Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Susanne Hauser
Graz
  Das Wissen der Architektur
Ein Essay aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

 

   

Die Frage zu stellen, was Architekturtheorie heute bedeutet, heißt, eine Grundsatzfrage aufzuwerfen und Positionierungen herauszufordern. Eine Fülle von Editionen aus den letzten Jahren, die Texte zur Architekturtheorie versammeln, wie auch die hier initiierte Umfrage zum Stand der Architekturtheorie belegen, dass derzeit Interesse an grundlegenden Klärungen besteht. Das Interesse ist ein Indikator: Es verweist auf einen offensichtlichen Diskussionsbedarf. Und die Frage kommt auf, warum dieser Bedarf eigentlich genau jetzt artikuliert wird.

Mögliche Antworten lassen sich durch einen Blick auf das Umfeld heutiger Arbeit von Architekten und Architektinnen finden:
 

-          Ihre durchschnittliche wirtschaftliche Lage ist derzeit besonders in Deutschland, wie Kammerstatistiken zum Einkommen ihrer Mitgliedschaft belegen, katastrophal. Das ist verbunden mit dem Verschwinden der gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen freie Architekten und Architektinnen mit kleineren Büros agieren können: Mittelständische Strukturen verschwinden im Baugewerbe insgesamt und damit auch die Möglichkeiten dieser Büros zu überleben.

-          Internationale Abkommen wie das GATS, die Übereinkunft über den Austausch und Handel von Dienstleistungen, öffnen die bisher national oder aber innerhalb Europas abgeschotteten Märkte für Architektenleistungen. Die bislang national zugelassenen Architekten und Architektinnen spüren zunehmend internationale Konkurrenz – mit der Perspektive, dass sich diese Konkurrenz verstärken wird. Das verändert die Grundlagen der Profession erheblich.

-          Die Bauten, die Architekten oder Architektinnen entworfen und realisiert haben, stellten immer schon einen vergleichsweise kleinen Teil des insgesamt Gebauten dar. Doch nimmt die Menge an Bauwerken, die ohne professionalisierte Architektur auskommen, weiter zu. Unter anderem hängt diese Entwicklung zusammen mit veränderten Formen der Vorfertigung, beispielsweise mit der Möglichkeit, die Herstellung von individuell anmutenden Varianten von Fertighäusern industriell zu realisieren.

-          Die Bedingungen von Architektur ändern sich aufgrund technologischer Umbrüche, die zunehmend Gebäudetechnik bis unter die Haut eines Bauwerks setzen und Architekten und Architektinnen im Bauteam und in seiner neuen Ordnung oft nur noch die Fassade, das Design, die Hülle und das Image des Bauwerks überlassen: Architekten oder Architektinnen nehmen keinesfalls mehr selbstverständlich die führende Position im Bauprozess ein.


Zwischenfazit der Stichwortsammlung: Der Ruf nach Theorie entsteht also in einer Umbruchsituation der Architektur, die Technologien, wirtschaftliche Möglichkeiten, Berufsbilder und die Internationalisierung der rechtlichen Grundlagen der Profession betrifft. Die Nachfrage nach Theorie ist in dieser Lage, so meine Annahme, alles andere als eine theoretische Frage, sondern eine Frage nach Orientierung und Legitimation, nach Selbstvergewisserung und Selbstbewusstsein.
 

-          Eine fünfte Veränderung, die die Theorie auf den Plan ruft, spielt in einem anderen Feld. Sie ist inner-akademischer Art, fordert aber gleichermaßen die Theorie heraus: Neuerdings soll die Architektur an der Universität forschen, auch das, wie die generelle Nachfrage nach Theorie, ein internationales Phänomen. Der Hintergrund ist, dass akademische Disziplinen sich dadurch bewähren müssen, dass sie Forschungsergebnisse erzeugen, Dissertationen, Publikationen, Auftritte, die sich in akademischen rankings und über bisher bekannte und – noch nicht immer den Bedingungen und Aufgaben der Architektur(ausbildung) angepasste – Evaluationsmethoden erfassen lassen. Das ist für die Architektur eine neue Lage: Forschen in diesem Sinne musste sie noch nie – auch wenn sie immer Wissen und ständig neues, innovatives Wissen produziert hat.


