Urban Bodies | ||
7. Jg. , Heft 1, (September 2002 ) |
___Michael Steigemann Bielefeld |
Das BZur Problematik der Körperlichkeit
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Der
Gestaltwechsel, den die Kunst im 19. Jahrhundert durchführt, stellt aus semiotischer
Sicht einen einzigartigen Vorgang dar. Es gilt unter den Künstlern, ein Gestaltproblem
zu lösen. Daher geht es hier um Erkenntnistätigkeit,
nicht um historische Abläufe, wenngleich das Ereignis einer Zeitfolge
unterliegt. Der Gestaltwechsel wird am Gegenstand des architektonischen Körpers
entfaltet und mit Erscheinungen der Malerei in Verbindung gebracht, da die
Malerei – selbst den Gestaltwechsel
vorantreibend – Einflüsse auf den Gestaltwechsel der Architektur hat. Zunächst
wird das Problem dargestellt, das die Krise heraufbeschwört. Vornehmste Aufmerksamkeit
wird dem Prozess selbst gewidmet. Abschließend wird der Weg bis in die Gegenwart
skizziert.
Die
Tektonik befasst sich mit dem Zusammensetzen der Bauteile zu einem Gefüge. Das
„tegere“ ist eine Tätigkeit, um „etwas“ oder
„jemanden“ zu bedecken, verhüllen, schützen, verbergen, verteidigen. Das Gefüge
der Bauteile umhüllt einen Raum, in dem sich „etwas“ oder „jemand“ befindet.
Aber die kritischen Raumprobleme sind die Übergänge zwischen
den Bereichen wie außen und innen oder zwischen den Raumelementen eines
komplexen Gefüges. Zunächst werden Bauwerke vorgestellt aus der Zeit vor
dem Gestaltwechsel, und zwar stellvertretend aus der Gotik und dem Barock.
Im religiösen System des Mittelalters hat jede Phase der Realität ihren festen Platz. Und dieser Platz ist gleichzeitig eine vollständige Wertbestimmung, die auf seiner größeren oder kleineren Entfernung von der causa prima basiert (Abb. 1). Es ist auffällig, dass die Gebäudekonzeptionen die Vertikale betonen. Die Gebäude haben schmale, hohe Volumina. Das Streben nach Höhe wird unterstützt durch das vertikale Linienspiel der Pfeiler und Öffnungen. Louis Grodecki erkennt darin die „typische Aufteilung der Innenräume bei den großen und kleinen, den sakralen und profanen Bauwerken. Die Rippen des Gewölbes ... setzen sich meistens an den Mauern oder Pfeilern entlang kontinuierlich bis zum Boden fort und bilden sichtbar voneinander getrennte Raumteile. Es entstehen Raumzellen, die in der Länge, Breite, Diagonale oder im Halbkreis einander zugeordnet sind“ (Grodecki 1976:14).Hans Jantzen spricht vom „Prinzip der Diaphanie“, welches sich manifestiert in der Auflösung der Wände. Bei Viollet-le-Duc, Marcel Aubert, Henri Focillon ist übereinstimmend der Begriff der Entmaterialisierung zu finden (Grodecki ebd.). Ziel ist die Maximierung der Leuchtkraft, um die Wirkung des Innenraums zu überirdischer Schönheit zu führen (vgl. auch Assunto 1963:178). Die hochaufgelöste, „selbstleuchtende Wand“ (Grodecki ebd.) ist das Ideal der gotischen Architektur. Sie repräsentiert die einströmende Gnade Gottes auf die Versammlung der Gläubigen, die sich innerhalb der Tektonik befinden.
