Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___ Ute Lehrer
Buffalo
  Architektur als öffentlicher Diskurs

 

 

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Sony mit Kraenen in der Luft copy.jpg (180000 Byte)

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- Vorbemerkung -

Was mich seit mehr als zwanzig Jahren besonders beeindruckt, ist der Unterschied zwischen dem deutschsprachigen Raum und Nordamerika bezüglich der Art, wie mit Architektur im städtischen Raum umgegangen wird.  Auch wenn wir über den Verlauf dieser Konferenz sicherlich immer wieder zu hören bekommen, dass Architekturkritik in den deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften Mankos aufzeigt, so ist es doch als positiv anzuerkennen, dass es eine relativ gesicherte gesellschaftliche Stellung der Architekturkritik innerhalb des deutschsprachigen Raumes gibt. Um provokativ zu formulieren: verglichen mit Deutschland, lässt der urbane Raum in den USA und in Kanada doch einiges zu wünschen übrig. Es existiert kaum ein gesellschaftliches Verständnis von Stadt, das über das Individualprinzip des Grundeigentümers hinausgeht. Nicht, dass es hier in Deutschland oder in der Schweiz keine schlechte Architektur gibt, doch das ‘gute Stück’ Architektur und ein gut geformter städtischer Raum finden sich, relativ gesehen, viel eher auf dieser Seite des Atlantiks.

 


- 1 -
 

In meinem heutigen Beitrag argumentiere ich, dass Architekturkritik eine zentrale Rolle in Stadtbildungsprozessen einnimmt, indem sie den öffentlichen Diskurs über Raum und Ort, sowie Ästhetik und den Gebrauchswert der gebauten Umwelt vorantreibt. Mit der Gegenüberstellung von zwei sehr unterschiedlichen Beispielen – einerseits das Großprojekt am Potsdamer Platz in Berlin, andererseits der Gardiner Expressway in Toronto mit seiner fragwürdigen Zukunft – argumentiere ich, dass Architekturkritik nicht nur eine nötige Herausforderung an die Architekturprofession darstellt, um höchste Qualität in der gebauten Umwelt einzufordern, sondern auch, dass sie eine besonders wichtige Rolle spielt in der gesellschaftlichen Vermittlung von Stadtbildungsprozessen und deren Beziehung zu größeren Zusammenhängen. Gerade im Zeitalter der Globalisierung, wo Städte extremen Spannungen ausgesetzt sind, und wo ein hohes Bedürfnis zum Dialog über Raum und Ort sowie deren mögliche Bedeutungen besteht, scheint mir, dass über den Weg der Architekturkritik es durchaus möglich sein sollte, auch über die kulturellen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Veränderungen zu reden.

 


- 2 -

 

Ich gehe davon aus, dass eine Korrelation zwischen Architekturkritik und der Qualität der gebauten Umwelt besteht. Diese Annahme beruht auf meiner Erfahrung in Deutschland, der Schweiz, den USA und Kanada mit der gebauten Umwelt in all ihren Produktionsprozessen – von der Idee zum Entwurf, zum Bau und zur Vermarktung. 

Architekturkritik ist von Nöten nicht nur als ein Selbstregulativ für die Profession, sondern auch dafür, dass die Öffentlichkeit gute Architektur als solche erkennen kann. Durch die Architekturkritik soll ein Engagement erzeugt werden, soll für Verständnis plädiert werden, und soll ein gewisses Maß von Anerkennung evoziiert werden. Mehr noch, von vornherein soll versucht werden, gute Architektur zu produzieren (ob dies dann immer auch gelingt, ist eine andere Frage). Dies wird besonders bewusst, wenn wir unser Augenmerk auf den nordamerikanischen Raum legen. Mag sein, dass das europäische Auge von der Weite des Landes, der Höhe der Gebäude und der Tiefe der Straßenschluchten beeindruckt ist – zumal das Fremde auf den ersten Blick oftmals eine stärkere Attraktion ausübt als das Vertraute, das Alltägliche.

