6. Jg. , Heft 1 (September 2001)

Politische Felder der Architektur oder:
Von der Kartierung politischer Stadtlandschaften

 

Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein sind städtische Freiräume eigentlich wie selbstverständlich immer auch als Denk-Räume im Sinne „politischer Landschaften“ begriffen und verstanden worden. Der sog. „öffentliche Raum“ spiegelte selbstredend den Machtanspruch der herrschenden Kräfte wieder, reflektierte aber gleichzeitig auch sehr präzise das jeweilige Maß an Emanzipation, welches eben jene Kräfte dem Individuum bzw. dem Kollektiv gegenüber den staatstragenden Institutionen einzuräumen bereit waren. Mithin konnte der „öffentliche Raum“ für das Selbstverständnis einer Stadt und ihrer Bürger mitunter wichtiger sein als die ihn umgebenden Bauwerke.[1] Darüber hinaus diente er auswärtigen Besuchern als unumgängliche „Dechiffrierhilfe“ zum Verständnis der lokalen Machtverhältnisse. Selbst Stadtpläne und Stadtansichten aus dieser Zeit dienen meist eher politischen Informationen als akribischen Darstellungen des tatsächlich Vorhandenen. 

Erst die Zeit nach den europäischen Revolutionen von 1918 verändert die öffentlichen Räume in ihrer Funktion als politische Landschaften einschneidend. Schließlich wird jetzt das Leben bislang unterprivilegierter Bevölkerungsschichten im Kollektiv neu erdacht, verplant und gestaltet. Noch heute werden mitunter jene revolutionären „Wohnformen für das Existenzminimum“ mitverantwortlich gemacht für die fortschreitende Degeneration stadträumlicher Qualitäten. Das Gegenteil ist der Fall! Vertreter des „Neuen Bauens“, wie etwa Bruno Taut und dessen Landschaftsgestalter Leberecht Migge, haben den Topos „politische Landschaft“  tiefenschärfer einzusetzen gewusst als viele ihrer Nachfolger. Womit gemeint ist, dass das Kollektiv nunmehr beschützte „Freiräume“ mit programmatischem Charakter als „Denkraum“ zur eigenen sozialen Emanzipation erhält und auch nutzt. Und ist es nicht Leberecht Migge, dem es mit seiner „Siedlerbewegung“ gelingt, den in jeder Beziehung „heilenden“, also auch sozialmoralischen, politischen Wert der städtischen Natur immer wieder in überzeugende Grünraum-Metaphern zu gießen?

Aber auch politisch verantwortungsvollere Grundhaltungen sozialdemokratischer Stadtplaner und Landschaftsgestalter der Weimarer Republik sollten nicht darüber hinweg täuschen, dass die großen Städte in den zwanziger und dreißiger Jahren immer unkontrollierbareren Transformationsprozessen ausgesetzt sind, ausgelöst durch konzertierte Wirtschaftsinteressen. Die Metropole wird zur „Metropolis“, zum „Moloch“, der sich mit unaufhaltsamer Beschleunigung verändert. Schlichte Plätze mutieren zu Knotenpunkten von Geschwindigkeit und Verkehrsrausch, zu Kommunikationszentren für eine neue Art von gesellschaftlicher „Bildung“ im Windschatten des Kapitals. Die Wohnquartiere verkümmern zu „Fuchsbauten“, in denen nur der überlebt, der über die geringsten sozialen Skrupel verfügt. Zwecks Kompensation der städtischen Härte verwandeln sich öffentliche urbane Erholungslandschaften vielerorts in Lunaparks, welche die Unerträglichkeit des Seins vorübergehend vergessen lassen.