Mit diesen Aspekten sind sicher nicht alle derzeitigen Umbrüche der Profession und ihrer akademischen Situation erfasst. Doch reicht die Skizze, um meine These zu untermauern: dass die Dringlichkeit der Frage nach der Architekturtheorie in einem zeitlichen, möglicherweise auch sachlichen Zusammenhang mit einem irritierten Selbstverständnis der Architektur heute steht. Ich gehe davon aus, dass das derzeitige Interesse an Architekturtheorie nicht so groß wäre, wenn die wirtschaftlichen und berufspolitischen Fragen, die sich aus derzeitigen Entwicklungen stellen, für die Architektur nicht so brennend wären.

Für die konkreten Antworten auf die vier zuerst genannten Fragen sind sicher vor allem Berufspolitik und Unternehmensberatung zuständig. Und doch verweisen die Bedingungen des Umfeldes, in denen heute Architektur entsteht, die Disziplin insgesamt in eine Situation der Selbstreflexion. Und da kommt Architekturtheorie ins Spiel. Um einer Antwort auf die Frage danach, was Architekturtheorie heute bedeutet und leisten kann, näher zu kommen, formuliere ich sieben Thesen und eine kurze Zusammenfassung. Die Thesen betreffen das Wissen der Architektur, die Rolle der Architekturtheorie in Beziehung dazu und die meines Erachtens derzeit wichtigsten Felder architekturtheoretischer Arbeit.



Das Wissen der Architektur: Thesen

1. Architektur ist ein interdisziplinäres Feld. Architektur ist Entwurf, Technologie, Baupraxis. Am besten ist der Konnex aufgehoben in dem heute antiquiert klingenden Begriff „Baukunst“, der eben auch die Technologie in einem älteren Verständnis des Ausdrucks als „Kunst“ umfasst. Insofern ist Architektur interdisziplinär ab ovo. Mit spezialisierten Disziplinen hat Architektur deshalb kaum eine strukturelle Verwandtschaft.

Architektur ist befasst mit der gebauten Umwelt des Menschen. Meist hat sie sich auch in diesem umfassenden Sinne in Bezug auf andere Disziplinen oder Formen des Wissens verstanden, andererseits hat sie Zwischenräume besetzt zwischen Disziplinen und sie in großer Vielfalt genutzt, um deren Entwürfe der Wirklichkeit in einer architektonischen Form, in Entwürfen und Bauten, zur Materialisierung zu bringen.

Es ist eine die Architektur auszeichnende Eigenschaft, dass sie aus allen möglichen Wissensbereichen Elemente und Strukturen aufnimmt, die dann in eine je neue Einheit integriert werden. Insofern gibt es keine prinzipielle Abhängigkeit von einzelnen Disziplinen, die der Architektur und ihrer Theoriebildung eigen wäre, und auch keine in der Geschichte der Architektur(theorie) durchgehaltene Option für bestimmte Wissensbestände. Stattdessen existieren – in deutlicher Abhängigkeit von aktuellen Problemlagen, denen sich die Architektur, beziehungsweise das Bauen, ausgesetzt sahen und sehen – sich stark wandelnde, mehr oder weniger ausgeprägte Bezüge der Architektur(theorie) zu bestimmten Disziplinen, Techniken und Technologien, die primär anderen Wissensbeständen zuzuordnen sind.

