Zur Sprache
bringen Eine Kritik der Architekturkritik |
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7. Jg. , Heft 2 (Januar 2003) |
___Jörn
Köppler Graz |
Die geistige Statik des Bauens |
Einleitung
Im Sommer 1937 ließ Frank Lloyd Wright in
einem Belastungstest die Tragfähigkeit seiner für das Johnson Wax Administration Building
entworfenen Pilzstützen der – durch Freibier – belustigten Öffentlichkeit wie
auch den Zweiflern der Genehmigungsbehörde in Wisconsin vor Augen führen. Diese
wollten der eleganten und ungekannten Konstruktion eine maximale Tragfähigkeit
von 5 Tonnen zugestehen, – am Ende des Tages jedoch und bei inzwischen 60 durch
Sandsäcke erzeugten Tonnen Gewicht behauptete, zur Freude des streitbaren
Architekten, seine in Beton gegossene Idee nach wie vor ihren Zweck (s. Bild).
Angenommen, man übertrüge diesen eingängigen wie auch lustigen physischen
Tragfähigkeitsnachweis des Entworfenen auf einen gleichsam geistigen
Tragfähigkeitsnachweis, eine vorgestellte intellektuelle Statik eines Gebäudes:
Was wäre in diesem Falle die widerstehende Stütze, was der belastende Sand?
Wäre nicht das langsame Auftürmen der Last der sich von Frage zu einer Antwort
und zu erneuten Fragen in die Tiefe vortastenden Reflexion des Gebauten
vergleichbar, insofern der Punkt des Bruches, des nicht mehr weiter Tragens,
der Ort, bis an den man fragen, d. h. denken kann?
In der Philosophie wird, aus verschiedenen
Richtungen kommend, diese Grenze des Denkens immer wieder aufgesucht und als
maßgebliche (da nicht mehr weiter verschiebbare) benannt; für Aristoteles hieß
sie der unbewegte “erste Beweger”, für Kant die
Achtung des Wesens, welches das Vermögen in uns legte, etwas “ohne Furcht zu beurteilen”.
Ob dieser maßvolle Grenzpunkt auch für ein architektonisches Denken von
Interesse wäre, lässt sich aus der aktuellen Debatte um die Architektur nicht
ablesen. Das vor Jahren gelesene Bonmot eines Berliner Journalisten, der
sinngemäß “nicht jede Neuerfindung des Kipp- Drehflügels als
Architekturrevolution” akzeptieren will, mag die etwas muffige Harmlosigkeit
der zeitgenössischen Architekturkritik beschreiben. Kehrt man an dieser Stelle
zum Bild der belasteten Wrightschen Stütze zurück, mag der Zustand der heutigen
Kritik eher Hilfsstütze, denn Belastungsprobe sein: als zweifelhafte
Unterstützung eines vielleicht längst bruchreifen,
geistigen Zustandes der Architektur, in dem das Fragen nach ihrer Voraussetzung
dem rätselhaften Lobzwang der Kritiker wie dem selbigen der Architekten selbst
gewichen ist.
Erprobung und
Trennung
Wie aber wäre dieser instabile Zustand in
einen wieder haltbaren zu verwandeln?
Indem die Architektur und ihre Kritik sich
auch und vermehrt wieder den Fragen des “Warum?” und nicht allein des “Wie?”
stellt und diese in ihr eigenes Handeln reflektiert. Warum das?
Zum einen wird, denkt man dieser These
nach, in der Unterscheidung des deutenden und des beschreibenden Fragens
eigentlich nur einmal mehr die besondere Stellung der Architektur zwischen den
Disziplinen der Künste und Wissenschaften, zwischen dem Reich der Ideen und der
Erfahrung, des schöpfenden und empirischen Prinzips angesprochen. Fragen der
rein physischen Statik, der ökonomischen Wirtschaftlichkeit, der materiellen
Angemessenheit lassen sich so sicher eher durch ein “Wie ist es gemacht?”
diskutieren, obschon diese beispielhaft herausgegriffenen Aspekte eine
Bauwerkes zugleich in die Sphäre seines ideenhaften
Charakters hinüberreichen und in leichter Verwandlung Gegenstand des “Warum ist
es so gemacht?”-Fragens werden: als ästhetisches Bild
einer physischen Statik (man denke an Carl Boettichers Überlegungen zur Kunst-
und Kernform), als schöpfende Wirtschaftlichkeit (im Sinne eines Kunst =
Kapital Gedankens von Joseph Beuys) und mimetische Angemessenheit (Wiedererkennbarkeit) des errichteten Werkes. Kritik und
Denken der Architektur, das eine wie das andere, müssten also, wollen sie die
Wesenhaftigkeit der Baukunst als Ganzes berühren, beide genannten Sphären kennen,
in bestem Fall die jeweilige Relevanz des zu Entwerfenden in Bezug auf beide
erkennen.
