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I.
6.200 Gramm und 2.396 Seiten Umfang, vier Publikationen überschrieben mit
"Architekturtheorie" innerhalb nur eines Jahres:
Theorie in kataklysmischen Mengen nach einer langen Zeit der Dürre; Theorie
in Hochkonjunktur und in bester Gesundheit. So ist man geneigt zu sagen,
denn erst der zweite Blick verrät die Aporie. Anthologien, es handelt sich
allesamt um Anthologien, um das Zusammentragen von Bewährtem – natürlich
geboten mit jeweils unterschiedlichem zeitlichen Tiefgang und nach jeweils
unterschiedlichen Gliederungskriterien und – nicht zu vergessen – versehen
mit klugen Kommentaren seitens der Herausgeber. Die Nützlichkeit solcher
Kompendien (so groß die Skepsis gegenüber der, immerhin als Absicht
denkbaren, Festlegung eines theoretischen Kanons auch sein mag) – etwa für
den Architekturunterricht – wird niemand ernsthaft bestreiten können. Was
aber, wenn die Anthologie das Feld der Theorie dominiert oder, um es
schärfer zu formulieren, wenn weit und breit davon abweichende Regungen des
Diskurses kaum zu vernehmen sind? Das Phänomen macht sich als Symptom einer
Krise erkenntlich! Denn die Sammlung und der konstatierende, vielleicht auch
kritische Blick auf das Gewesene oder Vorhandene bleibt Zeichen von
Ratlosigkeit, Krisis, ja Impotenz, wenn er nicht begleitet wird von einer
Vorstellung des Kommenden und zwar nicht im Sinne dessen, was sich etwa
aufgrund des Wirkens eines geschichtsphilosophischen Automatismus einstellen
würde, sondern vor allen Dingen gemeint als strategische Schau und Entwurf
der Zukunft. Damit wäre auch die Spannweite zwischen den beiden
Grundpfeilern der Theorie angegeben, die ja (die Etymologie bestätigt das!)
Schau dessen ist, was ist, aber auch Ausschau auf das, was sein wird.
II.
In der Krise der Theorie widerspiegelt sich die Krise der Architektur. Es
ist kein Geheimnis mehr,
dass die Disziplin vor der größten Revision ihrer Geschichte steht,
bzw. diese Revision schon im Gange ist. Bedingt durch Globalisierung,
Digitalisierung und Liberalisierung des architektonischen Wirkungsfeldes,
werden alle bewährten Sicherheiten hinsichtlich der Konzeption, Produktion
und Rezeption von Architektur in einer existentiellen Weise in Frage
gestellt, und dies gilt auch für den Beruf des Architekten. Die Entwicklung
geschieht mit einer solchen Rigorosität,
dass man durchaus dramatisch formulieren darf: Entweder erfindet die
Architektur sich neu oder sie geht unter. Natürlich kann man sich blasiert
zurücklehnen und sich mit der Überzeugung trösten, dass
die Disziplin bisher alle ihre Krisen, tatsächliche und vermeintliche,
überstanden hat, so auch diese (wenn gar eine überhaupt vorhanden ist). Auch
der Theoretiker würde einen Katalog der "größeren Forschungsbemühungen"
aufstellen (der vor einhundert Jahren kaum anders ausgesehen hätte:
"Wahrnehmung, Raum, Stadt/Landschaft, Nutzer") und die zeitbedingten
Unannehmlichkeiten ohne Aufhebens "aussitzen" wollen. Offen bleibt natürlich
auch die Alternative: das Bemühen um die Entfaltung eines zeitgemäßen
Diskurses, der sowohl diachronische Interessen der Disziplin – wie die
soeben genannten – wie auch und vor allem ihre aktuellen Anliegen
berücksichtigen würde.
III.
Eine kritische Frage ist: Wer darf dabei mitsprechen? Die zur Hand liegenden
Anthologien geben darüber Auskunft,
dass es ein ziemlich breites Spektrum von Sprechern gibt, jedenfalls
ein viel breiteres als das, welches die institutionalisierte, akademisch
betriebene Theorie aufweist. Letztere, einerseits mit der kritischen
Kommentierung von architektonischen Ideen und andererseits mit der
Beschreibung, Analyse und Interpretation von Werken der Architektur befasst,
geht über die von der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft gesetzten
Grenzen nicht hinaus, ja sie erstickt förmlich unter ihrer festen Umarmung.
