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In Zeiten, in denen sich jeder Erfolg
versprechende Forschungsantrag mit dem Etikett der "Interdisziplinarität'
garnieren muss, um überhaupt eine Chance auf Erfolg zu haben, scheint es
festzustehen, dass Interdisziplinarität innovativ ist. Auch die Architektur
– und mit ihr die Architekturtheorie – ist deswegen (wieder einmal)
verzweifelt auf der Suche nach neuen, außerdisziplinären
Anregungen und Begründungen. Dabei gibt es wohl kaum eine Disziplin, die
gelassener auf diese Forderungen des Tages schauen könnte: Denn seitdem es
Architekturtheorie gibt, seitdem wird die Interdisziplinarität der
Architektur bzw. des Architekten beschworen. Klassische Architekturtheorie
beinhaltet seit Vitruv die Forderung nach einer multidisziplinären
Architekturausbildung, brauche doch der Architekt nicht allein praktische
und theoretische Fähigkeiten, sondern darüber hinaus auch Kenntnisse in
Geometrie, Arithmetik, Optik, Geschichte, Philosophie, Physiologie, Musik,
Medizin, Jura und Astronomie.[1]
Kaum eines der heute hoch gepriesenen
inter- oder gar transdisziplinären Projekte bringt eine solch divergente
Vielfalt der Fächer zusammen.
Wie kann bei einer solchen – historisch immanenten – Multidiszplinarität der
Architekturtheorie überhaupt ein Blick von außen
auf sie geworfen werden? Sind nicht gerade jene Disziplinen, die ebenfalls
gehaltvoll von Architektur handeln, je schon auch Bestandteil der
Architekturtheorie gewesen? Diesem Problem möchte ich mich mit einer
historischen Untersuchung nähern, die sich mit der Bildung der
Städtebautheorie und insbesondere der Städtebaugeschichtsschreibung im
frühen 20.
Jahrhundert
beschäftigt.
Dabei lässt sich zeigen, dass dieses neue Fach aus der Zusammenarbeit von
Experten unterschiedlicher Disziplinen entstand, dass sozusagen eine
problembezogene Multidisziplinarität zu einer neuen Disziplin führte. Die
Trennung von "Außen" und "Innen" erscheint
dabei kaum möglich, führte doch erst die Bündelung zahlreicher "Außenperspektiven"
zu einer Bestimmung dessen, was die Disziplin "innen" zusammenhält.
Die Entstehung der modernen Städtebautheorie kann als ein multidisziplinärer
diskursiver Prozess beschrieben werden, an dem Vertreter vieler Fächer
teilnahmen, um eine Wissenschaft des Städtebaus zu begründen. Dazu zählten
Ingenieure wie Ildefonso Cerdà, Architekten wie Hendrik Petrus Berlage oder
Daniel Hudson Burnham, Ökonomen wie Rudolf Eberstadt oder Werner Hegemann,
Soziologen wie Max Weber oder Robert Park, Philosophen wie Georg Simmel,
Politikwissenschaftler wie Frederic Howe, Naturwissenschaftler wie Patrick
Geddes, Historiker wie Marcel Poëte, Kunsthistoriker wie Albert Erich
Brinckmann und Kunstkritiker wie Karl Scheffler – um nur die
allerwichtigsten zu nennen. Angesichts dieser Lage kann man ohne
Übertreibung von einer Geburt des modernen Urbanismus aus dem Geist der
Multidisziplinarität sprechen.[2]
Wie sieht dies mit dem speziellen Gebiet der Städtebaugeschichte, oder
genauer: der Städtebaugeschichtsschreibung aus?[3]
Auf den ersten Blick erscheint diese als ein typisch disziplinäres Produkt
des seinerseits noch jungen Faches Kunstgeschichte. 1920 publizierte der
Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann die erste umfassende Geschichte des
Städtebaus unter dem Titel Stadtbaukunst. Geschichtliche Querschnitte und
