Urban Bodies | ||
7. Jg. , Heft 1 (September 2002) |
___Peter Gotsch Karlsruhe |
Imagine-a-city: die Stadt der Bilder und die Bilder der Stadt |
Zur Relevanz der Raumkonzepte von Kevin Lynch, Maurice Merleau-Ponty und
Henri Lefèbvre
für das Bild der informationellen Stadt
Einleitung
Thema meiner Arbeit ist die Relevanz räumlicher
Vorstellbarkeit für die
zeitgenössische Stadt. Untersucht wird der Stellenwert räumlicher Wahrnehmung im
Hinblick auf ein neues Verständnis von Stadt im Informationszeitalter. Der Text
ist zu verstehen als eine Weiterentwicklung von Kevin Lynchs “The Image of the
City”[1] vor dem Hintergrund der Stadt als eines Ortes der Bilder
und Symbole. In der Situation allgemeiner Orientierungslosigkeit bezüglich
unserer Stadtbilder wird das Konzept der “vorgestellten Stadt” zum einen als ein
Prototyp entwickelt, zum anderen als ein Vorschlag für eine Annäherung an die
Idee der informationellen Stadt.
Unser Zeitalter wird das der dritten industriellen
Revolution, der Globalisierung, der Mega-Urbanisierung, des Hyperkapitalismus,
der Neo-Liberalisierung, der Virtualisierung und der Individualisierung genannt.
Es ist auch das Zeitalter der Post-, Hyper- oder Zweiten- Moderne. Der Zustand
unserer Zeit wird häufig mit der Entwicklung moderner Informationstechnologien
(den telematischen Medien) in Verbindung gebracht. In der Tat erfahren heute
fast alle Sphären unseres Lebens, ob öffentlich, politisch, wirtschaftlich, oder
kulturell, grundlegende Veränderungen. Auch unsere Lebensräume: Landschaften,
Städte, Plätze, Orte oder Körper sind dramatischen Wandlungsprozessen
unterworfen.
Eine Kombination technologischer und ökonomischer Faktoren
bildet den Hauptmotor dieser Veränderungen und geht mit einer zunehmenden
Abstrahierung, Virtualisierung und Kommodifizierung des Räumlichen einher. Mit dem Aufkommen des abstrakten virtuellen Raumes (des
Informationsraumes), scheinen sich Städte in globale Dörfer (global villages)
aufzulösen und durch Hypermobilität, Telepräsenz, und Komfort entsteht der
Eindruck, die physische Präsenz und Erfahrung unserer Körper wäre zweitrangig.[2]
Dabei verkennen wir anscheinend die Relevanz des
Räumlichen als dem Feld von Aktion und Reaktion, auf dem die oben genannte
Revolution stattfindet. Auch haben wir in dieser Situation das Gefühl, uns den
Kräften, die diesen neuen Zustand herbeiführen, ergeben (hingeben) zu müssen.
Raum wird immer noch als das ”Andere”[3] abgetan, während er entfremdet, erobert, kolonialisiert
und instrumentalisiert wird. Es gibt wenig konzeptionelle Innovation bezüglich
seiner Eigenschaften und seiner Bedeutung.
Die vorliegende Auseinandersetzung hat zwei Ziele: Sie
will dazu beitragen, den heutigen Raum und seine subsidiären Elemente, Städte,
Plätze und insbesondere Körper, in einem neuen Kontext zu begreifen
(re-kontextualisieren), und sie versucht, neue Konzepte für die Räume des
Informationszeitalters zu entwickeln (re-konzeptionalisieren). Insofern will
diese Arbeit daran mitwirken, dass Raum erneut kritisch wahrgenommen wird, dass
sich unser Denken und Handeln räumlich orientiert und dass Raum-Planung
wörtlich verstanden wird.
Den
Orientierungsrahmen dieser Arbeit bilden folgende Fragen: Wie lässt sich der
Zustand des heutigen Raumes charakterisieren? Warum ist die Wahrnehmung ein
Schlüssel zum Verständnis der zeitgenössischen Stadt? Und welche Konzepte und
Theorien helfen uns, diesen Zustand zu verstehen?
Stadtraum
Meine
Untersuchung gilt der Stadt im Informationszeitalter, die ich auch die
informationelle Stadt nenne[4]. Zeitgenössischer Raum ist der Raum dieser Stadt. Er
wird hier als der Raum verstanden, in dem der traditionelle, physikalische Raum
und ein abstrakter und virtueller Raum sich treffen und interagieren[5]. Durch diese Überlagerung unterliegen die Räume der
Stadt heute weltweit einer fundamentalen Umstrukturierung[6]. Dieser, durch komplexe gesellschaftliche, politische,
ökonomische und technologische Prozesse herbeigeführte Wandel macht auch vor
dem Bollwerk ‚Europäische Stadt‘ keinen Halt. Das konstatiert auch der deutsche
Stadtsoziologe Hartmut Häußermann,: ”Wenn wir die heutigen Trends
bestätigen – und es gibt eigentlich keine Gründe, es nicht zu tun – dann können
wir heute folgern, dass wir gerade dabei sind, den gesellschaftlichen Boden für
das Phänomen zu verlieren, was einst Europäische Stadt genannt wurde.”[7]
Folgen
wir dem Narrativ der so genannten kritischen (marxistischen) Stadtgeographen,
dann lässt sich der Zustand des heutigen Raumes mit drei grundlegenden
Tendenzen beschreiben: der Homogenisierung, Fragmentierung und Polarisierung[8]. Der urbane Raum, dessen Strukturen zu einem Großteil
erst kürzlich entstanden sind[9], fragmentiert zunehmend in spezialisierte Teile,
polarisiert durch eine zunehmende soziale Segregation und homogenisiert in
einen indifferenten Formenbrei. Nach diesem Bild wird die Stadt wird zu einem
strategischen Schachbrett, das von ökonomischen und technologischen Kräften
‚vitalisiert‘ wird[10].