Zum anderen ist die geforderte
Ausgewogenheit einer Architekturkritik in Bezug auf beschreibende und deutende
Fragen im griechischen Wortsinn der Kritik selbst enthalten, als dass die diakrisiV eben soviel wie “durch Erprobung”, zu
gleicher Zeit aber auch “durch Trennung” oder “durch Scheidung” heißt. Wie
bereits gesagt, wäre den Wie-Fragen des Gebauten ein vorrangig empirischer, in
diesem Zusammenhang also erprobender Charakter zuzuschreiben. Diesem Fragen ist
zu Eigen, dass es prinzipiell endlos ist und nicht, wie in der Einleitung
beschrieben, einen Punkt erreicht, bis an den man fragen kann, der dann
wiederum ein Standpunkt der Kritik wie der Architektur selbst werden kann. Man
könnte das Fragen nach dem “Wie ist es gemacht?” auch als horizontales Fragen
bezeichnen, das von A zu B zu C zu D usf. geht, so z.B.: “Das Haus ist
ornamentiert. - In welcher Art? - Das Ornament besteht aus gefrästem Sandstein.
- Welchem Sandstein? - Dieser kommt aus dem unteren Elbtal und hat eine
gelbliche Färbung. - Welcher Art sind die Ornamente? - Sie zeigen florale Motive, deren Herkommen an den Jugendstil erinnert.
- usw.” Das Fragen aber nach dem “Warum ist es so gemacht?” könnte man demgegenüber
als vertikales Fragen bezeichnen, dessen Charakter eben das Trennende,
Scheidende insofern ist, indem es schon bei A innehält und in dieses A
hineinfragt: “Das Haus ist ornamentiert. - Warum? - Weil es so dem Wunsch nach
Verhüllung der rein technisch-konstruktiven Zweckform folgt. - Warum soll das
so sein? - Weil damit dem reinen Zweck das Zweckfreie hinzugestellt ist. -
Warum das? - Um den Gedanken der Schönheit in das Werk zu schaffen. - Wozu
Schönheit? - Als Verräumlichung eines Wesenszuges des
Menschen. - Was ist dieser Wesenszug? - Der, mit Adorno gesprochene, in Form
der Kunst geäußerte, unbeirrte Protest gegen die Herrschaft der Zwecke über den
Menschen. - Warum dieser Wesenszug?” - An dieser Stelle sind wir tatsächlich,
mit nur 6 Fragen, an den Punkt gekommen, an dem wir nicht mehr weiterfragen
können, sondern weiterdenken müssen, endet doch hier - nach Kant - das Reich
des Empirischen, welches der Verstand zu erkennen in der Lage ist und setzt das Reich der Ideen an, dessen Organon die reflektierende und transzendierende
Vernunft ist. Zugleich sehen wir einen weiteren Charakterzug des sinnhaften, grundhaften Fragens,
dass dieses nämlich zu Fragen nach dem Leben selbst führt, die sich wiederum,
das sei jedoch hier nur am Rande angemerkt, nach Immanuel Kant zu drei
“kanonischen Fragen der reinen Vernunft” zusammenfassen lassen: “Was kann ich
wissen?”, “Was soll ich tun?”, “Was darf ich hoffen?”. Auf glückliche Weise
trifft sich dieser Charakter deutender
Kritik mit den Worten Mies van der Rohes, der von genau diesem festen und nicht
weiter hinterfragbaren Punkt ausgehend, seiner Architektur ein Maß, eine
geistige Statik zu verleihen gedachte: “Alles Wie wird getragen von einem
Was. (...) Wir werten nicht das Resultat, sondern den Ansatz des
Gestaltungsprozesses. Gerade dieser zeigt, ob vom Leben her die Form gefunden
wurde oder um ihrer selbst willen. Deshalb ist mir der Gestaltungsprozess so
wesentlich. Das Leben ist uns das Entscheidende.” (Mies van der Rohe: Über
die Form in der Architektur. 1927)
Horizontales und vertikales Fragen nun in
die Waage zu bringen, wäre das also die Perspektive einer guten, d.h. einer das
Bauen geistig stabilisierenden Kritik?