Auf der anderen Seite steht seinerzeit indes die wachsende Zahl intellektueller Flaneure, die nachgerade dieser Prozess des hektischen Wandels fasziniert, die das städtische Gebrodel wie eine herausfordernde archäologische Fundstätte betrachten und täglich neue metaphorische Spuren einer gänzlich anders gearteten „Denkraum-Kultur“ in der „Natur der Stadt“ ausmachen. Sie interessieren sich weniger für die realpolitischen Dimensionen Paris, London, Rom oder Berlin, sondern weitaus stärker für die konstruktiven wie destruktiven Fußnoten des urbanen Lebens. Sie betrachten Städte und ihre Freiräume einzig und allein als Raum-Zeit-übergreifende Collagen, die es zu entziffern gilt. Wie zuvor schon die italienischen Futuristen schwärmen sie für Geschwindigkeit, Rausch, Prostitution, Zerfall des Städtischen und seine Wiedergeburt. All dies wird von ihnen in einem Atemzug mit den „Kathedralen einer neuen Gesellschaft“ notiert, als da wären Bahnhöfe, Kaufhäuser, Passagen, Museen, aber auch Verkehrsknotenpunkte oder die Lasterhöhlen urbaner Subkulturen. Walter Benjamin fordert gar, man müsse sich unbedingt  „wieder verirren lernen in den großen Städten.“ Nicht von ungefähr verdanken wir dieser kurzen Zeitspanne die aufregendsten Aussagen zum Thema „Stadtlandschaft“ im 20. Jahrhundert. So ist etwa der Schriftsteller Siegfried Kracauer unablässig der „von selber gewachsenen, ungestellten Landschaft“ der modernen Stadt auf der Spur, die für ihn ganz selbstverständlich einen unerschöpflichen Fundus auch politisch aufregender „Denkräume“ verkörpert. Und ist nicht Kracauers Feststellung, dass „die Erkenntnis der Städte an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft“ sei[2], bis heute ungeschmälert gültig?

Dieses ungezügelte Freiraum-Denken, diese unvoreingenommene Lektüre „politischer Landschaften“, die man vielleicht als existentielle Suche nach einer neuen urbanen Identität unter Zuhilfenahme der letzten Brachen und Nischen der modernen Stadt bezeichnen könnte, wird nur kurze Zeit später als dekadent, sozialistisch, jüdisch, kurzum „undeutsch“ apostrophiert. Was diejenigen, die derartige Zensuren erteilen (die Nationalsozialisten also) dem realiter entgegenzusetzen haben, sprengt alle Definitionsversuche öffentlicher Freiräume. Schließlich müssen ab jetzt nur noch marginal an historische Vorbilder erinnernde Schneisen und Flächen in die Stadtkörper eingeschnitten werden, denen allerdings weder die Funktion kollektiver Emanzipation noch die der subjektiven Orientierung zugebilligt wird. Stattdessen sollen und wollen die ephemeren Leerräume des Dritten Reichs das Denken paralysieren. Die räumliche Begreifbarkeit wird ausgelöscht mit Hilfe megalomaner, anonymer Freiflächen, die (unabhängig von militärischen Hintergedanken) einer speziellen Inszenierung bedürfen, für die als Rohmaterial der Mensch herzuhalten hat. Der unkontrollierbare Flaneur wird mit anderen in Reih und Glied gebracht, die Masse wird in Szene gesetzt. Das Individuum soll lernen, seine Ohnmacht in der Vereinzelung, seine Stärke in der hypertrophen Vervielfachung zu begreifen. Was hätte diese Haltung wohl besser verdeutlichen können als die gigantischen, fast schon mit kosmischen Bezügen operierenden Lichtdome, mit deren Hilfe Albert Speer Menschen auf Massen einzuschwören wusste. Dekoriert werden diese nur über die „Masse Mensch“ begreifbaren „Un-Räume“ mit Naturstein-Kulissen, deren Rohmaterial man in KZ-Steinbrüchen aus dem Fels schlagen lässt. Sklaven liefern also das Rohmaterial für politischen Kulissenzauber: Die Stein gewordene Deformation „politischer Landschaften“.