 

Und eigentlich ist es ja auch so: “Main street is almost alright” wie ein Slogan von Robert Venturi und Denise Scott Brown sagt. Doch im Grunde genommen ist die amerikanische Stadt keine Stadt, sondern eine Ansammlung von Individualinteressen, die sich in gebauter Form artikulieren. Daher gibt es Meisterstücke, doch keinen zusammenhängenden Städtebau. Der Ausweg aus dieser Malaise? Mehr Architekturkritik! Eine Architekturkritik, die Hand und Fuß hat, die weder elitär enthebt, noch populistisch anbiedernd ist.

 

Wenn wir nun den deutschsprachigen Raum mit jenem in Nordamerika vergleichen, lässt sich feststellen, dass relativ gesehen, Architekturkritik in deutschsprachigen Medien eine starke Rolle spielt. Vor allem ist sie jedoch damit beschäftigt, die ästhetischen Qualitäten zu untersuchen. Gesellschaftskritische Elemente in dieser Betrachtungsweise sind oftmals hintan gestellt. Im englischsprachigen Nordamerika (ich schließe Mexiko aus meiner Analyse aus) existiert Architekturkritik in der Tagespresse nur auf zwei Ebenen: entweder als extrem elitär, geschrieben für ein Publikum der bereits Eingeweihten. Oder in der Form von relativ seichten, so genannten feature stories über Architekten und ihr Leben. Also wirklich kein Ansporn, um sich eine fundierte Meinung zu bilden, und um engagiert im Stadtbildungsprozess mitreden zu können.

 

Womit jedoch der nordamerikanische Raum aufwarten kann, und der deutschsprachige Raum sich sicherlich noch etwas abgucken kann, ist die Urban-Affairs-Reporterin. Urban affairs wird hier in einem sehr breiten Sinn verstanden, und umfasst alle möglichen Themen, die mit Stadt zu tun haben – also von Architektur zur Haushaltssituation einer Stadt, von Straßenerhaltungsmaßnahmen zu Stadtentwicklung, von der Diskussion über Armut und Reichtum in der Bevölkerung und ihre räumliche Manifestation bis hin zu ökologischen Zusammenhängen. Im Grunde genommen alle Themen, die mit Stadtbildungsprozessen sowie mit Stadtkultur zu tun haben.

 

 

- 3 -
 

Was ist eigentlich Architekturkritik? In den letzten Jahren ist darüber eine Debatte in den USA entstanden. Gemäß Suzanne Stephens (1998) sollte Architekturkritik sowohl mit dem Intellekt, als auch mit der Wahrnehmung arbeiten, wobei die Kritikerin die gebaute Umwelt und ihren Effekt auf die BewohnerInnen und BenutzerInnen analysiert und bewertet. Miriam Gusevitch (1991) unterscheidet zwischen Kommentar und Architekturkritik, wobei letzterer sehr viel risikoreicher besetzt ist. “Ernst genommene Architekturkritik ist nicht nur Negativität, es ist die vorsichtige und behutsame Aufdeckung von Dimensionen, die uns andererseits möglicherweise entgangen wären.” (Gusevitch in Stephens, 1998, S. 64)  Seit den 1980er Jahren ist in den USA eine Teilung zwischen praktischer und akademischer Kritik zu verzeichnen.

 

Nachdem die Boomzeit der 1980er Jahre vorbeiging, tat sich die amerikanische Architekturkritik schwer. Einerseits wurden ausgeschiedene KritikerInnen nicht mehr ersetzt, andererseits nahm die Abhängigkeit zwischen Zeitungsmachern und Zeitungsinserenten in einer Weise zu, so dass heutzutage eine Zensur ohne Zensur stattfindet. (Einen ähnlichen Trend scheint es auch im deutschsprachigen Raum zu geben.) Zur gleichen Zeit, in der die Farbabbildung ihren Weg in die Zeitung macht, nehmen auch die negativen Kommentare über Architektur ab. Außerdem kann ein Mangel an konzeptionellem Rahmenwerk festgestellt werden. Die Zeitungsredaktionen haben keine längerfristigen Konzepte mehr, sondern lassen sich von Marktstudien in ihre Themenwahl treiben. In einem Zeitalter, wo Architektur zum Event wurde (zum Beispiel Potsdamer Platz; Getty Museum Richard Meier; Guggenheim in Bilbao; Gehry Konzerthalle in Los Angeles etc), scheint auch die Architekturkritik zur Marketingstrategie degradiert zu werden.

