Urban Bodies
7. Jg. , Heft 1, (September 2002 )    

 

 

 

___Jürgen
Mick

Augsburg

  Körper und urbane Identität
Wenn wir unsere urbane Identität suchen, werden wir unseren Körper finden.

 

 

Körper und Kommunikation als Bedingung für die Form der Stadt.

Für die folgenden Überlegungen versuche ich, den urbanen Kontext als Musterbildung aus Bauwerk und freiem Raum zu lesen und dabei den freien Raum – und die Anordnung der Bauwerke, als dessen negative Struktur – als von Körpern, oder allgemeiner, von Massen und deren Bewegung geprägte Form zu interpretieren.
 

Als der Mensch beginnt, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, schafft er sich selbst eine vertraute Umgebung, worin es ihm möglich ist, sich gefahrlos zu bewegen. Er bediente sich grundsätzlich also der Strategie, seine Umwelt selbst zu gestalten, um sie besser kontrollieren zu können. Es war vor allem die Angst, die ihn dazu bewegte, Vorsorge zu treffen. Auch der städtische Raum ist ein solches schützendes Konstrukt der menschlichen Gemeinschaft. Als soziales Gebilde folgt sie grundsätzlich einmal den ambivalenten, sozialen Beziehungen von Nähe und Distanz ihrer Bewohner und zum Anderen immer auch den körperlichen Bedürfnissen der Bewohner und Besucher.
 

Der Mensch kommuniziert und tauscht sich aus mit seiner Umwelt. Der Mensch greift um sich, und er schreitet aus. Er durchschreitet die Welt, und seine körperliche Präsenz lässt ihn Raum nehmen. Unter dem Dualismus von kommunikativen und körperlichen Bedürfnissen kann man wohl alle prägenden Elemente des Städtebaus in irgendeiner Form subsumieren. Die Kommunikation und die Bewegung, sei es als Tausch von Gütern oder als verbaler Akt, sind maßgeblich für die Gestalt des städtischen Raums verantwortlich.
 

Das Charakteristische der klassischen Stadt ist, dass sie für die gesellschaftliche Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit ihre bauliche Entsprechung findet. Städtischer, öffentlicher Raum war eigentlich der „Restraum“ zwischen den Bauwerken. Dienten die Bauwerke mehrheitlich der privaten Unterkunft, so überließ man den „Restraum“ der gemeinschaftlichen Nutzung. Keiner war befugt, persönliches Eigentum an ihm geltend zu machen, und Jedermann konnte sich und seine Güter mit gleichem Recht darin bewegen. Der öffentliche Raum ist der „Kitt“ der Städte, und er folgt daher in seiner Gestalt geradezu seismografisch jeder Veränderung des Zusammenlebens. Der urbane öffentliche Raum ist prinzipiell demokratischer Raum, und er dient seinen Bewohnern, nicht zuletzt, zur gesellschaftspolitischen Artikulation.
 

In allen Funktionssystemen der Gesellschaft sieht Niklas Luhmann einen materiellen Bezugspunkt der Kommunikation, da »an allen Kommunikationen psychische Systeme beteiligt sind, die strukturell an Organismen gekoppelt sind. Deren Bedürfnisse gehen in ganz elementarer Weise in die Kommunikationen des Systems ein. Dabei dringen körperlich-materielle Bedürfnisse und Erfahrungen zu höheren Ebenen der Systembildung durch.« (3) Die Kopplung unserer Bedürfnisse und unserer Kommunikation an einen körperlichen Organismus erfordert naturgemäß also materielle Befriedigung und Versorgung. Diese wiederum erzeugt körperliche Bewegung in unserer Umwelt. Die Städte, die eben diesen Bewegungen Rechnung tragen, zeichnen gleichsam die Veränderung und Entwicklung der Körperbewegungen nach.
 

Betrachtet man den öffentlichen Raum unter diesem Aspekt der Bewegung, erschließen sich seine Gestalt und Dimension. Man denke z.B. an die Größe der Transportmittel, die Art der Gefährte, deren zunehmende Geschwindigkeit oder auch die Veränderung der Ver- und Entsorgungssysteme für Wasser, Gas und Ahnliches. Jede Variation in der Bewegung von Massen hat unmittelbar Auswirkung auf die Beschaffenheit der öffentlichen Räume. Die körperliche Bewegung schreibt sich unmittelbar in den Stadtgrund ein.
 