Abseits politisch-ökonomischer Beschreibungen liefert uns der Medienphilosoph Vilém Flusser andere anschauliche Modelle für die Räume der heutigen Stadt. Er führt die Erscheinungsformen der informationellen Stadt auf die zunehmende Entgrenzung ihrer Einzelräume zurück, die durch neue Informationstechnologien hervorgerufen wird[11]: Dabei überlagert eine neue Logik von Netzwerken heute die traditionelle Logik von Form und Funktion und ‚verwirrt‘ damit das traditionelle Bild der Stadt, die aus Häusern (privaten Räumen), Marktplätzen (ökonomischen Räumen), Tempeln (heiligen Räumen) und Plätzen/Parks (öffentlichen Räumen) besteht. Traditionelle Räume durchmischen sich und fließen ineinander. Dies geschieht zum Beispiel, wenn die Straßen und Plätze der Stadt aus der Privatheit des Automobils erlebt werden, oder die Öffentlichkeit bürgerlicher Parks durch mobile Telefone durchdrungen wird[12]. Dabei ist die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Weitere neue Dimensionen der Durchdringung und Entgrenzung entstehen z.B. durch LAN-Netzwerke (Wi-Fi) in Universitäten und Cafés.[13] Flusser spricht in diesem Zusammenhang von einer Zerstörung der traditionellen Formen durch die Stürme der Kommunikationsrevolution:
DAS
GLOBALE DURCHEINANDER
KOMMUNIKATIONS_______REVOLUTION
HAT DAS HAUS ZU EINER RUINE REDUZIERT
MATERIELLE UND IMMATERIELLE KABEL HABEN
ES DURCHSTOSSEN”
-- ALLES SCHWEIZER
KÄSE
___________________________________________
[14]
Körperraum
Auch unsere Körper unterliegen als räumliche Gebilde den Einflüssen des Raumes. Die alles durchdringenden Trends der Kommodifizierung sowie der Technisierung machen vor unseren Leibern und unseren Seelen nicht halt. Dem Kontext der fortgeschrittenen, flexiblen Marktwirtschaft entspricht die Dienstleistungs-, Konsum- und Freizeitgesellschaft. In diesem Zusammenhang werden wir selbst, ob als Softwareprogrammierer, als Konsumenten von “Big Brother” oder als Touristen zunehmend zu Orten von Produktion und Reproduktion. Der Marktwert unseres Körpers, sein wirtschaftliches Potential, wird zum dominierenden Kriterium dieses ‚Hyperkapitalismus‘.[15]
So
ergreift die Fragmentierung, Polarisierung und Homogenisierung des Raumes auch
den Körper. Er wird pulverisiert, indem er als kodiertes und zu dekodierendes
System betrachtet wird[16], fragmentiert in spezialisierte Bestandteile und
polarisiert in seinen täglichen Funktionen.[17] Diese Tendenzen sind auch auf einer gesellschaftlichen
Ebene zu beobachten, wenn z. B. die Individualisierung zum Massenphänomen
unserer Zeit wird[18] oder wenn durch eine Spezialisierung des Wissens eine
fragmentierte Gesellschaft von Experten entsteht, die kaum noch miteinander
kommunizieren können.[19]
Durch die
beschriebenen räumlichen Veränderungen, die einer Im- und Explosion gleichen,
entstehen aber auch neue Perspektiven. Indem wir überall hinfahren können,
erfahren wir unsere Umgebung aus einer erweiterten Mobilität und Beschleunigung
(Hypermobilität); gleichzeitig können wir sie auch aus der Privatheit und dem
Komfort[20] unserer Wohnzimmer erfahren (Telepräsenz). Diese beiden
Trends gehen einher mit der Möglichkeit, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden
(Omnivoyance)[21]. Diese neue Mobilität von Körper und Information führt
schließlich zum viel zitierten, postmodernen Zustand[22]
der Gleichzeitigkeit und Synchronizität.
Information
und öffentlicher Raum
Die
zunehmende ökonomische Programmierung des Raumes und ihre
Folgen gehören zu den zentralen Aspekten der informationellen Stadt. Die Kommodifizierung
traditioneller Räume, Körper und Orte zu ökonomischen Wertobjekten und ihre
Transformation in potentielle Produktionsmittel führt zu ihrer nachhaltigen
Modifizierung. Öffentlicher Raum, als das Ergebnis
eines humanistischen und demokratischen Diskurses[23], verliert seine Bedeutung und (sprichwörtlich) seinen
Ort. Die Öffentlichkeit verschwindet nicht nur in den Räumen der (Massen-)
Medien, sie wird auch rückwirkend durch diese Medien re-kolonialisiert. Während
die Agora, das griechische Ideal des öffentlichen Raumes, durch den Wert von
Argument und Gegenargument charakterisiert wurde, gibt es in der
Informationsgesellschaft die Tendenz, dass der Wert einer Nachricht an ihrer
Profitabilität gemessen wird[24]. Laut der Einschätzung von Alexander Kluge[25], ”industrialisieren die Märkte der Medien heute unser
Bewusstsein in einem großem Maßstab” und überfluten uns mit künstlichen
Gefühlen und Erfahrungen. Räumliche Repräsentation geht zunehmend mit
Massenkommunikation, den Medien und Bildrepräsentationen einher.
Krise der
Orientierung
Dass wir
uns kein klares Bild der Gegenwart machen können, empfinden wir als eine
Orientierungskrise. In der postmodernen Welt der Simultaneität und
Gleichzeitigkeit haben wir den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Unser (Welt-)
Bild ist durch das Symbol, die Massenmedien verdeckt, verunklärt und obskur
(ge)worden[26]. In dieser Situation haben wir auch die Fähigkeit
verloren, uns in unserer Umgebung zu repräsentieren und finden wir uns in einem
Kampf um Sinn und Bedeutung. Der ‚postmoderne‘ Kritiker Frederic Jameson (1991)
beschreibt diese Krise der Orientierung als eine räumliche und soziale
Verwirrung des Individuums, die seine Fähigkeit zu handeln und planen
paralysiert:
“The postmodern subject has lost his capacity actively
to extend its pretensions and retensions across the temporal manifold and to
organize its past and future into coherent experience. It becomes difficult to
see how the cultural productions of such a subject could result in anything but
“heaps of fragments” and in a practice of the randomly heterogeneous and
fragmentary”.[27]
Drei Raumkonzepte: kognitive Karten,
körperlicher Raum und sozialer Raum
Um diese Krise des Raumes zu überwinden, brauchen wir neue Bilder. Die
Modelle des modernen, mathematischen Raumes als eines abstrakten Behälters, die
auf Descartes oder Leibniz zurückgehen, oder das Modell eines Raumes als
transzendentales Konzept, wie es von Kant vertreten wird, halten den
Anforderungen eines politisierten, ökonomisierten und daher komplexen Raumes
der Informationsgesellschaft nicht stand.[28] In den folgenden Abschnitten setze ich
mich daher mit drei ‚alternativen‘ Modellen auseinander, die relative und dialektische
Eigenschaften des Raumes betonen und präsentiere drei räumliche Konzepte,
welche individuelle, soziale und politische Dimensionen des Raumes aufspannen.
Einige Fragen, die uns hier interessieren, sind: Wie hängen unsere
Körper mit dem sie umgebenden Raum zusammen? Wie produzieren wir Räume? Wie
produzieren uns die Räume? Welche Relevanz haben unsere Vorstellungen, Bilder
der Stadt für die Wirklichkeit der Stadt? Wie entstehen diese Bilder? Was für
ein Verhältnis haben also unsere räumliche Wahrnehmung, unsere räumlichen Leit-
und Orientierungsbilder und die Produktion des Raumes? Welches Verhältnis nimmt
die individuelle und die kollektive Produktion von Räumen ein? Welche Folgen
hat sie? Welche Relevanz hat dies alles für die informationelle Stadt?
