Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Sokratis Georgiadis
Stuttgart
  Vorläufige Bemerkungen zum Berliner Rundgespräch
Architekturtheorie Eine 'interdisziplinäre' Disziplin

 

   

I.

6.200 Gramm und 2.396 Seiten Umfang, vier Publikationen überschrieben mit "Architekturtheorie" innerhalb nur eines Jahres[1]: Theorie in kataklysmischen Mengen nach einer langen Zeit der Dürre; Theorie in Hochkonjunktur und in bester Gesundheit. So ist man geneigt zu sagen, denn erst der zweite Blick verrät die Aporie. Anthologien, es handelt sich allesamt um Anthologien, um das Zusammentragen von Bewährtem – natürlich geboten mit jeweils unterschiedlichem zeitlichen Tiefgang und nach jeweils unterschiedlichen Gliederungskriterien und – nicht zu vergessen – versehen mit klugen Kommentaren seitens der Herausgeber. Die Nützlichkeit solcher Kompendien (so groß die Skepsis gegenüber der, immerhin als Absicht denkbaren, Festlegung eines theoretischen Kanons auch sein mag) – etwa für den Architekturunterricht – wird niemand ernsthaft bestreiten können. Was aber, wenn die Anthologie das Feld der Theorie dominiert oder, um es schärfer zu formulieren, wenn weit und breit davon abweichende Regungen des Diskurses kaum zu vernehmen sind?  Das Phänomen macht sich als Symptom einer Krise erkenntlich! Denn die Sammlung und der konstatierende, vielleicht auch kritische Blick auf das Gewesene oder Vorhandene bleibt Zeichen von Ratlosigkeit, Krisis, ja Impotenz, wenn er nicht begleitet wird von einer Vorstellung des Kommenden und zwar nicht im Sinne dessen, was sich etwa aufgrund des Wirkens eines geschichtsphilosophischen Automatismus einstellen würde, sondern vor allen Dingen gemeint als strategische Schau und Entwurf der Zukunft. Damit wäre auch die Spannweite zwischen den beiden Grundpfeilern der Theorie angegeben, die ja (die Etymologie bestätigt das!) Schau dessen ist, was ist, aber auch Ausschau auf das, was sein wird.


II.

In der Krise der Theorie widerspiegelt sich die Krise der Architektur. Es ist kein Geheimnis mehr, dass die Disziplin vor der größten Revision ihrer Geschichte steht, bzw. diese Revision schon im Gange ist. Bedingt durch Globalisierung, Digitalisierung und Liberalisierung des architektonischen Wirkungsfeldes, werden alle bewährten Sicherheiten hinsichtlich der Konzeption, Produktion und Rezeption von Architektur in einer existentiellen Weise in Frage gestellt, und dies gilt auch für den Beruf des Architekten. Die Entwicklung geschieht mit einer solchen Rigorosität, dass man durchaus dramatisch formulieren darf: Entweder erfindet die Architektur sich neu oder sie geht unter. Natürlich kann man sich blasiert zurücklehnen und sich mit der Überzeugung trösten, dass die Disziplin bisher alle ihre Krisen, tatsächliche und vermeintliche, überstanden hat, so auch diese (wenn gar eine überhaupt vorhanden ist). Auch der Theoretiker würde einen Katalog der "größeren Forschungsbemühungen" aufstellen (der vor einhundert Jahren kaum anders ausgesehen hätte: "Wahrnehmung, Raum, Stadt/Landschaft, Nutzer") und die zeitbedingten Unannehmlichkeiten ohne Aufhebens "aussitzen" wollen. Offen bleibt natürlich auch die Alternative: das Bemühen um die Entfaltung eines zeitgemäßen Diskurses, der sowohl diachronische Interessen der Disziplin – wie die soeben genannten – wie auch und vor allem ihre aktuellen Anliegen berücksichtigen würde.


III.