Betrachtet man den öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Kommunikation, erschließt sich seine Bedeutung für die Gesellschaft. Öffentlicher Raum war immer als Kommunikationsraum konstitutiv für die urbane Gesellschaft. Der öffentliche Raum war eben doppelt bestimmt, durch die materielle, als auch durch die kommunikative Funktion. Die Kunst des „funktionierenden“ öffentlichen Raums kann verstanden werden als Kunst, die Balance zwischen Bewegungsraum und Kommunikationsraum aufrecht zu erhalten. Was wir heute feststellen, ist eine Irritation dieses Verhältnisses. Die Kommunikation nimmt im städtischen Raum zunehmend eine nachrangige Bedeutung ein. Es stellt sich eine Verschiebung der Gewichte zu Gunsten des Bewegungsraums und zum Nachteil des gemeinschaftlichen Aufenthalts- und Kommunikationsraums ein. (Als Beleg dafür kann man die spontanen Gegenreaktionen deuten, z.B.: der Einzug der Eventkultur in unsere Städte, um sie zu „beleben“, ist der Versuch, das Gleichgewicht auszutarieren). Noch nie wurden im öffentlichen Raum soviel Körper und Massen bewegt wie heute, und noch nie waren wir so passiv im öffentlichen Raum präsent.

 

 

Soziale Verhältnisse als körperliche Verhaltensweisen.

Soziale Systeme konstituieren sich vor allem durch die Relationen ihrer Elemente. Für Rückschlüsse auf die Rolle, die unser Körper bei der Gestaltgebung des öffentlichen Raumes spielt, sollen hier ausschließlich die körperlichen Aspekte der Kommunikation in Betracht gezogen werden; ich will versuchen, die körperliche Komponente sozialpolitischer Verhältnisse zu skizzieren.
 

Georg Franck stellt fest, „mit den Städten hatte sich eine Lebensform herausgebildet, in der sich die Menschen vor allem miteinander beschäftigten. Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit vielen Anderen und »in den Augen vieler Anderer«. Das Leben in der Stadt lässt die Selbstdarstellung zum selbstverständlichen und selbstverständlich zentralen Lebensinhalt werden.“ (2) Das Leben »in den Augen der Anderen« ist nicht bloßes Zur-Schaustellen, sondern versteht sich als ein Leben in der Verantwortung mit den Anderen. Es ist das »Sich-Zeigen«, wie man in den Augen der Anderen gesehen werden will, das seine Rückkopplung in unserem Gewissen hat. Es handelt sich um Selbstdarstellung, die von Scham geprägt ist. „Die Scham `erschließt uns als Emotion, wer wir sind und wer wir zu sein hoffen.´ Wenn jemand sich seines Verhaltens wegen schämt, überprüft er das Bild, das er von sich hat, mit jenem Bild, das er in den Augen eines realen oder imaginierten Dritten abgibt.“ (4) Ein solches Bedürfnis der Selbstdarstellung bezeugt ein Selbstverständnis von integrativer Gemeinschaft. Die Stadt wird so zur Geburtsstätte sozialer Kommunikation unter Fremden. Die körperliche Präsenz im urbanen Raum ist dabei das Fundament der Gemeinschaft. Man kann wohl mit Recht behaupten, auf dem barocken Marktplatz sah man das bunte Treiben einer echten Gemeinschaft.
 

Auf den Marktplätzen der Moderne bewegt sich nur noch eine bunte Masse. (vgl. 5) Was ist geschehen?

