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Die Frage zu stellen,
was Architekturtheorie heute bedeutet, heißt, eine Grundsatzfrage
aufzuwerfen und Positionierungen herauszufordern. Eine Fülle von Editionen
aus den letzten Jahren, die Texte zur Architekturtheorie versammeln, wie
auch die hier initiierte Umfrage zum Stand der Architekturtheorie belegen,
dass derzeit Interesse an grundlegenden Klärungen besteht. Das Interesse ist
ein Indikator: Es verweist auf einen offensichtlichen Diskussionsbedarf. Und
die Frage kommt auf, warum dieser Bedarf eigentlich genau jetzt artikuliert
wird.
Mögliche Antworten lassen sich durch einen Blick auf das Umfeld heutiger
Arbeit von Architekten und Architektinnen finden:
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Ihre
durchschnittliche wirtschaftliche Lage ist derzeit besonders in Deutschland,
wie Kammerstatistiken zum Einkommen ihrer Mitgliedschaft belegen,
katastrophal. Das ist verbunden mit dem Verschwinden der gesellschaftlichen
und ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen freie Architekten und
Architektinnen mit kleineren Büros agieren können: Mittelständische
Strukturen verschwinden im Baugewerbe insgesamt und damit auch die
Möglichkeiten dieser Büros zu überleben.
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Internationale Abkommen wie das GATS, die Übereinkunft über den Austausch
und Handel von Dienstleistungen, öffnen die bisher national oder aber
innerhalb Europas abgeschotteten Märkte für Architektenleistungen. Die
bislang national zugelassenen Architekten und Architektinnen spüren
zunehmend internationale Konkurrenz – mit der Perspektive, dass sich diese
Konkurrenz verstärken wird. Das verändert die Grundlagen der Profession
erheblich.
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Die Bauten,
die Architekten oder Architektinnen entworfen und realisiert haben, stellten
immer schon einen vergleichsweise kleinen Teil des insgesamt Gebauten dar.
Doch nimmt die Menge an Bauwerken, die ohne professionalisierte Architektur
auskommen, weiter zu. Unter anderem hängt diese Entwicklung zusammen mit
veränderten Formen der Vorfertigung, beispielsweise mit der Möglichkeit, die
Herstellung von individuell anmutenden Varianten von Fertighäusern
industriell zu realisieren.
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Die
Bedingungen von Architektur ändern sich aufgrund technologischer Umbrüche,
die zunehmend Gebäudetechnik bis unter die Haut eines Bauwerks setzen und
Architekten und Architektinnen im Bauteam und in seiner neuen Ordnung oft
nur noch die Fassade, das Design, die Hülle und das Image des Bauwerks
überlassen: Architekten oder Architektinnen nehmen keinesfalls mehr
selbstverständlich die führende Position im Bauprozess ein.
Zwischenfazit der Stichwortsammlung: Der Ruf nach Theorie entsteht also in
einer Umbruchsituation der Architektur, die Technologien, wirtschaftliche
Möglichkeiten, Berufsbilder und die Internationalisierung der rechtlichen
Grundlagen der Profession betrifft. Die Nachfrage nach Theorie ist in dieser
Lage, so meine Annahme, alles andere als eine theoretische Frage, sondern
eine Frage nach Orientierung und Legitimation, nach Selbstvergewisserung und
Selbstbewusstsein.
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Eine fünfte
Veränderung, die die Theorie auf den Plan ruft, spielt in einem anderen
Feld. Sie ist inner-akademischer Art, fordert aber gleichermaßen die Theorie
heraus: Neuerdings soll die Architektur an der Universität forschen, auch
das, wie die generelle Nachfrage nach Theorie, ein internationales Phänomen.
Der Hintergrund ist, dass akademische Disziplinen sich dadurch bewähren
müssen, dass sie Forschungsergebnisse erzeugen, Dissertationen,
Publikationen, Auftritte, die sich in akademischen rankings und über
bisher bekannte und – noch nicht immer den Bedingungen und Aufgaben der
Architektur(ausbildung) angepasste – Evaluationsmethoden erfassen lassen.