Kevin
Lynchs Konzept der kognitiven Wahrnehmung
In seinem
Werk “The Image of the City” (1960) untersucht der amerikanische Stadtplaner
Kevin Lynch die Rolle der individuellen Orientierung und kognitiven Wahrnehmung
im Rahmen der Stadt und ihrer Planung. Sein Kontext ist die räumliche
Desintegration der modernen Stadt in einer Umwelt, die durch beschleunigte
Industrialisierung, Massenmobilität und die Suburbanisierung geprägt ist. Lynch
adressiert den verlorenen räumlichen Zusammenhang dieser Situation und setzt
sich zum Ziel, die nordamerikanische Metropole über ihre visuellen Qualitäten
wiederherzustellen. Dabei findet er zurück zu einer Stadt (und Stadtplanung),
nicht aus einer üblichen zentralistischen Sicht von oben, sondern aus der Sicht
ihrer Einwohner. Daher beginnen seine umfangreichen Analysen und Untersuchungen
mit der Erforschung der kognitiven Karten (“mental images”) der Bewohner und
‚Befahrer‘ der Stadträume.[29]
Das
Raummodell, das Lynch zugrunde legt, ist das eines dynamischen und offenen
Raumes, der als dialektische Einheit mit seinen Nutzern betrachtet werden muss
und der von unten her entsteht. Die Grundeigenschaft und
Überlebensnotwendigkeit des Organismus, sich im Raum zu orientieren, bildet
seinen Ausgangspunkt für die Wiederherstellung der modernen Stadt.[30] Auch in der Stadt ist der menschliche Körper auf seine
Sinne angewiesen und von seiner Umgebung abhängig. Er muss sich in ihr, des
Überlebens willen, zurechtfinden, sich orientieren und in ihr (s)eine Bedeutung
finden. Für Lynch werden die Orientierungsfähigkeit, Perspektive und
Wahrnehmung des einzelnen Körpers zu den Schlüsselelementen, die eine scheinbar
chaotische Stadt erschließen.
Die
Vorstellung von der Welt, das Bild von ihr, wird dabei zur absoluten
Voraussetzung, um eine Bedeutung in ihr zu finden, mit ihr in Kontakt zu treten
und soziale Beziehungen aufzubauen. Dieses ‚Bild der Stadt‘ entsteht aus einer
Kombination aus dem, was gerade sichtbar ist, erlebt werden kann und der
Erinnerung an vergangene Erfahrung. Damit bekommt das Räumliche auch eine
zeitliche und historische Dimension.
Aus seinen
Untersuchungen leitet Lynch konkrete Gestaltungsvorschläge für neue Bedeutungs-
und Orientierungsmuster in den zersiedelten und fragmentierten
spätindustriellen Stadtlandschaften ab. Dabei betrachtet er die Rückkehr zu
historischen Formen nie als eine ernsthafte Option. Vielmehr untersucht er
dieselben Prozesse, welche die Krise der Stadt herbeiführen, wie zum Beispiel
Autos und Autobahnen, und erklärt, dass sich die Stadt nur durch eine
angepasste Wahrnehmung des bewegten Subjektes wiederherstellen lässt. Er
begreift in diesem Zusammenhang die erweiterte Perspektive, die sich aus dem
fahrenden Fahrzeug ergibt, als eine Chance, den Widerspruch zwischen der
vieldimensionalen Räumlichkeit der modernen Stadtlandschaft und der
eindimensionalen Räumlichkeit des Körpers zu überwinden. Dazu schreibt Lynch in “View from the
Road”[31]: “The automobile, with its speed and personal
control, may be a way of establishing such a sense (unity of self and large
environment) at a new level. At the very least, it begins to neutralize the
disparity in size between a man and a city.”
Seine
Beschreibung der Erfahrung des Fahrens auf Bostons Stadtautobahnen bei Nacht,
aus der Faszination, Reizüberflutung, Abenteuer aber auch
Orientierungslosigkeit sprechen, könnte als ein prophetischer Hinweis auf die
Erfahrung der heutigen Stadtwirklichkeit gedeutet werden: “At night a new
order reigns in the city. The
chaotic skylines, jagged spaces, erratic signs, forms, and shapes disappear
into the darkness, to be replaced by luminous dots, strips, and diffused
light.”[32]
Lynch und
seine Zeitgenossen gehen im Grunde davon aus, die Komplexität der modernen
industriellen Stadtlandschaft sei noch mit raumgestalterischen Mitteln lösbar.
Die moderne Stadtregion sei überhaupt noch zu reparieren, indem die für die
Orientierung strategisch wichtigen Punkte und Bereiche eine ästhetische
Umgestaltung erfahren. Dieser moderne Positivismus muss aus der Sicht der heutigen
fragmentierten und heterogenen Konsumgesellschaft eher in Frage gestellt
werden. Der entscheidende Beitrag von Lynchs Arbeit ist hingegen die (Wieder-)
Entdeckung der Rolle der körperlichen Orientierung als Voraussetzung jeder
räumlichen Vorstellung (und jeder Planung).
Gerade vor
dem Hintergrund einer zunehmenden räumlichen Komplexität, wie wir sie heute in
der Informationsgesellschaft erleben, kommt diesem Ansatz von unten höchste
Aktualität zu. Denn mehr als jemals zuvor, kann heute die Stadt nur noch als
die Summe der Einzelbilder ihrer Bewohner verstanden werden. Im Zusammenhang
mit der vorherrschenden Tendenz zum Visuellen, zum Bild und Zeichen, zur
Repräsentation und zum ‚Image‘[33] kommt dieser Betrachtung eine neue Relevanz zu.
Die Fragen,
die wir (Planer) uns also heute stellen müssen, sind die nach den kognitiven
Bildern der Bewohner der heutigen postindustriellen und informationellen Stadt;
nach den Bildern, welche die Stadt für diese Bewohner produziert; nach der
Realisierbarkeit und dem Sinn eines kohärenten und durchgehenden Stadtbildes;
und nach den Technologien, um neue Leitbilder umzusetzen.
Hier wird
also die Bühne für eine zeitgemäße Betrachtung der informationellen Stadt auf
Grundlage ihrer Wahrnehmung bereitet. Doch bevor wir aber weitergehen und auf
die Aktualität der damit zusammenhängenden Fragen eingehen können, scheint es
erst einmal sinnvoll, weiterhin hinter die Kulissen zu schauen und dem Konzept
des persönlichen und individuellen Raumes zu seinen Wurzeln zu folgen.
Merleau-Pontys
phänomenologischer ‘espace corporel‘
Während
für Kevin Lynch der Raum eine objekthafte Umwelt des Körpers und seiner
Orientierung ist, wird der phänomenologische Raum[34] direkt durch den Körper geschaffen. Dabei werden Körper
und Raum zu zwei Seiten eines integrierten Systems. In diesem Zusammenhang ist
der Raumbegriff der Theorie der phänomenologischen Wahrnehmung, wie sie durch
den Franzosen Maurice Merleau-Ponty entwickelt wurde, für unsere Fragestellung
nach den Grundeigenschaften des Räumlichen von zentraler Bedeutung.