Was in der Renaissance mit der Entdeckung des Individuums begann, geriet im zwanzigsten Jahrhundert zum Kult des Individualismus. Die Individuation mündete in einen Totalitarismus mit Wahlzwang zur Identität. Unsere Lebensführungen sind so pluralistisch geworden, dass man geradezu gezwungen ist, sich als Individuum selbst zu erfinden. Patchwork-Biografien und selbst entworfene Lebensläufe lassen das Individuum zum Kunstprojekt werden. Was vor wenigen Generationen als sprunghaft und unbeständig galt, ist heute die Norm. In einem derart verinnerlichten „Turbo-Individualismus“ ist es doch geradezu unwahrscheinlich geworden, auf der Straße auf ein Gegenüber mit gemeinsamem „Nenner“ zu stoßen. So geht jeder Kommunikation im öffentlichen Raum unserer Städte zwangsläufig der Empfänger verloren. Als Folge durchziehen die Menschen die Straßen der Stadt, als folgten sie imaginären Schienen, in unsichtbaren Röhren. Mit Tunnelblick und eigenen undurchdringlichen Ideen im Kopf. Als »tunnel-people«, möchte ich sie nennen, begegnen sie einander im öffentlichen Raum, ohne miteinander in Kontakt zu treten. Mit steigender Diversifizierung der Biographien spielen körperliche Artikulationen im öffentlichen Raum eine veränderte und politisch gesehen, auch gar keine Rolle mehr. Es ist nicht mehr nötig, den Marktplatz aufzusuchen, um am politischen Leben teilzunehmen. Unsere politische Artikulation wird gänzlich Körper-unabhängig. Die massenmediale Durchdringung unseres Alltags erlaubt es, an typischen gesellschaftlichen Aktionen Teil zu haben, ohne dafür körperlich präsent sein zu müssen. Die öffentlichen Medien sind es nämlich, die als „»attraktiver« Sektor die ältere Form der Öffentlichkeit absorbieren und ersetzen. Alles, was öffentliche Erheblichkeit gewinnen will, muss auf der medial hergestellten Seite der subjektiven Erlebniswelten erscheinen“ (2), so Georg Franck. Als Folge dieser kompletten Überformung unserer gesellschaftlichen Kommunikation kommt es zu einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten Vermengung der klassischen Aktionsräume. Das urbane Gefüge erfährt eine Vermischung von Privatraum und öffentlichem Raum, wie es ihn seit Entstehung der Städte nicht gegeben hat. Vilem Flusser behauptet gar, dies führt zum Ende der Politik. Er besteht darauf: „Nur in der gelebten (körperlichen) Dichotomie von Privat/Öffentlich kann eine dialogische Demokratie sich speisen“ (5). Aus der Gemeinschaft ist eine Masse von Individuen geworden, die sich nichts mehr zu sagen hat.
 

Es stellt sich die Frage nach sozialen Bindungen. Brauchen wir keine sozialen Absicherungen mehr, um unseres Lebens „sicher“ zu sein? Geld bietet den Meisten Sicherheit genug. Stehen genügend Mittel zur Verfügung, lassen sich Leistungen der Gemeinschaft substituieren und ganz einfach kaufen. Warum heute dennoch Rufe nach Gemeinschaft laut werden, kann man eigentlich nicht verstehen, wäre die Entwicklung eine gesunde Entwicklung. Aber aus reiner Sentimentalität lässt sich auch Gemeinschaft nicht rekonstruieren, dazu bedarf es handfester Bedürfnisse. Doch vielleicht müssen wir uns endlich eingestehen, Gemeinschaft an sich ist nicht mehr notwendig. Woraus sich unsere sozialen Systeme speisen, sind schließlich die Massen. Die „statistische“ Masse bleibt für die Versicherung relevant und die „verfügbare“ Masse verdonnert die Gesellschaft zur Dienstleistung. Wir haben, wenn man so will, geschafft, uns ein separiertes Leben einzurichten, in relativer, hoher Sicherheit! Die Sorge um unseren Körper kann mit Geld befriedigt werden. Gegebenenfalls zahlen wir dafür, um in Ghettos wohnen zu dürfen! Gated communities sind ein erster Anfang.
 

Die Frage muss gestellt werden: was bleibt von den Anderen im „öffentlichen Raum“ erlebbar? Was bewegt sie durch die Stadt? Die anderen Körper sind keine Träger politischen Engagements mehr, sie sind verstummte Hüllen. Womit ein konstituierendes Merkmal für den öffentlichen Raum verloren wäre. Das kleinste gemeinsame Vielfache, das uns bleibt, ist der Bedarf an Gütern. Wie Koolhaas richtig feststellt, ist „Shopping“ (1) die einzige Tätigkeit, die noch wirklich öffentlich ist. Dem folgt die funktionale Reduktion des ehemals Anteil nehmenden Mitmenschen auf seinen ausdruckslosen Körper. Mitmenschen werden zu Körpern, die sich bewegen.
 