Das ist für die Architektur eine neue Lage: Forschen in diesem Sinne musste
sie noch nie – auch wenn sie immer Wissen und ständig neues, innovatives
Wissen produziert hat.
Mit diesen Aspekten sind sicher nicht alle derzeitigen Umbrüche der
Profession und ihrer akademischen Situation erfasst. Doch reicht die Skizze,
um meine These zu untermauern: dass die Dringlichkeit der Frage nach der
Architekturtheorie in einem zeitlichen, möglicherweise auch sachlichen
Zusammenhang mit einem irritierten Selbstverständnis der Architektur heute
steht. Ich gehe davon aus, dass das derzeitige Interesse an
Architekturtheorie nicht so groß wäre, wenn die wirtschaftlichen und
berufspolitischen Fragen, die sich aus derzeitigen Entwicklungen stellen,
für die Architektur nicht so brennend wären.
Für die konkreten Antworten auf die vier zuerst genannten Fragen sind sicher
vor allem Berufspolitik und Unternehmensberatung zuständig. Und doch
verweisen die Bedingungen des Umfeldes, in denen heute Architektur entsteht,
die Disziplin insgesamt in eine Situation der Selbstreflexion. Und da kommt
Architekturtheorie ins Spiel. Um einer Antwort auf die Frage danach, was
Architekturtheorie heute bedeutet und leisten kann, näher zu kommen,
formuliere ich sieben Thesen und eine kurze Zusammenfassung. Die Thesen
betreffen das Wissen der Architektur, die Rolle der Architekturtheorie in
Beziehung dazu und die meines Erachtens derzeit wichtigsten Felder
architekturtheoretischer Arbeit.
Das Wissen der Architektur: Thesen
1. Architektur ist ein interdisziplinäres Feld. Architektur ist
Entwurf, Technologie, Baupraxis. Am besten ist der Konnex aufgehoben in dem
heute antiquiert klingenden Begriff „Baukunst“, der eben auch die
Technologie in einem älteren Verständnis des Ausdrucks als „Kunst“ umfasst.
Insofern ist Architektur interdisziplinär ab ovo. Mit spezialisierten
Disziplinen hat Architektur deshalb kaum eine strukturelle Verwandtschaft.
Architektur ist befasst mit der gebauten Umwelt des Menschen. Meist hat sie
sich auch in diesem umfassenden Sinne in Bezug auf andere Disziplinen oder
Formen des Wissens verstanden, andererseits hat sie Zwischenräume besetzt
zwischen Disziplinen und sie in großer Vielfalt genutzt, um deren Entwürfe
der Wirklichkeit in einer architektonischen Form, in Entwürfen und Bauten,
zur Materialisierung zu bringen.
Es ist eine die Architektur auszeichnende Eigenschaft, dass sie aus allen
möglichen Wissensbereichen Elemente und Strukturen aufnimmt, die dann in
eine je neue Einheit integriert werden. Insofern gibt es keine prinzipielle
Abhängigkeit von einzelnen Disziplinen, die der Architektur und ihrer
Theoriebildung eigen wäre, und auch keine in der Geschichte der
Architektur(theorie) durchgehaltene Option für bestimmte Wissensbestände.
Stattdessen existieren – in deutlicher Abhängigkeit von aktuellen
Problemlagen, denen sich die Architektur, beziehungsweise das Bauen,
ausgesetzt sahen und sehen – sich stark wandelnde, mehr oder weniger
ausgeprägte Bezüge der Architektur(theorie) zu bestimmten Disziplinen,
Techniken und Technologien, die primär anderen Wissensbeständen zuzuordnen
sind.