Mit dem Entstehen des Humanismus jedoch kommt die Frage des freien Willens auf. Der Rekurs auf die Vorbilder antiker Gelehrsamkeit in den studia humanitatis intendiert ein Lebens-Ideal, das sich auf einer in sittlicher und geistiger Bildung vereinigenden Humanitas gründet, und ersetzt das absolute System des Mittelalters. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts tendiert die Erkenntnishaltung hin zu jener Modifikation, dass die Welt aus eindeutig bestimmten, existierenden Dingen besteht, während das Subjekt allein aktiv erscheint. Nicht die Aktivität Gottes, sondern die epistemische des Subjektes ist maßgeblich (siehe auch Bruno 1584/1922 (1):280). Für Otte ergibt sich die Vorstellung, „dass sich die neuzeitliche Wissenschaft aus internalistischen, platonischen Anfängen zu einem Denken hin entwickelt, das eher von externalistischen Epistemologien und kontingenten Anlässen beherrscht wird“ (Otte 2001:2). Der Sieg des Heliozentrismus geht einher mit der Hegemonie der Handelsbeziehungen im Leben der Nationen. Damit wird Licht in den Obskurantismus gebracht und der Mut entfacht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (Sutcliffe 1968:19, vgl. auch Cassirer 1922:491). Es ergibt sich eine neue Weltordnung der sozialen Relationen, die mit Ausdrücken wie „System“, „Zentralisierung“, „Ausdehnung“ und“ Bewegung“ denotiert werden können (Argan 1964:57) (Abb. 2). Diese kann man ebenso gut auf die Beschreibung der Barock-Architektur anwenden. Im Gebäude selbst sollen sich die Rangunterschiede manifestieren. Aus dem Zusammenwirken der beiden Motive des Ästhetischen mit der sozialen Differenzierung ergibt sich der „barocke Verband“ (Kaufmann 1933:14). „Wir verstehen so“, fasst Norberg-Schulz zusammen, „dass die zwei anscheinend widersprüchlichen Aspekte des Barock-Phänomens, Systematismus und Dynamismus, ein bedeutungsvolles Ganzes bilden. Die Notwendigkeit, zu einem absoluten und integrierten, aber offenen und dynamischen System zu gehören, ist die Grundhaltung des Barock-Zeitalters." (Norberg-Schulz 1975:10)
Bisher
wird ein Bild auf semantischer Ebene entfaltet. Die vorfindliche
Tektonik repräsentiert die Erkenntnisgegebenheiten ihrer Zeit. Die Behauptung
ist, dass die Tektonik den Raum umhüllt, sie selbst formuliert innen und außen notwendig und allgemein als disjunktive Proposition. Nun geht es darum, die Konsequenzen dieser
Hypothese zu verfolgen. Der Rekurs auf das Peircesche
Diagrammatisieren ergibt sich aus der
ikonischen Relation zwischen dem Peirceschen Begriff
des Diagramms und dem Begriff vom planenden Bauen. Peirce
vermerkt in MS 787: „Dazu konstruiert er [der Mathematiker] zuerst ein Diagramm,
das, soweit ich es mir vorstellen kann, in jedem Fall entweder ein geometrisches
Diagramm ist, das sich aus kontinuierlichen Linien zusammensetzt, oder aus
einer Anordnung von diskreten Objekten besteht, mit denen bestimmte ‘Regeln‘
verbunden sind, ähnlich einer algebraischen Formel. Über dieses Diagramm, ob es
nur vorgestellt ist oder auf dem Papier steht, hat der Mathematiker eine Verfügungsgewalt
...“ (Peirce, MS 787, 1897 / 2000:231). Die geläufigen
Diagramme des Tektonischen sind bekannt: Grundriss, Ansicht, Schnitt, ferner
die Rekonstruktion der Kraftlinien durch die Bögen und Pfeiler. Allgemein gilt: Ein Diagramm ist eine Relation zwischen zwei
Objekt-Repräsentationen, die auf Ähnlichkeit beruhen. Der Bauentwurf ist eine
Idee, genauer, die Idee manifestiert sich im Entwurf, niedergelegt auf dem
Blatt Papier. Otte beschreibt die Reichweite des
Begriffs vom Diagramm: „Unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie hat das
algebraische Polynom (x + y + z) mehr mit dem gleichseitigen Dreieck zu tun,
denn mit dem algebraischen Polynom (xy + z)“ (Otte 2001:9). Die Funktion des Diagramms kann nach Hoffmann
„in erster Linie darin gesehen werden, dass [das Diagramm] einen Gegenstand außerhalb
unserer selbst zur Verfügung stellt, an dem erstens implizites Wissen explizit
werden kann, an dem es zweitens möglich wird, Wissen vom Allgemeinen wie die
Regeln des Darstellungssystems ‘sehen‘ zu können, und der drittens unabdingbar
ist, um eben als solcher ‘Kristallisationspunkt‘ verschiedener Wissensformen
diese untereinander zu vermitteln. Der Kernpunkt diagrammatischen Schließens
ist die Tätigkeit an solchen gegenständlichen Repräsentationen von Wissen. Denn
deren ‘Realitäten zwingen uns‘, wie Peirce einmal
sagt, zur Theoriebildung. Dieser ‘Zwang‘ resultiert aus den Regeln des Darstellungssystems;
aber dieser Zwang muss wahrgenommen werden können, was einen kreativen
Beobachter voraussetzt“ (Hoffmann 2001:244). Das Notwendige der disjunktiven Proposition, wie es
die mittelalterliche und barocke Tektonik formuliert, ergibt sich aus der
Konstruktion. Denn stets ist die Grenzschicht zugleich die statisch tragende
Schicht. Und an dieser Stelle betreten wir den architektonischen Körper oder
verlassen ihn. Das gilt auch für scheinbar unbestimmte Fälle wie den Säulengang
oder die Loggia. Die Säulenreihe, wie groß das Öffnungsmaß auch sei, ist das
Abbild der Kraftlinien, die sich auf der gemeinsamen Schwelle vereinigen. Das
Allgemeine der Proposition ergibt sich aus dem
Material. Denn außer Stein und Holz gab es im Wesentlichen keine anderen Mittel,
um architektonischen Raum herzustellen.