2. Architekturtheorie ist das Reflexionsmedium der Architektur. Ihre Themen zeigen deutliche Konjunkturen. Das Reflexionsmedium dieser Bezüge ist Architekturtheorie, deren Beginn ich unabhängig von der akademischen Etablierung des Fachs sehe. Traktate, Viten und Ciceroni, Beschreibungen in unterschiedlichen Textsorten (Briefe, Reisebücher, Rechenschaftsberichte, Romane) sowie die so genannte Kunstliteratur sind die jeweils zeittypisch ausgeprägten theoretischen und reflektierenden Medien der Architektur, Architekturtheorie avant la lettre.

Diese Reflexion hat deutliche Konjunkturen, die teilweise den Mustern der Reflexionsformen anderer Künste und Technologien folgen. Manchmal scheinen die Theorie oder das Interesse daran auch zu verschwinden. Doch wird die Reflexion allenfalls kurzfristig ausgesetzt: Implizite Theoreme, wie sie für die Manifest- und Verlautbarungskultur der Moderne und derzeit für die durch Marketing geleiteten Ausrufungen neuer Stile oder Tendenzen charakteristisch sind, bleiben Theoreme, auch wenn sich ihre Formen der Artikulation gegen Explizierung, Vertiefung und Diskussion zu sträuben scheinen. Aufgabe einer qualifizierten Architekturtheorie, die sich akademischen Standards der Diskussion verpflichtet weiß, ist, auch sie einer Reflexion zu öffnen.

3. Es gibt charakteristische Formen der Aneignung von Wissen und des Umgangs damit in der Architektur. Wissen aus zunächst architekturfernen Diskursen gelangt in die Architektur und in ihre Theoriebildung oft in einer Weise, die als „metaphorisch“ zu charakterisieren ist. Was anverwandelt wird, sind dabei oft nur Bilder, Stichworte, Vorstellungen oder Theoreme aus anderen Wissensbeständen.

Die metaphorische Aufnahme von Wissen, die nicht nur die Architekturtheorie, sondern auch die Konzeptbildung in der Entwurfspraxis auszeichnet, ist ein kreativer Prozess, der Wege – des Entwurfs, der Konzeptualisierung – eröffnet, die bis zu genau dieser Aufnahme von Bildern, Stichworten, Vorstellungen und Theoremen nicht gangbar waren. Insofern gibt es hier eine besondere Art der Anverwandlung von Wissensbeständen, die sie auf die bauliche Gestaltung der menschlichen Umwelt bezieht.

Interdisziplinäre Grauzonen der Zugehörigkeiten von Bildern und Konzepten entstehen, in denen die Wissenschaften, aus denen die aus der Perspektive der Architektur „ursprünglichen“ Ideen stammen, ihren Beitrag nicht mehr wiedererkennen: Er ist durch die Praxis und die Theorie der Architektur hindurchgegangen und hat sich in diesem Prozess verschoben, verändert, eine andere Gestalt angenommen.

Jede/r, der oder die sich mit dem Hin- und Hergehen zwischen Architektur und anderen Disziplinen befasst, kennt das Problem der Rückübersetzung und Rückvermittlung dessen, was aus der einen Disziplin in die andere gelangt. Man denke hier beispielsweise an die Diskussion der „Falte“ in den 1990er Jahren, die Deleuzes Interpretation einer Denkfigur von Leibniz aus der Philosophie in die Architektur übersetzte und die Rückübersetzung angemessenerweise eindeutig nicht zu ihren Anliegen zählte. Das ist übrigens ein durchaus übliches Phänomen in der gegenseitigen Befruchtung verschiedener Formen des Wissens: die metaphorische Aneignung und Anverwandlung anderer Ideen, Techniken und Wissensbestände.

4. Architektur und Architekturtheorie sind historisch wie systematisch als Diskurs zu verstehen. Dieser Ansatz bedeutet, die Aufmerksamkeit auf Legitimationen von Sprechern und Sprecherinnen, Wahlen von Wirklichkeitsausschnitten, Umstände und Kontexte, legitimierende Institutionen und Traditionen zu richten, das heißt, die Dispositive, die Muster zu identifizieren, die die Wissensordnung in dem Bereich strukturieren, der heute als Architekturtheorie akzeptabel ist. Das heißt auch, die Praxis, für die und mit der sie entstehen, in die Betrachtung einzubeziehen.

