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1. Ausgangspunkt:
Erfahrungen mit den Architekturtheorien des 20. Jahrhunderts
[1] Um die Disziplin der Architekturtheorie steht es – ähnlich wie um die
Architektur – derzeit nicht gut. Das 20. Jahrhundert, insbesondere die Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Deutschland eine Reihe von
Entwicklungstendenzen hervorgebracht, die ich als Symptome eines
grundsätzlichen Bedeutungsverlustes der Architektur und auch der
Architekturtheorie werte.
[2] Eine symptomatische Tendenz ist das Verschwinden ernst zu nehmender
theoretischer Auseinandersetzungen. Es gibt derzeit keine öffentlichen
architekturtheoretischen Debatten, die über die Grenzen der Fachwelt hinaus
von Belang wären. Es gibt noch nicht einmal eine architekturtheoretische
Fachzeitschrift, welche die Anliegen dieser Disziplin vertreten würde (die
Online-Zeitschrift
„Wolkenkuckucksheim" einmal ausgenommen). Weitaus
schlimmer aber ist, dass Architekturgeschehen und Umweltgestaltung
gesamtgesellschaftlich kaum noch als zukunftsrelevante Aufgaben wahrgenommen
werden.
[3] Verstärkt hat sich dagegen die Tendenz zum schnellen Wechsel kurzlebiger
Architekturmoden mit ebenso kurzlebigen Begleitdiskursen. Zu diesem
Strohfeuer-Phänomen gehört die modische Ausrichtung der so
genannten „Avantgarden" auf die jeweils aktuellen Trends und
architekturfremde Leitbilder, worüber dann auch heftigst theoretisiert wird.
[4] Architekturtheorie wird kaum noch als ein auf intellektuelle
Nachhaltigkeit angelegtes Projekt betrieben. Sie ist nicht mehr als Arbeit
am Grundsätzlichen angelegt, zielt nicht auf eine stabilisierende
Langzeitwirkung, sondern auf mehr oder weniger kurzfristige Interventionen
mit schneller Verfallszeit. Begünstigt wird dies auch durch die modernen
Medien und ihre
gefräßigen Publikationsorgane, die den Starkult von Architekten,
Designern, etc. zelebrieren.
[5] Eine weitere Tendenz betrifft den Realitätsverlust der
Architekturtheorie: Damit meine ich das eklatante Fehlen einer wirklichen
Beziehung der vorhandenen, intellektuell anspruchsvollen theoretischen
Ansätze zum realen Architekturgeschehen. Einer verschwindend kleinen Zahl
ernst zu nehmender Einzelbeiträge zur Förderung der architektonischen
Kultur steht eine erdrückende Masse durchschnittlicher bis banalster
Alltagsarchitektur gegenüber, welche die Zerstörung von Stadt und Umwelt
allen theoretischen Anstrengungen zum Trotz unaufhörlich fortschreibt.
Theoretischer Diskurs und reales Baugeschehen haben so gut wie nichts
miteinander zu tun. Die von der Politik lancierte Initiative Baukultur ist
das offizielle Eingeständnis, dass das Baugeschehen in Deutschland
gesamtheitlich keine Kultur mehr hat und zugleich der hilflose und zum
Scheitern verurteilte Versuch, der dem globalisierten
Wirtschaftlichkeitsdenken unterworfenen Architektur das hehre Mäntelchen der
Kultur doch noch einmal umzuhängen.
[6]
Schließlich ist ein Verlust an Öffentlichkeitsrelevanz in der
Architekturtheorie festzustellen: die gegenwärtigen theoretischen Diskurse
gehen an der Lebensrealität der meisten Architekturbenutzer vorbei, sie sind
oft nicht mehr als narzistische (Selbst-)Bespiegelung egozentrischer
Architekten und deren publizistischer Gewährsleute. Die sich dramatisch
verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in der heutigen
Gesellschaft ignorieren sie weitgehend.
2. Aufgaben und Inhalte der Architekturtheorie
2. 1 Die Theoriebedürftigkeit der Architektur
[1] Eine Architekturpraxis ohne theoretisches Fundament ist ein Unding. Die
Architektur bedarf stets und immer wieder der theoretischen Fundierung,
ansonsten wäre sie unreflektiertes Tun und würde über den Zustand bloßen
Machens nicht hinauskommen.
[2] Die Architektur bedarf der intellektuellen Rückbindung an Philosophie
und benachbarte Geistes- und Humanwissenschaften sowie nicht zuletzt an ihre
eigene jahrhundertelange Entwicklungsgeschichte. Auch die Geschichte der
Architekturtheorie muss lebendig gehalten und durch neue Forschungsimpulse
neu vergegenwärtigt werden.