2. Architekturtheorie ist das Reflexionsmedium der Architektur. Ihre
Themen zeigen deutliche Konjunkturen. Das Reflexionsmedium dieser Bezüge ist
Architekturtheorie, deren Beginn ich unabhängig von der akademischen
Etablierung des Fachs sehe. Traktate, Viten und Ciceroni, Beschreibungen in
unterschiedlichen Textsorten (Briefe, Reisebücher, Rechenschaftsberichte,
Romane) sowie die so genannte Kunstliteratur sind die jeweils zeittypisch
ausgeprägten theoretischen und reflektierenden Medien der Architektur,
Architekturtheorie avant la lettre.
Diese Reflexion hat deutliche Konjunkturen, die teilweise den Mustern der
Reflexionsformen anderer Künste und Technologien folgen. Manchmal scheinen
die Theorie oder das Interesse daran auch zu verschwinden. Doch wird die
Reflexion allenfalls kurzfristig ausgesetzt: Implizite Theoreme, wie sie für
die Manifest- und Verlautbarungskultur der Moderne und derzeit für die durch
Marketing geleiteten Ausrufungen neuer Stile oder Tendenzen charakteristisch
sind, bleiben Theoreme, auch wenn sich ihre Formen der Artikulation gegen
Explizierung, Vertiefung und Diskussion zu sträuben scheinen. Aufgabe einer
qualifizierten Architekturtheorie, die sich akademischen Standards der
Diskussion verpflichtet weiß, ist, auch sie einer Reflexion zu öffnen.
3. Es gibt charakteristische Formen der Aneignung von Wissen und des
Umgangs damit in der Architektur. Wissen aus zunächst architekturfernen
Diskursen gelangt in die Architektur und in ihre Theoriebildung oft in einer
Weise, die als „metaphorisch“ zu charakterisieren ist. Was anverwandelt
wird, sind dabei oft nur Bilder, Stichworte, Vorstellungen oder Theoreme aus
anderen Wissensbeständen.
Die metaphorische Aufnahme von Wissen, die nicht nur die Architekturtheorie,
sondern auch die Konzeptbildung in der Entwurfspraxis auszeichnet, ist ein
kreativer Prozess, der Wege – des Entwurfs, der Konzeptualisierung –
eröffnet, die bis zu genau dieser Aufnahme von Bildern, Stichworten,
Vorstellungen und Theoremen nicht gangbar waren. Insofern gibt es hier eine
besondere Art der Anverwandlung von Wissensbeständen, die sie auf die
bauliche Gestaltung der menschlichen Umwelt bezieht.
Interdisziplinäre Grauzonen der Zugehörigkeiten von Bildern und Konzepten
entstehen, in denen die Wissenschaften, aus denen die aus der Perspektive
der Architektur „ursprünglichen“ Ideen stammen, ihren Beitrag nicht mehr
wiedererkennen: Er ist durch die Praxis und die Theorie der Architektur
hindurchgegangen und hat sich in diesem Prozess verschoben, verändert, eine
andere Gestalt angenommen.
Jede/r, der oder die sich mit dem Hin- und Hergehen zwischen Architektur und
anderen Disziplinen befasst, kennt das Problem der Rückübersetzung und
Rückvermittlung dessen, was aus der einen Disziplin in die andere gelangt.
Man denke hier beispielsweise an die Diskussion der „Falte“ in den 1990er
Jahren, die Deleuzes Interpretation einer Denkfigur von Leibniz aus der
Philosophie in die Architektur übersetzte und die Rückübersetzung
angemessenerweise eindeutig nicht zu ihren Anliegen zählte. Das ist übrigens
ein durchaus übliches Phänomen in der gegenseitigen Befruchtung
verschiedener Formen des Wissens: die metaphorische Aneignung und
Anverwandlung anderer Ideen, Techniken und Wissensbestände.
4. Architektur und Architekturtheorie sind historisch wie systematisch
als Diskurs zu verstehen. Dieser Ansatz bedeutet, die Aufmerksamkeit auf
Legitimationen von Sprechern und Sprecherinnen, Wahlen von
Wirklichkeitsausschnitten, Umstände und Kontexte, legitimierende
Institutionen und Traditionen zu richten, das heißt, die Dispositive, die
Muster zu identifizieren, die die Wissensordnung in dem Bereich
strukturieren, der heute als Architekturtheorie akzeptabel ist. Das heißt
auch, die Praxis, für die und mit der sie entstehen, in die Betrachtung
einzubeziehen.