Die Körper der Anderen gehen uns nichts mehr an. Entgegen aller Liberalisierung im gesellschaftlichen Bereich werden »körperliche Situationen« prinzipiell aus der Öffentlichkeit verdrängt. Sogar harmlose körperliche Äußerungen werden tabuisiert. Bei aufmerksamem Beobachten können wir feststellen, selbst die geringste Berührung zweier Menschen im öffentlichen Raum erregt Aufmerksamkeit. Körperliche Geräusche und Gerüche sind seit langem in der Öffentlichkeit tabu. Die Körpersäfte werden mit allen Mitteln aus der Öffentlichkeit verdrängt und in unseren Städten unter die Erde verbannt. Der Körper funktioniert, wie eine Maschine, berechenbar, fast nie spontan und immer sauber und leise. 


Der körperliche Makel ist im öffentlichen Raum trotz der angestrebten Gleichstellung von Behinderten seltener zu beobachten als je zuvor. Alle Bemühungen der Integration von Behinderten zerschellen am verinnerlichten Körperverständnis der Moderne. Die gesteigerte Ästhetisierung in der Gesellschaft führt zu einem engeren Spektrum von körperlicher Normalität. Auf der anderen Seite öffnet sich ein umfangreicher Bereich des Abartigen und Kranken. Das Paradoxe ist, trotz aller bewusster Integrationsbemühungen bewirkt allein die Bezeichnung des Kranken, dass sie diesen herausstellt und so zum Nichtmitglied macht. Die Thematisierung eines Makels als Behinderung ist Zeichen dafür, dass sie nicht mehr selbstverständlich ist. Die Gesellschaft, die Emanzipation betreiben muss, ist eine Gesellschaft, die sich separiert hat, in der es kein selbstverständliches Rollenverhalten mehr gibt. Eine homogene Gemeinschaft könnten wir vielleicht erst wieder erreichen, wenn wir uns alle als Kranke verstehen. Mit dem Ideal von Gesundheit, Schönheit und Funktionstüchtigkeit auf unseren Fahnen stigmatisieren wir die kleinste Abweichung und erzeugen gesellschaftliches Abseits. Krankheit und körperliches Leid sind heute Privatsache. Die rigorose Vollendung der Sauberkeits- und Hygieneentwicklung bringt ihre Schattenseiten zum Vorschein: Die vollständige Verdrängung des Körperlichen aus der Öffentlichkeit. Der Körper selbst wird als unrein und privat deklariert. Stattdessen ersetzt ein „Körper-Ideal“ alles wirklich Körperliche und verbirgt hinter diesem Bild eine Seite unseres Menschseins. Der Körper wird zur Schau getragen, er wird zur Verfügungsmasse. Models, Sportler und Bodybuilder sind die Ikonen unserer Zeit. Da kann körperliche Realität mit all ihrem vermeintlichen Makel nur verstören. Ihr Ghetto ist der private, gesellschaftlich irrelevante Bereich des Lebens.

 

 

Unser Verhältnis zu unserem Körper: ein Missverständnis.

Leider haben wir eine Zeit hinter uns, in der wir zunehmend angehalten wurden, unseren Sinnen zu misstrauen. Die Neuzeit konfrontiert uns mit der Überforderung der Sinne durch die Unsichtbarkeit. Wir haben seit dem ausgehenden Spätmittelalter gelernt, mit der Täuschung der Sinne zu leben. Die Entdeckung der Unsichtbarkeit der „Dinge“ lässt uns erkennen, dass der Kontrolle unserer Sinne Einiges entgeht. Optische Täuschungen werden zum alltäglichen Geschäft. Virtuelle Welten konkurrieren in verstärktem Maße mit der vormals dinglichen Realität. Die Durchdringung unseres Alltags mit den Wirkungen der „Unsichtbarkeit“ hat unser Verhältnis zu unseren Sinnen gestört. Beispiele größter Aktualität lassen sich aus dem Bereich der Biochemie oder Gentechnik nennen, doch auch schon so folgenreiche historische Entdeckungen wie die Elektrizität zeigten schon damals, dass unsere Sinne nicht immer zuverlässig genug Gefahren für Leib und Leben anzeigen. Messgeräte und „Prothesen“ übernehmen seitdem zunehmend diese Funktion. Wir erleben und leben heute oftmals nur mehr mit den Wirkungen »unvorstellbarer« Ursachen. Die Vehemenz des Misstrauens, die die alte sinnliche Erkenntnis relativierte, liegt in der Alltäglichkeit der Erscheinungen und der Durchschlagkraft ihrer Katastrophen. Bei Missachtung der Vorsichtsmaßnahmen droht nicht selten der Tod.