[3] Architektur ist demnach theoriebedürftig und ohne Theorie nicht
lebensfähig. Ohne Theorie kann sich die Architektur nur quantitativ
weiterentwickeln. Eine Architekturentwicklung ohne qualitatives Wachstum
aber bedeutet Niedergang und langfristig Tod durch Selbstzerstörung. Wenn
sich niemand mehr über die Architektur Gedanken macht, wird vielleicht noch
gebaut werden, aber die Architektur wird verschwinden. Für das Leben der
Architektur bedarf es einer lebendigen Architekturtheorie, die ständig
weiterentwickelt werden muss.
[4] Architekturtheorie muss grundsätzlich dem Prinzip Hoffnung verpflichtet
sein und braucht eine positive, das
heißt lebensbejahende und lebensbestärkende Grundausrichtung. Ohne
eine solche kann sie keine neuen Entwicklungsperspektiven erschließen. Und
ohne eine positive Grundhaltung kann Architektur nicht zukunftsfähig sein. Die Verantwortung der Architekturtheorie für die
Zukunftsfähigkeit der Architektur muss vor diesem Horizont neu reflektiert
werden.
2. 2 Zu meinem Verständnis von Architekturtheorie
[1] Architekturtheorie ist im Idealfall die Fundierung der architektonischen
Praxis mit einem lebensfreundlichen Menschenbild. Sie ist zum einen
Weltanschauungsarbeit auf wissenschaftlichem Niveau, zum anderen
intellektueller Partner und als solcher so etwas wie ein fördernder Mentor
oder konkreter Berater praktizierender Architekten.
-
Ausgangspunkt
ist die Erkenntnis der Architekturbedürftigkeit des
Menschen, das
heißt unser aller Angewiesensein auf gute Architektur.
-
Ziel
ist die Verankerung des Prinzips der
Menschenzuträglichkeit: Architektur muss nicht nur umweltverträglich sein,
wie im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatten immer wieder verlangt wird, sie
müsste vor allem erst mal menschenverträglich oder vielmehr
menschenzuträglich werden. Es gilt daher, das Prinzip der
Menschenzuträglichkeit der Architektur als ungelöstes Problem zu begreifen,
es neu zu definieren, theoretische Standards dafür zu etablieren und diese
in die Praxis umzusetzen.
-
Aufgabe
ist die wissenschaftliche Erforschung der elementaren
Zusammenhänge zwischen Mensch und Architektur und die Stärkung der
architektonischen Beziehungskompetenz in Architektenschaft und
Öffentlichkeit.
[2] Architekturtheorie ist
des
Weiteren eine kritische Instanz zur intellektuellen Überwachung der
zeitgenössischen Architekturproduktion, nicht bloß deren affirmative
Selbstlegitimation. Zugleich ist sie mehr als Architekturkritik, da sie
nicht bei temporären Momentaufnahmen stehen bleibt, sondern aufs
Grundsätzliche zielt und übergreifende Zusammenhänge herstellt.
[3] Architekturtheorie muss der Aufklärung der breiten Öffentlichkeit
verpflichtet sein. Sie muss
-
Aufklärung über die
negativen Folgen ästhetischer Umweltzerstörung leisten,
-
alternative
Entwicklungen aufzeigen und ermöglichen,
-
die
Etablierung eines Grundrechts auf eine menschenwürdig gestaltete Umwelt
einklagen,
-
die Kriterien
ästhetischer Nachhaltigkeit begründen und an der Verwirklichung des Prinzips
der Menschenzuträglichkeit der Architektur arbeiten.
[4] Architekturtheorie ist
Grundsatzarbeit im interdisziplinären Austausch. Das heute verfügbare Wissen
muss in die theoretischen Diskurse integriert und in die
Architekturproduktion umgesetzt werden. Eine zukunftsfähige
Architekturtheorie muss neue Ansätze fächerübergreifenden und ganzheitlichen
Denkens entwickeln und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf eine
versöhnliche Weise miteinander verbinden.
