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Uns Teilnehmern an diesem Symposium wurde die Frage gestellt, was wir denn
unter 'Architekturtheorie' verstünden, welche speziellen Aufgaben sie
besäße, und welche Funktion wir ihr innerhalb der Lehre zuschreiben würden.
Die Frage gibt zu denken: dass ein solches Symposium überhaupt stattfindet,
verrät eine gewisse Ratlosigkeit. Chemiker veranstalten keine Symposien mit
dem Titel „Warum überhaupt Chemie?” Mediziner veranstalten keine Symposien
mit dem Titel „Was ist und soll eigentlich die Medizin?” Sie sind sich ihres
Weges sicher. Künstler dagegen beschäftigen sich heute gerne und oft mit der
Frage: „Was ist und soll eigentlich die Kunst?“ Und das so sehr, dass es
heute kaum mehr möglich ist, die Produktion von Kunst von der Bestimmung
ihres Wesens zu trennen. Kunsttheorie ist heute Teil der Kunst. Muss das so
sein? Der Frage: „Gehört die Theorie wesentlich zur Kunst?“ muss sich heute
jeder ernst zu nehmende Versuch, das Wesen
der Kunst zu bestimmen, stellen.
Nicht viel anders steht es mit der
Architektur. Ist nicht auch sie eine Kunst, wenn auch eine Kunst, die sich
immer wieder der Welt verkaufen und so ihr Wesen verraten muss? Und so ist
es nicht verwunderlich, dass sich heute mehr und mehr Architekten mit der
Frage herumschlagen: „Was ist Architektur?“, und das so sehr, dass es auch
hier nicht immer leicht ist, eine klare Grenze zu ziehen, die eine sich als
Kunst verstehende Architektur von Architekturtheorie trennt. Den
Theoriehunger, dem ich bei so vielen unserer Studenten begegne, nährt diese
Verwischung der Grenze, die einst Theorie und Architektur trennte. Solch
beirrendes Verwischen wiederum fordert mehr Theorie.
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Nun ist ein solches Verlangen nach Theorie nichts Neues. Schon in der
Einleitung zu Hegels Vorlesungen über Ästhetik finden wir diese
zukunftsweisenden Worte:
In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer
höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die
ächte Wahrheit und Lebendigkeit verloren, und
ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der
Wirklichkeit ihre frühere Nothwendigkeit behauptet, und ihren höheren Platz
einnähme. Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem
unmittelbaren Genuß zugleich unser Urtheil, indem wir den Inhalt, die
Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und
Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die
Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr
Bedürfniß, als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon
volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung
ein, und zwar nicht zu dem Zwecke Kunst wieder hervorzurufen, sondern was
Kunst sey wissenschaftlich zu erkennen.
Um uns zu befriedigen, braucht Kunst heute die Hilfe der Theorie. Und
das gilt mehr noch für die Architektur. Überleben auch Tempel und
Kathedralen als Zeugen vom dem, was Kunst einst bedeutete, so bleiben sie
doch stumm ohne den deutenden Text. Was wir unmittelbar erleben fordert
ergänzende Worte. Hegel allerdings lässt Architekturtheorie nicht zum Teil
der Architektur werden. Architekturtheorie, verstanden als wissenschaftliche
Bestimmung des Wesens der Architektur, als Theorie über Architektur, muss
also von Architekturtheorie, verstanden als Theorie in der Architektur,
unterschieden werden. Dass dieser Unterschied sich verwischt, ist zu
erwarten. So versteht heute so mancher Architekt, was er entwirft und baut,
als Architektur und Theorie.
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Wie nie zuvor gehört heute eine fragwürdige Liebe zur Theorie zur
Architektur. In ihrer viel benutzten Anthologie Theorizing a New Agenda
for Architecture: An Anthology of Architectural Theory 1965-1995 deutet
uns Kate Nesbitt solche Liebe als Reaktion auf eine Architektur, die sich in
den sechziger Jahren mit formelhaften Wiederholungen der maßgebenden Werke
des Modernismus begnügte.
Eine solche immer langweiliger werdende Architektur musste sich selbst in
Frage stellen. Aber das Wort „Langeweile” wird dem Unbehagen nicht gerecht,
das so viel, was Kultur heißt, nicht mehr als
bindendes Erbe, sondern als etwas Konstruiertes und Beengendes erfahren
ließ. Verunsicherung und Wegverlust nähren philosophische Betrachtungen,
fordern uns und gerade auch unsere Architekten auf, an solcher Konstruktion
oder vielmehr De- und Rekonstruktion der Kultur kritisch und Theorie-bewusst
mitzuarbeiten. In diesem Sinne stellt auch Michael Hays in seiner Anthologie
die theoretische Produktion der sechziger Jahre an den Anfang unserer
heutigen Architekturtheorie.