Ich begreife Architekturtheorie auch nach ihrer universitären Etablierung nicht als Disziplin, sondern als Fach, das den reflektierenden Diskurs über Architektur bündelt, und ziehe aus dieser Position die Ansätze zum Begreifen dessen, was in der Architekturtheorie jetzt geschieht und weiter sinnvollerweise geschehen sollte.

Aus dieser Perspektive scheint mir eine der Aufgaben der Architekturtheorie zu sein, die eigene Geschichte zu schreiben, dabei die unterschiedlichen Bezugnahmen auf andere Disziplinen und Diskurse auszuzeichnen, den in der Geschichte der Architekturtheorie unterschiedlichen Kontakt mit als anders begriffenen Wissensordnungen zum Thema zu machen und genau diesen Weg, der sich auf die gebaute Umwelt bezieht, als charakteristisch für den Prozess der Architektur und der Architekturtheorie zu verstehen.

5. Die Wissen(schaft)sgeschichte der Architektur ist noch zu schreiben. Zu dieser Form der Vergewisserung gehört die Untersuchung der Ränder der Architekturtheorie in der Gewissheit, dass andere Disziplinen mindestens ebenso deutlich Anleihen in der Architektur(theorie) machen wie die Architektur(theorie) sich herstellt im Austausch mit Philosophie und Kunstgeschichte, Ingenieurwissenschaften und Medienentwicklung, Soziologie und Genderforschung und vielen anderen. Wichtig wäre also ein Bewusstsein über das Ineinanderfließen von Wissensformen in der jeweils im Zentrum gedachten Disziplin, die sich dadurch konstituiert, dass sie auf spezifische und erkennbare Weise ihren Diskurs ausprägt und legitimiert.

Daraus ließe sich das Programm einer Untersuchung des Wissenstransfers und der Bedingungen und Möglichkeiten der assoziativen Form des Wissenserwerbs entwickeln, eine notwendige Auseinandersetzung mit einer Wissenschaftsgeschichte / Wissensgeschichte der Architektur(theorie) angesichts der derzeitigen Forderungen an die Architektur(theorie), zu „forschen“ und sich damit ihres akademischen Status zu versichern.

6. Architekturtheorie liefert Werkzeuge für die Architektur. Eine Aufgabe der Architekturtheorie ist die Bildung von Begriffen und die Kritik von Konzepten, die Untersuchung von Normen und die Etablierung eines kritischen Potentials der Architekturreflexion. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich nicht von Wissenschafts-, Kunst-, Literatur- oder Gesellschaftstheorie.

Indem Architekturtheorie wie jede andere Theoriebildung auch Konzepte erzeugt, erzeugt sie Werkzeuge: Denn diese Konzepte dienen dem Begreifen der Praxis und ihrer Weiterentwicklung. Sie sind deshalb als Technologien zu verstehen, die zwar keine materiale Entsprechung haben, aber materiale Effekte erzeugen insofern, als sie den Prozess der Architektur lenken, wie sie von ihm gelenkt werden.

7. Zentrale Themen der Architektur(theorie) heute sind Wahrnehmung, Raum, Stadt und Aneignung. In der langen Geschichte der Reflexion der Architektur haben sich die „schönen“ Künste, Tonsysteme der Musik, dazu Religion, Staats- und Gesellschaftssysteme oder Stilgeschichte in ihrer jeweils zeittypischen Ausprägung als über einen gewissen Zeitraum bevorzugte Anknüpfungspunkte gezeigt.

