, dass jede Stadt gleichsam aus sich heraus stets eine „Anti-Ordnung“,
jede Ordnung stets eine Gegen-Ordnung gebäre, sich jede Fülle stets eine Leere
grabe. Wie aber nun politisch, planerisch, architektonisch damit umgehen?
Solche Schlussfolgerungen blieben uns die Autoren damals aus gutem Grund
schuldig.
Erheblich konkreter wird da
Henri Lefèbvre, der bereits 1970 feststellt, dass die zeitgenössische Stadt „in
kein einheitliches Formensystem (mehr) aufgenommen werden“ könne, welches durch
„die privilegierte Behandlung des einen oder anderen Inhalts“ zu untermauern
wäre. Die Brüche, die im Kontext der Stadt auch politisch zutage treten und
sich nach Lefèbvre „im Raum festsetzen“, gehen aus dem hervor, „was sich dort
niederlässt, sich versammelt.“[7]
Seiner Meinung nach ist diese Koexistenz heterogener Teile das Merkmal des
differentiellen Raums, eines Raumes also, der sich durch ein unendliches Spiel
von Differenzen auszeichnet. Nach Marc Angélil misst eine derartige Betrachtung
den Schnittstellen innerhalb der Stadt eine besondere Bedeutung zu. Bernard
Tschumis Recherchen zu ‘The Manhattan Transcripts’ (1978) widmen sich
beispielsweise genau jenen Bereichen, in welchen Personen, Aktionen und Dinge
aufeinander treffen. „Der Konflikt, der aus dem Zusammenstoß unkoordinierter Ereignisse resultiert, trägt zu
einem besonderen räumlichen Verständnis des urbanen Feldes bei. An Hand der Technik
der Filmmontage, welche Tschumi auf die Architektur überträgt, werden
verschiedene Nutzungen zueinander in Beziehung gesetzt und die entsprechenden
Schnittstellen montageähnlich behandelt. Der Bruch wird zum Prinzip der
Urbanität erklärt und mögliche Implikationen seiner Räumlichkeit durch die
Manipulation der architektonischen Form überprüft.“[8]
Ein anderes, bis heute gebräuchliches
Verfahren zur realistischeren Wahrnehmung der Stadt inklusive ihrer politischen
Implikationen hat seine Wurzeln ebenfalls in den sechziger und siebziger
Jahren. Gemeint ist das „mental mapping“, das sich mit subjektiven
Kartographien und Techniken der Informationsübertragung beschäftigt. Mit der
„mental map“, der persönlichen Karte also, „wird auf ein Vorgehen verwiesen,
dessen Produktionsmodus“ ad hoc „Veränderungen aufnehmen kann. Denn die Karte
wird nicht als Abbild eines Zustandes erachtet, vielmehr als Konstruktion...,
die immer wieder neu Zugangsmöglichkeiten anbietet, andere Interpretationen
provoziert. Sie stellt weniger eine Repräsentation dar, als eine Extension
eines Sachverhalts auf eine andere Ebene.“ Zum ersten Mal international eingesetzt
wird dieses Verfahren zur Erstellung gänzlich andersartiger Stadtpläne von den
sog. „Situationisten“ in den fünfziger und sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts.[9] In diesen
Stadtplänen wird der Versuch unternommen, „die sogenannte Psychogeographie -
den psychologischen (und politischen) Raum - der Stadt zu erfassen. Dieses
Prinzip eröffnet einen Diskurs zur Stadt,“ der „ihre genetische Basis
Transformationen“ aussetzt, der Stadt neu produziert. 1983 verfeinert André
Corboz dieses Verfahren. Von ihm wird „das urbane Territorium als eine
Schichtung übereinander lagernder Karten gelesen. Wie bei einem Palimpsest, das
als Schriftstück definiert wird, dessen Text entfernt worden ist, um einem
neuen zu weichen, hinterlässt jede Karte Spuren, welche die nächste
beeinträchtigen. Ursprüngliche Spuren bleiben als Sedimente im Stadtgewebe
erhalten.“[10] Corboz’
Methode der Stadtproduktion mittels „mental mapping“, das später Peter Eisenman
stark beeinflusst hat, stellt also vorrangig den Informationstransfer zwischen
einem städtischen Zustand und einem anderen in den Vordergrund, wohlgemerkt
unter bewusster Einbeziehung politischer Gemengelagen. Dennoch haben sich
derartige künstlerisch-subjektive Verfahren in der Praxis als relativ
untauglich erwiesen, um die tatsächlichen Probleme der posturbanen Stadt, wie
die der zunehmenden sozialen Segregation, auch nur ansatzweise zu lösen.