Im
Gegensatz zum kartesianischen Raum als dem Ort von Dingen und Objekten beruht
der phänomenologische Raum auf Dialogen und Beziehungen –auf dem Dazwischen–
individueller Körper. Für Maurice Merleau-Ponty baut sich jedes Sein auf den
sinnlichen Erfahrungen der Dinge und der Gefühle den Dingen gegenüber auf.
Räumliche Erfahrung entsteht nicht durch Abstraktion aus der Vogelperspektive,
sondern durch die Vorstellung des Raumes in individuellen Bildern. Allerdings
versteht er den Begriff der Orientierung nicht im Sinne einer biologisch
notwendigen Navigation des Organismus in seiner Umwelt, sondern als eine
Grundeigenschaft des Seins, eine grundgegebene, strukturelle Gerichtetheit und
Polarität des Körpers im Raum und in der Zeit, zwischen gestern und heute und
zwischen links und rechts, oben und unten. Das bedeutet, dass Raum und
Orientierung einen direkten Zusammenhang erfahren: Keine Räumlichkeit ohne
‚Orientiertheit‘: “ ... Zeit und Raum sind nicht Summen von addierten
Punkten, noch die Unendlichkeit der Beziehungen, ... . Ich bin nicht in
Raum und Zeit. Ich denke nicht Raum und Zeit, vielmehr bin ich zum Raum und
Zeit, mein Körper verbindet sich mit ihnen als ihr fester Bestandteil. ...
Unser Sein hat eine Orientierung, unsere Existenz ist eine räumliche, sie ist
polarisiert”.[35]
Der Körperraum ('espace corporel') stellt also ein Medium dar, das die Positionierung der Körper und die Entwicklung von Beziehungen ermöglicht. "Raum muß als die universelle Möglichkeit für die Deinge gesehen werden, miteinander in Verbindung zu treten." Die Stadt wird in diesem Sinne zu einem Netzwerk menschlicher Pole (Beziehungen) und zu einem redundanten "Beziehungsfeld zwischen den Subjekten".[36] Im Vergleich zu Kevin Lynch beschreibt Merleau-Ponty damit eine noch grundlegendere und existenzielle reziproke Abhängigkeit von Körper und Raum, Raum und Körper. Die Qualität des Räumlichen ergibt sich hier weniger aus ästhetischen Qualitäten, sondern aus den Möglichkeiten und Potentialen der sozialen Vernetzung, die eine Situation bietet. Aus diesem Konzept erwachsen einige Implikationen für die Diskussion des Raumes der Informationsgesellschaft.
Folgt man nämlich
diesem Modell, dann bekommen moderne Informationstechnologien eine ganz
besondere Bedeutung, indem sie die Potentiale dieses Raumes als verbindendes
Medium und Netzwerk maximieren. Die Frage ist, ob sie dadurch das
phänomenologische Raummodell zu seiner vollen Entfaltung bringen. Und in der
Tat finden sich in diesem Zusammenhang viele Ansatzmöglichkeiten für
sozial-utopische Hoffnungen auf ein höheres Bewusstsein, einen vereinten
Globus, oder gar neue Wirklichkeitsdimensionen, die durch eine Gesamtvernetzung
aller Individuen möglich werden sollen[37].
Erstaunlicherweise
bietet uns aber Merleau-Pontys Theorie einen
Ansatz, diese Hoffnungen wieder zu zerstören und ihre Widersprüche aufzuklären.
Die Hoffnung auf eine virtuelle und entleibte Welt stellt sich als genauso trügerisch
heraus wie der alte Traum vom Gehirn, das ohne den dazugehörigen Leib überleben
könnte. Dass die räumliche Sinneserfahrung unserer Körperlichkeit die
fundamentale und nicht ersetzbare Grundlage aller Erfahrung bildet, ist
schließlich eine der Kernaussagen von Merleau-Pontys Beitrag. Es lässt sich
daraus folgern, dass in einem Raum, der auf körperlicher und sinnlicher
Erfahrung aufbaut, neue Technologien eher zusätzliche und überlagernde
Handlungs- und Bedeutungsebenen, und nicht alternative Welten schaffen, und
dass für diese Bedeutungsebenen weiterhin die Gesetzmäßigkeiten der
körperlichen Raumwahrnehmung gelten müssen.
In meiner
Diskussion des zeitgenössischen Raumes fehlt noch immer die gesellschaftliche
und politische Dimension des Raumes. Während der Raum bis hier als ein Produkt
des Körpers vorgestellt wurde, das vom individuellen Körper erfahren,
wahrgenommen, und vorgestellt wird,
wendet sich der folgende Abschnitt in der Diskussion von Henri Lefèbvres
“sozialem Raum” einer kollektiven Dimension des Raumes zu. Zwar wird dieses
Raumkonzept, wie die beiden Modelle von Lynch und Merleau-Ponty direkt auf die
Erfahrung und Repräsentation der individuellen Körper bezogen, hier jedoch in
ihrer Gemeinschaft. Auch hier begegnen wir – im Gegensatz zu verschiedenen
mathematischen oder naturwissenschaftlichen Modellen – einem wirklichen,
reellen und kontextuellen Raum, der aktiv durch menschliche Gedanken,
Vorstellungen und Handlungen produziert wird.
Dem
‚sozialen Raum‘ gelingt es, im Prinzip verschiedene räumliche Modelle – ob
geistig, abstrakt, sozial oder individuell – in einem Konzept zu integrieren.
Lefèbvre integriert die wissenschaftliche, abstrakte und neutrale Ebene in
seinem Konzept. Raum ist für den französischen Philosophen ein ideologisches
und politisches Produkt. Und gerade die vorherrschende Deutung von Raum als
abstrakt und neutral versteht er allenfalls als ein Ergebnis ideologischer und
politischer Vorgänge, wenn er schreibt:
Raum ist
nicht ein wissenschaftliches Objekt, das von Ideologie und Politik getrennt
werden kann. Wenn Raum uns heute in seinen Inhalten als neutral und indifferent
erscheint und daher nur ein formales Produkt zu sein scheint, ist dies gerade,
weil dieser Raum schon lange besetzt und gebraucht worden ist und im
Mittelpunkt von Prozessen steht, deren Spuren sich nicht unbedingt noch alle
ablesen lassen. Raum ist politisch und ideologisch. Er ist ein Produkt, das
sprichwörtlich mit Ideologien gefüllt ist.”[38]
Lefèbvres
Raum ist an eine spezifische Lokalität gebunden. Der “Soziale Raum” ist zeit-,
orts- und kontextgebunden und entsteht aus der Interaktion verschiedener
sozialer Gruppen an spezifischen Orten zu spezifischen Zeitpunkten. Diese
menschlichen Gruppen verwenden je nach Zeit und Ort bestimmte Produktionsmittel
und Repräsentationsformen und sind in kollektive Handlungen eingebunden, die
ökonomische, soziale oder politische Zielsetzungen haben können.