neuzeitliche Ziele. Darin bestimmte er Städtebau vor allem als
Formproblem: "Baumasse und Räume in Beziehung zu setzen und aus einander
zu entwickeln, das ist das Programm künstlerischen Stadtbaus."[4]
Als Schüler Heinrich Woelfflins hatte er schon 1908 in seinem Buch Platz
und Monument festgestellt: "Städte bauen heißt: mit dem plastischen
Hausmaterial Gruppen und Räume gestalten!"[5]
Dürfen wir nun von ihm einen streng formalistisch-kunsthistorischen Zugang
erwarten? Keineswegs! Schon im ersten Satz seiner Stadtbaukunst
beschreibt Brinckmann die multidisziplinäre Natur seines Gegenstands: Er
erwähnt "die sozialen und ökonomischen Bedingungen der städtischen
Entwicklung", denen er nun eine "Formgeschichte der Städte" zur
Seite stellen wolle.[6]
Seine gesamte Darstellung der Städtebaugeschichte ist durch die Auffassung
gekennzeichnet, dass die Stadtform nicht autonom, sondern von verschiedenen
Faktoren beeinflusst sei. So beschreibt er etwa das Zusammenspiel
unterschiedlicher Faktoren am Beispiel des zeitgenössischen Städtebaus: "Wohnungswesen,
Industrie, Handel und Verkehr machen Ansprüche, die Stadt selbst als Ganzes
hat bestimmte Lebensgewohneiten und künstlerische Traditionen. Die einzelnen
Forderungen müssen gegeneinander ausgewogen werden."[7]
Er vertritt also weder ein Konzept formaler Autonomie noch eines der
Reduktion auf außerkünstlerische Faktoren,
sondern fordert ein Abwägen diverser Aspekte wie Gesellschaft, Wirtschaft,
Politik, Technik und auch Kunst.
So wie Brinckmann auf diese Weise andere Disziplinen in seine
Städtebaugeschichte mit einbezog, so dachte er auch, die Grenze
zwischen Theorie und Praxis, oder genauer: zwischen historischer Forschung
und zeitgenössischem Entwurf zu überschreiten. Denn er hatte seine
historische Untersuchung "in der Absicht geschrieben, das gegenwärtige
künstlerische Denken anzuregen."[8]
Tatsächlich war Brinckmann nicht allein ein aktiver Streiter im
urbanistischen Tagesgeschäft wie etwa dem Wettbewerb
Groß-Berlin von 1908-1910, sondern
seinerseits in seinen Auffassungen stark von entwerfenden Architekten
geprägt. Auch wenn er Camillo Sittes Bestrebungen fälschlicherweise als "romantisch"
und "mittelalterlich" abtat, so war sein Interesse an Plätzen doch
vor allem durch Sittes Pamphlet Der Städtebau nach seinen künstlerischen
Grundsätzen von 1889 geprägt. Mehr noch: dass er in seinem Buch über
Plätze das "Gefühl für Raum und Raumwirkung" als das entscheidende
Kriterium für gelungene Platzanlagen anführte, war eine direkte Wiederholung
von Sittes Programm.[9]
Die erste umfassende Städtebaugeschichte eines Kunsthistorikers ist also
alles andere disziplinär-introvertiert: Sie steht ebenso in einem engen
Verhältnis zur Praxis wie sie andere Fächer mit
einbezieht.
Im Folgenden möchte ich zeigen, wie die Städtebaugeschichtsschreibung vor
Brinckmann im Rahmen der praktischen Planungsliteratur entstand – und
nicht innerhalb einer historischen Disziplin wie der Kunstgeschichte.
Vor Brinckmann: Städtebaugeschichte als Teil der Planungsliteratur
Die ersten generellen Darstellungen der Städtebaugeschichte waren nicht als
Monographien, sondern als Kapitel in Werken der zeitgenössischen
Planungsliteratur erschienen. Geschichte war hier nicht nur unmittelbar mit
der Praxis verknüpft, sondern von unterschiedlichen Fachleuten wie
Architekten, Ökonomen, Naturwissenschaftlern oder Historikern dargestellt
worden.