3. Entwicklungsperspektiven der Architekturtheorie: Fragestellungen,
Themen, Inhalte
3. 1 Die Architekturbedürftigkeit des Menschen
[1] Die Erforschung des Menschen und seiner grundsätzlichen Bedürftigkeit
nach guter Behausung ist ein zentrales, aber kaum bearbeitetes Gebiet der
Architekturtheorie. Die Architekturbedürftigkeit des Menschen besteht unter
anderem in unserem Angewiesensein auf eine uns entsprechende
architektonische Mitwelt; eine würdevolle Umgebung, die uns Sicherheit
gewährt und zugleich Erholung, Wachstum und Entfaltung ermöglicht; auf
ästhetische Korrespondenz, das
heißt auf die Vermittlung eines positiven Grundgefühls
beziehungsweise auf die Bestärkung unseres Lebensgefühls durch Halt,
Getragenwerden, Aufgehobensein, das Gefühl der Stimmigkeit, das Gefühl, am
richtigen Ort zu sein, und anderes mehr.
[2] Unabdingbar ist hierbei die Verknüpfung der Architekturtheorie mit
anderen Disziplinen, insbesondere mit Anthropologie, Verhaltensforschung,
Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie sowie Neurobiologie und
Neuropsychologie. Aufgrund der Forschungsleistungen dieser Disziplinen
wissen wir heute, dass der Mensch der Schönheit in seiner alltäglichen
Umgebung bedarf, um sich
wohl fühlen und gedeihlich entwickeln zu können; dass wir in einer
als ästhetisch empfundenen Umgebung ein besseres Lebensgefühl haben; dass
ästhetische Reize schon beim Säugling erhöhte Gehirnaktivitäten und
zelluläre Wachstumsprozesse auslösen und sich kreativitäts- und
intelligenzfördernd auswirken. Wir wissen heute, dass das „Lebensmittel
Schönheit“ (Hermann Glauber) für die menschliche Entwicklung tatsächlich
unverzichtbar ist. Erkenntnisse wie diese müssen endlich auf die Architektur
übertragen werden.
[3] Die biologische Verhaltensforschung hat unlängst erkannt, dass ein
„entspanntes Feld“, in dem eine Atmosphäre von Sicherheit und Anregung
herrscht, die Voraussetzung für die Ausbildung eines natürlichen
Neugierverhaltens und damit für eine gesunde, das heißt
weitgehend angstfreie Entwicklung ist. Diese wiederum ist notwendig für die
kreative Ausbildung innovativer Strategien zur Sicherung der
Überlebensfähigkeit. Für die Architekturtheorie stellt sich die Aufgabe, die
Konsequenzen solcher Einsichten für die Architektur zu erforschen und daraus
entsprechende Richtlinien für die Praxis abzuleiten.
3. 2 Das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur
[1] Architektur soll dem Menschen zuträglich sein. Das ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit und war jahrhundertelang unausgesprochenes Grundaxiom
architekturtheoretischer Abhandlungen. Ungeachtet dessen finden wir heute
eine Vielzahl von Bauten vor, die aufgrund ihrer formalen Aufdringlichkeit,
ihrer verletzenden Grobheit oder ihrer ästhetischen Belanglosigkeit nur als
menschenverachtend bezeichnet werden können. Solche Bauten sind nicht etwa
wirkungsneutral, sondern destruktiv und erniedrigend. Sie zwingen einen, die
Augen zu
verschließen und sind für jeden auch nur halbwegs empfindsamen
Menschen eine Beleidigung. Sie sind Teil einer immer weiter um sich
greifenden ästhetischen Umweltzerstörung, die im Bereich städtischer
Peripherien beziehungsweise urban sprawls, wie solche Agglomerationen
heute beschönigend genannt werden, bereits großflächige
Ausmaße angenommen hat.
[2] Das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur scheint
bislang weder in ausreichendem
Maße erkannt noch verwirklicht zu sein. Eine zukunftsorientierte
Architekturtheorie muss diesem Notstand ein Ende bereiten und die hierbei
relevanten Zusammenhänge von Mensch und Architektur neu erforschen. Dazu
gehört die Bestimmung anthropologischer Konstanten in Architekturwahrnehmung
und Architekturästhetik; die Bestimmung der menschlichen Grundbedürfnisse
gegenüber der Architektur sowie die Verknüpfung von Umwelt- und
Menschenverträglichkeit.
[3] Die Architekturtheorie muss Kriterien entwickeln und Hinweise geben, wie
das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur verankert werden
kann. Sie muss begründen, dass, warum und wie Architektur menschenzuträglich
sein soll (und nicht nur menschenverträglich). Sie muss für die
Verbreitung und Durchsetzung dieses Wissens in einer Öffentlichkeit sorgen,
die für derartige Fragestellungen weitgehend desensibilisiert ist. Da hier
ein jahrhundertelang in der europäischen Kulturtradition gespeichertes
intuitives Wissen wiedergewonnen werden muss, ist diese Aufgabe eine
besondere Herausforderung für Architekturgeschichte und Architekturtheorie.