Die Zeitspanne, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Scherbenhaufen dieser Raum- bzw. Landschaftsdeformation aufräumen muss, besinnt sich nolens volens auf die „Charta von Athen“. Man hat die Nase gründlich voll von Stadtplanungen jedweder Art. Städtische Freiräume (vorhandene wie durch Bomben neu entstandene) werden jetzt zu Anti-Räumen, zu Rest-Räumen, für die sich niemand mehr zuständig fühlt. Scharouns legendärer Entwurf für den Wiederaufbau der Stadtmitte Berlins kümmert sich um politische „Denk-Räume“ traditionellen Zuschnitts ebenso wenig, wie dies kurze Zeit später die flockigen Skizzen der Planer des Hansa-Viertels tun. Ihnen steht eine ganz andere politische Vision vor Augen: eine Art von unverbindlicher „democratic urban landscape“, offen zugänglich für jedermann, formal möglichst nirgendwo festgelegt, jedwede ideologische Bevormundung scheuend wie der Teufel das Weihwasser, neutral und pflegeleicht. „Pleasureground“ für gebaute Solitäre und (man achte auf die antisteinerne, textile Referenz!) „Teppich“-Siedlungen. Aus heutiger Sicht muten derartige Planungen wie verspätete Paraphrasen auf Frank Lloyd Wrights „Broadacer-City“ (ab 1934/35) an. Wright, dieser programmatische Verfechter wirklich „unpolitischer Landschaften“, hatte freilich schon 1932 ein vorbereitendes Traktat verfasst, dessen Titel heute aktueller denn je klingt: „The Disappearing City“.

Doch das Wirtschaftswunder steht vor der Tür. Und mit derselben Konsequenz, mit der städtischer Grund alsbald zur knappen, spekulativen Ware wird, verkümmert die Vision weitläufiger demokratischer Selbstverwirklichungsräume zu wertlosen Restflächen, werden „Freiräume“ zunehmend identisch mit Verkehrsbrachen. Ende der sechziger Jahre kommt es schließlich zu jener weltweiten Krise von Architektur und Städtebau, die der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich auf die griffige Kurzformel von der „zunehmenden Unwirtlichkeit unserer Städte“ bringt. Während eiligst neu ins Leben gerufene Disziplinen, wie das unsägliche „Urban Design“, im Auftrag der Politik vergeblich versuchen, die Verfallssymptome städtischer (und damit auch politischer) Landschaften ausschließlich mit ästhetischen, stadtgestalterischen Mitteln zu kurieren, flüchten sich die kreativsten Vertreter von Architektur und Städtebau weltweit in die Traumwelten der sog. Metabolisten-Bewegung.

Die Metapher vom „Pflasterstrand“, sprich die Quintessenz der europäischen Studentenrevolten der späten sechziger Jahre steht dabei wie eine greifbare, unmittelbar einzulösende Vision im Raum. Nicht das Individuum, so hieß es damals, sondern die emotional versteinerte spätkapitalistische Gesellschaft müsse sich so radikal und rasch verändern, dass es sich wieder in ihr zu leben lohnen werde. In diesem Sinne fordern Archigram, Superstudio, Yona Friedmann, Eckhard Schulze-Fielitz, Coop Himmelblau, Haus-Rucker-Co, Hans Hollein, Walter Pichler, Kenzo Tange und unendlich viele andere in radikaler Negation alles Bestehenden eine fundamentale Transformation von Städtebau und Architektur, von Tektonik und Konstruktion, um künftigen Genrerationen politisch „befreiter“ Stadtnomaden adäquate Raumkonfigurationen anzubieten. Der daraus resultierende neue Städtebau, die ihn konstituierenden räumlichen Gebilde und Freiräume sollen körpergerecht sein, sollen pulsieren, riechen, tönen, Farben ausstrahlen und elektronisch miteinander kommunizieren. Mobile Wohneinheiten sollen in Koffern verstaut und binnen Minuten an jedem Ort der Welt zu klimatisierten Hüllen für Wohnzwecke aufgeblasen und mit Hilfe von Kommunikationseinrichtungen untereinander vernetzt werden können. Wenn heute vor allem Jüngere derartige Vorstellungen mit leichter Hand als zynische High-Tech-Phantasmorgien abtun, dann verkennen sie fast immer die zutiefst politischen Beweggründe, die hinter diesen Attacken auf die in Konventionen erstarrte alte Stadt standen.