Ich begreife Architekturtheorie auch nach ihrer universitären Etablierung
nicht als Disziplin, sondern als Fach, das den reflektierenden Diskurs über
Architektur bündelt, und ziehe aus dieser Position die Ansätze zum Begreifen
dessen, was in der Architekturtheorie jetzt geschieht und weiter
sinnvollerweise geschehen sollte.
Aus dieser Perspektive scheint mir eine der Aufgaben der Architekturtheorie
zu sein, die eigene Geschichte zu schreiben, dabei die unterschiedlichen
Bezugnahmen auf andere Disziplinen und Diskurse auszuzeichnen, den in der
Geschichte der Architekturtheorie unterschiedlichen Kontakt mit als anders
begriffenen Wissensordnungen zum Thema zu machen und genau diesen Weg, der
sich auf die gebaute Umwelt bezieht, als charakteristisch für den Prozess
der Architektur und der Architekturtheorie zu verstehen.
5. Die Wissen(schaft)sgeschichte der Architektur ist noch zu schreiben.
Zu dieser Form der Vergewisserung gehört die Untersuchung der Ränder der
Architekturtheorie in der Gewissheit, dass andere Disziplinen mindestens
ebenso deutlich Anleihen in der Architektur(theorie) machen wie die
Architektur(theorie) sich herstellt im Austausch mit Philosophie und
Kunstgeschichte, Ingenieurwissenschaften und Medienentwicklung, Soziologie
und Genderforschung und vielen anderen. Wichtig wäre also ein Bewusstsein
über das Ineinanderfließen von Wissensformen in der jeweils im Zentrum
gedachten Disziplin, die sich dadurch konstituiert, dass sie auf spezifische
und erkennbare Weise ihren Diskurs ausprägt und legitimiert.
Daraus ließe sich das Programm einer Untersuchung des Wissenstransfers und
der Bedingungen und Möglichkeiten der assoziativen Form des Wissenserwerbs
entwickeln, eine notwendige Auseinandersetzung mit einer
Wissenschaftsgeschichte / Wissensgeschichte der Architektur(theorie)
angesichts der derzeitigen Forderungen an die Architektur(theorie), zu
„forschen“ und sich damit ihres akademischen Status zu versichern.
6. Architekturtheorie liefert Werkzeuge für die Architektur. Eine
Aufgabe der Architekturtheorie ist die Bildung von Begriffen und die Kritik
von Konzepten, die Untersuchung von Normen und die Etablierung eines
kritischen Potentials der Architekturreflexion. In dieser Hinsicht
unterscheidet sie sich nicht von Wissenschafts-, Kunst-, Literatur- oder
Gesellschaftstheorie.
Indem Architekturtheorie wie jede andere Theoriebildung auch Konzepte
erzeugt, erzeugt sie Werkzeuge: Denn diese Konzepte dienen dem Begreifen der
Praxis und ihrer Weiterentwicklung. Sie sind deshalb als Technologien zu
verstehen, die zwar keine materiale Entsprechung haben, aber materiale
Effekte erzeugen insofern, als sie den Prozess der Architektur lenken, wie
sie von ihm gelenkt werden.
7. Zentrale Themen der Architektur(theorie) heute sind Wahrnehmung, Raum,
Stadt und Aneignung. In der langen Geschichte der Reflexion der
Architektur haben sich die „schönen“ Künste, Tonsysteme der Musik, dazu
Religion, Staats- und Gesellschaftssysteme oder Stilgeschichte in ihrer
jeweils zeittypischen Ausprägung als über einen gewissen Zeitraum bevorzugte
Anknüpfungspunkte gezeigt.
Keine dieser Disziplinen und Ordnungen spielt meines Erachtens heute eine
entscheidende Rolle für die theoretische Auseinandersetzung um Architektur.
