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1. Architektur ist eine bergende, versammelnde
Institution, die dem Menschen als Bewohner dieser Erde und
gesellschaftlichem Lebewesen Schutz und Heimat bietet. An dieser
essentiellen Verwurzelung im menschlichen Sein und grundsätzlichen
kulturellen Funktion kommt auch die radikalste theoretische Infragestellung
der Institution Architektur nicht vorbei, selbst wenn man zu deren
metaphysischer Entrümpelung, wie Derrida, „den Sinn des Sinns“ der
Architektonik „erzittern“ lassen und „die Architektur an ihre Grenzen“
stoßen will. Auch die
„Auflösung [dissociation]“ des Architektonischen läßt sich, so Derridas
Schlußfolgerung,
als solche nur
„im Raum einer
Versammlung“ bewerkstelligen. (Am Nullpunkt der Verrücktheit, 1986)
2. Die
Infragestellung des Architektonischen ist durch die modernistische
Avantgarde des 20. Jahrhunderts als zwangsläufiger Bruch mit der Tradition
inzwischen selbst als Tradition etabliert worden, legitimiert vor allem
durch den totalen Zusammenbruch des Wertfeldes in zwei Weltkriegen. Seither
ist künstlerischer Aufbruch mit dem Abbruch geschichtlicher Illusion
gleichgesetzt. Auch die Architekturtheorie des Modernismus denkt in
Kategorien einer Befreiungsideologie und Ästhetik des Widerstands. Aus der
Beschwörung dieser Verbindlichkeit ist ein neuer Historismus entstanden, hat
sich eine regelrechte Tradition der Avantgarde etabliert. Auch die jüngste
Neo-Avantgarde folgt beharrlich dem Repertoire des Widerstands und sieht
deshalb in der Architektur tendenziell ein Hindernis, einen Störfaktor, der
mit den
jeweils im
Fluß befindlichen sozialen, technologischen und wissenschaftlichen
„Ereignissen“ des „modernen Lebens“ kollidiert. „To resist architecture“
(Rem Koolhaas) lautet daher die progressive Widerstandsformel für Theorie
und Ästhetik, die dem Regressionsmythos der „Permanenz“ die Flucht ins
„Ereignis“ als Erlösung
entgegenstellt. Der im Zuge der Ästhetik des Widerstands
wegtheoretisierten Sinn- und Gefühlswelt des Architektonischen steht als
Kehrseite der Medaille der von der modernen Bauindustrie praktizierte
Widerstand gegen Ästhetik gegenüber, mit dem Ergebnis, daß
das industrielle Massenprodukt mit architektonischen Ansprüchen kaum noch in
Beziehung zu bringen ist.
3. Die Architektur der Gegenwart ist gekennzeichnet durch den
Überfluß vermeintlich innovativer Impulse und deren universeller
Vermarktung im Namen bester Absichten, bei gleichzeitigem realen
Substanzverlust an baulicher, architektonischer und vor allem
städtebaulicher Qualität. Der Ruf nach „Baukultur“ ist bezeichnend für die
Situation. An ihr ist die Theorie der Architektur nicht unschuldig, insofern
sie der Penetranz der Theorieverfechter und dem unerträglichen Jargon einer
pastoralen Pseudo-Ästhetik nicht energisch genug entgegengetreten ist. Auch
in der Theorie spiegelt sich die Komplexbeladenheit des architektonisches
Bewußtseins einer Moderne, die sich auf die saisonale Normativität
unterschiedlichster Ideologien, Theorien und wissenschaftliche Disziplinen
beruft, selbst aber nur noch bedingt zur gedanklichen und formalen
Bewältigung der eigenen Wirklichkeits- und Erfahrungsinhalte im Stand ist.
Die Neigung, im Namen der Interdisziplinarität einen Bogen um die eigene
Disziplinarität zu schlagen, hat der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim den
Theoretikern und Praktikern der modernen Architektur attestiert, die es
offenbar vorzögen, hierdurch der „Auseinandersetzung mit der Architektur
selbst völlig aus dem Wege zu gehen.“
4. Wer Architekturstudenten bei der Erklärung ihrer Entwurfsprojekte erlebt, den
mutet diese intellektuelle Diagnose von 1980 heutzutage hoch aktuell an.
Indiz dafür ist die durchgängig anzutreffende allgemeine Sprach- und
Begriffslosigkeit, aus der das Unvermögen spricht, die architektonische Form
als konstitutiven Träger von Bedeutung zu begreifen.
Auch von der zeitgenössischen Architekturtheorie wird die Tendenz der
Reduktion des architektonischen Denkens auf andere intellektuelle Arenen und
Modi des Denkens gepflegt (Michael Hays: Architecture Theory since 1968);
dieser Blickwinkel löst die Architektur letztlich in fast nichts
auf und unterschlägt die Möglichkeit der gegenseitigen Funktionalisierung
der Fächer, nämlich die Möglichkeit,
daß auch eine Theorie der Architektur für Nachbarwissenschaften,
selbst für die Philosophie, eine kritische Rolle spielen kann und folglich
ein Mitwirkungsrecht am Diskurs hat. Interdisziplinarität ist keine
Einbahnstraße, und Architekturtheorie ist nicht nur eine Funktion
angewandter Wissenschaft, sondern ebenso die Reflexion über eine
eigenwertige kulturelle Institution, die durchaus auch anderen
Wissensbereichen Impulse zu geben vermag. Gottfried Semper, dessen
Schriften den frühen Nietzsche maßgeblich beeinflußt haben, ist
hierfür ein großartiges Beispiel.
Zu den vordringlichen gestalterischen Aufgaben der Architekturtheorie heute
gehört es, ein neues
Bewußtsein von der Kontinuität des Nachdenkens über die eigene
Disziplin herzustellen und dieses zur Fortsetzung offene Erbe neu zu
erschließen. Es wäre also die Autonomie der Disziplin gegenüber den
Nachbarwissenschaften anzuerkennen und die Architekturtheorie ohne
„grenzpolizeiliche Befangenheit“ (Aby Warburg) mit anderen Disziplinen auf
einem entfalteten Niveau methodisch zu verknüpfen. Dazu gehörte es, die
Architektur als eine bergende Institution zu betrachten, die nicht nur
dynamisch gedacht und erweitert, sondern die zugleich auch bedacht und als
kulturelle Ressource gepflegt werden sollte.
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