In der gebauten Realität kommt es freilich erst gegen Ende der siebziger Jahre zu einer qualitativen Veränderung im Städtebau. Denn die seinerzeit proklamierte Postmoderne fokussiert sich gleichsam aus dem Stand heraus auf die öffentlichen Räume. Binnen kürzester Zeit entsteht jetzt eine regelrechte Flut inszenierter Stadträume. Skeptisch eingestellt gegenüber jeder Form der Vergegenwärtigung und daher retrospektiv orientiert, pocht die postmoderne Stadtraumgestaltung auf strategische Forderungen wie Behübschung, Vergessen-machen-wollen, urbane Konflikte unter den Teppich kehren. Somit flüchtet sie sich mit ihren vermeintlichen Rekonstruktionen der Stadt-Landschaft entweder in die heile, vorindustrielle Welt der Restauration oder in die unverbindlichen Kulissenwelten des „schönen Scheins“. Es gibt sie übrigens bis heute, jene restaurativen Modelle, die städtische Räume vornehmlich mit den Mitteln von gestern als gesellschaftlich ausgegrenzte, pseudoregionalistische Scheinwelten für gehobene Ansprüche zu regenerieren versuchen. Es gibt sie noch immer, sie erfreuen sich sogar bei einer bestimmten Klientel zunehmender Beliebtheit. Nicht von ungefähr werden noch heute ganze Stadtzentren ohne Sinn und Verstand in den Zustand von vorgestern zurückversetzt, erlebt das „déjà-vu“ städtischer Vergangenheiten auf gespenstische Weise auch in politischer Hinsicht eine regelrechte Wiedergeburt. Und die zahlreichen „Instant Cities“ der Gegenwart verkörpern wohl einen weiteren Versuch, das Thema „politische Landschaften“ ein für allemal auszublenden. Erreicht haben sie bislang allerdings das glatte Gegenteil, sind doch derartige Städte-in-der-Stadt oder „walled neighbourhoods“ zum regelrechten Fanal eines politisch fragwürdigen, weil gesellschaftliche Realitäten gezielt ausgrenzenden Zitadellen-Städtebaus geworden.[3] Aber selbst wenn man derartige Fehlentwicklungen ausblenden wollte, ist das Erscheinungsbild der Normalstadt von heute immer noch verheerend genug: „Der Niedergang des Politischen als des Öffentlichen wird“ nach Bernd Guggenberger nämlich „nirgends so augenfällig wie im Bild der modernen Stadt als einer Ansammlung beziehungsloser Großgebäude: sozial ebenso tot wie technisch perfekt funktionierend, ohne die ordnende, verdichtende Mitte öffentlicher Plätze und Parks. Das Ausfasern des städtischen Gewebes und der Verlust des urbanen Kraftfeldes in den metropolitanen Wucherregionen bringen mit dem Leben auch die Politik zum Verschwinden. Die ‘privatisierte’ Großstadt mit ihrer gigantischen Grabsteinarchitektur verkommt immer mehr zur beziehungslosen Addition von Baumasse. Die Stadt als belebtes Außen verschwindet; sie lässt in ihrer Sterilität Leben, Begegnung, Öffentlichkeit und ‘Repräsentation’ nicht mehr zu.“[4]