Dafür aber gibt es viele andere Bezüge, die an jeweils dringende und
teilweise hoch spezialisierte Fragen der Architektur anschließen, und denen
die Architekturtheorie folgt.
In der Darstellung folge ich dem Vorschlag des Thesenpapiers zur
Diskussionsrunde, die dieser Publikation vorausgegangen ist. Es hat die
Themen Wahrnehmung, Raum, Stadt und Nutzer als Ausgangspunkte vorgeschlagen,
wobei ich den Term „Nutzer“ übersetzen möchte mit „Aneignung“. Davon
ausgehend lassen sich zentrale Themen der Architekturtheorie definieren und
die Bezugsdisziplinen benennen.
Wahrnehmung
(1) Im Zentrum sehe ich derzeit die Auseinandersetzung mit dem Wahrnehmen
der Umwelt in Reaktion auf die generelle Mediatisierung des Weltbezuges.
Diese Entwicklung stellt nach wie vor die meisten Fragen an eine Disziplin,
die an die materiale und körperhafte Realisierung ihrer Produkte gebunden
ist. Bezugsdisziplinen sind hier Medientheorie, Wahrnehmungsgeschichte,
Ästhetik und Kommunikationswissenschaften.
(2) Im Zusammenhang mit diesen Fragen steht die nach der Repräsentation
und der Repräsentierbarkeit von Architektur. Bezugsdisziplinen sind hier
Semiotik, Technikgeschichte, Wissenschaftstheorie und Bildwissenschaft.
(3) Auf die Mediatisierung des Weltbezuges reagieren mehrere Disziplinen,
die sich einer leibhaften Erfahrung verpflichtet fühlen, mindestens
aber den Körper und die Sinnlichkeit im theoretischen Spiel halten
wollen: Dazu gehören die Phänomenologie, besonders in ihrer Befragung der
„Atmosphären“, und die Historische Anthropologie, die nach der Relation von
Körper und (gebauter) Umgebung fragt. Dazu gehört auch die philosophische,
kulturhistorische wie ästhetisch-kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung
mit Materialität und die Untersuchung des Bezugs zu den Dingen.
(4) Die Auseinandersetzung mit Ästhetik im Allgemeinen, mit dem
Schönen, Hässlichen, Interessanten und anderen ästhetischen Konzepten im
Besonderen, ist kein neues, aber ein nach wie vor aktuelles Thema. Hier ist
an eine lange Tradition anzuknüpfen, die in Philosophie, Kunstgeschichte und
Kunstwissenschaft wie Medientheorie ihre Bezüge findet.
Raum
(5) Telekommunikationstechnologien wie Migrationsbewegungen
haben die Herstellung, die Nutzung und das Begreifen von Räumen verändert.
Wirtschaftlich wie politisch bedingte Bewegung und ihre räumlichen
Manifestationen finden sich reflektiert in Überlegungen zum Kurzfristigen,
zum Provisorium. Das macht die Qualitäten von Raum und Zeit zu
Schlüsselthemen aktueller Forschung.
(6) In einem weiteren Sinne gehört in diesen Themenkreis auch die Beziehung
auf die Bedingungen von Architektur in „globalisierten“ Märkten.
Bezugsdisziplinen sind hier unter anderem Soziologie, Volkswirtschaft,
Politikwissenschaft, Siedlungsgeographie, Kommunikationswissenschaft.
(7) In Bezug auf veränderte Raumerfahrungen ist die Frage der
Lokalisierung und Identifizierung, d. h. die Frage nach der Qualität von
Orten als Schnittpunkten sozialer Aktivitäten, ins Spiel gekommen.
Bezugsdisziplinen sind hier Ethnologie und Psychologie.
(8) Die Frage der Grenze, der Scheidung von Innen und Außen, ist ein
altes architekturtheoretisches Thema, das derzeit in Bezug auf seine
materiellen, biologischen, kommunikativen und weitere Aspekte befragt wird.
Bezugsdisziplinen sind hier Biologie, Medizin und Medientheorie.