Die
wesentliche Stärke dieses Raummodells, sein wesentlicher Charakter, ist in
seiner Struktur verborgen. Lefèbvre differenziert sein Modell als dreiteiliges
Gefüge, des gelebten, des abstrakten und des wahrgenommenen Raumes (vgl. Abb.
1). Dabei ist der gelebte Raum der räumlichen Praxis der ‚reale‘ Bereich des
täglichen Lebens. Der abstrakte Raum ist ein ‚symbolischer‘ Bereich, in dem
sich abstrakte Mächte manifestieren und repräsentieren. Es ist der ideologische
Raum der Repräsentation staatlicher Organisationen, Großkonzerne oder der Raum
wissenschaftlicher Operationen. Mit dem ‚imaginären‘ Raum der Repräsentation,
der Wahrnehmung und der Vorstellung hält Lefèbvre den Bereich fest, wo das
Physische sich selbst reproduziert. Dieser ist ein wahrgenommener und
zeichenhafter Raum der Bilder und Symbole, nicht weit entfernt von
Merleau-Pontys phänomenologischem Modell.[39]
Das
Entscheidende ist: Durch seine dreifache Struktur wird der ‚soziale Raum’ zu
einem Beziehungsgefüge, einem äquilibrischen Zustand, der empfindlich auf
Störungen reagiert. Aus dem Ungleichgewicht der Relationen innerhalb dieses
Modells lässt sich eine räumliche Krise herleiten. Und während es noch für
Kevin Lynch die verschlungenen Hochstraßen der amerikanischen Stadtlandschaft
waren, die zu einer verzerrten Wahrnehmung führen und diese Krise hervorrufen,
kritisierte Lefèbvre die politischen Verhältnisse im Paris der
Studentenrevolution als Faktoren, die den Raum einseitig dominieren. Diese Krise
des Raumes wird aus Lefèbvres Sicht durch abstrakte Apparate, wie den modernen
Staat, die moderne Wissenschaft oder durch Großkonzerne hervorgerufen und wird
begleitet von den Erfahrungen der Massenmedien, der Konsumgesellschaft und der
Individualisierung.[40]
Aus dieser
Kritik entwickelt Lefèbvre eine seiner Kernaussagen, indem er postuliert, dass
die Grundlagen zur Bildung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht mehr auf
einige zu lokalisierende Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft zu suchen
sind, sondern vielmehr in der Produktion des räumliches Umfeldes, also der
Stadt als Ganzes. Sein Postulat entsteht aus der Einsicht, dass wir zunehmend
einer Kommodifizierung aller Aspekte unseres Lebens ausgesetzt sind. Weil die
‚Produktion des Raumes zum prägenden Faktor der spät industriellen Gesellschaft
wird, muss der ganze städtische Raum an sich von nun an als das zentrale Feld
der Austragung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte gesehen werden.[41]
Abb.1: Lefèbvres Konzept des
sozialen Raumes (bearbeitet durch den Autor)
Worauf
gründet sich aber die Aktualität von Lefèbvres Raumtheorie? Lässt sich sein
Modell auch auf die Formen unserer Konsumgesellschaft übertragen? Welche Formen
z. B. des Abstrakten Raumes finden wir heute und wie beeinflussen sie das
Gesamtgefüge?
Geht es
nach Kritikern wie Frederic Jameson oder David Harvey, dann ist Lefèbvres
Raummodell heute aktueller denn je. Beide vertreten die These, dass das
Postmoderne Zeitalter keinesfalls eine radikale Abwendung von der Moderne
bedeutet, sondern eher seine Fortführung mit anderen und differenzierteren
Mitteln. Sie sehen in der neo-liberalen Marktwirtschaft nach wie vor einen
Motor, der nach den fundamentalen Grundregeln des Kapitalismus funktioniert.
Übertragen auf das Raummodell von Lefèbvre, könnte man extrapolieren: Bis heute
hat sich nichts an der Dominanz der abstrakten Ebene geändert. Diese dominiert
heute immer noch das Gefüge des ‚sozialen Raumes’. Allerdings nun vorwiegend
über die Akteure der Wirtschaft und durch die Logik neuer Technologien.
Im Grunde
repräsentiert der ‚globale Raum der Flüsse‘, wie ihn Castells (1996)
beschreibt, eine solche neuartige Ebene des abstrakten Raumes. Und die neue
Dichotomie von “Global” und “Lokal” im Sinne eines Ungleichgewichtes des
Abstrakten und des Realen deuten, das in einer Krise des Repräsentativen
mündet. Mit anderen Worten: Die heutige städtische Bühne wird beherrscht von
den Konflikten multipler Lebensmodelle und charakterisiert von den Ausprägungen
eines globalen ‘Raumes der Flüsse’ und eines traditionellen ‘Raumes der Orte’.
Die räumlichen Modelle
von Kevin Lynch, Maurice Merleau-Ponty und Henri Lefèbvre präsentieren uns eine
Stadt, in der individuelle und gemeinschaftliche Körper und ihre räumliche
Wahrnehmung eine Hauptrolle spielen. Alle drei Modelle postulieren im Grunde,
dass Raum heute vor allem aus der Perspektive des Körpers her verstanden werden
kann. Sie zeichnen sich durch die Charakterisierung von Raum und Körper durch
ein dialektisches und reziprokes Verhältnis aus. Raum und Körper werden hier
als aufeinander–bezogene, offene und relative Systeme verstanden. Diese
relative Eigenschaft des Systems Raum-Körper, wird schließlich zu der
Grundvoraussetzung des Räumlichen und Zeitlichen. Körper können nur in – und
mit – Raum und Zeit existieren. Orte können so als die Brennpunkte in einem
Netz verstanden werden, das durch Beziehungen aufgespannt wird. Zu sein in
diesem Sinne bedeutet also räumlich zu sein und sich im Gleichgewicht dieses
‚Dazwischen‘ zu befinden.
Zusammenfassung:
Der Raum der informationellen Stadt
Der
zeitgenössische Raum erfährt eine zunehmende Polarisierung, Fragmentierung und
Homogenisierung durch eine Kombination ökonomischer und technologischer Einflussfaktoren.
Weil diese Entwicklungen schwerwiegende Eingriffe in den traditionellen Raum
darstellen, einschließlich der persönlichen Räume unserer Körper, entwickeln
wir eine Krise der Orientierung.[42]
Gewohnte Werte und Vorstellungen verlieren zunehmend an Gültigkeit. Wir
fallen in diesen orientierungslosen Zustand, weil die Welt, welche wir durch
unsere fünf Sinne erleben, und die Realität der Bilder, welche wir wahrnehmen,
zu weit auseinander klaffen.