Versuche, die Perspektive im Sinne einer Öffnung gegenüber den Cultural
Studies zu erweitern, blieben in den achtziger Jahren ein angelsächsisches
Steckenpferd und befinden sich heute auch dort auf dem Rückzug. Wie dem auch
sei, wird der Beitrag der in der Architektur primär Tätigen zur Theorie von
der institutionalisierten "'interdisziplinären' Disziplin"
Architekturtheorie, gelinde ausgedrückt, stiefmütterlich behandelt. So
verständlich nach dem (übrigens schon fast vierzig Jahre zurückliegenden)
Tafurischen Affront auf die modernistischen Architekturapologeten
auch die Ängste gegenüber einer operativ kontaminierten Theorie sein mögen,
ist andersherum der Glaube an ein epistemologisch unbeflecktes Räsonnement
bzw. eine aseptische, fernab der Praxis im Wolkenkuckucksheim stattfindende
Kontemplation über Architektur eine Chimäre. Die Architektur selbst als
praktische, Artefakte produzierende Disziplin führt diesen Glauben ad
absurdum. Andererseits ist eine von der Theorie nicht informierte
architektonische Praxis schlechterdings undenkbar.
IV.
Man wird und
muss im großen Kreis über die inhaltlichen Fragen, die uns
beschäftigen, keine Einigung erzielen können. Aber man könnte sich darüber
einigen, der gegenwärtigen Initiative eine längerfristige Perspektive zu
geben. Es kann kaum angefochten werden,
dass zur Entfaltung der Debatte, zur Entwicklung des Diskurses und zu
dessen Weiterleitung an die Öffentlichkeit ein dauerhaftes Forum fehlt und
benötigt wird. Ein Forum, das Interessen der Historiographie, der Theorie
und der Kritik der Architektur unter einem Dach zur Interaktion bringen
könnte. Dieses Desiderat wird angesichts der Grenzsituation, in der sich die
Architektur heute befindet, umso dringender. Der sinnvollste Rahmen für
dieses Forum darf sich nicht von nationalen oder sprachlichen Grenzen
definieren lassen, sondern von dem Impuls des europäischen Prozesses
profitieren und zugleich einen Beitrag dazu leisten, die
politisch/ökonomische Einigung durch die kulturelle Komponente zu erweitern
und zu konsolidieren.
Stuttgart, 9. Mai 2004
Anmerkung:
Fritz Neumeyer. Quellentexte zur Architekturtheorie. München usw. 2002.
Gerd de Bruyn, Stephan Trüby (Hrsg.) architektur_theorie.doc – texte seit 1960. Basel
usw. 2003.
Ákos
Moravánszky (Hrsg.). Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine
kritische Anthologie. Wien usw. 2003.
Veronica Biermann et al. Architekturtheorie von der Renaissance bis zur
Gegenwart. Köln usw. 2003.
Post Scriptum, Februar 2005
Eine in der amerikanischen Zeitschrift „ANY“ (25/26 [2000], 6-7) publizierte
Reportage über die im Juni 1999 in Paris ausgetragene Anymore Konferenz
betitelte der Verfasser, Christian Girard (Paris-Villemin), provozierend mit
den Worten: „French Architects say ‚Basta’ to Theory“. Girard ging dabei auf
eine chronische Theoriefeindlichkeit des französischen Kontextes während der
letzten Jahrzehnte ein, monierte aber vor allem die heutige komplette
Weigerung der französischen Architekten, sich in irgendeiner Weise
theoretisch-kritisch mit ihrer Disziplin auseinander zu setzen. Die aktuelle
„Aphasie“ der Architekten führte nun Girard zurück auf eine Tendenz der „Beauxartisierung
der Architektur“ – eine Art Rückgriff auf die Tradition der École des
Beaux-Arts –, die einerseits auf einen minimalistisch angehauchten
Neoplatonismus der reinen Körperlichkeit und andererseits auf eine am
Leitfaden der Materialästhetik operierende, gegenüber dem Intellekt
vermeintlich immune Emotionalisierungsrhetorik hinauslief. Sehnsüchtig pries
Girard hingegen die amerikanische Situation als Terrain nämlich der
unbegrenzten Möglichkeiten theoretischer Entfaltung. Etwas zu voreilig! Denn
kaum ein Jahr nach Girards Wehklage waren auch aus Amerika recht merkwürdige
Töne zu vernehmen. Mit anderen Worten: Das Virus des Anti-Intellektualismus
schien nun selbst die angebliche Hauptbastion der Theorie befallen zu haben.