Eine kritische Frage ist: Wer darf dabei mitsprechen? Die zur Hand liegenden Anthologien geben darüber Auskunft, dass es ein ziemlich breites Spektrum von Sprechern gibt, jedenfalls ein viel breiteres als das, welches die institutionalisierte, akademisch betriebene Theorie aufweist. Letztere, einerseits mit der kritischen Kommentierung von architektonischen Ideen und andererseits mit der Beschreibung, Analyse und Interpretation von Werken der Architektur befasst, geht über die von der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft gesetzten Grenzen nicht hinaus, ja sie erstickt förmlich unter ihrer festen Umarmung. Versuche, die Perspektive im Sinne einer Öffnung gegenüber den Cultural Studies zu erweitern, blieben in den achtziger Jahren ein angelsächsisches Steckenpferd und befinden sich heute auch dort auf dem Rückzug. Wie dem auch sei, wird der Beitrag der in der Architektur primär Tätigen zur Theorie von der institutionalisierten "'interdisziplinären' Disziplin" Architekturtheorie, gelinde ausgedrückt, stiefmütterlich behandelt. So verständlich nach dem (übrigens schon fast vierzig Jahre zurückliegenden) Tafurischen Affront auf die modernistischen Architekturapologeten auch die Ängste gegenüber einer operativ kontaminierten Theorie sein mögen, ist andersherum der Glaube an ein epistemologisch unbeflecktes Räsonnement bzw. eine aseptische, fernab der Praxis im Wolkenkuckucksheim stattfindende  Kontemplation über Architektur eine Chimäre. Die Architektur selbst als praktische, Artefakte produzierende Disziplin führt diesen Glauben ad absurdum. Andererseits ist eine von der Theorie nicht informierte architektonische Praxis schlechterdings undenkbar.


IV.

Man wird und muss im großen Kreis über die inhaltlichen Fragen, die uns beschäftigen, keine Einigung erzielen können. Aber man könnte sich darüber einigen, der gegenwärtigen Initiative eine längerfristige Perspektive zu geben. Es kann kaum angefochten werden, dass zur Entfaltung der Debatte, zur Entwicklung des Diskurses und zu dessen Weiterleitung an die Öffentlichkeit ein dauerhaftes Forum fehlt und benötigt wird. Ein Forum, das Interessen der Historiographie, der Theorie und der Kritik der Architektur unter einem Dach zur Interaktion bringen könnte. Dieses Desiderat wird angesichts der Grenzsituation, in der sich die Architektur heute befindet, umso dringender. Der sinnvollste Rahmen für dieses Forum darf sich nicht von nationalen oder sprachlichen Grenzen definieren lassen, sondern von dem Impuls des europäischen Prozesses profitieren und zugleich einen Beitrag dazu leisten, die politisch/ökonomische Einigung durch die kulturelle Komponente zu erweitern und zu konsolidieren.


Stuttgart, 9. Mai 2004

 



Anmerkung:

[1] Fritz Neumeyer. Quellentexte zur Architekturtheorie. München usw. 2002.
Gerd de Bruyn,
Stephan Trüby (Hrsg.) architektur_theorie.doc – texte seit 1960. Basel usw. 2003.
Ákos Moravánszky (Hrsg.). Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie. Wien usw. 2003.
Veronica Biermann et al. Architekturtheorie von der Renaissance bis zur Gegenwart. Köln usw. 2003.


 




Post Scriptum, Februar 2005

Eine in der amerikanischen Zeitschrift „ANY“ (25/26 [2000], 6-7) publizierte Reportage über die im Juni 1999 in Paris ausgetragene Anymore Konferenz betitelte der Verfasser, Christian Girard (Paris-Villemin), provozierend mit den Worten: „French Architects say ‚Basta’ to Theory“. Girard ging dabei auf eine chronische Theoriefeindlichkeit des französischen Kontextes während der letzten Jahrzehnte ein, monierte aber vor allem die heutige komplette Weigerung der französischen Architekten, sich in irgendeiner Weise theoretisch-kritisch mit ihrer Disziplin auseinander zu setzen. Die aktuelle „Aphasie“ der Architekten führte nun Girard zurück auf eine Tendenz der „Beauxartisierung der Architektur“ – eine Art Rückgriff auf die Tradition der École des Beaux-Arts –, die einerseits auf einen minimalistisch angehauchten Neoplatonismus der reinen Körperlichkeit und andererseits auf eine am Leitfaden der Materialästhetik operierende, gegenüber dem Intellekt vermeintlich immune Emotionalisierungsrhetorik hinauslief. Sehnsüchtig pries Girard hingegen die amerikanische Situation als Terrain nämlich der unbegrenzten Möglichkeiten theoretischer Entfaltung. Etwas zu voreilig! Denn kaum ein Jahr nach Girards Wehklage waren auch aus Amerika recht merkwürdige Töne zu vernehmen. Mit anderen Worten: Das Virus des Anti-Intellektualismus schien nun selbst die angebliche Hauptbastion der Theorie befallen zu haben.