3. 3 Stärkung der architektonischen Beziehungskompetenz
[1] Die heutige Gegenwartsarchitektur ist zu einem großen
Teil ein Symptom der kollektiven Psychopathologie unserer Zivilisation. In
der weitgehend seelenlosen Gegenwartsarchitektur drückt sich unser
Unvermögen nach
tiefer gehenden Beziehungen aus, seien es die Beziehung zu uns
selbst, intakte soziale Beziehungen oder die Beziehungen zu Natur und
Mitwelt.
[2] Getreu dem Grundsatz, dass therapiert werden kann, was nicht unheilbar
krank ist, besteht die Aufgabe für eine nach vorn gerichtete
Architekturtheorie darin, die allgegenwärtige architektonische
Beziehungslosigkeit eingehender zu diagnostizieren und durch entsprechende
Gegenmaßnahmen zu therapieren.
[3] Die Architekturtheorie kann hier ganz konkret zur Förderung der
architektonischen Beziehungskompetenz beitragen – z. B. durch neue
Lehrinhalte sowie neu zu entwickelnde Unterrichtsformen an den Hochschulen:
ihre Aufgabe ist es, Haltungen und Einstellungen im gemeinsamen Miteinander
von Lehrenden und Studierenden zu erarbeiten und nicht nur Wissen zu
vermitteln. In das weite Feld der architektonischen Beziehungskompetenz
gehört unter anderem das Verhältnis zu sich selbst, zum eigenen Körper und
zur eigenen Sinnlichkeit; also zum Leben und Lebendigsein im weitesten Sinn;
damit auch zum Schöpferischen,
Kreativen und Gestalterischen; zum Menschen als solchen wie zum konkreten
Architekturbenutzer oder zum Bauherrn und Investor; zu Geschichte und Kultur
ebenso wie zu Umwelt, Mitwelt und Natur; zu Landschaft und Topographie sowie
nicht zuletzt zur Architektur selbst, das
heißt zum Bauwerk als Artefakt und schließlich zu
Technik, Technologie und Material als elementaren Grundbedingungen allen
Bauens. Architektonische Beziehungskompetenz bedeutet immer, ein
lebensfreundliches, Menschen-zugewandtes und positives Verhältnis zu den
Dingen zu entwickeln und sich nicht von vermeintlichen Sachzwängen und
anderen Vorgaben – zu denen auch lebensfeindliche Denkhaltungen gehören –
einschränken zu lassen. Den Architekturhochschulen, die unter massiven
Sparzwängen der öffentlichen Haushalte und dem von Seiten der Bauwirtschaft
ausgeübten Ökonomisierungsdruck immer kürzere Studiengänge etablieren und
ein immer einseitiger werdendes, überwiegend ingenieurwissenschaftliches
Architekturverständnis vermitteln, muss die Architekturtheorie zur Seite
springen und den aktuellen Tendenzen zum weiteren Vormarsch des
Technokratentums Einhalt gebieten.
3. 4 Ästhetische Nachhaltigkeit in der Architektur
[1] Das Leitbild
der „nachhaltigen Entwicklung“ hat in den letzten Jahren in Architektur und
Städtebau massiv an Bedeutung gewonnen. Es ist zwar inzwischen weitgehend in
aller Munde, oft aber nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Dabei ist der
Nachhaltigkeitsbegriff durchaus nicht unproblematisch: Nachhaltigkeit ist
kein lebendiger Begriff der Gegenwartssprache; die Idee der Nachhaltigkeit
ist der breiten Öffentlichkeit bislang nicht vermittelbar. Nachhaltigkeit
ist jedoch auch inhaltlich problematisch, solange damit gleichzeitig
Vorsorge und wachsender Wohlstand für alle versprochen wird, denn selbst ein
stagnierender Wohlstand auf heutigem Niveau würde weiteren Raubbau an den
natürlichen Ressourcen bedeuten und wird auf Dauer nicht zu halten sein.
[2] In der Architekturdiskussion wird Nachhaltigkeit zudem vorwiegend unter
ökologischen und ökonomischen Parametern betrachtet; eine Verknüpfung mit
den ästhetisch-gestalterischen und historisch-kulturellen Dimensionen
der Architektur ist bislang nicht erfolgt.