Just zur Jahrtausendwende, im Mai 2000, organisierte man an der Columbia
University in New York mit Unterstützung der Firma SOM einen aufwändigen
multidisziplinär angelegten Workshop (eine zweite Konferenz mit ähnlicher
Thematik am New Yorker MoMA kam schon nach sechs Monaten hinzu), der sich
der Formulierung des neuen
Glaubensbekenntnisses annahm: Die Dominanz des „kontinentalen
Diskurses“ – von Tafuri bis Deleuze – in Amerika sei schuld
für die Abgründe, die sich zwischen Theorie
und Praxis auftaten. Eine
Amerikanisierung des Diskurses sei daher das Gebot der Stunde. Nur so könne
man sich dem europäischen Doktrinarismus entgegenstemmen, um die
Aufmerksamkeit von praxisfernen Theoriegebäuden auf die „things in the
making“ zu lenken. Explizit wurde die neue Denkrichtung vor den Hintergrund
der globalen Entwicklungen nach dem Ende des Kalten Krieges gestellt und
darüber gemutmaßt, ob die amerikanische Hegemonie im Sinne eines neuen
amerikanischen „international style“ sowohl in der Architektur als auch im
intellektuellen Diskurs mit ihrer Hilfe aufrecht erhalten werden könne. Dass
die Organisatorin der Konferenz an der Columbia University mit Nachdruck
beteuerte, ihr lägen bei solcher Reflexion chauvinistische Absichten fern,
war aus Gründen der politischen Korrektheit natürlich unerlässlich. Weniger
einleuchtend ist jedoch, womit sich die
Neuheit des verkündeten Projekts eines neuen „international style“ begründen lassen könnte. Denn die
neue Richtung präsentierte sich vollends als Revival; als Wiedererweckung
einer genuin amerikanischen, indigenen Denktradition des ausgehenden
neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die im Zuge
europäischer Theorieimporte nach dem zweiten Weltkrieg in Vergessenheit
geraten war. Die Entwicklung einer „pragmatist imagination“ war denn auch in
der Tat das in New York angesteuerte Ziel.
Lässt man die Innovationsdefizite der neuen Richtung beiseite, taucht
unweigerlich die viel kritischere Frage nach den architektonischen
Konsequenzen des angebotenen
Labels auf: Wie ist eine Architektur
nach der Art des Pragmatismus beschaffen? Hier begegnet man vielsagendem
Schweigen, die Imagination gerät ins Stocken, oder sie wird vom Phantom
eines „neuen“ Bauwirtschaftsfunktionalismus (eines bestenfalls etwas
gehobenen Typs, à la SOM etwa), das bedrohlich in Erscheinung tritt,
paralysiert. Doch eine solche Architektur hat Theorie nicht nötig. Und dass
dies so sein dürfte, zeigt die nachfolgende Entwicklung deutlich an. Während
sich nämlich die Architektur-Schickeria der Ostküste – die bis gestern noch
hingebungsvoll den Psalter des Poststrukturalismus rezitierte – nun zwecks
amerikanischer Katharsis ihren reuevollen „pragmatistischen“
Selbstgeißelungsübungen hingab, meldete sich der Wilde Westen zu Wort, der
natürlich vom gepflegten Jargon der Ivy League wenig am Hut hat und bereit
ist, endlich Tacheles zu reden. Und siehe da: nicht nur das Ende aller
Theorie wird verkündet, ein neuer Wertekanon wird spätestens 2002 in Umlauf
gesetzt: Er schöpft erklärtermaßen aus den „contemporary business managment
practices“ und aus dem Instrumentarium der Geheimdienste. „Open source
intelligence“ heißt das magische (der CIA-Wunderkiste entliehene) Konzept,
welches das Paradigma der „post-criticality“ in der Architektur einleiten
soll. Man glaubt sich in der falschen Veranstaltung und man ist es
vielleicht auch, denn bei diesem Delirium, das zwischen Neoliberalismus und
Langley-Idylle hin- und herpendelt, erfährt man in der Tat nichts über das
eigentliche Thema: die Architektur. Es sei denn, dass der Tod der Theorie
nichts anderes als den Tod der Architektur einläuten soll.
Landet man nun zurück in Europa, diesmal etwa in Berlin, und begegnet man der
Reinkarnation des Don Quixote, der mit seiner von der vitruvischen Trias –
utilitas, firmitas, venustas – geschärften Speerspitze gegen die Übel
der modernen Zivilisation zu kämpfen glaubt, so mutet sein Antlitz fast
sympathisch an.
Komisch war
es seit jeher.
Quellen:
Christian Girard. French Architects say ‚Basta’ to Theory. ANY (Architecture
New York), 25/26 (2000)
Joan Ockman (ed.). The Pragmatist Imagination. Thinking About “Things in the
Making”. New York 2000.
ARCH+, 156 (Mai 2001).
Michael Speaks. Design Intelligence and the New Economy. Architectural
Record, January 2002.
Ders. Design Intelligence: Part 1, Introduction. A+U, December 2002
George Baird. “Criticality” and Its Discontents. Harvard Design Magazine,
21 (Fall 2004 / Winter 2005).
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