Die Täuschung unserer Sinne führt zu einer Relativierung unseres Körpers im Verhältnis zu unserem Wissen. Wir haben gelernt, um zu überleben, muss der Mensch der Neuzeit über „Gefahren-Wissen“ verfügen. Vermutlich haben wir der Tatsache, dass das Wissen um Gefahren den sinnlichen Wahrnehmungen von Gefahren überlegen sei, zu danken, dass ein Misstrauen zu sinnlicher Wahrnehmung unser Körperbewusstsein belastet.


Dass dies selten als Verlust empfunden wird, liegt einerseits natürlich an dem Erfolg, der der Anwendung von „Gefahren-Wissen“ beschert ist, und andererseits an der Versprechung, die von modernen Technologien auch ausgeht. Der Unsichtbarkeit der Dinge hängt nicht nur die Gefahr für Leib und Seele an, sie birgt auch Faszination. Die Faszination des Körperlosen, des alle Distanzen überwindenden Fortbewegens, des metaphysischen, göttlichen, körperlosen Glücks. Der Ruf nach Wohlbefinden und Unberührbarkeit lockt in den „unsichtbaren“ Technologien.


Die Technik und der Fortschritt haben die Geister beflügelt und den Alltag geprägt. In der Durchdringung der westlichen Gesellschaft vom Mythos der Wissenschaft und Technik liegt der Grund unseres objektivierten Verhältnisses zu unserem Körper. Im Speziellen zeichnet die Wissenschaft des Körpers, die Medizin, dafür verantwortlich. Die Medizin ist das Fachgebiet, welches die Objektivierung des Körpers professionalisiert hat. (5) Die Wissenschaft vom Körper muss, um objektive Kenntnisse zu erlangen, ein Objekt Körper kreieren. Die allgemeine  Verwissenschaftlichung der Gesellschaft führte genau diese Sichtweise und dieses Körperverständnisses in breitem Umfang in die Gesellschaft ein. Dort stößt die Anschauung auf fruchtbaren Boden. Der Körpers als Objekt verführt geradezu, den Körper und seine Bedürfnisse zu vermarkten. Die Objektivierung erfährt eine Beschleunigung von Industrie und Wirtschaft. Man erkannte sofort, die „Maschine Mensch“ lässt sich lukrativ speisen. Von Design-Food über Kosmetik bis hin zu Pharmaka entwickelt das Objektbild Körper ungeahnte Märkte. Eine kritische Distanz zu Diagnose, Therapie und Medikamentierung ging dabei verloren. Es war nämlich gelungen, das Ich zu umgehen; das Ich ist nicht mehr Teil der Behandlung, es gilt als übergeordnet mit Verfügungsgewalt über den Körper. Äußerungen des Körpers werden unterdrückt, überhört, ignoriert. Man vernachlässigte schlicht und einfach, dass jedes psychische System an einen Organismus zurückgekoppelt ist und die Systeme des organischen Lebens mittels Signale mit den psychischen in Kontakt stehen. Man könnte sagen, es herrschen Kommunikationsstörungen zwischen den Systemen vor. Der Verstand mit seinem Wissen gewann sehr schnell an Bedeutung, und er wurde alleinige Entscheidungsinstanz über Gesundheit und körperliche Erscheinung, so dass wir die Äußerungen unseres leiblichen Organismus zu deuten, ohne Konsultation von Spezialisten, uns nicht mehr in der Lage sehen. Rigoros wird jedes Zwicken, Jucken und Stechen bekämpft, noch ehe es sich vollständig entfalten kann.