Um unsere Situation besser zu verstehen, ist eine
Betrachtung des Raumes, in dem wir leben, und seiner Produktion notwendig. Der
Raum der informationellen Stadt kann charakterisiert werden als etwas, das zwischen
dem traditionellen ‘Raum der Orte’ und dem virtuellen ‘Raum der Flüsse’ liegt.
Dennoch transformiert der letztere uns und die Gesamtheit unserer Beziehungen
(ob politisch, sozial, kulturell oder physisch) heute auf eine neue und
radikale Art und Weise. Es wird in diesem Zusammenhang entscheidend, den so genannten
virtuellen Raum als eine neue Ebene des informationellen Raumes zu verstehen
und nicht als eine alternative Wirklichkeit. Dieser Raum entspringt auch aus
den Vorstellungen unserer Sinne und der Räumlichkeit unserer Körper und unserer
Kulturen, wenngleich er eine neuartige Ebene der Produktion, des Konsums und
der Erfahrung darstellt. Gleichzeitig revolutioniert dieser telematische Raum
die ökonomische, kulturelle und soziale Produktion des reellen Raumes. Es gibt
aber keine Gründe (außer ideologischen), warum seine Konstruktion, Reproduktion
und Repräsentation nicht auf den traditionellen Pfaden von Macht und Kontrolle
passieren soll. Auch der telematische Raum ist demnach politisch und ideologisch.
Es bleibt festzuhalten, dass die Modelle des kognitiven, körperlichen und
sozialen Raumes, samt ihrer Implikationen ebenfalls auf diese neue räumliche
Ebene anzuwenden sind.
Entwurfstrategien
der Wahrnehmung
Wie aber
können wir als eine Berufsgruppe, die sich mit der Planung und dem Entwurf von
Räumen beschäftigt, konstruktiv auf die oben beschriebene Krise der
Orientierung und die neuartigen Eigenschaften des informationellen Raumes
reagieren? Die Formen des traditionellen Raumes (Raum der Plätze) und des
virtuellen Raumes (Raum der Flüsse) können und müssen im Bild des sozialen
Raumes verankert werden. Die heutige Dominanz der Abstraktion muss in diesem
Zusammenhang aufgefangen werden. Dafür brauchen wir Bilder und Modelle von
Räumen, denen Kriterien wie vielschichtig, komplex, dialektisch, topologisch
und flexibel entsprechen und die Tausende individuelle Stadtbilder
repräsentieren können. In diesem Zusammenhang muss es verstärkt die Aufgabe der
Planung sein, ihre Projekte aus den Bildern des Einzelnen heraus zu entwickeln
und diese räumlich in neue Bedeutungen und Projekte umzusetzen.
Zu den
aktuellen Themen dieser Projekte gehört eine Neudefinition der Beziehungen von
Bedeutung und Identität, Informationsraum und physischem Raum, Medienrealität
und Erfahrung, gemeinschaftlichem Bewusstsein und individuellem Denken sowie
trainierter und automatischer Wahrnehmung. Die Aufgabe einer neuen
Entwurfspraxis sollte also in einem neuen Verständnis des Raumes münden und
Wege aufzeigen, wie sich unsere Körper in den komplexen Umwelten des Heute
repräsentieren könnten. ‚Raum-Planung‘ wörtlich genommen hieße die Bedeutung
von Räumen zu analysieren, zu interpretieren und zu gestalten.
”Etwas
eine Bedeutung geben, sich um etwas kümmern -
übertragen auf das Universum kann das nur heißen, dass man alles, was
man verändern will, auch wirklich wahrnimmt, das heißt, man muss es
interpretieren und ihm eine Form geben. Die Form ist zunächst der Anker, dann
wird sie zum allumfassenden Kristall, der Weltstruktur”.[43]
Fünf
Praktiken
Zum
Schluss möchte ich fünf planerische Praktiken vorschlagen, die als Grundlage
einer heutigen Auseinandersetzung mit Raum dienen können.
a.
Technologische Praxis
Die
Untersuchung der Kapazität neuer Technologien und neuer Räume als Werkzeuge für
den Entwurf von Vorstellungen (Imagination und Projektion) sollte eine
unbedingte Voraussetzung sein, um ein neues Raumverständnis zu entwickeln.
b.
Ästhetische Praxis
Es ist
heute notwendig, rein ökonomische, wissenschaftliche und rationale Praktiken
mit einer Kultur des Ästhetischen zu ergänzen. Dabei wäre es die Aufgabe dieser
ästhetischen Ebene, den topologischen Raum der Beziehungen zu kartieren,
welcher charakteristisch für das Informationszeitalter ist. Von hier aus sind
neue Repräsentationsformen zu finden, welche dem menschlichen Bedarf nach
Orientierung und Geborgenheit entsprechen. Im Grunde müsste dafür der Ansatz von Kevin Lynch auf die
Bedingungen der informationellen Stadt transferiert werden. Eine ästhetische
Praxis muss auch das Bedürfnis überwinden, das Alte als Form rekonstruieren zu
wollen. Vielmehr muss sie sich um die Bedürfnisse, die Inhalte und um
programmatische Anforderungen kümmern.
c. Soziale
Praxis
Wir müssen
heute eine neue, allgegenwärtige, subtile räumliche Logik wahrnehmen und
thematisieren. Diese ist eine Logik der Polarisierung, Homogenisierung und
Fragmentierung, die auch differenzierte Formen von Macht und Disziplinierung
mit sich bringt. Die Stadt muss erneut als soziales Umfeld interpretiert
werden. Dieses Umfeld soll Möglichkeiten eröffnen und soziale Potentiale
aufbauen. Vor allem muss aber eine soziale Praxis heute dem ‘anderen’,
marginalisierten Teil der Bevölkerung, der im Hauptstrom unserer Ökonomie
namenlos bleibt, besondere Aufmerksamkeit und Beachtung schenken.
d.
Traditionelle Praxis
In dem
Sinne, dass viele unserer heutigen Probleme durch die Dominanz eines
abstrakten, virtuellen Raumes (space of flows) über ein traditionelles
Raumgefüge (space of places) entstehen, müssen wir Partei für einige
traditionelle Werte des Ortes und des Kontextes ergreifen. Dazu zählt zum
Beispiel eine neue Auseinandersetzung mit den Themen Langsamkeit, Sinnlichkeit,
Beständigkeit und Nachhaltigkeit.
e. Politische Praxis
Nicht
zuletzt muss Planung ein kritisches räumliches Bewusstsein kultivieren[44]. Erst wenn Räume nicht als neutrale Behälter, sondern
als die Ergebnisse ideologischer und politischer Verhältnisse, die durch
verschiedene Kräfte und Akteure produziert, kolonialisiert, angeeignet und
transformiert werden, verstanden werden, kann es gelingen, die dominanten
Trends unserer Zeit zu verstehen, aufzufangen und besser zu steuern.