Keine dieser Disziplinen und Ordnungen spielt meines Erachtens heute eine entscheidende Rolle für die theoretische Auseinandersetzung um Architektur. Dafür aber gibt es viele andere Bezüge, die an jeweils dringende und teilweise hoch spezialisierte Fragen der Architektur anschließen, und denen die Architekturtheorie folgt.

In der Darstellung folge ich dem Vorschlag des Thesenpapiers zur Diskussionsrunde, die dieser Publikation vorausgegangen ist. Es hat die Themen Wahrnehmung, Raum, Stadt und Nutzer als Ausgangspunkte vorgeschlagen, wobei ich den Term „Nutzer“ übersetzen möchte mit „Aneignung“. Davon ausgehend lassen sich zentrale Themen der Architekturtheorie definieren und die Bezugsdisziplinen benennen.

Wahrnehmung
(1) Im Zentrum sehe ich derzeit die Auseinandersetzung mit dem Wahrnehmen der Umwelt in Reaktion auf die generelle Mediatisierung des Weltbezuges. Diese Entwicklung stellt nach wie vor die meisten Fragen an eine Disziplin, die an die materiale und körperhafte Realisierung ihrer Produkte gebunden ist. Bezugsdisziplinen sind hier Medientheorie, Wahrnehmungsgeschichte, Ästhetik und Kommunikationswissenschaften.

(2) Im Zusammenhang mit diesen Fragen steht die nach der Repräsentation und der Repräsentierbarkeit von Architektur. Bezugsdisziplinen sind hier Semiotik, Technikgeschichte, Wissenschaftstheorie und Bildwissenschaft.

(3) Auf die Mediatisierung des Weltbezuges reagieren mehrere Disziplinen, die sich einer leibhaften Erfahrung verpflichtet fühlen, mindestens aber den Körper und die Sinnlichkeit im theoretischen Spiel halten wollen: Dazu gehören die Phänomenologie, besonders in ihrer Befragung der „Atmosphären“, und die Historische Anthropologie, die nach der Relation von Körper und (gebauter) Umgebung fragt. Dazu gehört auch die philosophische, kulturhistorische wie ästhetisch-kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Materialität und die Untersuchung des Bezugs zu den Dingen.

(4) Die Auseinandersetzung mit Ästhetik im Allgemeinen, mit dem Schönen, Hässlichen, Interessanten und anderen ästhetischen Konzepten im Besonderen, ist kein neues, aber ein nach wie vor aktuelles Thema. Hier ist an eine lange Tradition anzuknüpfen, die in Philosophie, Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft wie Medientheorie ihre Bezüge findet.

Raum
(5) Telekommunikationstechnologien wie Migrationsbewegungen haben die Herstellung, die Nutzung und das Begreifen von Räumen verändert. Wirtschaftlich wie politisch bedingte Bewegung und ihre räumlichen Manifestationen finden sich reflektiert in Überlegungen zum Kurzfristigen, zum Provisorium. Das macht die Qualitäten von Raum und Zeit zu Schlüsselthemen aktueller Forschung.

(6) In einem weiteren Sinne gehört in diesen Themenkreis auch die Beziehung auf die Bedingungen von Architektur in „globalisierten“ Märkten. Bezugsdisziplinen sind hier unter anderem Soziologie, Volkswirtschaft, Politikwissenschaft, Siedlungsgeographie, Kommunikationswissenschaft.

(7) In Bezug auf veränderte Raumerfahrungen ist die Frage der Lokalisierung und Identifizierung, d. h. die Frage nach der Qualität von Orten als Schnittpunkten sozialer Aktivitäten, ins Spiel gekommen. Bezugsdisziplinen sind hier Ethnologie und Psychologie.

(8) Die Frage der Grenze, der Scheidung von Innen und Außen, ist ein altes architekturtheoretisches Thema, das derzeit in Bezug auf seine materiellen, biologischen, kommunikativen und weitere Aspekte befragt wird. Bezugsdisziplinen sind hier Biologie, Medizin und Medientheorie.