Halten wir uns daher lieber an Strategien, die offensiver, kritischer, kreativer mit dem Thema Stadt bzw. „politische Landschaften“ im urbanen Kontext umgegangen sind und umgehen. Bereits in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts erscheint beispielsweise eine heute fast vergessene Anthologie mit dem Titel „Panik Stadt“. Sie ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil dort lange vor der aktuellen Debatte befremdlich anmutende, scheinbar völlig am Rande liegende Themen wie „nutzbringende Zerstörungen“, „Kathedralschatten“ oder „Inszenierungen der Zerstörung“ verhandelt werden. „Ortsgeschichten sind Improvisationen“, schreibt darin der Historiker Michel de Certau zum Thema Stadt als sprachliche Metapher. „Sie werden aus den Überresten der Welt hergestellt. Aus solch heterogenen, ja gegensätzlichen Elementen setzt sich die homogene und überkommene Form des Berichts zusammen. Man hat auf diese Weise das Verhältnis des Gebrauchs von Raum zur gebauten Ordnung. An der Oberfläche zeigt sich diese Ordnung überall zerhackt und durchlöchert von Sinn-Auslassungen, Abweichungen und Fluchten: es ist die Ordnung eines Siebes.“[5] Dem Bild der Stadt in Gestalt eines durchlöcherten Siebes begegnet der Soziologe Henry-Pierre Jeudy mit der Feststellung, dass das städtebauliche Ästhetisieren von Zerbersten und Aushöhlen aber keinesfalls dazu geeignet sei, Stadt wirklich zu erfassen. „Die Analyse der Demolierung in der Stadt kann“, so Jeudy, „nicht für sich beanspruchen, das Faktum Stadt genauer eingegrenzt zu haben, als ob sich eine ästhetisierende Auffassung von Städtebau in den Phänomenen des Auseinanderberstens, der Aushöhlung der mythischen Darstellung der ‘Stadt als Kunstwerk’ wiederfände.“[6] Sie waren seinerzeit schon sehr wichtig, solch erste interdisziplinäre Verweise darauf, dass jede Stadt gleichsam aus sich heraus stets eine „Anti-Ordnung“, jede Ordnung stets eine Gegen-Ordnung gebäre, sich jede Fülle stets eine Leere grabe. Wie aber nun politisch, planerisch, architektonisch damit umgehen? Solche Schlussfolgerungen blieben uns die Autoren damals aus gutem Grund schuldig.

Erheblich konkreter wird da Henri Lefèbvre, der bereits 1970 feststellt, dass die zeitgenössische Stadt „in kein einheitliches Formensystem (mehr) aufgenommen werden“ könne, welches durch „die privilegierte Behandlung des einen oder anderen Inhalts“ zu untermauern wäre. Die Brüche, die im Kontext der Stadt auch politisch zutage treten und sich nach Lefèbvre „im Raum festsetzen“, gehen aus dem hervor, „was sich dort niederlässt, sich versammelt.“[7] Seiner Meinung nach ist diese Koexistenz heterogener Teile das Merkmal des differentiellen Raums, eines Raumes also, der sich durch ein unendliches Spiel von Differenzen auszeichnet. Nach Marc Angélil misst eine derartige Betrachtung den Schnittstellen innerhalb der Stadt eine besondere Bedeutung zu. Bernard Tschumis Recherchen zu ‘The Manhattan Transcripts’ (1978) widmen sich beispielsweise genau jenen Bereichen, in welchen Personen, Aktionen und Dinge aufeinander treffen. „Der Konflikt, der aus dem Zusammenstoß unkoordinierter Ereignisse resultiert, trägt zu einem besonderen räumlichen Verständnis des urbanen Feldes bei. An Hand der Technik der Filmmontage, welche Tschumi auf die Architektur überträgt, werden verschiedene Nutzungen zueinander in Beziehung gesetzt und die entsprechenden Schnittstellen montageähnlich behandelt. Der Bruch wird zum Prinzip der Urbanität erklärt und mögliche Implikationen seiner Räumlichkeit durch die Manipulation der architektonischen Form überprüft.“[8]