So ließen etwa Daniel Hudson Burnham und
Edward Herbert Bennett ihren Plan of Chicago (1909) mit einem
zwanzigseitigen Kapitel über die Geschichte des Städtebaus beginnen. Unter
dem Titel "City Planning in Ancient and Modern Times" präsentierten
sie eine großzügig illustrierte umfassende
Stadtplanungsgeschichte von Mesopotamien bis zu den zeitgenössischen USA.
Dieses seinerzeit auflagenstärkste Planungsdokument war selbst ein Produkt
interdisziplinärer Zusammenarbeit: Während Burnham und Bennett ausgebildete
Architekten waren, arbeitete Charles Moore, der den Text des Bandes verfasst
hatte, als Journalist und Politiker. Darüber
hinaus war auch die Stadtgeschichte nicht als autonome Formgeschichte
aufgefasst, sondern als Resultat unterschiedlicher Faktoren verstanden. Die
Autoren legten ein besonderes Augenmerk auf die Ökonomie und meinten, dass "commerce
a leading motive in city building" sei
[10]
kein Wunder, war ihr Plan doch vom Chicago Commercial Club speziell als
Wirtschaftsförderungsmaßnahme in Auftrag
gegeben worden. Doch auch weitere Faktoren wie Religion, Politik oder
Gesetzgebung spielten im Text eine entscheidende
Rolle.
Im selben Jahr erschien in Deutschland das von dem Volkswirtschaftler Rudolf
Eberstadt verfasste Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage.
Dieses enthielt eine noch ausführlichere Geschichte des Städtebaus: Über 50
Seiten schilderte der Autor gleich zu Beginn des Bandes "Die Entwicklung
der städtischen Bauweise: Altertum, Mittelalter, Periode der
landesfürstlichen Bautätigkeit, Gegenwart".[11]
Auch Eberstadt pflegte einen multidisziplinären Zugriff auf sein Thema und
erklärte diesen gleich im Vorwort: "Die Zweige der Wissenschaft, die in
Betracht kamen, sind Verwaltungslehre, Technik und Volkswirtschaft".[12]
Das Einbeziehen dieser Disziplinen ergab sich für ihn aus der
multidisziplinären Natur seines Gegenstandes. So sei das besondere am
Städtebau vor allem die innige Verknüpfung verschiedener Faktoren: "Das
Wohnungswesen zeigt, in größerem Umfang vielleicht als irgend ein anderer
Teil unseres Kulturlebens, den Grundzug, daß jeder einzelne Vorgang seine
Wirkungen vervielfältigt und auf fremde Gebiete überträgt. Die
Einrichtungen, die der Jurist schafft, sind bestimmend für das Werk des
Technikers. Die Maßnahmen des Technikers wiederum haben in hervorragender
Weise volkswirtschaftliche Bedeutung. Die Ergebnisse der Bodenparzellierung,
der Bauweise, der Besitzverteilung greifen auf das tiefste in die Gestaltung
der politischen Verhältnisse ein."[13]
Gesetzgebung, Technik, Wirtschaft und Politik bestimmten sich im Städtebau
wechselseitig und bedürfen als spezielle Gebiete eine besondere Beachtung.
Dass Eberstadt als Volkswirtschaftler die ökonomischen und politischen
Aspekte betonte, überrascht wenig. Dennoch reduzierte er selbst als Ökonom
die Stadt nicht auf diese Faktoren, sondern räumte auch der Stadtform, den "künstlerischen"
Fragen, einen eigenen Stellenwert ein: "Gewiß stehen für unsere
Untersuchungen die volkswirtschaftlichen, rechtlichen und politischen
Gesichtspunkte an erster Stelle; indes die künstlerischen Forderungen fallen
mit unseren Zielen vollständig zusammen und können nur gleichzeitig und
gemeinsam mit diesen verwirklicht werden."[14]
Dieses nicht-reduktive Verständnis des Städtebaus – die Beachtung
ästhetischer Aspekte neben anderen Aspekten – war typisch für den frühen
modernen Urbanismus, bevor funktionalistische, technizistische oder ausschließlich
soziologische Konzepte die Oberhand gewannen und die Stadtform aus anderen
Faktoren abzuleiten versuchten.