Stadt
(9) Mit veränderten ökonomischen Bedingungen nehmen soziale Spannungen in den alten Städten zu, die ihre Charakteristik als Austragungsorte gesellschaftlicher Konflikte (Manuel Castells) rechtfertigen: Spannungen drücken sich in Segregations- und Desintegrationsprozessen aus und zeigen sich in konkreten Konfrontationen von ethnisch und religiös identifizierten Gruppen, in der öffentlichen Vernachlässigung einzelner Stadtteile ebenso wie in Null-Toleranz-Politiken gegen obdachlose Stadtbewohner. Bezugsdisziplinen sind hier Stadtsoziologie, Ethnologie, Wirtschaftswissenschaften, Bezugswissen aus Verwaltungen oder Sozialeinrichtungen.

(10) Städte wuchern weltweit, sie haben ihre juristisch bestimmten Grenzen oft überschritten und teils ad absurdum geführt, ihre Form verliert sich in ihren Umgebungen. Es entstehen Gebiete unklarer Qualität in den noch nicht hinreichend begriffenen Räumen zwischen alten und neuen Gewerbegebieten, urbanen Zonen und Siedlungen verschiedenster Art: Sie werden derzeit unter anderem unter der Bezeichnung Zwischenstädte diskutiert. Unter anderem in diesem Zusammenhang stellt sich für die Architektur die Frage nach Ressourcen und ihrem Gebrauch. Bezugsdisziplinen für die Architekturtheorie sind hier Stadt- und Regionalplanung, Verkehrswesen, Stadt- und Bauökologie, Stadtsoziologie; Bezugswissen kommt unter anderem aus Verwaltungen oder Verkehrsbetrieben.

(11) Im Zuge der Diskussion um die Stadt zieht das Konzept der Landschaft Aufmerksamkeit auf sich und wird in dreierlei Hinsicht diskutiert: Als Grund, in den sich die Stadt als Figur einschreibt oder einschreiben soll, als zu gestaltender „grüner“ Teil einer als ubiquitär angenommenen urbanen Struktur oder als Form der ästhetischen Anschauung, die ausnahmslos sämtliche Territorien in ihren Fokus nehmen kann. Bezugsdisziplinen sind hier Landschaftsplanung, philosophische Ästhetik, Kunsttheorie, Naturästhetik oder Stadtökologie.

Aneignung

(12) Die problemloseste und dennoch anstrengendste Form der Verbindung von Architektur und Nutzung ist die Aushandlung dessen, was erwünscht ist – als öffentlicher Raum, als Wohnanlage, als Umfeld vieler Lebensvollzüge. Nach vielen Experimenten gibt es mittlerweile die Kommunikationsstrukturen und ihre ModeratorInnen, die in der Lage sind, Prozesse der Abstimmung zu unterstützen und in ihrem Aufwand zu minimieren. Bezugswissen kommt hier von Moderatoren und Moderatorinnen, von Gemeinden, von Initiativen, von Verwaltungen, von BürgerInnen.

(13) Angesichts wachsender Unterschiede im Einkommen und einer demographischen Entwicklung, die neue Anforderungen stellt, ist die Leistungsfähigkeit des Marktes als Regulativ der Vermittlung von Architektur und NutzerInnen zu überdenken. Bezugsdisziplinen der Architekturtheorie könnten hier Soziologie, Wirtschafts- und Politikwissenschaft wie Psychologie sein. Bezugswissen bieten auch hier Gemeinden, Verwaltungen oder Initiativen von BürgerInnen.

(14) Neue soziale Konstellationen (Stichworte: Patchworkfamilien, Zunahme von Singlehaushalten, Altenwohngemeinschaften u. a.) verlangen neue architektonische Lösungen, für deren Ausarbeitung theoretische Entwürfe einen Beitrag leisten können. Bezugsdisziplinen und Bezugswissen sind hier dieselben wie bei den letztgenannten Themen.