Mit unserem objektivierten Verhältnis zu unserem eigenen Körper und mit Veränderung der sozialen Verhältnisse und der fortschreitenden Individuation hat unser körperliches Befinden einen neuen Stellenwert bekommen. Der urbane Mensch der Moderne hat seine Verbindlichkeiten abgelegt. Er konzentriert sich, befreit von jedem Artikulationszwang, auf Bequemlichkeit, Wohlbefinden und Vermehrung. Wir folgen befreit vom gesellschaftlichen Zwang unseren rudimentären Trieben. Wir sind lediglich betriebsam, um es am Ende bequem zu haben. Es ist paradox, doch alle unsere Anstrengungen haben nur noch das eine Ziel, uns nicht mehr anstrengen zu müssen. Die Entwicklung vieler Techniken hat also gerade körperliche Ursachen. Dabei gilt für das Verhältnis zu technischen Neuerungen, dass unsere Bedürfnisse ausschließlich die Errungenschaften der Forschung protegieren, durch die sie auch befriedigt werden. Die Bedürfnisse sind bereits latent vorhanden, noch ehe technische Raffinessen sie zum Leben erwecken, oder gar zur Manie werden lassen. Oft wirkt das Neue nur als Katalysator. Oftmals, wenn wir unheilsame Wirkungen verdammen, vertauschen wir Ursache mit Wirkung. Nicht die Technik zersetzt unsere sozialen Verhältnisse, unsere menschlichen Anlagen nutzen die Vehikel, die sie verstärken. Die Verstärker treffen auf schlafende Ressourcen. So kann man auch die Tendenz der Entmaterialisierung als ein Phänomen der Entwicklung unserer Anlagen darstellen. Es hat den Anschein, es sei des Menschen höchstes Ziel, dieser materialen Welt zu entkommen. Die Entledigung des Körpers verheißt schließlich, dem Schmerz zu entkommen. Die Glücksbotschaft der Moderne, Minimierung des Leids und Maximierung der Lust, fände darin ihre Vollendung. Der Körper dient nur noch zur Maximierung des Wohlbefindens. Das Ich reduziert sich auf das “ich denke“ oder besser „ich kalkuliere“. Der Körper-Geist-Dualismus prägt mit erschreckender Durchschlagkraft unser Selbstverständnis. Rationalismus auf der einen Seite, Hedonismus auf der anderen Seite. Wir nehmen unseren Körper als etwas Akzidentielles wahr. Ich und Körper driften auseinander. Über die Objektivierung hinaus, vollzieht sich geradezu eine Entfremdung vom Körper.


Unter der distanzierten Betrachtungsweise unseres eigenen Körpers leidet vor allem unsere sinnliche Wahrnehmung der realen Umwelt. Was wir beim Beschreiten dieses Weges opfern, ist das Verständnis für den wesentlichen Anteil unserer Sinne, sprich des Körpers, am Gefühls- und Sozialleben in Beziehung zu unserem realen Gegenüber. Die anfangs erwähnte menschliche Strategie der Schaffung einer künstlichen Umwelt, deren frühes Ergebnis die Stadt war, nimmt heute Züge einer vollständig sinnlichen Kontrolle an. Die Entwicklung hin zu einer künstlichen Umwelt legt bereits eine beängstigende Selbstverständlichkeit an den Tag. Seit einigen Generationen finden wir uns eingebettet in den Prozess der Digitalisierung. Sowohl visuell, auditiv als auch taktil lassen sich alle Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung bereits heute digital manipulieren. Alle Reize können synthetisch produziert werden und sind digital bearbeitbar. Unser Alltag vermittelt den Eindruck, unseren Sinnen ist nur noch gefilterte Wahrnehmung zu zumuten. Die Sensibilität ist dermaßen degeneriert, dass nur noch künstlich komponierte Reize verträglich scheinen. Wir umgeben uns mit einem Kokon künstlicher Sinnesreize. Deodorants betören unseren Geruchsinn. Retortenmusik verstopft unsere Gehörgänge. Desinfektionsmittel bewahren unsere Haut vor Krankheitserregern. Unseren Augen gaukelt eine wahre Bilderorgie allerorten eine heile Welt vor. Die Sinne sind betäubt, der Körper ist gestylt. So und nicht anders artikuliert sich unser Wohlbefinden. Was wir dabei aus den Augen verlieren und was uns zum Verhängnis werden kann, ist die prinzipielle Verbundenheit zum körperlichen Organismus.