Ein anderes, bis heute gebräuchliches Verfahren zur realistischeren Wahrnehmung der Stadt inklusive ihrer politischen Implikationen hat seine Wurzeln ebenfalls in den sechziger und siebziger Jahren. Gemeint ist das „mental mapping“, das sich mit subjektiven Kartographien und Techniken der Informationsübertragung beschäftigt. Mit der „mental map“, der persönlichen Karte also, „wird auf ein Vorgehen verwiesen, dessen Produktionsmodus“ ad hoc „Veränderungen aufnehmen kann. Denn die Karte wird nicht als Abbild eines Zustandes erachtet, vielmehr als Konstruktion..., die immer wieder neu Zugangsmöglichkeiten anbietet, andere Interpretationen provoziert. Sie stellt weniger eine Repräsentation dar, als eine Extension eines Sachverhalts auf eine andere Ebene.“ Zum ersten Mal international eingesetzt wird dieses Verfahren zur Erstellung gänzlich andersartiger Stadtpläne von den sog. „Situationisten“ in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.[9] In diesen Stadtplänen wird der Versuch unternommen, „die sogenannte Psychogeographie - den psychologischen (und politischen) Raum - der Stadt zu erfassen. Dieses Prinzip eröffnet einen Diskurs zur Stadt,“ der „ihre genetische Basis Transformationen“ aussetzt, der Stadt neu produziert. 1983 verfeinert André Corboz dieses Verfahren. Von ihm wird „das urbane Territorium als eine Schichtung übereinander lagernder Karten gelesen. Wie bei einem Palimpsest, das als Schriftstück definiert wird, dessen Text entfernt worden ist, um einem neuen zu weichen, hinterlässt jede Karte Spuren, welche die nächste beeinträchtigen. Ursprüngliche Spuren bleiben als Sedimente im Stadtgewebe erhalten.“[10] Corboz’ Methode der Stadtproduktion mittels „mental mapping“, das später Peter Eisenman stark beeinflusst hat, stellt also vorrangig den Informationstransfer zwischen einem städtischen Zustand und einem anderen in den Vordergrund, wohlgemerkt unter bewusster Einbeziehung politischer Gemengelagen. Dennoch haben sich derartige künstlerisch-subjektive Verfahren in der Praxis als relativ untauglich erwiesen, um die tatsächlichen Probleme der posturbanen Stadt, wie die der zunehmenden sozialen Segregation, auch nur ansatzweise zu lösen.

Realitätsbezogener erscheint da schon das derzeit wohl immer noch einflussreichste Denkmodell. Ich meine das Bild des „Rhizoms“, das Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Standardwerk „thousand plateaus - capitalism and schizophrenia“ (1980) auf „urbanism“, „urban sprawl“ und „landscape“ übertragen haben. Demnach ist die zeitgenössische Stadt ein rhizomorphes, wurzelgeflechtähnliches System. Sie besteht aus „Tausenden von Plateaus“, aus unterschiedlichst „geformten Materien“, aus „unterschiedlichsten Daten und Geschwindigkeiten“, aus „glatten und gekerbten Räumen“, aus „gliedernden oder segmentierenden Linien“. Sie konstituiert sich aus „Schichten und Territorien“ und schließt in ihren Entwicklungsprozess Bewegungen ein, die genau diese „Schichtung und Territorialisierung“ ständig wieder auflösen. All dies, sowie „Linien und Geschwindigkeiten“ bilden das hochkomplexe Gefüge der Stadt. „Gekerbte“ (sprich politische) Räume und „glatte (sprich soziale) Räume reagieren osmotisch aufeinander. Die Stadt kann daher nicht länger (besser gesagt: eigentlich nie mehr) eindeutig zugeordnet werden. Sie verkörpert „eine Mannigfaltigkeit“, von der niemand weiß, wohin sie definitv führen wird.[11]