Zum Schluss: Architekturtheorie als Reflexionsraum

Fragt man nach Architekturtheorie, steht auch die Ausbildung künftiger Architekten und Architektinnen zur Debatte. Ich gehe davon aus, dass sich das Berufsbild für Architektinnen und Architekten verändern und in mancher Hinsicht weiter einschränken wird. Doch daneben besteht die Möglichkeit, dass die Qualifikationen von Architekten und Architektinnen auch ihren professionellen Spielraum verlagern und erweitern. In der Ausbildung ist heute eine weitgehende Kompetenz im Entwurf nicht allein von Bauten, sondern von Raumkonzepten erfordert. Eine zeitgemäße Architektur(ausbildung) müsste sich auf Wissen und Praktiken beziehen, die raum-zeitliche Antworten auf raumbezogene Vorstellungen liefern können. Das Ergebnis wären dann nicht unbedingt nur Bauten, können es aber sein, und sind natürlich nach wie vor Ausdruck der für die Architektur charakteristischsten Praxis. In der Formulierung dieser Konzepte ist die Architekturtheorie gefragt.

Ich halte heute einen Architekturbegriff für angemessen, der sich nicht allein auf die ästhetisch-funktionale Gestaltung zurückzieht, sondern die Bedingungen sozialer, ökonomischer, anthropologischer und historischer Art ebenso mit einbezieht wie funktionale, technische, ökologische und ästhetische Konzepte. Aus dieser Perspektive lässt sich meines Erachtens auch leichter die Frage der Kultivierung des Alltags durch Architektur und die nach dem sozial sinnvollen und für seine immer öffentliche Funktion ästhetisch anspruchsvollen Bauen, nach „Baukultur“ und „Stadtkultur“ stellen.

Architekturtheorie treiben heißt in jedem Falle, der „Baukunst“ eine Reflexionsebene einzuziehen. In Verbindung mit dem Wissen, das in die Architektur eingeht, stehen dabei auch prinzipielle Fragen der Ethik, der Ästhetik, des Gesellschaftsbezuges zur Debatte. Zu den unmittelbaren Effekten können heute unter anderem gehören: die kritische Begleitung der Vielzahl von Moden und Marketingansätzen von Architektur, die Kritik der Stararchitektur, die derzeit das öffentlich vermittelte Bild prägt, aber als Leitstruktur nicht verfängt, die Auseinandersetzung mit Programmatiken, die manchmal nur technische Verlautbarungen sind – und nicht zuletzt die Entstehung von Entwürfen für die Zukunft der Architektur.

Architekturtheorie kann keine autorisierende „Überblicksfunktion“ einnehmen, dazu gehören in ihr Gebiet zu disparate Themen, Zugänge und Methoden. Der normative Anspruch an die Architekturtheorie, der mir in letzter Zeit in mehreren Diskussionen als Hoffnung entgegengekommen ist, war historisch gesehen ohnehin nur ein kurzlebiges Phänomen. Seit der Aufklärung ist die einheitliche Norm nur um den Preis der autoritären Geste und des Kommunikationsabbruchs mit anderen Positionen zu haben. Architekturtheorie kann aber eine permanent zu revidierende Orientierungsfunktion ausüben, wobei eine ihrer Aufgaben ist, Formen zu entwickeln, die erlauben, mit der Pluralität der Ideenwelten und der Spezialisierung der Fragestellungen gleichzeitig umzugehen. Der oben skizzierte Ansatz ist ein Vorschlag dazu, der Vielfalt der Fragen, Themen und Wissenstypen zu begegnen. Letztinstanzlichkeit ist von der Architekturtheorie, wie ich sie hier reformuliert habe, also nicht zu erwarten, sondern etwas Besseres: die Reflexion des vielfach vernetzten Prozesses der architektonischen Wissensproduktion auf der Suche nach den besten Lösungen für die Gestaltung raum-zeitlicher Bedingungen.

 


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