Schon der Modernismus brachte uns mit seinen Programmen and Manifesten eine
der geistigen Situation der Zeit entsprechende Theorie.
Zurückgewiesen wurde hier nicht nur die sich mit ästhetischen Verkleidungen
begnügende Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern auch Hegels
Satz, dass für uns die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung”
ein Vergangenes bleiben müsse. In Feiningers eine gotische Kathedrale in
moderne kubistische Formen übersetzenden Holzschnitt wurde diese
Zurückweisung zum Bild. Ihr entsprach Gropius’ Bauhausprogramm, dessen
Umschlag dieses Bild zierte. Und müssen wir dieser doppelten Zurückweisung
nicht immer noch folgen? Warum soll sich gerade uns Architektur „nach der
Seite ihrer höchsten Bestimmung” verweigern? Genügt nicht dieselbe
Vernunft, die uns Naturwissenschaft und
Technik, und damit auch eine noch nie gekannte Freiheit geschenkt hat, eine
Architektur zu schaffen, die mit ihren nackten Wänden und rechten Winkeln
dem modernen Menschen das ihm gemäße Haus baut? Genügt sie nicht, ein Ideal
aufzustellen, mächtig genug, Individuen in eine wirkliche Gemeinschaft
zurückzubinden, ohne ihrer Freiheit Abbruch zu tun, wobei so mancher moderne Künstler oder Architekt sich
ein solches Ideal nur als sozialistisches Paradies vorstellen konnte. Nun
mussten solche Träume immer wieder zerbrechen, nicht nur an der politischen Wirklichkeit, sondern auch an
dem Widerspruch, den dieses Ideal verbirgt.
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So kann es nicht überraschen, dass der Modernismus, übersetzt ins
Amerikanische als „the International Style”, den ihn einst tragenden Ethos
verlor und immer weniger überzeugte, immer mehr langweilte, und nicht nur
Architekten nach interessanteren Formen Ausschau halten ließ. Wieder fühlte
man sich auf dem falschen Weg, und wieder weckte solcher Wegverlust die Liebe zur Theorie, nun
verstanden nicht nur als Wesensbestimmung der Architektur, sondern als
Versuch, die Architektur dem zu öffnen, was sich in anderen Codes denken und sagen lässt. So umarmt die
Architektur heute Marxismus, Phänomenologie,
Semiotik und Psychoanalyse.
In diesem Zusammenhang betont Nesbitt zu
Recht die Bedeutung von Robert Venturis Complexity and Contradiction.
1966 erschienen, führte dieses Buch „zu einer radikal veränderten
Einstellung zur modernen Architektur.” Mit dieser Einschätzung folgte
sie Vincent Scully, der Venturis Buch in seiner Einführung „die
bedeutendste Schrift über die Produktion von Architektur seit Le Corbusiers
Vers une architecture von 1923” genannt hatte.
Dem Buch von Venturi wird hier eine vergleichbare epochale Bedeutung
zugeschrieben.
Die unbestreitbare Bedeutung dieses Buches darf uns nicht vergessen lassen,
dass Venturis Worte auf vorbereiteten Boden fielen. Zwei Jahre vorher hatte
das Museum of Modern Art Bernard Rudofskys
Architecture without Architects: A short introduction to non-pedigreed
architecture veröffentlicht, ein Buch das „einer ganzen Generation
von Architekten als Ausgangspunkt diente für ihre Versuche, dem Formalismus
des Modernismus zu entfliehen.”