Imagine a city! + imaginacity = “Imagine-a-city”
Die Kultur der Vorstellung (Imagination) hat sich zu
einem Schlüsselelement meiner Betrachtung des zeitgenössischen Raumes
entwickelt. Die Vorstellungsebene wird als das Schlüsselelement identifiziert,
das uns in der Erkenntnis und der Interpretation der versteckten
Bedeutungsebenen und Realitäten der heutigen Stadtlandschaft weiterhelfen kann.
Die Vorstellbarkeit (Imagination) könnte daher zum einen als ein Konzept und
eine Strategie verstanden werden, um der informationellen Stadt zu begegnen und
zum anderen als ein Weg, diese zu transformieren. Imagine-a-City, als
Proposition und Adjektiv in einem, vereint die Aufforderung, sich die neue
Stadt vorzustellen (“imagine a city, please!”), mit einer deskriptiven Ebene
der Stadt der Bilder. Gibt es noch einen Weg zurück?
Oh, I'd give anything to get out of Oz altogether; but
which is the way back to Kansas?
(Dorothy in “The Wizard of Oz”)
Appleyard,
David; Lynch, Kevin; Mayer, John R.; 1963: The View from the Road; Cambridge.
Baudrillard, Jean; 1988: ”The Ecstasy of Communication”; In Selected Writings;
ed. Mark Poster, Sanford.
Bollnow,
Otto; 1963: Mensch und Raum; Stuttgart.
Benedikt,Michael;
1993: ”Unreal Estates”; In der Zeitschrift: ANY Nr.3; S.57 ff.; New York
Boyd
Whyte, Ian; Schneider Romana (eds.); 1986: Die Briefe der Gläsernen Kette;
Berlin.
Castells,
Manuel; 1989: The Informational City; Cambridge; MA.
Crary,
Jonathan; 1984: “Eclipse of the Spectacle”; In Wallis, Brian (ed.); (1984) Art
after Modernism; Boston.
Davis,
Mike; 1992: City of Quartz ; Los Angeles.
Debord,
Guy; 1967 : La Société du Spectacle; engl. The Society of the Spectacle; trans. Donald N-Smith
1995; New York.
Decerteau,
Michel; 1984: The Practice of Everyday Life; trans. Steven Rendall; Los Angeles.
Flusser,
Vilém; 1993: The City as a Wave-through in the Flood of Images, In Arch+,
No.111.
Foucault,
Michael; 1977: Of Other Spaces; In: Diacritics 16
Ganser,
Karl; 1999: Gesellschaftliche Trends und Städtebau – Welche
Einflußmöglichkeiten hat die Öffentlichkeit?; (url:
www.urban21.de/german/05-precding-events/tagungsband/ganser.htm)
Habermaß
Jürgen; 1962: Strukturwandel und Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer
Kategorie der Bürgerlichen Gesellschaft; Neuwied.
Harvey,
David; 1989: The Condition of Postmodernity; Cambridge.
Häußermann,
Hartmut; 2000: “Gesellschaftlicher Wandel und Kommunikation”; In: Bott, Hubig,
Pesch, Schröder (Hrsg.) Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter; 2000,
Stuttgart.
Houellebecq,
Michel; 2000: Ausweitung der Kampfzone; Übers. Leopold Federmair; Reinbeck.
Ito,
Toyo; 1993: “The Visual Image of the Microelecronic Age”, JA (Japan Architect);
JA Library 2.
Jameson,
Frederic; 1991: Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism;
Durham.
Kluge,
Alexander (1985); “Die Macht des Bewußtseins und das Schicksal unserer Öffentlichkeit,
Zum Unterschied von machbar und gewalttätig”; In: Bismarck, Klaus von, u.a.;
Industrialisierung des Bewußtseins, München.
Lefèbvre,
Henri; 1974: The Production of Space; Übers. Donald Nicholson-Smith Cambridge,
MA.
Lefèbvre,
Henri; 1976: Reflections on the Politics of Space, trans. M. Enders, in
Antipode 8, 30-37
Lynch,
Kevin; 1960: The Image of the City; Cambridge, MA.
McLuhan,
Marshall; 1964: Understanding Media: The Extensions of Man, London.
Merleau-Ponty,
Maurice; 1976; Die Struktur des Verhaltens; Berlin; [orig: La Structure de
comportement].
Mitchell,
William J.; (1989); “Architecture and the Second Industrial Revolution”; In
Harvard Architecture Review , v.7, p.166-175.
Pawley,
Martin; 1994: “The Redundancy of Urban Space”; In The Future of Space; ed. Bernd Meurer; Frankfurt.
Rajchmann,
John; 2001: Pragmatismus und Architektur; In Arch+156; S. 30ff., Aachen.
Sassen,
Saskia; 1996: Losing Control? Souvereignity in an age of Globalization; New
York.
Sennett,
Richard; 1994: Flesh and Stone: a History of Body in Western Civilization; New
York.
Sennett,
Richard; 1998: The Corrosion of Character; New York.
Soja,
Edward W.; 1989: Postmodern Geographies – The reassertion of space in critical
social theory; London, New York.
Virillio,
Paul; 1994: The Vision Machine; London.
Weber,
Max; 1930: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; (Engl.
Übersetzung von Anthony Giddens; London, New York, 1992).
[2] Vgl. M. Castells (´89), M. Mc Luhan (´64), P. Virillio (´94), R. Sennett (´94)
[3] Ich berufe mich hier auf das postmoderne Konzept des versammelten ”Anderen” (amalgamated other). So verwendet z.B. Saskia Sassen ´96 dieses ”Andere”, um die marginale, informelle und vergessene Seite der Globalisierung darzustellen.
[4] Ich möchte diesen Begriff vorschlagen als Kombination von Castells‘ (´89) Stadt der Informationen (“informational City”) und dem Begriff der Informalität. Beides sind charakterisierende und neue Merkmale der kontemporären Stadt.
[5] Dieses Bild des Aufeinandertreffens des ‚globalen‘ und des ‚lokalen‘ Raumes, auf das ich immer wieder Bezug nehme, lässt sich im Großen und Ganzen aus den Auseinandersetzungen von Castells (´89) und Harvey (´89) ableiten. Die Diskussion seiner Implikationen ist eine Aufgabe, die über diese Präsentation hinausgeht.
[6] Lefèbvre beschreibt die neue Dimension wie folgt: “Today our concern must be with a space on a world’s scale, as well as with all spaces subsidiary to it. (Cosmological and Quantum space) The forces that shape this space – basically forces of production: market of commodities, labor, capital, technology, science and demographic trends – are of a power, scope, and effectiveness hitherto unknown and unimaginable.” (Lefèbvre, 1974, S. 307)
[7] Häußermann, 2000
[8] Die Untersuchung der technologischen und ökonomischen Kräfte, die den heutigen Raum formen, ist von einem vorrangigen Interesse. Dennoch geht sie über diese Präsentation hinaus. Für eine nähere Betrachtung möchte ich u. a. auf M. Castells (´89) oder D. Harvey (´89) hinweisen. Für die Beschreibung der Polarisierung, Fragmentierung und Homogenisierung siehe auch, E. Soja (´89), M. Davis (´89).