Realitätsbezogener erscheint
da schon das derzeit wohl immer noch einflussreichste Denkmodell. Ich meine das
Bild des „Rhizoms“, das Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Standardwerk
„thousand plateaus - capitalism and schizophrenia“ (1980) auf „urbanism“,
„urban sprawl“ und „landscape“ übertragen haben. Demnach ist die
zeitgenössische Stadt ein rhizomorphes, wurzelgeflechtähnliches System. Sie
besteht aus „Tausenden von Plateaus“, aus unterschiedlichst „geformten
Materien“, aus „unterschiedlichsten Daten und Geschwindigkeiten“, aus „glatten
und gekerbten Räumen“, aus „gliedernden oder segmentierenden Linien“. Sie
konstituiert sich aus „Schichten und Territorien“ und schließt in ihren
Entwicklungsprozess Bewegungen ein, die genau diese „Schichtung und
Territorialisierung“ ständig wieder auflösen. All dies, sowie „Linien und
Geschwindigkeiten“ bilden das hochkomplexe Gefüge der Stadt. „Gekerbte“ (sprich
politische) Räume und „glatte“ (sprich soziale)
Räume reagieren osmotisch aufeinander. Die Stadt kann daher nicht länger
(besser gesagt: eigentlich nie mehr) eindeutig zugeordnet werden. Sie
verkörpert „eine Mannigfaltigkeit“, von der niemand weiß, wohin sie definitv
führen wird.[11]
Denkansätze dieser Art, so
wichtig sie für den kommenden Städtebau auch sein mögen, können freilich nicht
verhindern, dass wir uns heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, realiter auf
internationalem Niveau mehr denn je mit städtischen Investmentstrategien wie
„Wallification“, „Mallification“ und „Disneyfication“ der Städte herumschlagen
müssen.[12]
Der politische Kampf um die Handlungsfähigkeit der Städte ist damit allerdings
an einem entscheidenden Punkt angelangt. Nach Hoffmann-Axthelm stellt sich dabei
freilich die Frage, „ob Städte (künftig) die sozialen Kräfte aufbringen, sich
überhaupt (noch) Lösungen vorzustellen. Handlungschancen gibt es viele. Was fraglich
ist, ist der gesellschaftliche Auftrag dazu... Die großen Wirtschaftsmächte
sind (dabei) nicht mehr städtisch. Sie existieren weltweit, spielen Stadt gegen
Stadt aus, begeben sich zu den günstigsten Punkten und verlassen sie auch
wieder, sobald die Lage an Wert verliert. Ihr Interesse ist das einer bloßen Ausbeutung,
sie brauchen an der Stadt nicht zu bauen, weil sie nicht an sie gebunden sind;
sobald sie ausreichend kaputt gemacht haben, ziehen sie weiter an einen anderen
Ort.“[13]
„Die Aufforderung zur Stadt
fordert“ nach Hoffmann Axthelm eigentlich „zu Verzögerungen auf. (Denn) nur so,
zwischen zwei Zügen, trifft man die Stadt wirklich an“. „Die wichtigste Aufgabe
des Architekten von heute“, sagt Aaron Betsky, „ist daher, ‘slow space’ im
schnellen Kapitalfluss zu schaffen. Stadtplanung und Architektur müssen sich
verlangsamen. Sie müssen uns festhalten, offen gegenüber unseren Bedürfnissen,
sie müssen uns unsere Welt verständlich machen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts
glaubten wir, sehr schnell bauen zu müssen. Heute erkennen
wir, dass wir die Welt zum Stillstand bringen müssen, um wirklich modern zu
sein. ‘Our
reality must be a very slow space in a very vast and fast world’.“[14]
Und was kann den schnellen
Kapitalfluss, immer auf der Suche nach letzten Ressourcen vermarktbarer
Bauplätzen, wohl noch stärker irritieren? Es ist die zweite Forderung nach
„voids“, nach Erhaltung städtischer Leerflächen also, nach Erhaltung „blinder
Flecken“ in der Stadt? Wer etwa nur am Beispiel des Schlossplatzes in
Berlin-Mitte verfolgt, mit welch hektischer Aktivität Staat, Gesellschaft und
Kapital auf den „Horror vacui“ dieses politisch bedingten Leerraums reagieren,
wer beobachtet, wie aggressiv solche Kräfte wo auch immer auf ein „terrain
vague“ reagieren, das Stadtplaner nach Art von Ethnologen zur weiteren Beobachtung
(womöglich auch noch politischen) offen zu halten
gedenken, der wird spüren, welche Provokation gerade „Leerstellen“ im Stadtraum
hervorrufen. Aber sind Leerstellen, blinde Flecken in der Stadt, über deren
Qualität uns Stadtpläne von heute rein gar nichts mehr berichten, sind solche
„Leerstellen“ nicht unabdingbar für neue Erzählungen zum Thema „politische
Landschaften“?