[3] Architektur muss aber – wie schon gesagt – nicht nur umweltgerecht sein,
sie muss dem Prinzip der Menschenzuträglichkeit gehorchen. Ob Architektur
dem Menschen zuträglich ist, entscheiden indes nicht allein technisch
kontrollierbare Faktoren, sondern vor allem gestalterische Qualitäten.
[4] Ein Nachhaltigkeitsbegriff, aus dem das Ästhetische ausgeklammert
bleibt, kann gar nicht nachhaltig sein, weil der Mensch als ästhetisches
Wesen ignoriert wird. Und eine Architektur, die unästhetisch oder gar
antiästhetisch ist, kann ebenfalls nicht nachhaltig sein, weil sie zur
Zerstörung der Umwelt beiträgt und von negativem Einfluss auf den Menschen
ist.
[5] Für die
Architekturtheorie ergeben sich hier vielfältige neue Forschungsaufgaben.
Zum Beispiel die Analyse von Formen ästhetischer Nachhaltigkeit und die
Untersuchung historischer Architektur als gebauter Ressource. Auf dieser
Grundlage können
allgemein gültige und übertragbare Kriterien ästhetischer
Nachhaltigkeit bestimmt werden.
[6] Ziel ist die Definition eines umfassenden Nachhaltigkeitsbegriffs unter
Einbeziehung der ästhetischen Dimensionen der Architektur. Dazu gehört das
Zusammendenken des Ästhetischen, Historischen und Kulturellen mit der
Nachhaltigkeitsidee, die Kritik des bislang geläufigen
Nachhaltigkeitsbegriffs, seine qualitative Erweiterung und – notfalls –
seine Überwindung.
[7] Zu untersuchen ist ferner, wie der Gedanke der Nachhaltigkeit, wonach
Architektur das langfristige Weiterleben der menschlichen Gattung sichern
soll, auf die aktuelle Überlebensproblematik einer globalisierten
Zivilisation übertragen und auf gestalterischer Ebene in die Architektur
integriert werden kann. Es stellt sich die Frage, was eine ästhetisch
nachhaltige Architektur jenseits der Ansprüche von Ökologie und
Umweltverträglichkeit leisten muss, und was ästhetische Nachhaltigkeit mit
einem lebendigen Verhältnis der Architektur zur Geschichte zu tun hat, die
ebenfalls Teil unserer Umwelt ist. Architekturtheorie hat sich der Frage zu
widmen, wie sich die Architektur konstruktiv zur Geschichte verhalten kann,
sich in das Kontinuum des Vorhandenen einfügt und dieses Kontinuum
fortbaut, und wie sie gegebenenfalls ein neues Kontinuum erzeugen kann,
ohne Vergangenheit und Umwelt zu verleugnen oder gar zu zerstören.
3. 5 Die Beziehung von Architektur und menschlicher Gefühlswelt –
Architekturwahrnehmung und Architekturerkenntnis
[1] Ein
Bewusstsein für die tieferen seelischen Dimensionen im menschlichen Erleben
von Architektur zu entwickeln, ist eine der vornehmsten Aufgaben der
Architekturtheorie. Wir haben heute einen höchst oberflächlichen Begriff vom
Wirken der Architektur; eine Auffassung, die nicht auf Kontinuität und
Nachhaltigkeit hin angelegt ist, sondern auf Effekthascherei und
spektakuläre Eindrücke, und die in der so genannten Event- und Medienarchitektur begeistert vermarktet
wird.
[2] Architektur wird
jedoch sinnlich-ganzkörperlich wahrgenommen und verarbeitet. Die zentrale
Frage, wie Architektur erlebt wird, richtet sich gleichermaßen an
gegenwärtige wie historische Bauten. Sie konfrontieren uns mit der Frage,
wie eine sinnlich ansprechende Architektur entworfen werden konnte
beziehungsweise kann. Dies verlangt eine philosophisch begründete,
phänomenologische Architekturtheorie, die eine erlebensorientierte Zugangs-
und Verstehensweise ermöglicht.
[3] Die rasanten
Fortschritte im Bereich von Neurobiologie und Bewusstseinsforschung
verändern unser Verständnis der Zusammenhänge von Fühlen und Denken dramatisch. In den gegenwärtigen Architekturdebatten spielt dies bislang
keine große Rolle. Die Frage, wie Architektur tatsächlich erlebt und was in
ihr eigentlich erkannt wird, nimmt darin keinen allzu großen Raum
ein. Wie Architektur positiv auf den Menschen wirken und was sie
diesbezüglich leisten soll, muss heute auf veränderter wissenschaftlicher
Grundlage erforscht und neu diskutiert werden.