Der entscheidende Aspekt des Körperlichen, der dabei  unterminiert wird, ist unsere Verletzlichkeit. Sie ist der Motor für das Streben des Menschen, eben auch nach sozialer Gesellschaft und Wohlbefinden; alle Angst resultiert aus dem Körper, und unser Leben ist sozial, nicht zuletzt, weil wir Schutz für unseren Körper suchen. Wir brauchen die Brutpflege, weil wir wehrlos sind. Wir bedürfen der Gemeinschaft, weil wir alleine schwach sind. Die Gemeinschaft bietet Schutz und Sicherheit. Unsere Verletzlichkeit lässt uns Gefahren rechtzeitig erkennen, sie ist unser primärer Schutzmechanismus und unsere Überlebensgarantie. So müssen wir feststellen, dass heute der Körper als ureigenster Antrieb für unsere sozialen Leistungen, seiner Leitfunktion enthoben wird. Wir wähnen uns in Sicherheit und glauben alle Feinde, die unser körperliches Leben bedrohen, sind inzwischen eliminiert, vom Säbelzahntiger bis hin zum Wetter. Wir haben einst begonnen unsere Umwelt nach der Verletzlichkeit unseres Körpers zu gestalten, doch kann diese heute kaum noch Leitinstanz zur Lesbarkeit dieser artifiziellen Welt sein. Wir sind umgestiegen. Wir haben die Verletzlichkeit betäubt und die körperliche Lust zu unserem Leitsystem erkoren.

 

 

Die Stadt spiegelt unser Körperverständnis.

Wir haben unseren Körper zum Schweigen gebracht, objektiviert, entmündigt und verraten und zu guter Letzt distanzieren wir uns von ihm. Wir behandeln unseren Körper nicht besser und nicht schlechter als eine wertvolle Maschine. Wir ölen und salben ihn und stellen ihn zur Schau. Wir schützen und präsentieren ihn, aber entheben ihn jeder Funktion.


Wir können unserem Körper niemals entkommen, wir sind durch ihn untrennbar mit einer materialen Welt verknüpft; zwar hat es manchmal den Anschein, wir bedauern dies, doch jeder Versuch, daran etwas zu ändern, entfernt uns etwas mehr vom Menschsein.


Unsere Architektur heute zeugt von dieser Ambivalenz. Funktionalität beherrscht das Stadtbild, um unseren Körpern „reibungslosen“ Durchgang zu ermöglichen. Dem schutzlosen, hilfsbedürftigen Körper jede Last zu nehmen, ihn vor jedem Regentropfen zu schützen. Rolltreppen, Aufzüge, Shopping Malls, automatische Türen, Klimaanlagen, Luftschleier – Widerstand unerwünscht. Diese Elemente der Zweckarchitektur sind vorbehaltloses Muss unserer Zeit. Jede Stufe ist eine Stufe zuviel. Dies alles ist Ausdruck eines widerstandslosen und reibungslosen Leben-Wollens. Ein Leben ohne Schmerz.


»Tunnel-people« wollen nicht gestört werden. Tausende von Röhren durchziehen die Stadt, unsichtbar von einem Punkt zum nächsten. Freie Bahn für meinen Körper. Shopping Malls sind das Biotop und gated communities der Rückzugsbereich für die zerbrechlichen Körper. Frei von ungewünschten klimatischen Verhältnissen, unbehelligt von sozialen Randgruppen, können sie sich bedenkenlos bewegen, trocken, isoliert, sicher.


Für die Dinge des körperlichen Verfalls sind in unseren Städten Ghettos vorbereitet. Der körperliche Tod, die Kälte einer Leiche, wer hat sie je wahrhaftig verspürt? Der Tod erscheint nur mehr als bürokratische Instanz. Krankheit ist in Kliniken und Heimen gut verborgen. In der Welt der Kranken erscheint nur der unmittelbare Vertraute und die, die dafür bezahlt werden.


Was heute als „bewusstes“ Wahrnehmen unseres Körpers tituliert wird, ist ein Vorgang der Degradierung des menschlichen Körpers zu einer Funktionseinheit, zu einem leeren Objekt der Stimulans. Aufgehoben ist der Aspekt der körperlichen Präsenz. Die Kommunikation mit Fremden ist auf Funktionalistisches reduziert, Politisches wird ausgeblendet. Die Überbewertung der kognitiven gegenüber der sensualistischen Funktion, die Objektivierung des Menschen in Funktionseinheiten, Verstand (zur Lebensbewältigung) und Körper (zum Wohlbefinden), hat die Moderne perfektioniert. Der Funktionalismus bereitete dieser Auffassung den Weg und manifestierte ihn auf architektonische Weise in Wort und Tat: „Form follows function.“