[9] An die drei viertel der heutigen Stadtlandschaft ist in den letzten 50 Jahren entstanden. Vgl. Ganser, 2000.
[10] “The ether is humming – no, roaring – and not the signals of dying stars, but the radio and television stations and cellular telephones; the air is alive with plumbers, policemen, pilots, and spies; with data streams from fax machines, with uplinks and downlinks from stock-markets, news-services, and vehicle navigation devices. The electromagnetic spectrum is quivering at every scale, like an infinitely fine, space- filing spiders web shimmering with a billion messages in transit from somewhere to someone, but always and permanently there, and invisible like the light that passes by your nose.”; M. Benedikt, 1993; “Unreal Estates”; ANY Nr.3; New York ; S.57
[11] Vgl. V. Flusser; “Die Stadt als Wellental in der Bilderflut”; in Arch+; Nr.111; 1991; S. 58 und S.84
[12] Erik W. Ellison; “Portable Phones in the Park: A New Approach to Understanding Planning Urban Space”; In der Ph.D.-Konferenz: Cyberspace, Public Space and the Hyperghetto, New Conceptions of Urban Space; Columbia University; New York; Okt. 1994
[13] In diesem Zusammenhang wäre es eine sehr interessante Frage, inwieweit sich eine Korrelation finden ließe zwischen dieser ‚vertikalen‘ Durchmischung von Privat, Öffentlich und Sakral und der zunehmenden ‚horizontalen‘ sozialen Polarisierung unserer Stadtlandschaften.
[14] V. Flusser, (1991), Betonung durch den Autor
[15]
H. Lefébvre
beschreibt die Objektifizierung des Körpers im abstrakten Raum:
“In abstract space, and whenever its influence is felt, the demise of the body has a dual character, for it is at once symbolic and concrete. Concrete, as a result of the aggression to which the body is subject and symbolic on an account of the fragmentation of the body’s unity. This is especially true of the female body, a transformed into exchange value, into a sign of the commodity and indeed into a commodity per se.” Lefèbvre, (1974), S. 310. Vgl. auch Houellebecqs “Ausweitung der Kampfzone” (´00), oder Sennetts ”Corrosion of Character” (´98).
[16] Man betrachte z. B. die ‚Behandlung‘ des Körpers durch bio- oder gentechnologische Verfahren.
[17] Vgl. Foucault (82), Debord (67), Deleuze Guattari (80); Aus Crary, J.; (1994); Eclipse of the Spectacle
[18] U. Beck (u. a. in Arch+ 158)
[19] Über das Expertentum als Werkzeug für Abstraktion und Entfremdung vgl. M. Weber (1930)
[20] R. Sennett (1995) theorisiert den Begriff des Komforts im Bezug zu einem Verlust des Taktilen (Tastsinn) und einer Entwurzelung des modernen Körpers.
[21] Vgl. P. Virillio, 1994
[22] Vgl. Harvey ´89, Jameson ´91, Baudrillard ´88
[23] Die Öffentlichkeit aus einer demokratischen Kultur freier Rede und gedruckter Medien. Vgl. z.B. Habermas, 1962
[24] Vgl. W.J. Mitchell, 1989
[25] Vgl. A. Kluge,1985, S.53
[26] Vgl. Baudrillard, 1988
[27] Vgl. F. Jameson, “Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism”, 1991
[28] Die Modelle der Relativitätstheorie (Einstein) oder die Quantentheorie (Heisenberg) wären da schon eher verfolgenswert, sind aber nicht das Thema dieser Abhandlung.
[29] Er untersucht die Metropolen Boston, New Jersey und Los Angeles.
[30] Dabei verfolgt Lynch einen interdisziplinären Ansatz. Wie in dem Appendix von “Image of the City” zu sehen, war Lynch von Disziplinen wie der Umweltpsychologie und Ethologie (Wissenschaft über das Verhalten der Lebewesen) stark beeinflusst, die den Körper als einen Navigationsmechanismus beschreiben.
[31] Aplleyard, Lynch, Mayer, 1963, S.54. (Eine Untersuchung der stadtgestalterischen Potentiale neuer Autobahnsysteme in Boston)
[32] Ebenda
[33] Vgl. Virillio ´94, Baudrillard ´88, Ito ´93
[34] Die Disziplin der Phänomenologie der Wahrnehmung entsteht aus einem Dialog von Umweltpsychologie und phänomenologischem Denken. Im frühen 20. Jahrhundert verlassen Denker wie Husserl, Bergson, Freud und Proust ein lineares, abstraktes und mechanisches Verständnis von Raum und Zeit und entwickeln ein neues Bild des menschlichen Bewusstseins, Wahrnehmung und Handlung. Eine detaillierte Beschreibung dieser Geschichte findet sich in Bollnow (´63).
[35] Merleau-Ponty, 1973, S.286 und 243
[36] Merleau-Ponty ist nicht der Einzige, der dieses Bild verwendet: So kann man es ebenfalls in den 20er Jahren bei R. Park an der Chicago School oder 50 Jahre danach in W. Flussers, oder K. Kellys (1993, Out of Control) Gedankengut finden.
[37] Vgl. einige kommunikationsbasierte Gesellschaftsutopien N. Tesla, M. Mc Luhan, W. Gibson, K. Kelly .
[38] Lefèbvre, 1976, S.31, (Übersetzung durch den Autor)
[39] Mit Webers Worten könnte man den gelebten Raum einer moralischen Sphäre, den abstrakten einer wissenschaftlichen und den repräsentierten einer ästhetischen Sphäre zuordnen. Auch Lacan setzt das Individuum in drei Register, das Reale, das Symbolische und das Imaginäre, die weitgehend den Raumkategorien des sozialen Raumes entsprechen. Für Lacan allerdings ist die Unvereinbarkeit dieser Sphären grundlegend.
[40] Verhältnisse, die z. B. in den Filmen Godards oder Tatis thematisiert werden, so z. B. in “Alphaville” oder “Mon Oncle”.
[41] Lefèbvres Gleichsetzung der Bedeutung des Raumes mit der Zeit und damit eine Hinterfragung des historischen Materialismus bedeutete auch seinen Bruch mit der kommunistischen Partei.
[42] Diese Krise ist keine Krankheit, sondern eher ein konzeptionelles Werkzeug, um unseren postmodernen Zustand der Gleichzeitigkeit, Komplexität und scheinbaren Richtungslosigkeit zu beschreiben.
[43] Vgl. B. Taut in Boyd White, 1986
[44] The development of a radical political culture of postmodernism will accordingly require moving beyond rigorous empirical descriptions which imply scientific understanding but too often hide political meaning... . A new 'cognitive mapping' must be developed, a new way of seeing through the gratuitous veils of both reactionary postmodernism and late modern historicism to encourage the creation of a political spatial consciousness and a radical spatial praxis. E. Soja, 1989, S.75