[4] Die
Architekturtheorie muss in diesem Zusammenhang folgende Forschungsfelder
bearbeiten: sie muss die anthropologischen Konstanten im menschlichen Leben
und die sich daraus ergebenden Bedingungen für die Architektur untersuchen;
sie muss die anthropologisch und kulturell bedingten Erwartungen des
Menschen an die Architektur ermitteln. Es geht um die Begründung einer
Architekturtheorie, die von den Grundtatsachen des menschlichen Lebens
ausgeht und Raum für persönliche Erfahrungs- und Erlebenshorizonte lässt.
[5] Ziel ist die Entwicklung eines „energetischen“ Verständnisses der
Dynamik architektonischer Phänomene, das dem ebenfalls
energetisch-dynamischen Erleben von Architektureindrücken im menschlichen
Körper-Geist-Seele-System entspricht. Dazu gehört die Neubewertung der
ästhetisch-gestalterischen Dimensionen der Architektur auf der Grundlage des
gegenwärtig neu entstehenden Wissens von der biologischen Verankerung der
Ästhetik als Optimierungs- und Überlebensstrategie im Umgang mit der Natur
und
schließlich die Entwicklung eines besseren Verständnisses der
atmosphärischen Dimensionen der Architektur, ihres Zustandekommens und ihrer
Bedeutung für den Menschen und sein Lebensgefühl.
3. 6 Das Verhältnis von Architektur und Natur
[1] Die klassische Frage nach den Beziehungen der Architektur zur Natur
spielt in heutigen Architekturtheorien keine Rolle mehr. Dabei ist doch
jedes Bauwerk zunächst ein Stück Naturzerstörung (durch quantitativen
Verbrauch von Flächen und Ressourcen) oder / und Naturumgestaltung (durch
qualitative Verwandlung, egal ob positiv oder negativ).
[2] Das Verhältnis
zur Natur sollte jedoch in mehr bestehen als in der Erfüllung einiger
gesetzlich vorgegebener Umweltverträglichkeitsrichtlinien oder in ein paar
nett bepflanzten Grünflächen. Ohne ein bewusstes Naturverhältnis, das
sich auch auf der Gestaltungsebene mitteilt und für den Architekturbenutzer
ästhetisch erlebbar ist, schwebt die Architektur gleichsam im luftleeren
Raum und entbehrt ihrer wesentlichsten Grundlage.
[3] Die Frage, ob Architektur in der Natur, mit ihr oder
gegen sie gebaut wird, ist für die Zukunft unserer Gesellschaft
überlebenswichtig und muss daher neu erörtert werden. Besonders
problematisch und bezeichnend für den Zustand des Fachs erscheint die
Tatsache, dass den heutigen Architekturtheorien kein aktueller Begriff von
Leben zugrunde liegt; ja
dass Leben oder Lebendigkeit heute überhaupt kein Problem der
Architekturtheorie mehr zu sein scheinen.
[4] Philosophische Bezugspunkte bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen
könnten unter anderen Georg Picht sein, mit dem wir die Natur als den Rahmen
allen Lebens verstehen können, in dem ein Überleben in Zukunft nur noch dann
möglich ist, wenn wir die Bedingungen dieses Rahmens begreifen und ihnen
endlich gerecht werden; oder auch Heinrich Rombach und seine Philosophie der
Konkreativität als eines schöpferischen Miteinanders von Mensch und Natur,
wie es nicht zuletzt auch in der Geschichte der Architektur über viele
Jahrhunderte hinweg kulturübergreifend existiert hat.
[5] Für die Architekturtheorie stellt sich in diesem Zusammenhang die
Aufgabe der Verteidigung des Authentischen in Natur und Architektur, der
Infragestellung des klassischen Dualismus von Natur und Kultur und der
Formulierung neuer Ansätze zum Verständnis des
Natur-Architektur-Verhältnisses. Erforderlich ist auch ein stärkeres
Engagement der Architekturtheorie bei der Entwicklung nachhaltiger
Lebensmodelle.
[6] Die Verantwortung der Architekturtheorie besteht ferner in der
Begründung einer neuen, naturbezogenen Architekturanschauung, in welcher die
Natur als nicht zu überwindender Bedingungsrahmen allen Lebens mitgedacht
wird. Dazu gehört auch die naturphilosophische Fundierung einer neuen und zeitgemäßen Architekturtheorie und ihre Verknüpfung mit den heutigen
naturphilosophischen Diskursen.