 

Doch zurück zum Argument des elitären Moments in der Architekturkritik. Praktizierte Architekturkritik ist oftmals eine Angelegenheit für Eingeweihte, und sie findet, wie der Schweizer Architekturkritiker Benedikt Loderer [1] argumentiert, am falschen Ort statt:

 

“Architekturkritik ist entweder ein Selbstgespräch unter Pfarrerstöchtern, sprich, eine Angelegenheit der Fachzeitschriften oder sie wird ins Ghetto der ‘Kultur’ abgeschoben. Die Fachdiskussion ist notwendig, aber nicht ausreichend, das Feuilleton unterdessen jener Teil der Zeitungen, der vor allem von seinen Redaktoren eifrig gelesen wird.” (Loderer, 1995).

 

Daher plädiert Loderer für eine Architekturkritik, die im Lokaljournalismus verankert ist, wobei er eine Art Arbeitsteilung zwischen der LokaljournalistIn und der ArchitekturkritikerIn vorschlägt: “Der Lokaljournalist schreibt seinen Bericht, und der Fachjournalist liefert den ‘architektonischen Kasten.” Das hat aber zur Konsequenz, dass eine ArchitekturkritikerIn genauso selbstverständlich einen Platz in der regulären Redaktion haben sollte wie etwa eine Film- oder TheaterkritikerIn. Des Weiteren darf die ArchitekturkritikerIn keine Primadonnen-Allüren haben, sondern sollte “KanalarbeiterIn” sein, “in die Niederungen des architektonischen Alltags hinabsteigen und nicht auf den Wellen des Schöngeistes surfen.” 

 

“Erlöst die Architekturkritik aus dem Edelkerker des Feuilletons! Verjagt sie vom warmen Ofenbänklein der Kultur! Setzt sie an die kalte Luft. Erst wenn Architekturkritik zum Lokaljournalismus wird, ist sie ihre Druckerschwärze wirklich wert.” (Loderer, 1995).

 

Pointiert wie immer, hat hier Loderer natürlich den Kern der Kritik der Architekturkritik getroffen. Für wen wird Architekturkritik geschrieben? Und zu welchem Zweck? Architekturkritik hat in meinen Augen mindestens zwei Funktionen: Erstens, Architekturkritik ist für den Fortschritt der Profession von Nöten; weil sie nicht nur über Neuerungen redet, sondern diese auch evaluiert. Zweitens, und sehr viel wichtiger in meiner Einschätzung ist, dass das ‘Gerede’, um es mal etwas nicht-fachspezifisch auszudrücken, also das Gerede über Architektur dazu beiträgt, die städtische Bevölkerung für eine Diskussion über Stadt und  Gesellschaft zu sensibilisieren. Wie wird dies gemacht?

 

 

- 4 -

 

Ich möchte dies an meinen zwei Beispielen Potsdamer Platz und Gardiner Express Way demonstrieren. Doch bevor ich damit beginne, möchte ich gleich herausstellen, dass weder das eine noch das andere Beispiel das tut, was ich einfordere: Architekturkritik auch als Gesellschaftskritik.

 

Die beiden Beispiele könnten eigentlich nicht unterschiedlicher sein. Gemeinsam ist, dass es sich um Großprojekte handelt. Der ‚Potsdamer Platz’, wie man weiß (siehe Manfred Sack “Der Jahrhundertirrtum”),  war ein Produkt des Mauerfalls: auf einem als leer bezeichneten Grundstück wurde ein Stück Stadt gebaut. Im Fall vom Gardiner Express Way, einem ‘Kind’ der fünfziger Jahre, der als Autobahnbau zur Avantgarde der Stadtentwicklung galt, ist es das Gegenteil: eine innerstädtische, auf Stelzen gesetzte Autobahn. Sie trifft heute angeblich weder ästhetisch den Geschmack der Zeit, noch ist sie ökonomisch (aufwändige Sanierungsarbeiten stehen an) und soll nun beseitigt werden. Es soll damit auch eine neue Ästhetik in die Stadt gebracht werden. Das oft gehörte Argument gegen den Gardiner ist, dass er die Stadt vom Wasser abschneiden würde. Mit seinem Niedergang würde die Stadt mit seiner Uferfront wiedervereinigt sein.