Die Zweite Moderne
zum Beispiel
Vielleicht. Was zumindest geschieht, wenn
dieses gedachte Idealverhältnis aus dem Gleichgewicht kommt und, wie in der
gegenwärtigen Architekturkritik und Architektur selbst, mächtig auf Seite des
rein empirischen Fragens hinkt, möchte ich an folgendem Beispiel
veranschaulichen und präzisieren.
Man betrachte dazu die Tendenz der Rückkehr
zum Formenvokabular und den ästhetischen Prinzipien der Klassischen Moderne im
zeitgenössischen Bauen, welche als Nachfolger der Postmoderne die Bezeichnung
“Zweite Moderne” erfahren hat. Inmitten unseres Studiums vollzog sich dieser,
nennen wir es vorerst Stilwechsel, in der
Architektenszene. Um 1992 kamen die ersten Hefte vor allem neuer Schweizer
Architektur - z.B. von Herzog & de Meuron,
Burkhalter und Sumi, Meili und Peter usf. - in die Zeichensäle, und es waren die
Assistenten unseres damaligen Professors Bernd Jansen, selbst ein erfolgreicher
Architekt der Postmoderne im Büro BJSS, die diese neue Haltung auf den
Zeichentischen platzierten. Unschuldig wie wir am Beginn unseres Studiums
waren, sprachen wir gerne den jüngeren Architekten die größere Kompetenz für
das in jedem Fall aufregende Neue zu, als dem Professor, der doch allein seinem
Alter nach für das Gestern, IBA-Berlin, 80er Jahre
etc. stand. So blätterten wir also selig in den Publikationen und übertrugen
treuherzig das Gesehene in unsere Pläne. Die Postmoderne, das war common sense, die
war vorbei und wir alle waren an dem Projekt der Neuorientierung der
Architektur beteiligt. Heute ahne ich, was eine eigene Betrachtung wert wäre,
dass die Behauptung des Endes der Postmoderne nicht viel mehr war und ist, als
der Versuch einer Generation sich von der vorhergehenden, sehr erfolgreichen,
abzusetzen und ein eigenes Signet ihrer Architektur am Markt des Bauens
durchzusetzen. Am offensichtlichsten geht das natürlich über die Form, und es
muss einigen Denkern der postmodernen Architektur kalt den Rücken herunter
gelaufen sein, als plötzlich wieder Bauten im Stile von Pruitt-Igoe,
St. Louis, in der Landschaft auftauchten, die erst einige Jahre vorher mit
gutem Recht wenn nicht gesprengt, dann doch als unwirtlich, menschenverachtend
und Irrweg moderner Architektur kritisiert wurden. Provokation aber war schon
immer der Königsweg zum Interesse der Medien und auch diesmal schnappte die
Mechanik aus Behauptung, Provokation, Diskussion, Rezeption und schließlicher Eroberung der Steuerruder zeitgenössischen
Bauens zu. Heute sehen wir die Zweite Moderne allerorten akzeptiert,
publiziert, gebaut und vor allem: geglaubt. Was wir aber damals nicht zu fragen
dachten, ist der inhaltliche und eben nicht machtpolitische Grund der
vermeintlich nötigen Neudefinition moderner Architektur. Sprich, in obigem
Sinne: Warum das Ganze? Lassen wir die Frage des Wie der Architektur der
Zweiten Moderne an dieser Stelle einmal beiseite, als Fußnote denke man sich
hier den Verweis auf diverse Kilotonnen Papier
aktueller Architekturmagazine, und halten Ausschau nach dem Warum der erneuten
Anwendung der Prinzipien klassisch moderner Architektur, den Prinzipien also
der Abstraktion, des technischen Ausdrucks bzw. der technischen Allegorie sowie
der mathematisch-geometrischen Verstandesform bzw. Verstandessymbolik (wobei
anzumerken wäre, dass die Rezeption des letzteren durch den Dekonstruktivismus
und die neue Organik der “bubbles
+ blobs” mittels einer plakativen Un-Verstandesform
geschieht, die aber in solch oppositioneller Abhängigkeit selbst nur eine
weitere Verstandesform ist).