Denkansätze dieser Art, so wichtig sie für den kommenden Städtebau auch sein mögen, können freilich nicht verhindern, dass wir uns heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, realiter auf internationalem Niveau mehr denn je mit städtischen Investmentstrategien wie „Wallification“, „Mallification“ und „Disneyfication“ der Städte herumschlagen müssen.[12] Der politische Kampf um die Handlungsfähigkeit der Städte ist damit allerdings an einem entscheidenden Punkt angelangt. Nach Hoffmann-Axthelm stellt sich dabei freilich die Frage, „ob Städte (künftig) die sozialen Kräfte aufbringen, sich überhaupt (noch) Lösungen vorzustellen. Handlungschancen gibt es viele. Was fraglich ist, ist der gesellschaftliche Auftrag dazu... Die großen Wirtschaftsmächte sind (dabei) nicht mehr städtisch. Sie existieren weltweit, spielen Stadt gegen Stadt aus, begeben sich zu den günstigsten Punkten und verlassen sie auch wieder, sobald die Lage an Wert verliert. Ihr Interesse ist das einer bloßen Ausbeutung, sie brauchen an der Stadt nicht zu bauen, weil sie nicht an sie gebunden sind; sobald sie ausreichend kaputt gemacht haben, ziehen sie weiter an einen anderen Ort.“[13]

„Die Aufforderung zur Stadt fordert“ nach Hoffmann Axthelm eigentlich „zu Verzögerungen auf. (Denn) nur so, zwischen zwei Zügen, trifft man die Stadt wirklich an“. „Die wichtigste Aufgabe des Architekten von heute“, sagt Aaron Betsky, „ist daher, ‘slow space’ im schnellen Kapitalfluss zu schaffen. Stadtplanung und Architektur müssen sich verlangsamen. Sie müssen uns festhalten, offen gegenüber unseren Bedürfnissen, sie müssen uns unsere Welt verständlich machen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts glaubten wir, sehr schnell bauen zu müssen. Heute erkennen wir, dass wir die Welt zum Stillstand bringen müssen, um wirklich modern zu sein. ‘Our reality must be a very slow space in a very vast and fast world’.“[14]

Und was kann den schnellen Kapitalfluss, immer auf der Suche nach letzten Ressourcen vermarktbarer Bauplätzen, wohl noch stärker irritieren? Es ist die zweite Forderung nach „voids“, nach Erhaltung städtischer Leerflächen also, nach Erhaltung „blinder Flecken“ in der Stadt? Wer etwa nur am Beispiel des Schlossplatzes in Berlin-Mitte verfolgt, mit welch hektischer Aktivität Staat, Gesellschaft und Kapital auf den „Horror vacui“ dieses politisch bedingten Leerraums reagieren, wer beobachtet, wie aggressiv solche Kräfte wo auch immer auf ein „terrain vague“ reagieren, das Stadtplaner nach Art von Ethnologen zur weiteren Beobachtung (womöglich auch noch politischen) offen zu halten gedenken, der wird spüren, welche Provokation gerade „Leerstellen“ im Stadtraum hervorrufen. Aber sind Leerstellen, blinde Flecken in der Stadt, über deren Qualität uns Stadtpläne von heute rein gar nichts mehr berichten, sind solche „Leerstellen“ nicht unabdingbar für neue Erzählungen zum Thema „politische Landschaften“?

Fazit: Was soll also das ständige Gerede vom Ende des Städtebaus, vom Ende der Architektur? Theorien, Denk-Plateaus, Instrumentarien und Handlungsanweisungen für einen radikal veränderten Städtebau, für gänzlich neuartige, faszinierende, alles andere als unpolitische Landschaften sind doch reichlich vorhanden. Und schälen sich in den weltumspannenden digitalen Netzwerken augenblicklich nicht gänzlich neue Portale, Plattformen und nie da gewesene Panoramen neuer „politische Landschaften“ auf? Bietet sich in ihnen und durch sie nicht ein von Grund auf neuer Vollzug des Öffentlichen, eine gänzlich anders geartete Qualität der politischen Aneignung von kleinsten bis zu weltumspannenden, öffentlichen Räumen an? Was bleibt, ist also die Frage, wie lange es sich unsere Gesellschaft überhaupt noch leisten kann und will, faktisch depressiven (vor Selbstmitleid nur so triefenden) Städtebau mit den Mitteln von vorgestern zu betreiben, anstatt endlich auf Hoffnungen, Aggressionen, vor allem aber auf erweiterte Horizonte und Fähigkeiten unverbrauchter Theoretiker-, Planer- und Architektengenerationen zu bauen. Sie haben frisches Know-how, sie haben innovative Verfahren und Techniken! Wann fangen wir endlich an, sie umzusetzen?    