Es gibt allerdings diesen entscheidenden Unterschied: Heidegger
vergleichbar, träumt Rudofsky von einem scheinbar zeitlosen Wohnen und
Bauen. Solch Bauen braucht keine Theorie. Venturi gehört einer anders
denkenden Generation an. Bezeichnend ist, wie
er sich in seinem Vorwort auf T. S. Eliots Worte über Analyse und Vergleich
als Werkzeuge der Literaturkritik beruft:
Diese kritischen Methoden gelten auch für die Architektur. Auch sie
enthüllt sich in der Analyse und Vergleiche machen sie lebendiger. Zur
Analyse gehört die Auflösung der Architektur in ihre Elemente, eine Technik,
von der ich oft Gebrauch mache, obwohl sie das Gegenteil ist von
Integration, dem eigentlichen Ziel der Kunst. Mag dies auch paradox
erscheinen, und ungeachtet der Vorbehalte vieler moderner Architekten, ist
solche Auflösung doch ein in allem schöpferischen Schaffen gegenwärtiger
Prozess und wesentlich für alles Verstehen. Selbstbewusstsein gehört
notwendig zum schöpferischen Schaffen und zur Kritik. Die Architekten von
heute wissen zu viel, um entweder primitiv oder völlig spontan arbeiten zu
können, und auch die Architektur ist zu komplex, um sich mit einer sorgsam
aufrecht erhaltenen Ignoranz angehen zu lassen.”
Analyse und Vergleich, so heißt es hier,
gehören wesentlich zum Verstehen und zum Erzeugen von Architektur. Damit
wird die Theorie zum Teil der gebauten Architektur. Wie von Hegel
vorausgesehen, breitet sich das Gefühl aus, dass ohne Theorie Architektur
heute nackt und stumm bleiben muss: es ist, als ob jemand das dazugehörige
Ornament heruntergerissen hätte. Um einem Werk wie
Venturis Guild House in Philadelphia gerecht zu werden, müssen wir
verstehen, wie dieses Altersheim mit seinen sechs Stockwerken mit der
Sprache seiner anspruchslosen Nachbarn, der Anspielung auf einen
dreistöckigen italienischen Palazzo und dem Erbe des Modernismus spielt.
Erst deutende Worte lassen uns dieses Gebäude als ein Hauptwerk seiner Zeit
verstehen. Ähnliches lässt sich von einem Architekten wie Peter Eisenman
sagen: erst die Theorie lässt seine Architektur wirklich sprechen.
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Solche Hinwendung zur Theorie verbindet Venturis Complexity and
Contradiction mit Andy Warhols Brillo
Box von1964. Hier war ein Werk, das in der Nachfolge von Duchamp die
Identifizierung des Kunstwerks mit dem vom Künstler ausgestellten Ding in
Frage stellte. Auf die Frage „Warum ist Warhols Brillo Box Kunst und nicht
die ganz ähnlich aussehende Brillo Box im Supermarkt?“ kann, wie Arthur
Danto betonte, das uns im Museum begegnende Ding allein keine Antwort geben.
Eine solche Antwort gibt erst die Philosophie. Hier also wird Theorie zum
wesentlichen Teil des Kunstwerks, das ohne solche Theorie seinen
Kunstcharakter verlieren würde. Und mit dieser Hinwendung zum deutenden Wort
hat Warhol einen Vorläufer in Philip Johnson, dem
eminence grise der postmodernen Architektur, dem auch Venturi viel verdankte. Charles Jencks’ Interpretation von
Johnsons Glass House von 1949 verweist
darauf, was kommen sollte:
Bewußt übertrieb der Entwurf dieses Werks die Grundsätze der modernen
Architektur in einer extremen und herausfordernden Weise. Der Effekt war
durchdacht und perfekt. Nicht die Durchdringung von Raum, sondern ein ganz
durchsichtiges Haus; nicht ein maschinell hergestelltes Büro, sondern ein
maschinell hergestelltes Cottage; nicht nur Asymmetrie, sondern verbunden
mit Symmetrie. Ein transparenter Spiegel wurde auf einen sorgsam gepflegten Rasen gestellt. Das Gebäude versah
Johnson mit einer ‘explication de texte’, die es den in die Moderne
Eingeweihten erlaubte, den Anspielungen zu folgen (zu den 27 gehörten Le
Corbusier, Van Doesburg, Malevitch, Mies, Ledoux und Schinkel). Dieses in
der Architectural Review veröffentlichte Programm verhalf zu einer
vollständigen Architektur-Erfahrung. Aber seine wirkliche Bedeutung besaß
dieses Haus als eine
gesellschaftliche Geste. Auf einmal war der Architektur-Journalismus
Teil des Objekts geworden. Marshall McLuhan, Tom Wolfe, und Robert
Rauschenberg wurden hier vorweggenommen. Plötzlich waren die die Architektur
feiernden Photographien genauso wichtig wie das Bauwerk. Bald konnte
Rauschenberg „ein Bild malen”, nur indem er behauptete: „Dies ist ein
Portrait von Iris Clert, wenn ich das so sage.” Aber Johnson war der Erste,
der die Folgen verstand, die ein höchst kultiviertes Publikum und neue
Kommunikationsmittel für die tradierte Architektur haben mussten.