Eine Hilfe bei dieser Suche ist von
Denkern, Kritikern und Architekten der Zweiten Moderne eher nicht zu erhoffen,
ist doch eine argumentative Begründung dieses Stiles kaum geleistet. Sehr dünn
ist die Bibliographie programmatischer Schriften zur gedanklichen Grundlage
einer Zweiten Moderne in der Architektur. Natürlich ist Heinrich Klotz in
diesem Zusammenhang zu nennen, dem die Ehre zukommt, als vielleicht einziger
eine solche Definition in explizitem Bezug zum Bauen gewagt zu haben.
Wenngleich auch dieser Versuch scheitert, ist den Beiträgen seiner 1996
publizierten Anthologie “Die Zweite Moderne: Eine Diagnose der Kunst der
Gegenwart” doch nicht viel mehr zu entnehmen, als dass die Zweite Moderne die
neuen Technologien, insbesondere die der Medien, reflektiere und die Zweite
Moderne die Katastrophen und Irrungen der ersten Moderne in sich aufzunehmen
und zu korrigieren habe (was der postmodernen Architektur offensichtlich nicht
zugetraut wird). Wie das alles im Bauen geschehen soll und wie ein Wie mit dem
ungesagten Warum, also der geistigen Begründung einer weiteren Moderne,
zusammenkäme, darüber schweigt sich dieses Buch aus. Dazu: Warum diese
Postulate sich gerade in den erwähnten wiederangewandten,
ästhetischen Prinzipien der Klassischen Moderne wiederfinden
sollen, auch hier keine Antwort, weshalb eine eigene Reflexion des scheinbar
Unreflektierten nahe liegt.
Fragt man aber nach dem Warum der Renaissance des in etwa schon
80 Jahre alten Formenvokabulars, muss man zuerst verstehen, wofür dieses selbst
stand, um beurteilen zu können, ob das wiederholte Sprechen dieser Sprache in
begründeter und damit noch sinnvoller Weise geschieht. Und zwar nicht allein in
Bezug auf die Forderungen, die der Klotzschen Anthologie zu entnehmen sind,
sondern in ganz genereller Bedeutung: Ob diese Sprache von unserem Leben im
Jahr 2002 erzählt.
Betrachtet man nun das Herkommen der
Prinzipien der Abstraktion, der technischen Allegorie und der
mathematisch-geometrischen Verstandessymbolik, so ist zu bemerken, dass all
diesen ein Seinsverständnis zugrunde liegt, welches man mit Friedrich Schiller
gesprochen als “physische Kultur” bezeichnen könnte. Was heißt das? Im
Gegensatz zu der von ihm in seinem Aufsatz “Über das Erhabene” ebenfalls
beschriebenen “moralischen Kultur”, stellt jene der im 18. Jahrhundert neu
erfahrenen, sinnlich-sinnlosen – da nicht mehr durch einen Gott vermittelten –
Macht der Natur über den Menschen eine sinnlich-physische Gegenmacht, die
Technik, entgegen. Diese physische Kultur jedoch, die sich seit etwa Mitte des
19. Jahrhundert als Weg der Aufklärung, und nach Jürgen Habermas
damit auch als gewählter Weg der Moderne durchsetzte, führte dann zu der
verhängnisvollen Verstrickung zwischen Natur, Technik und Mensch, die von
Theodor Adorno und Max Horkheimer im Eindruck der
Zivilisationsbrüche des 2. Weltkrieges in der “Dialektik der Aufklärung”
kritisiert wurde: In der allseitigen Einsetzung der Technik in unser Leben
vollziehe sich nämlich nur eine doppelte Abhängigkeit und mitnichten die
Freiheit des Menschen von der physischen Natur, insofern die Technik nichts als
die Naturgesetze selbst widerspiegelt, deren die physische Kultur doch
entrinnen wollte. In der Verankerung der Technik in der modernen Gesellschaft,
als Hüter der allein physischen Unversehrtheit des Menschen, wird diese nun
noch einmal bedroht. Wir müssen also nicht mehr nur sterben, sondern uns auch
noch dem Joch und den Gesetzen der Maschinen beugen, die dieses Sterben
verhindern sollen, - müssen diese doch, ihrer Aufgabe entsprechend,
ununterbrochen laufen. Das Bild des bei dem Versuch der Reparatur einer
gigantischen Maschine zwischen die Zahnräder geratenen Charlie Chaplin in dem
Film “Modern Times” mag diese These besser als alle Worte beschreiben. So
schlecht sich also der eigentliche Zweck der physischen Kultur erfüllt, kommt