Stadt
(9) Mit veränderten ökonomischen Bedingungen nehmen soziale Spannungen in
den alten Städten zu, die ihre Charakteristik als Austragungsorte
gesellschaftlicher Konflikte (Manuel Castells) rechtfertigen: Spannungen
drücken sich in Segregations- und Desintegrationsprozessen aus und zeigen
sich in konkreten Konfrontationen von ethnisch und religiös identifizierten
Gruppen, in der öffentlichen Vernachlässigung einzelner Stadtteile ebenso
wie in Null-Toleranz-Politiken gegen obdachlose Stadtbewohner.
Bezugsdisziplinen sind hier Stadtsoziologie, Ethnologie,
Wirtschaftswissenschaften, Bezugswissen aus Verwaltungen oder
Sozialeinrichtungen.
(10) Städte wuchern weltweit, sie haben ihre juristisch bestimmten Grenzen
oft überschritten und teils ad absurdum geführt, ihre Form verliert sich in
ihren Umgebungen. Es entstehen Gebiete unklarer Qualität in den noch nicht
hinreichend begriffenen Räumen zwischen alten und neuen Gewerbegebieten,
urbanen Zonen und Siedlungen verschiedenster Art: Sie werden derzeit unter
anderem unter der Bezeichnung Zwischenstädte diskutiert. Unter
anderem in diesem Zusammenhang stellt sich für die Architektur die Frage
nach Ressourcen und ihrem Gebrauch. Bezugsdisziplinen für die
Architekturtheorie sind hier Stadt- und Regionalplanung, Verkehrswesen,
Stadt- und Bauökologie, Stadtsoziologie; Bezugswissen kommt unter anderem
aus Verwaltungen oder Verkehrsbetrieben.
(11) Im Zuge der Diskussion um die Stadt zieht das Konzept der Landschaft
Aufmerksamkeit auf sich und wird in dreierlei Hinsicht diskutiert: Als
Grund, in den sich die Stadt als Figur einschreibt oder einschreiben soll,
als zu gestaltender „grüner“ Teil einer als ubiquitär angenommenen urbanen
Struktur oder als Form der ästhetischen Anschauung, die ausnahmslos
sämtliche Territorien in ihren Fokus nehmen kann. Bezugsdisziplinen sind
hier Landschaftsplanung, philosophische Ästhetik, Kunsttheorie,
Naturästhetik oder Stadtökologie.
Aneignung
(12)
Die problemloseste und dennoch anstrengendste Form der Verbindung von
Architektur und Nutzung ist die Aushandlung dessen, was erwünscht ist – als
öffentlicher Raum, als Wohnanlage, als Umfeld vieler Lebensvollzüge. Nach
vielen Experimenten gibt es mittlerweile die Kommunikationsstrukturen und
ihre ModeratorInnen, die in der Lage sind, Prozesse der Abstimmung zu
unterstützen und in ihrem Aufwand zu minimieren. Bezugswissen kommt hier von
Moderatoren und Moderatorinnen, von Gemeinden, von Initiativen, von
Verwaltungen, von BürgerInnen.
(13) Angesichts wachsender Unterschiede im Einkommen und einer
demographischen Entwicklung, die neue Anforderungen stellt, ist die
Leistungsfähigkeit des Marktes als Regulativ der Vermittlung von
Architektur und NutzerInnen zu überdenken. Bezugsdisziplinen der
Architekturtheorie könnten hier Soziologie, Wirtschafts- und
Politikwissenschaft wie Psychologie sein. Bezugswissen bieten auch hier
Gemeinden, Verwaltungen oder Initiativen von BürgerInnen.
(14) Neue soziale Konstellationen (Stichworte: Patchworkfamilien,
Zunahme von Singlehaushalten, Altenwohngemeinschaften u. a.) verlangen neue
architektonische Lösungen, für deren Ausarbeitung theoretische Entwürfe
einen Beitrag leisten können. Bezugsdisziplinen und Bezugswissen sind hier
dieselben wie bei den letztgenannten Themen.