Ich möchte den Satz „Auf einmal war der Architektur-Journalismus Teil des
Objekts geworden.” unterstreichen. Die Art, wie sich Theorie uns heute
oft als notwendige Zugabe jeder anspruchsvollen Architektur anbietet, wurde
hier vorweggenommen. In solchen Fällen können wir von einer Architektur des
gebauten Wortes sprechen.
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“Architektur des gebauten Wortes” – mit diesem Ausdruck greife ich
auf Tom Wolfes Charakterisierung des abstrakten Expressionismus als einer
Kunst des gemalten Wortes zurück. Damit gab Wolfe uns eine Formel, die uns
hilft, postmoderne Architektur, wie z. B. die von Venturi und Eisenman
besser zu verstehen, das ästhetische Addendum,
das nach Pevsner ein bloßes Gebäude – er nennt einen
Fahrradschuppen – von einem Werk der Architektur – er nennt die
Kathedrale von Lincoln – unterscheidet, anders zu deuten.
Was dem Architekten nun wichtig wird, ist nicht so sehr Schönheit, sondern
das Einsetzen von zu entziffernden Zeichen in die Architektur, Spuren, die
uns weg vom Gebauten zu einer
Gedankenarchitektur führen, die erst das Werk interessant macht.
Das harmonische Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft, in dem Kant
den Grund des ästhetischen Wohlgefallens
suchte, ersetzt nun ein bloßes Gedankenspiel, ein Spiel der Vernunft. Soll
ein Bauwerk Anstöße zu solchem Spiel geben, muss
es in ihm unerwartete, nicht leicht zu deutende Elemente geben, die der
Theorie ein Fenster öffnen. Das überzeugende Einsetzen von solchen Elementen
gelingt nur einem gedankenreichen, in der Theorie und Geschichte der Architektur versierten
Architekten, der es versteht, das Wort, dem einst alle große Architektur im Westen diente, mit Worten zu
ersetzen, die, wenn auch nicht mehr einer als bindend erfahrenen
Wirklichkeit verpflichtet, doch interessant genug sind, um uns in ihr Spiel
hineinzuziehen.
Kundera sprach von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Lässt sich
Ähnliches nicht auch von unserer Architektur sagen?
Wie viel Architektur bleibt heute ohne Gewicht und nackt ohne die
Einkleidung durch einen interpretierenden
Text. Dass die Architektur in den letzten Jahrzehnten sich wie nie zuvor der
Theorie geöffnet hat, hat seinen Grund in der Erfahrung solcher Blöße. So
wird in vielen Architekturschulen Theorie zu einem seltsamen und
fragwürdigen Ornament. Aber ohne etwas, das die bindende Kraft des
biblischen Wortes, in dem unsere Kunst einst ihren Grund fand, ersetzen
könnte, muss solch Theoretisieren in irgendeine Spielart von Hermann Hesses
Glasperlenspiel abrutschen. Solch Spiel kann geistreich und amüsant sein,
weist aber keine Richtung. Die Ornamentalisierung der Theorie, der sich
heute so mancher renommierte Architekt verschrieben hat, bestätigt nur, dass
solche Architektur ihren Weg verloren hat. Aber Wegverlust, wie schon
Aristoteles wusste, weckt immer aufs Neue Theorie: Theorie die die Aufgabe
hat, den gegangenen Weg kritisch zu
überdenken, auch das vorausgesetzte Ziel, um vielleicht der eingeschlagenen
Richtung eine andere entgegenzustellen. Ohne die kritische
Auseinandersetzung mit der Geschichte der Architektur, und das heißt auch
mit der Geschichte, bleibt alles Theoretisieren über die Zukunft der
Architektur nur ein Gedankenspiel. Dazu gehört auch die kritische
Auseinandersetzung mit der heute gerade in den Universitäten so weit
verbreiteten und doch so fragwürdigen Liebe zur Theorie. Eine solche Auseinadersetzung kreist um die
Frage: Hilft uns solche Theorie, die
Leichtigkeit unseres heutigen Wohnens und Bauens besser zu ertragen,
vielleicht durch den Nachweis, dass solche
Leichtigkeit nur die Kehrseite einer Freiheit ist, die mit Bataille hinter
jeder platzanweisenden Architektur das Gefängnis wittert? Aber der Traum der
Aufklärung, dass die reine Vernunft, wie Kant es erwartete, die Freiheit
binden könnte, ist ausgeträumt. Doch ohne Bindung wird Freiheit zur Willkür.