Im
19. Jahrhundert häufen sich die Anomalien des Stils und der Funktionen. Überall
treten Lösungen von Bauaufgaben in Erscheinung, deren Körperlichkeit in irgendwelchen
Neo-Stilen vorgestellt werden. Der Historismus macht „geschichtliche
Überlieferung in idealer Gleichzeitigkeit disponibel“ (Habermas
1982). Denn je gewissenhafter Architekten versuchen, die Stile nachzuahmen,
desto weniger eignen sich ihre Entwürfe für den praktischen Zweck, für den sie
bestimmt waren. „Auch ein stilreiner romanischer Bahnhof ist ein Monstrum“,
meint Gombrich ([16] 1996:499). Das Perpetuieren des
Vergangenen äußert sich in den sublimen Malstudien der Antike in den Sälen der
Akademien und in den Musterbüchern der Stile in den Händen der Architekten. Das
heißt, es gab keine Erkenntnisentwicklung. Die Krise der Kunst im 19. Jahrhundert
findet indes ihren Ausweg über veränderte Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis. Gombrichs Modell des Übergangs von der
traditionellen Anwendung zu einer subjektiven Analyse der Kunst selbst
vermittelt explizit den Gestaltwandel:
„Vielleicht kommt das Manchem wie ein Paradox vor. Man hört oft sagen,
dass die Kunst ihrem Wesen nach Ausdruck ist, und bis zu einem gewissen Grad
mag das auch richtig sein. Aber die Sache ist doch nicht so einfach. Es
versteht sich beinahe von selbst, dass ein ägyptischer Künstler nicht viel Gelegenheit
hatte, seine Persönlichkeit auszudrücken. Die Regeln und Überlieferungen seines
Stils waren so stark, dass ihm selbst nur wenig Spielraum blieb, und dass nur
ganz wenig seiner Entscheidung ihm überlassen war.“ (Gombrich
[16] 1996:502). Das heißt, jeder hatte seine Position in der Gesellschaft, und
damit war auch seine Aktivität definiert, doch diese wird jetzt zunehmend offen
und unbestimmt. Gombrich an gleicher Stelle: „Darauf kommt es gerade an: Ohne Entscheidungsmöglichkeiten
kann es auch keinen Ausdruck geben“. Und an anderer Stelle: „Cézanne sehnte sich nach einer Kunst, in der
etwas von dieser stillen Größe lebte. Er glaubte aber nicht, dass dies noch
immer mit den Mitteln Poussins erreichbar war. Schließlich
hatten die alten Meister ihre Ausgewogenheit und Klarheit auf Kosten der
Wirklichkeitsnähe erreicht. Poussins Bilder sind
genau genommen aus Motiven komponiert, die er dem Studium antiker Plastiken
verdankt. Selbst den Eindruck von Raum und Solidität erreichten die alten
Meister eher durch die Anwendung erlernter Regeln als dadurch, die Dinge
wirklich anzuschauen. Cézanne teilte die Meinung seiner Freunde unter den
Impressionisten, dass diese Methoden der akademischen Kunst der Natur zuwider liefen.“
(Gombrich [16] 1996:395; vgl. auch: Argan 1977:24, Giedion [5] 1996:280).
Die Änderungen äußern sich gesellschaftlich, wissenschaftlich und in Folge
dessen technisch. Im Ergebnis wird die handwerkliche Grundlage der Baukunst
abgelöst durch industrielle Produktionsweisen, die nun mit Halbzeug und
Fertigteilen völlig andere Konstruktionsmethoden eröffnen: Es geht der Weg vom integrierten Gefüge zum additiven Gefüge. Auch in der zweidimensionalen Abbildung
der Wirklichkeit setzt mit dem Aufkommen der Photographie das industrielle Moment
ein: Die Photographie ist etwas
Technisches, ihr haftet das Industrielle an, denn Serie und Menge sind der
Stahlproduktion vom Prinzip her ähnlich.