ihr ein weiteres Manko zu, indem sie in ihrer Technikfixiertheit die andere
Seite unseres Seins unterschlägt, unser eben auch geistiges, mit Schillers
Worten: moralisches Wesen. Dieses blieb logischerweise, da unbedacht,
unbeschützt gegen die Einwirkungen einer (scheinbar) willkürlich wirkenden
Natur. Man könnte sagen, das Geistige blieb unbehaust, was von Martin Heidegger
in seinem Essay “Bauen Wohnen Denken” auch als eigentliche “Wohnungsnot”
beschrieben ist. Diese Form von Obdachlosigkeit war und ist aber mitnichten
eine Zwangsläufigkeit des Projektes der Moderne, steht doch der Gegenentwurf
einer geistig-moralischen Kultur im Raum des Denkens. Von der Analytik des
Erhabenen der Kritik der Urteilskraft ausgehend, beschreibt Immanuel Kant deren
Charakter in dem berühmten Zitat des “Bürgers zweier Welten”, indem er dem
Moment des Aufscheinens der sinnlichen Übermacht der Natur über den Menschen
(im Angesicht des grenzenlos erscheinenden, bestirnten Himmels über ihm) eine
geistige Qualität insofern beilegt, als dass dieser Moment uns zur Erkenntnis
unseres der rein physischen Natur unähnlichen Wesens, dem moralischen also,
herausfordert (das moralische Gesetz in uns). Die sinnliche Bedrohung der
eigenen Existenz wird also auch in einer geistigen Kultur zum Ausgangspunkt
widerstehenden Denkens, mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass dieses
nicht gegen die Natur gerichtet ist, sondern vielmehr durch die Natur überhaupt
erst zu sich und damit zu eigenem, freien Handeln kommt. “Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit” wäre also der nicht nur historische Wahlspruch geistiger
Kultur, im Gegensatz zum denkbaren “Gesundheit, Sattheit und Körperlichkeit”
der physischen, dessen Klang im berühmten “Licht, Luft und Sonne” - Slogan
moderner Architektur hörbar mitschwingt.
Dass beides schließlich zusammenkomme,
liegt auf wünschenswerter Hand, woraus folgt, dass der Weg der einseitigen
Ausrichtung der Moderne auf eine rein physisch verstandene Kultur nicht einfach
unbefragt weitergegangen werden darf. Die Prinzipien der Abstraktion aber, des
technischen Ausdrucks, der geometrisch-mathematischen Verstandessymbolik sind,
architektonisch begriffen, geradezu paradigmatische Verräumlichungen
dieser den Menschen nur materialhaft begreifenden
Kultur. Und als solche wurden sie in der Architektur der Klassischen Moderne ja
auch gedacht und gebaut, Le Corbusiers Maschinenmystik sei dafür nur
stellvertretend genannt. Zwar zielte, so auch bei Le Corbusier, diese gleichsame Architektonik physischer Kultur bei vielen
modernen Architekten auch auf eine – jedoch später zu leistende –
In-Werksetzung des geistigen, also moralischen Wesens des Menschen, mit dem
gewählten Mittel des von dem nur die physisch-materielle Welt erkennenden
Verstand (s. o.) konstruierten, vor allem technischen Heims geriet das Bauen
aber geradewegs in die gleiche, beschriebene Verstrickung der doppelten
Abhängigkeit statt Freiheit des Menschen von der Natur. Chaplins Desaster wurde
gewissermaßen zum Grundriss des Neuen Bauens, sein hoffnungsloser Versuch, mit
dem Schraubenschlüssel die selbst gebaute, monströse Falle zu richten zum
Sinnbild des modernen Architekten.
Vor diesem Hintergrund nun zurück zur
gestellten Frage nach der Sinnhaftigkeit einer
Renaissance klassisch-moderner Formensprache in der Architektur der Zweiten
Moderne, deren Beantwortung jetzt etwas leichter fallen mag:
1. Wenn wir den Weg einer rein physisch aufgefassten Kultur immer noch für den
richtigen Weg des Projektes der Moderne halten, dann sei die architektonische
Sprache der klassischen Moderne auch weiter die richtige, einfach weil sie in
der Sprache von Körper und Raum ja genau diese realisiert. Solch eine, wie
gesagt sehr fragwürdige Wiederholung des Gleichen sollte jedoch auch so benannt
und zur Diskussion gestellt sein und nicht als neue, geistig geläuterte Haltung
einer Zweiten Moderne verklärt werden.