Was aber kann und soll die Freiheit heute binden? Der Versuch, die Vernunft
an die Stelle des von Nietzsche totgesagten
Gottes zu stellen, ist gescheitert. Ist es dann der von Nietzsche
beschworene immer wieder überkritzelte ewige Grundtext homo natura,
dem sich die Theorie heute zu stellen hat?
Ich habe solche Fragen hier nur angeschnitten. Einen Fingerzeig gibt uns
vielleicht Hans Blumenberg, wenn er in seinem Buch Die Vollzähligkeit der
Sterne die Frage stellt: warum eigentlich Weltraumfahrt und Mondflug?
Genügt als Antwort der Hinweis auf jenes Verlangen zu wissen, nur um zu
wissen, das nach Aristoteles unser Menschsein mitbestimmt, auf jene Neugier,
in der er den Ursprung aller Philosophie und Wissenschaft suchte? Dann wäre
es nichts anderes als der Ruf unserer Vernunft, der uns immer wieder
auffordert, den uns von unserer Um- und Mitwelt angewiesenen Ort und die
damit verbundenen Perspektiven zu übersteigen, dieses Fernweh, das uns ein
wirkliches Zuhause verweigert und jede platzanweisende Architektur in Frage
stellt. Immer wieder wird uns unsere Neugier irgendein Paradies verlieren
lassen, ein Verlust, der nur eine Folge unserer Wahrheit fordernden Freiheit
ist. Voraussetzung jeder Wahrheitssuche ist
Objektivität, und Objektivität wiederum bedeutet ein Ausklammern aller
subjektiven Interessen. Mit solchem Ausklammern aber „löst sich diese
Welt von allen an ihr beteiligten Subjekten ab zu jener Sphäre der
Gleichgültigkeit gegen alle."
Dieser Gleichgültigkeit der Welt entspricht der Verlust der Menschlichkeit.
Beide haben ihren Grund in der Selbsterhebung des erdgebundenen Subjekts,
das sich vollendet, „indem es das schwerste aller Zugeständnisse macht,
die ihm zugemutet werden können: seine Welt die Welt werden zu
lassen, seine Lebenszeit im Verband
der Lebenszeiten zu der Weltzeit sich entfremdet zu sehen.”
Unsere moderne Welt, die uns solches Zugeständnis abzwingt, ist somit alles
andere als gemütlich. Die schwer zu ertragende Leichtigkeit unseres
Bauens spricht von diesem Verlust an Gemütlichkeit. Das Wort allein
genügt vielleicht einem auf der Höhe der
gegenwärtigen Diskussion stehenden Theoretiker, was ich hier zu sagen habe,
als Worte eines theoretischen Sauriers abzutun. Aber das Verlangen nach
einem Zuhause und einer diesem Verlangen entsprechenden Architektur lässt
sich nicht so einfach abschütteln. Der Zwiespalt von Fernweh und Heimweh in
uns allen lässt sich nicht heilen, ein Grund mehr, auf Blumenberg zu hören,
wenn er der zentrifugalen Sehnsucht der Astronauten, ihr zentripetales
Verlangen heimzukehren, entgegenstellt.
Man muß [sich] bei diesen Überlegungen die eigentümliche Kontingenz …
vergegenwärtigen, daß die durch ihre Weltstellung so diskriminierte Erde –
die einmal vor Kopernikus als ausgezeichneter Platz für die theoria
der Welt gegolten hatte, an dem einem ‘nichts entgehen’ konnte – durch die
Technik der Raumfahrt unerwartet eine gnädige Eigenschaft ‘gezeigt’ hat: die
der möglichen Heimkehr zu ihr, wenn man so neugierig oder geltungssüchtig
gewesen ist, sie zu verlasen. Odysseus, nochmals und gewandet in den
Raumanzug einer Menschheitsfigur: Nach Ithaka heimzukehren, dabei ist es
geblieben, erfordert und verlohnt den weitesten Umweg.
Blumenberg eröffnet hier die Möglichkeit einer post-postmodernen Geozentrik.
Und damit gibt er auch der Architekturtheorie einen Hinweis auf eine
mögliche Heimkehr nach den Raumfahrten einer Theorie, die die Erde tief
unter sich gelassen hat, auf die Möglichkeit, der Liebe zur Theorie mit der
Liebe zur Erde zu begegnen. Hier ist ein Knochen, an dem wir noch lange
werden nagen können.
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