Just zur Jahrtausendwende, im Mai 2000, organisierte man an der Columbia University in New York mit Unterstützung der Firma SOM einen aufwändigen multidisziplinär angelegten Workshop (eine zweite Konferenz mit ähnlicher Thematik am New Yorker MoMA kam schon nach sechs Monaten hinzu), der sich der Formulierung des neuen Glaubensbekenntnisses annahm: Die Dominanz des „kontinentalen Diskurses“ – von Tafuri bis Deleuze – in Amerika sei schuld für die Abgründe, die sich zwischen Theorie und Praxis auftaten. Eine Amerikanisierung des Diskurses sei daher das Gebot der Stunde. Nur so könne man sich dem europäischen Doktrinarismus entgegenstemmen, um die Aufmerksamkeit von praxisfernen Theoriegebäuden auf die „things in the making“ zu lenken. Explizit wurde die neue Denkrichtung vor den Hintergrund der globalen Entwicklungen nach dem Ende des Kalten Krieges gestellt und darüber gemutmaßt, ob die amerikanische Hegemonie im Sinne eines neuen amerikanischen „international style“ sowohl in der Architektur als auch im intellektuellen Diskurs mit ihrer Hilfe aufrecht erhalten werden könne. Dass die Organisatorin der Konferenz an der Columbia University mit Nachdruck beteuerte, ihr lägen bei solcher Reflexion chauvinistische Absichten fern, war aus Gründen der politischen Korrektheit natürlich unerlässlich. Weniger einleuchtend ist jedoch, womit sich die Neuheit des verkündeten Projekts eines neuen „international style“ begründen lassen könnte. Denn die neue Richtung präsentierte sich vollends als Revival; als Wiedererweckung einer genuin amerikanischen, indigenen Denktradition des ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, die im Zuge europäischer Theorieimporte nach dem zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten war. Die Entwicklung einer „pragmatist imagination“ war denn auch in der Tat das in New York angesteuerte Ziel.

Lässt man die Innovationsdefizite der neuen Richtung beiseite, taucht unweigerlich die viel kritischere Frage nach den architektonischen Konsequenzen des angebotenen Labels auf: Wie ist eine Architektur nach der Art des Pragmatismus beschaffen? Hier begegnet man vielsagendem Schweigen, die Imagination gerät ins Stocken, oder sie wird vom Phantom eines „neuen“ Bauwirtschaftsfunktionalismus (eines bestenfalls etwas gehobenen Typs, à la SOM etwa), das bedrohlich in Erscheinung tritt, paralysiert. Doch eine solche Architektur hat Theorie nicht nötig. Und dass dies so sein dürfte, zeigt die nachfolgende Entwicklung deutlich an. Während sich nämlich die Architektur-Schickeria der Ostküste – die bis gestern noch hingebungsvoll den Psalter des Poststrukturalismus rezitierte – nun zwecks amerikanischer Katharsis ihren reuevollen „pragmatistischen“ Selbstgeißelungsübungen hingab, meldete sich der Wilde Westen zu Wort, der natürlich vom gepflegten Jargon der Ivy League wenig am Hut hat und bereit ist, endlich Tacheles zu reden. Und siehe da: nicht nur das Ende aller Theorie wird verkündet, ein neuer Wertekanon wird spätestens 2002 in Umlauf gesetzt: Er schöpft erklärtermaßen aus den „contemporary business managment practices“ und aus dem Instrumentarium der Geheimdienste. „Open source intelligence“ heißt das magische (der CIA-Wunderkiste entliehene) Konzept, welches das Paradigma der „post-criticality“ in der Architektur einleiten soll. Man glaubt sich in der falschen Veranstaltung und man ist es vielleicht auch, denn bei diesem Delirium, das zwischen Neoliberalismus und Langley-Idylle hin- und herpendelt, erfährt man in der Tat nichts über das eigentliche Thema: die Architektur. Es sei denn, dass der Tod der Theorie nichts anderes als den Tod der Architektur einläuten soll.

Landet man nun zurück in Europa, diesmal etwa in Berlin, und begegnet man der Reinkarnation des Don Quixote, der mit seiner von der vitruvischen Trias – utilitas, firmitas, venustas – geschärften Speerspitze gegen die Übel der modernen Zivilisation zu kämpfen glaubt, so mutet sein Antlitz fast sympathisch an.
Komisch war es seit jeher.


Quellen:

Christian Girard. French Architects say ‚Basta’ to Theory. ANY (Architecture New York), 25/26 (2000)
Joan Ockman (ed.). The Pragmatist Imagination. Thinking About “Things in the Making”. New York 2000.
ARCH+, 156 (Mai 2001).
Michael Speaks. Design Intelligence and the New Economy. Architectural Record, January 2002.
Ders. Design Intelligence: Part 1, Introduction. A+U, December 2002
George Baird. “Criticality” and Its Discontents. Harvard Design Magazine, 21
(Fall 2004 / Winter 2005).

 


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