Schließlich ist die Integration eines tragfähigen Begriffs von Leben
in die Architekturtheorie unabdingbar.
[7] Architekturtheorie muss Antworten geben auf die Frage, wie eine
naturverbundene Architektur aussehen könnte, die der Natur unter den
gegenwärtigen Bedingungen unserer modernen Zivilisation auf umfassende Weise
gerecht wird. Sie kann Beispiele dafür liefern oder Kriterien entwickeln,
wie ein respektvoller Umgang der Architektur mit der Natur aussehen und wie
Natur als Prinzip in die Architektur integriert und transzendiert werden
kann. Schließlich muss sie sich der Frage zuwenden, wie eine Architektur
aussehen könnte, die Natur nicht nur verbraucht, sondern etwas an sie
zurückgibt.
4. Ausblick: Zukünftige Aufgaben der Architekturtheorie
4. 1 Interventionen gegen den Niedergang der Architektur
[1] Architektur – und folglich auch die Architekturtheorie – sind heute
keine Leitwissenschaften mehr. Sie vermögen anderen gesellschaftlichen
Debatten keine Impulse mehr zu geben. Die heutige Architektur ist vom
Bewusstsein ihrer künstlerischen Marginalität und ästhetischen Epigonalität
geprägt, welche bislang im Widerspruch zur stetig wachsenden quantitativen
Bauproduktion stand. Doch im Zeichen schrumpfender Städte befindet sich die
Architektur nun auch in einem quantitativen Niedergang ohnegleichen.
Rückläufige Tendenzen im Bausektor, Bevölkerungsrückgang und wirtschaftliche
Rezession sowie die absehbare Verarmung der unteren bis mittleren
Bevölkerungsschichten bedeuten eine enorme Herausforderung für Architektur
und Architekturtheorie.
[2] In einer solchen Situation nach vorne denken könnte heißen,
sich nicht in diese Trends fügen, Visionen für die Architektur im
postkapitalistischen Zeitalter entwerfen, die Frage nach dem zukünftigen
Stellenwert der Architektur in der Gesellschaft neu stellen, die Krise als
Chance begreifen und höhere qualitative Standards bei weitaus niedrigeren
Investitionsvolumina entwickeln, mit anderen Worten: den Forderungen nach
ästhetischer Nachhaltigkeit gerecht werden.
[3] Die Etablierung einer lebensverbundenen Architekturtheorie bedeutet
letzten Endes die Abkehr von dem heute immer noch geltenden Paradigma
einer dem Leitbild der Technik verpflichteten Architektur, wie es mit dem
Funktionalismus des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist. Ob es nun das
Computer- und Medienzeitalter ist oder die (ebenfalls Computer-basierte)
Erforschung des menschlichen Genoms, welche im einen Fall zur
Virtualisierung, im anderen zu pseudoorganischen „Biologismen“
architektonischer Formen führen – stets bleibt die Architektur dabei an das
Leitbild einer für kurze Zeit avantgardistisch geltenden Technologie
gebunden. Die Etablierung einer lebensverbundenen Architekturtheorie setzt
jedoch die Orientierung an gänzlich anderen Paradigmen – nämlich am Leben
selbst (und das
heißt an einem nichtmechanistischen Verständnis von Leben) – voraus
und bedeutet den Sprung in eine Zukunft, in der der Mensch sich nicht mehr
als
technologischer und ökonomischer Alleinherrscher über die Welt
begreift, sondern als verbundener Teil eines universalen Geschehens von
unüberschaubaren Dimensionen.
4. 2 Persönliche Schlussbemerkung
[1] Bauen ist ursprünglich ein Akt der Zuwendung und hat etwas mit dem
Verhältnis des Menschen zur Welt zu tun. Mit dem Verhältnis zum Menschen wie
zur Architektur; zum Detail wie zum Leben im Ganzem. Wer heute einen solchen
Gedanken ausspricht und ihn zum zentralen Programm seines
architekturtheoretischen Ansatzes macht, läuft Gefahr, für
unwissenschaftlich erklärt zu werden. Wenn aber die Wissenschaft die
vielleicht wesentlichste Frage überhaupt aus ihrem Zuständigkeitsbereich
ausklammert, welchen Wert soll sie dann für die Weiterentwicklung
bestehenden und die Sicherung zukünftigen Lebens haben? Lebenszugewandtheit
kann zwar nicht im wissenschaftlichen Sinn Inhalt von Architekturtheorie
sein, aber sie kann sie durchdringen. Lebenszugewandtheit ist die zudem
höchste Form von Beziehungskompetenz und als solche auch für die Architektur
von Belang. Die Idee der ästhetischen Nachhaltigkeit, welche unter anderem
auf dem Prinzip der Gemeinschaft von Vorsorge und Fürsorge beruht, ist ohne
eine umfassende und überindividuelle Idee von Lebenszugewandtheit nicht
denkbar und wird sich ohne einen Glauben daran auch nicht durchsetzen
lassen. Die Frage, ob in einem Gebäude ein zugewandtes Verhältnis zur Welt
auf überzeugende Weise Gestalt gewonnen hat, ist am Ende das einzige
Qualitätskriterium, das über den Moment hinaus Bestand hat.