Das erkenntnistheoretische Nachzeichnen des Ausbruchs aus der Zirkularität, die den alten Institutionen noch anhaftet, gelingt über Diagrammatisierung. „Die Entwicklung von Wissen und Erkenntnis“, bemerkt Hoffmann, „ist nicht ohne vorangehendes, in irgendeiner Weise repräsentiertes und damit explizites Wissen denkbar, aber die eigentliche Kreativität scheint damit nicht erklärbar zu sein.“ (Hoffmann 2002:14). Repräsentation und die Tätigkeit, die mit Repräsentation vorgenommen wird, sind nun das Experimentieren, Konstruieren, Interpretieren. Das Experiment lautet, nicht mehr die Dinge darstellen zu wollen, wie man sie sieht und bisher gesehen hat (Gombrich [16] 1996:573; vgl. auch Argan, ibid, dagegen Hamann 1959:879), nicht Nachahmung, sondern Konstruktion ist die Tätigkeit, denn die Nachahmung enthält als Diagramm die Konstruktion, und nun steht das Diagramm im Interesse der Erkenntnistätigkeit. Die Künstler interpretieren ihre Explikationen, indem sie implizites Wissen dagegen halten, und irgendwann führt diese Tätigkeit zu einer neuen Idee: Am Diagramm also entfaltet sich die Idee. Über ein Diagrammatisieren ist es möglich, sich der Lösung des Formproblems, auf die es den Künstlern ankommt, zu nähern (Rudenstine 1994:39f, 140f) (Abb. 3, 4, 5).
Abb. 3. Mondrian. Studie von Bäumen II, 1913. Grundlage für Tableau No. 2, 1913. |
Abb. 4. Mondrian. Tableau No. 2. Composition No. VII, 1913. |
Abb. 5. Mondrian. Composition No. IV. Compositie 6, 1914. |
Dieser Vorgang von Wahrnehmung und Tätigkeit führt bei Mondrian zu Konstruktionen, denen die Regeln des rechten Winkels zu Grunde liegen (Rudenstine 1994:169). Ihm geht es um den „gestalteten Ausdruck der Verhältnisse ... Die neue Gestaltung bringt ihre Verhältnisse in ästhetisches Gleichgewicht und bildet dadurch die neue Harmonie“ (Mondrian 1925 / 1974:11). Der Sprung zu Scheibe und Platte gelingt über Vermittlung (vgl. dazu: Norberg-Schulz 1965:174) (Abb. 6, 7):
Abb. 6. Mondrian. Compositie 10 in zwart wit. (Komposition in Schwarz-Weiß); Pier und Ozean, 1915. |
Abb. 7. Theo van
Doesburg und Cor van Eesteren. Studien für ein Wohnhaus, 1923. |
Der Plan, die Skizze gibt mir die Möglichkeit des Vergleichs mit dem impliziten Bild. Ich sehe den rechten Winkel und male auf ein Blatt Papier ein Bild, bestehend aus rechten Winkeln, und nun bin ich in der Lage, ein räumliches Modell aus rechten Winkeln zu konstruieren, und da ich keine Grenzen kenne, werden Innen und Außen unscharf. Mit seinem „Neoplatizismus“ hebt Mondrian hervor, dass die neue „architektonische Gestaltung trotz ihrer augenscheinlichen Form weder bestimmt noch endlich [ist], ebenso wenig wie in der neuen Gestaltung der Malerei die Komposition von rechteckigen farbigen Flächen es ist“ (Mondrian 1925/1974:12, so auch: Vriend 1963:260, Droste 1991:19). Theoriebeladen bin ich überdies in der Lage, Scheibe und Platte, in Kenntnis der Stahlbetonplatte zum Beispiel eines Robert Maillart (Giedion [5] 1996:290, 293, siehe auch Varaldo 1963:255) nun auf die Konstruktion einer Tektonik anzuwenden, deren Ergebnis sich der Definition von Körper und Raum entzieht (siehe Vriend 1963:214) (Abb. 8). Daher ist es möglich, den Boden, die Wandscheiben, die Deckenplatten in jeweils unterschiedliche Richtungen zu ziehen und mit jedem Ziehen ein Umdeuten von innen und außen einzufordern (Bauhaus-Archiv 1986:12f, Jordy 1963:170, Mies van der Rohe 1986:47) (Abb. 9). Die Moderne fand ihre Identität, indem sie das Erbe zurückwies und eine radikale Neuinterpretation der Raumauffassung evozierte. Das Band, das die Menschen an Schicht und Stand fesselte, wurde abgestreift. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine ästhetizistische Auffassung der Kunst. Das Erscheinen der dezentrierten, sich selbst erfahrenden Subjektivität, das Ablegen des Gegenständlichen konnte als Bewusstsein hervortreten. Das Prinzip des „Selbstseins ihres Erzeugnisses“ bedeutet für die Architektur und ihren Raum, den sie erzeugt, die „Identität mit sich selbst“ (Adorno 1973:14). Die klassischen Grenzen der konstruktiven Lösungen von Hüllen für Räume wurden gesprengt, es kam zu einer „Entkörperung“, weil das Prinzip eben das „tegere“ entließ (Abb. 10). Der Raum wurde allgemein dadurch, dass er unbestimmt wurde. Es geht um Raum, nicht um Transparenz. Die Glasscheibe stellt ein Manko im Augenblick der Realisierung der Raumauffassung dar. Denn wir bedürfen des Klimaschutzes. Die Hypothese von Rowe / Slutzky der „phenomenal transparency“ (Eisenman 1998:78; Mertins 1998:110) ist für die Erörterung des Konzeptes der Moderne als problematisch anzusehen.