 

Ich möchte nicht weiter ins Detail gehen und herausstellen, wieso ich diese Argumentationsstrategie gegen den Gardiner absurd finde. Vielmehr möchte ich auf eine Metaebene verweisen: In beiden Fällen hat der Diskurs über die gebaute Umwelt auch zu einem Diskurs über die Stadt und ihre Identität geführt. Im Falle vom Potsdamer Platz hatte dies natürlich mit der Strategie, durch eine Dienstleistungsmetropole an die globale Ökonomie anzuschließen, zu tun. Im Falle vom Gardiner hatte dies mit der (gescheiterten) Olympia-Bewerbung 2008 und der daraus erhofften Stärkung des Wirtschafts- und Finanzortes Toronto zu tun. In beiden Fällen wird über die gebaute Umwelt Stadt- und in einem gewissen Sinne sogar Nationalpolitik betrieben. Um so mehr sollte die Architekturkritik sich nicht nur über den ästhetischen Gehalt eines Baukomplexes oder einer Stadtstruktur auslassen, sondern dies zu einem Anlass nehmen, über Stadt als Gesamtes nachzudenken. Dadurch kann der interessierten LeserIn nahe gebracht werden, was Großprojekte wie der Potsdamer Platz und der Gardiner einschließlich des Waterfront Redevelopment Scheme direkt und indirekt mit der Lebensqualität einer Stadt und deren Finanzen zu tun haben. Schließlich ist jene Person, die das Expertengebrabble über Architektur vielleicht nicht versteht, dennoch eine Expertin, wenn es um die Wahrnehmung des Alltagslebens in dieser Stadt geht.

 

 

Schluss

 

Um es zusammenfassend zu sagen: Mehr Architekturkritik schafft höhere Qualität in der gebauten Umwelt. In den deutschen Printmedien spielt Architekturkritik eine relativ starke Rolle (insbesondere im Vergleich zu Nordamerika), sie fokussiert jedoch hauptsächlich auf einer ästhetischen Diskussion (mit Ausnahmen wie etwa Manfred Sack und Dieter Bartetzko). In den USA und in Kanada ist die Architekturkritik entweder sehr elitär oder populistisch. Was jedoch sehr gut zum gesellschaftlichen Diskurs über Stadt beiträgt, ist der Fokus auf gesellschaftspolitische Fragen im Zusammenhang mit Stadt im weitesten Sinne (urban affairs). Nicht ganz so klar wie jene Arbeitsteilung, die Loderer zwischen Lokaljournalisten und Architekturkritikerinnen einfordert, aber dennoch ein vielversprechender Weg. Wenn es doch nur so einfach wäre, die Qualitäten der deutschsprachigen Architekturkritik mit jenen der gesellschaftspolitischen Fragen der nordamerikanischen Urban Affairs section zu verbinden! Es braucht halt ganz einfach mehr Architekturkritik in allen Teilen der Zeitung.
 


[1] Loderer hat nicht nur darüber theoretisiert, wie Architekturkritik verbessert werden könnte, sondern hat dies permanent in die Tat umgesetzt – zuerst als Architekturkritiker für den Tages-Anzeiger Zürich in den 1980er Jahren und dann als Herausgeber von “Hochparterre”.

 

Literatur:
 

1.      Loderer, Benedikt (1995). „Hinein in die Tagespresse“, in: Architekt, May no. 5, p. 293.

2.      Stephens, Suzanne (1998). „Assessing the State of Architectural Criticism in Today´s Press”, in: Architectural Record, no. 3, pp. 64-69, 194.