[2] Die Architektur unserer Zeit strahlt jedoch nur wenig Zugewandtheit aus.
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war Architektur so oberflächlich. Die
heutige Gegenwartsarchitektur hat keine Tiefe; nur selten kann sie etwas
Sinnliches, Spirituelles, Metaphysisches oder gar Transzendentales
vermitteln. Sie ignoriert die Vergänglichkeit alles Seienden und verhält
sich so, als gebe es nur das Heute und den hedonistischen Genuss im Hier und
Jetzt. Sie terrorisiert uns durch ihre Augenblicksbezogenheit, anstatt uns
durch Zeitlosigkeit zu beflügeln. Damit betrügt sie uns um das
Wesentlichste, was Architektur dem Menschen geben kann: die Erfahrung von
Glück. Allein diese bestürzende Diagnose macht deutlich, dass in den letzten
Jahrzehnten etwas grundsätzlich falsch gelaufen sein muss in der
Architekturentwicklung der so genannten
zivilisierten Gesellschaften. Darüber aber wird nicht diskutiert. Lieber tut
man so, als seien wir weiter auf dem richtigen Weg.
[3] Wir haben jedoch allen Grund, innezuhalten und uns zu fragen, worin
diese Fehlentwicklungen bestehen, worin sie ihre Ursachen haben, und wie sie
zu korrigieren sind. Ob der Mensch die Fähigkeit besitzt, das Überleben der
eigenen Gattung in den nächsten ein- bis zweihundert Jahren zu sichern, wird
heute aus
ernst zu nehmenden Gründen bezweifelt (George Steiner). Betrachtet
man die Architekturproduktion der letzten Jahrzehnte, so hat man das Gefühl,
der Mensch habe sich bereits aufgegeben, da es ihm auf eine menschengerechte
und menschenwürdige Gestaltung seines eigenen Lebensraums nicht mehr ankommt
– die anhaltende ästhetische Vermüllung der Landschaften und Städte durch
ordinäre Wegwerfarchitektur überwiegt bei weitem die Zahl gelungener und
gestalterisch befriedigender Einzelbeispiele, die es glücklicherweise auch
gibt.
[4] Bei der Erforschung der hier deutlich werdenden Phänomene tun sich neue
und kaum absehbare Aufgaben für die Architekturtheorie auf. Ein wichtiger
Schritt für eine kulturstiftende und zugleich zivilisationskritische
Architekturtheorie könnte die ideelle Verbrüderung und Vernetzung mit
Ökologiebewegung, Umweltschutz oder progressiven Tendenzen der Denkmalpflege
sein mit dem Ziel einer breit angelegten Gesamtbewegung im Kampf gegen eine
immer lebensferner und lebensfremder werdende technische Zivilisation.
[5] Meine Aufgabe als Architekturtheoretiker sehe ich daher auch darin,
anderen zu helfen, um diesem Missstand ein Ende zu machen: zum Beispiel beim
Sehen-Lernen, um unsere Umgebung mit größerer Aufmerksamkeit
wahrnehmen zu können. Zum Beispiel beim Verstehen-Lernen, um
bessere Entscheidungen in Gestaltungsfragen treffen zu können. Zum Beispiel
beim
Denken-Lernen, um präzisere Problemstellungen und damit auch bessere
Lösungen entwickeln zu können. Zum Beispiel beim Fühlen-Lernen, um
beim eigenen Beobachten sensibler zu werden. Und schließlich dabei,
eine
größere Bewusstheit für sich selbst und andere zu entwickeln, um sich
selbst als Spürenden und immerzu Lernenden im Kontakt mit anderen neu zu
entdecken. Diese Stärkung der architektonischen Beziehungskompetenz könnte
zur Ausbildung eines
größeren architektonischen Feingefühls führen und wäre ein erster
Schritt hin zu einer menschenfreundlicheren und lebensverbundenen
Architektur.
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