2. Wenn wir diesen Weg für den nicht mehr
ausschließlich richtigen halten und eine Korrektur zugunsten des geistigen
Anteils an der Kultur der Moderne wollen, müssen wir auch die architektonische
Sprache in diesem Punkt korrigieren. Dann erst könnte tatsächlich von einer
Zweiten Moderne, einer korrigierten Moderne gesprochen werden, die ihr
architektonisches Handeln in einer Reflexion des Herkommens, der Hoffnung, der
Irrwege und Auswege der Moderne als Projekt der Aufklärung begründet.
Wenn aber das letztere nur behauptet und
statt dessen das erste getan wird, die Hand also nicht das tut, was der Kopf
ihr sagt, ist es dann nicht Aufgabe und Pflicht der Kritik der Architektur, sei
sie von einem Architekten, einem professionellen Architekturkritiker, einem
Bürger, einem Bewohner, von wem auch immer und wo auch immer geübt, diesen
Missstand aufzuzeigen und zu sagen?
Schluss
Das also wäre das ‚summa summarum’ dieses
Versuches der Argumentation einer guten Kritik des Bauens: Dass sie tatsächlich
das Wie des Gebauten mit dem darin enthaltenen Warum, seiner Bedeutung
konfrontiert und damit das Verhältnis des Gemachten zum Gedachten denkend
prüft.
Bleibt diese Prüfung jedoch, wie in der
Gegenwart der Zweiten Moderne flächendeckend praktiziert, permanent ungesagt,
oder schlimmer noch: im Gebauten ungewollt, dann werden uns bald wieder die
Bewohner solch unkritisch entstehender Bauwerke das Wesentliche beibringen:
Dass geistig instabile, schlecht gemachte Architektur über uns zusammenkracht
wie ein Kartenhaus auf bebendem Tisch.
Literatur:
-Adorno, Theodor W.: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt
a. Main: Suhrkamp, 1951 (originalgetreue Wiederauflage
2001)
-Adorno, Theodor W.: Ohne
Leitbild - Parva Aesthetica.
Frankfurt a. Main, 1967
-Adorno, Theodor W.; Horkheimer,
Max: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. 1947. - In: Ders.: Frankfurt a.
Main: Fischer, 122000
-Boetticher, Carl: Die Tektonik der Hellenen. 2 Bände.
1844-1852
-Habermas, Jürgen: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt:
Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990. Leipzig: Reclam, 1990
-Heidegger, Martin: ”... dichterisch wohnet der Mensch ...”. 1951. - In: Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Teil
2. Pfullingen: Neske,
31967
-Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. 1951. - In:
Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Teil 2. Pfullingen: Neske, 31967
-Heidegger, Martin: Vorträge und
Aufsätze. Teil 1-3. Pfullingen: Neske, 31967
-Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie: 5
Aufsätze 1933/1942. Frankfurt a. Main: Fischer, 1992
-Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 1781. -
In: Ausgabe der Königl. Preußischen Akademie der
Wissenschaften 1902/10,
unveränd. Nachdruck: Immanuel Kant: Werke in sechs
Bänden. Band 2. Köln: Könemann, 1995
-Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. 1788. - In: Akademieausgabe
1902/10, unveränd. Nachdruck: Immanuel Kant: Werke in
sechs Bänden. Band 3. Köln: Könemann, 1995
-Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. 1790. - In:
Akademieausgabe 1902/10, unveränd.
Nachdruck: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Band 4. Köln: Könemann, 1995
-Klotz,
Heinrich (Hrsg.): Die Zweite Moderne: Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart.
München: Beck, 1996
-Neumeyer Fritz: Mies van der Rohe - Das
kunstlose Wort: Gedanken zur Baukunst. Berlin: Siedler, 1986
-Pries, Christine (Hrsg.): Das
Erhabene: Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn.
Weinheim: VCH, 1989
-Schiller,
Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1793/1794. - In:
Ders.: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe
von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen.
Stuttgart: Reclam, 2000
-Schiller,
Friedrich: Über Anmut und Würde. 1793. - In: Ders.: Kallias oder über die Schönheit: Über Anmut
und Würde. Stuttgart: Reclam, 1994
-Schiller,
Friedrich: Über das Erhabene. 1793. - In: Ders.;
Berghahn, Klaus L. (Hrsg.): Vom Pathetischen und Erhabenen: Schriften zur Dramentheorie. Stuttgart:
Reclam, 1995
-Wright, Frank Lloyd: Ein Testament.
München: Langen -