Eine
Bedingung der Möglichkeit von Tektonik auf der Erde ist die Schwerkraft. Die
bisherigen Diagramme berücksichtigen diese Bedingung. Scheibe und Platte ermöglichen
eine Bewegung, die stets senkrecht zum Beschleunigungs-Vektor verläuft. Das heißt,
dass die Verallgemeinerung von Raum in die Vektoren-Richtung „Ebene“ im Prinzip
gelöst ist. Eine Erkenntnisentwicklung, deren Ziel eine weitere
Verallgemeinerung der Raumauffassung ist, hat diese Bedingung zur Grundlage zu
nehmen. Orthogonalität in Relation zur Gravitation
ist ebenfalls eine disjunktive Proposition.
Allerdings lässt sich jede Abweichung vektoriell
aufspalten in eine vertikale und eine horizontale Komponente, die der
Mathematik der Statik immanent ist. Der nächste Schritt hin zu einer Verallgemeinerung
in der Raumauffassung ist daher das Aufheben der Vertikalen und Horizontalen.
Das Verlassen der Vertikalen bei Zaha Hadid hat seinen Ursprung bei den russischen
Konstruktivisten und kann sich realisieren unter der Voraussetzung der modernen
Baustoffe (Malewitsch 1915/1962:125, Jencks 1988:34)
(Abb. 11). Das Verlassen der Horizontalen
entfaltet etwa zur gleichen Zeit Rem Koolhaas mit dem Prinzip vom „gefalteten
Boden“. Bart Lootsma beschreibt das Prinzip am
Beispiel des Entwurfs für die Bibliothek der Jussieu-Universität
in Paris (Abb. 12): „Er besteht aus einer mehrfach gefalteten,
kontinuierlichen Bodenfläche. Wände gibt es nicht, und die Fassade ist nur
provisorisch gestaltet. Dadurch entsteht die Möglichkeit, die Böden flexibel je
nach Bedarf und ohne Vorgaben zu ergänzen.“ (Lootsma
2002:177, 179). Die sinnliche Wahrnehmung „... lässt sich am besten mit dem
Gefühl vergleichen, das man bei der Bewegung durch den virtuellen Raum des
Computers [hat, nämlich] das Bewusstsein, dass sich der Raum nicht nur nach
links und rechts, nach vorn und hinten [frei] ausbreitet, sondern genau so nach
oben und unten“ (ibid).
Abb. 11. Hadid. Clubhaus "The Peak", Hongkong, 1983, 1. Preis. Zwei verschiedene Perspektiven |
Abb. 12. Koolhaas. Bibliothek der Jussieu-Universität, Paris, 1992, 1. Preis.
Die
entscheidende Leistung des Erkenntnismodells „Diagramm“ liegt meines Erachtens
darin, dass die Ähnlichkeitsbeziehungen der unterschiedlichsten
Repräsentationen zurückgeführt werden können auf die Idee der abstrakten
Konstruktion.
Für Adorno „ist [die Konstruktion] die heute einzig mögliche Gestalt des
rationalen Moments im Kunstwerk“ (Adorno 1973:91). Das abstrakte Moment in den
Werken der Künstler war externalisierte Idee, jedoch
nicht urplötzlich und aus dem Nichts. In unzähligen Schritten haben sich die
Künstler von der Körperlichkeit der Naturdarstellung gelöst. Es gelang über die
„Kristallisation“ der dem Bildaufbau und der Solidität immanenten Konstruktion.
Das Diagramm als vermittelndes
Zeichen auf dem Blatt Papier hebt „aus den unteren Tiefen des Bewusstseins
ähnliche Ideen“ (Peirce, ibid) als Möglichkeit zur
Einsicht herauf.
Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am
Main, 1973
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