Zum Schluss: Architekturtheorie als Reflexionsraum
Fragt man nach Architekturtheorie, steht auch die Ausbildung künftiger
Architekten und Architektinnen zur Debatte. Ich gehe davon aus, dass sich
das Berufsbild für Architektinnen und Architekten verändern und in mancher
Hinsicht weiter einschränken wird. Doch daneben besteht die Möglichkeit,
dass die Qualifikationen von Architekten und Architektinnen auch ihren
professionellen Spielraum verlagern und erweitern. In der Ausbildung ist
heute eine weitgehende Kompetenz im Entwurf nicht allein von Bauten, sondern
von Raumkonzepten erfordert. Eine zeitgemäße Architektur(ausbildung) müsste
sich auf Wissen und Praktiken beziehen, die raum-zeitliche Antworten auf
raumbezogene Vorstellungen liefern können. Das Ergebnis wären dann nicht
unbedingt nur Bauten, können es aber sein, und sind natürlich nach wie vor
Ausdruck der für die Architektur charakteristischsten Praxis. In der
Formulierung dieser Konzepte ist die Architekturtheorie gefragt.
Ich halte heute einen Architekturbegriff für angemessen, der sich nicht
allein auf die ästhetisch-funktionale Gestaltung zurückzieht, sondern die
Bedingungen sozialer, ökonomischer, anthropologischer und historischer Art
ebenso mit einbezieht wie funktionale, technische, ökologische und
ästhetische Konzepte. Aus dieser Perspektive lässt sich meines Erachtens
auch leichter die Frage der Kultivierung des Alltags durch Architektur und
die nach dem sozial sinnvollen und für seine immer öffentliche Funktion
ästhetisch anspruchsvollen Bauen, nach „Baukultur“ und „Stadtkultur“
stellen.
Architekturtheorie treiben heißt in jedem Falle, der „Baukunst“ eine
Reflexionsebene einzuziehen. In Verbindung mit dem Wissen, das in die
Architektur eingeht, stehen dabei auch prinzipielle Fragen der Ethik, der
Ästhetik, des Gesellschaftsbezuges zur Debatte. Zu den unmittelbaren
Effekten können heute unter anderem gehören: die kritische Begleitung der
Vielzahl von Moden und Marketingansätzen von Architektur, die Kritik der
Stararchitektur, die derzeit das öffentlich vermittelte Bild prägt, aber als
Leitstruktur nicht verfängt, die Auseinandersetzung mit Programmatiken, die
manchmal nur technische Verlautbarungen sind – und nicht zuletzt die
Entstehung von Entwürfen für die Zukunft der Architektur.
Architekturtheorie kann keine autorisierende „Überblicksfunktion“ einnehmen,
dazu gehören in ihr Gebiet zu disparate Themen, Zugänge und Methoden. Der
normative Anspruch an die Architekturtheorie, der mir in letzter Zeit in
mehreren Diskussionen als Hoffnung entgegengekommen ist, war historisch
gesehen ohnehin nur ein kurzlebiges Phänomen. Seit der Aufklärung ist die
einheitliche Norm nur um den Preis der autoritären Geste und des
Kommunikationsabbruchs mit anderen Positionen zu haben. Architekturtheorie
kann aber eine permanent zu revidierende Orientierungsfunktion ausüben,
wobei eine ihrer Aufgaben ist, Formen zu entwickeln, die erlauben, mit der
Pluralität der Ideenwelten und der Spezialisierung der Fragestellungen
gleichzeitig umzugehen. Der oben skizzierte Ansatz ist ein Vorschlag dazu,
der Vielfalt der Fragen, Themen und Wissenstypen zu begegnen.
Letztinstanzlichkeit ist von der Architekturtheorie, wie ich sie hier
reformuliert habe, also nicht zu erwarten, sondern etwas Besseres: die
Reflexion des vielfach vernetzten Prozesses der architektonischen
Wissensproduktion auf der Suche nach den besten Lösungen für die Gestaltung
raum-zeitlicher Bedingungen.
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