Fazit: Was soll also das
ständige Gerede vom Ende des Städtebaus, vom Ende der Architektur? Theorien,
Denk-Plateaus, Instrumentarien und Handlungsanweisungen für einen radikal
veränderten Städtebau, für gänzlich neuartige, faszinierende, alles andere als
unpolitische Landschaften sind doch reichlich vorhanden. Und schälen sich in
den weltumspannenden digitalen Netzwerken augenblicklich nicht gänzlich neue
Portale, Plattformen und nie da gewesene
Panoramen neuer „politische Landschaften“ auf? Bietet sich in ihnen und durch
sie nicht ein von Grund auf neuer Vollzug des
Öffentlichen, eine gänzlich anders geartete Qualität der politischen Aneignung
von kleinsten bis zu weltumspannenden, öffentlichen Räumen an? Was bleibt, ist
also die Frage, wie lange es sich unsere Gesellschaft überhaupt noch leisten
kann und will, faktisch depressiven (vor Selbstmitleid nur so triefenden)
Städtebau mit den Mitteln von vorgestern zu betreiben, anstatt endlich auf
Hoffnungen, Aggressionen, vor allem aber auf erweiterte Horizonte und
Fähigkeiten unverbrauchter Theoretiker-, Planer- und Architektengenerationen zu
bauen. Sie haben frisches Know-how, sie haben innovative Verfahren und
Techniken! Wann fangen wir endlich an, sie umzusetzen?
[1]vgl. hierzu: Hermann Hipp u. Ernst Seidl (Hg.). Architektur als politische Kultur, Berlin 1996
[2]Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt 1964, S. 53
[3] vgl. hierzu: Peter Neitzke, Carl Steckeweh u. Reinhart Wustlich (Hg.), Centrum Jahrbuch Architektur und Stadt 2000-2001, Instant City, Berlin-Basel Boston 2000
[4]Bernd Guggenberger, Virtual City, Jetztweisen in einer „ortlosen“ Stadt, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt 2000, S. 54
[5] Michel du Certau, Umgang mit Raum, Die Stadt als Metapher, in: Ulrich Conrads (Hg.), Panik Stadt,Berlin/Braunschweig 1979, S. 18 f.
[6]Henri-Pierre Jeudi, Inszenierung der Zerstörung?, a.a.O., S. 75
[7]Henri Lefébvre, Die Revolution der Städte, München 1972, S. 129
[8]Marc M. Angélil,
Urbane Emtropie-Der rhizomorphe Raum der Stadt, in: Internationales Forum
für Gestaltung Ulm (Hg.), Strategischer Raum-Urbanität im einundzwanzigsten
Jahrhundert, Ulm 2000, S. 32
[9] vgl. hierzu: Simon Sadler, The Situationist
City, Cambridge Mass. 1998
[10]Marc M. Angélil, s. Anm. 8, S. 33 f.
[11]Gilles Deleuze
u. Félix Guattari, Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin
1992, S. 427, 449., 529 f., 599 u. 693
[12]
vgl. hierzu: Ghent Urban Studies Team (GUST), The Urban Condition:
Space, Community, and Self in the Contemporary Metropolis, Rotterdam 1999
[13]Dieter Hoffmann-Axthelm, Aufforderung zur Stadt, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner
Kultur, Frankfurt 2000, S. 235 f.
[14] Aaron Betsky, Architecture must burn,
Corte Madera/California 2000, Chapter 4.0 Architecture beyond building,
o.P.