Man darf nicht, wie so oft geschehen, versucht sein, der Architektur die Rolle des Auslösers dieser monadenartigen Introvertiertheit der Menschen zuzuschieben. Unsere Lebensvorstellungen gehen einer Architektur immer voraus. Mit anderen Worten, jede Gesellschaft hat die Architektur, die sie verdient. So muss auch hingenommen werden, dass der Versuch, durch Gestaltung von Stadträumen die Menschen zu ändern, immer scheitern wird. Eine „gelungene“ Stadt wird als solche nur empfunden werden, wenn sie vorbereitet ist auf kommende Bedürfnisse. Dazu sei hier Umberto Eco zitiert zur Aufgabe des Architekten: „Er (der Architekt) muß jedenfalls wissen, daß es seine Aufgabe ist, Bewegungen der Geschichte zu antizipieren und aufzugreifen, nicht sie in Gang zu setzen.“ (S.356) Die Geschichte lässt sich durch Architektur nicht in Gang setzen, sie kann nur bestmöglich vorbereitet sein. Vielleicht waren unsere Städte auf die jüngsten Entwicklungen unseres Menschseins weniger gut vorbereitet.


Vielleicht wären auch die folgenden Worte als Leitfaden hilfreicher: „Mens sanis in corpore sane.“ Man darf natürlich nicht versucht sein, es funktionalistisch, im Sinne von Ursache und Wirkung, zu deuten. Es macht keinen Sinn, die einseitige, notwendige Abhängigkeit zu behaupten. Das Training meines Bizeps hat nicht zwangläufig zur Folge, dass mein Gehirn sich entsprechend effektiv zeigt. Vielmehr lockt doch ein ganzheitliches Verständnis von Körper und Geist: Der Körper ist Wahrnehmungsorgan und Teil des Verstandes. So könnte man sagen, in einem wahrnehmenden (gesunden) Körper wohnt ein erkennender (gesunder) Geist.


Es bleibt die Frage, ob „die ‚Californisierung’ der europäischen Städte ein letztes Aufbegehren gegen die schleichende ‚Entkörperung’ ist.“


Eine wirkliche Entkörperung ist nicht denkbar, solange wir Menschen sind. Und die Städte als Teil unserer artifiziellen Umwelt sind Teil dieses Menschseins.


Wir empfanden die Veränderung unserer Städte im letzten Jahrhundert immer wieder als Entfremdung. Eine Zerrissenheit über diese unserer Stadtwahrnehmung ist spürbar und will behoben werden. Allein die Diskussion belegt, dass wir an einem Missverhältnis erkrankt sind. Ein Verhältnis, das es gilt, neu einzustellen.


Ob wir unsere sinnlichen Kokons durchbrechen oder perfektionieren, Unzulänglichkeiten zulassen oder einer Alltags-Welt der vollständigen Beherrschung bevorzugen, die Maximierung der Lust oder dem Ruf der Verletzlichkeit folgen, ein Leben in den Augen der Anderen, an einem reinen Gewissen oder einer perfekten Show fest machen wollen, klar ist, jede Tendenz wird über die Gestalt der Stadt entscheiden.


Aus einem falschen Körperverständnis resultieren viele Verhaltensweisen, die uns und auch unsere Umwelt schädigen und nicht zuletzt, auch die von uns selbst entworfene Welt, nämlich die Stadt, für uns unerträglich machen. Deshalb glaube ich, wenn wir die Identität unserer Städte wirklich suchen, werden wir unseren Körper mit seinen Sinnen finden.
 


 

Literatur

 

1)       Koolhaas, Rem, mutations, (ACTAR, 2001)

2)       Franck, Georg, Ökonomie der Aufmerksamkeit, (Carl Hanser, München Wien 1998)

3)       Becker, Frank/Reinhardt-Becker, Elke, Systemtheorie (Campus, Frankfurt/Main 2001)

4)       Süddeutsche Zeitung v. 21.06.2002, Feuilleton, Alexander Kissler

5)       Flusser, Vilém, Nachgeschichte, (Fischer, Frankfurt am Main, 1997) 

6)       Eco, Umberto, Einführung in die Semiotik, (Wilhelm Fink, München 1972)


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