              

  Verzeichnis der Abbildungen:

  1. Karlsruhe, Stadtplan-Vorentwurf, Friedrich Weinbrenner, vor 1814
  2. Karlsruhe, nicht ausgeführter Entwurf für die Umgestaltung der Kaiserstraße, Friedrich Weinbrenner
  3. Frankfurt, Lage- und Gartengestaltungsplan der Siedlung Heddernheim, Leberecht Migge, Ende zwanziger Jahre
  4. dito, Ansicht, Anfang dreißiger Jahre
  5. Paul Citroen, "Metropolis", Collage, 1922
  6. Illustration aus; S. Giedion, "Space, Time and Architecture", 1941
  7. Illustration aus: Superstudio, "vita, educazione, ceremonia, amore, morte", 1971-73
  8. Illustration aus: Superstudio, "vita, educazione, ceremonia, amore, morte", 1971-73
  9. Höhlenstadt in der Türkei
  10. Illustration aus: Guy Debord, "Life continues to be free and easy", um 1959
  11. Illustration aus: Guy Debord and Asger Jorn, "The naked city", 1957
  12. Illustration aus: Gilles Deleuze annd Félix Guattari, "A thousand plateaus, capitalism andschizophrenia", 1987
  13. William Jan Neutelings, "The Patchwork-metropolis", Projekt, 1989-1990
  14. Illustration aus: Aaron Betsky, "Architecture must burn", 2000
  15. Bret Steele, Standort-Flussanalyse, Flussfeld-Animation und Flow Max-Felder, 2000
  16. dito, Standort-Flussanalyse

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[1]vgl. hierzu: Hermann Hipp u. Ernst Seidl (Hg.). Architektur als politische Kultur, Berlin 1996

 

[2]Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt 1964, S. 53

 

[3] vgl. hierzu: Peter Neitzke, Carl Steckeweh u. Reinhart Wustlich (Hg.), Centrum Jahrbuch Architektur und Stadt 2000-2001, Instant City, Berlin-Basel Boston 2000

[4]Bernd Guggenberger, Virtual City, Jetztweisen in einer „ortlosen“ Stadt, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt 2000, S. 54

                               

[5] Michel du Certau, Umgang mit Raum, Die Stadt als Metapher, in: Ulrich Conrads (Hg.), Panik Stadt,Berlin/Braunschweig 1979, S. 18 f.

 

[6]Henri-Pierre Jeudi, Inszenierung der Zerstörung?, a.a.O., S. 75

 

[7]Henri Lefébvre, Die Revolution der Städte, München 1972, S. 129

 

[8]Marc M. Angélil, Urbane Emtropie-Der rhizomorphe Raum der Stadt, in: Internationales Forum für Gestaltung Ulm (Hg.), Strategischer Raum-Urbanität im einundzwanzigsten Jahrhundert, Ulm 2000, S. 32

 

[9] vgl. hierzu: Simon Sadler, The Situationist City, Cambridge Mass. 1998

 

[10]Marc M. Angélil, s. Anm. 8, S. 33 f.

 

[11]Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 427, 449., 529 f., 599 u. 693

 

[12]   vgl. hierzu: Ghent Urban Studies Team (GUST), The Urban Condition: Space, Community, and Self in the Contemporary Metropolis, Rotterdam 1999

 

[13]Dieter Hoffmann-Axthelm, Aufforderung zur Stadt, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner

                Kultur, Frankfurt 2000, S. 235 f.               

 

[14] Aaron Betsky, Architecture must burn, Corte Madera/California 2000, Chapter 4.0 Architecture beyond building, o.P.