Ganz ähnlich sah dies Werner Hegemann, ebenfalls als Ökonom ausgebildet und
dann als Stadtplaner tätig, zwischen Deutschland und den USA pendelnd. Der
von ihm herausgegebene zweibändige Katalog der großen Berliner
Städtebauausstellung von 1910, auf der vor allem die Pläne des Wettbewerbs
Groß-Berlin gezeigt worden waren, umfasste ebenfalls ausführliche
historische Beiträge. Die erste Hälfte des ersten Bandes war einer
historischen Übersicht des Städtebaus und einer ausführlichen
Planungsgeschichte Berlins gewidmet. Auch Hegemann betonte den Zusammenhang
wirtschaftlicher, technischer und künstlerischer Aspekte, wenn es um
gelungene Stadtplanung ging: "Dabei darf jedoch die technische und
wirtschaftliche Überwindung von der künstlerischen zeitlich nicht getrennt
werden, um beide muss gleichzeitig gerungen werden."[15]
Nur ein multidisziplinärer Zugriff, der ebenfalls die Kunst
mit einbezog, könne die aktuellen Probleme der Großstädte lösen.
Ein weiteres Medium, in dem Städtebaugeschichte im Rahmen aktueller
Stadtplanung präsentiert wurde, war die Städtebauausstellung. Den
umfassendsten Zugriff lieferte hier zweifellos der Biologe Patrick Geddes in
seiner Cities and Town Planning Exhibition, die er erstmals 1911 in
Chelsea, London, zeigte. Hier war – neben aktuellen Plänen und einem
ausführlichen Survey von Edinburgh – die gesamte Städtebaugeschichte in
chronologischer Folge als folgerichtige Entwicklung dargestellt, nach dem
organisch-religiösen Schema von "origin, growth, decay, revivance"
geordnet. Die Gegenwart hatte dabei Geddes in die "present separate
contributions of professions & specialisms" aufgeteilt.
Diese bestanden in "ethics & religion, economics & politics,
education, medicine, hygiene, horticulture etc., architecture and arts &
crafts, engineering, surveying etc.".[16]
Diese in der
Gegenwart getrennten Disziplinen sollten dann in der Zukunft zu einem
Verständnis der "city as organic unity" zusammengeführt werden.
Interdisziplinarität, sogar Transdisziplinarität, ist hier das explizite
Programm des städtebautreibenden Naturwissenschaftlers.
Die umfassendste Darstellung der Städtebaugeschichte in einem
Planungsbericht erschien in dem monumentalen zweibändigen Werk zum World
Centre of Communication 1913-1918.[17]
Dieses von dem in Rom ansässigen amerikanischen Bildhauer norwegischer
Abstammung Hendrik Christian Andersen initiierte Projekt einer
internationalen Stadt zur Beförderung des wissenschaftlichen Austausches,
des Fortschritts und des Friedens war selbst ein multidisziplinäres
Unternehmen. Für den Entwurf der Stadt hatte Andersen den französischen
Architekten Ernest Hébrard gewonnen, die juristischen Aspekte beleuchtete
der italienische Rechtsphilosoph Umano, die wirtschaftlichen Vorteile
untersuchte der Ökonom Jeremiah W. Jenks – und der französische Archäologe
und Historiker Gabriel Leroux präsentierte auf nicht weniger als 130 Seiten
zu Beginn des ersten Bandes "The Great Monumental Conceptions of the Past"
von den Städten Mesopotamiens bis zur Planung von Washington 1902. Fachleute
also behandelten die historischen, architektonischen, juristischen und
ökonomischen Aspekte dieser Idealstadt, die unter der Schirmherrschaft der
Kunst konzipiert wurde.
Dies alles waren Beispiele allgemeiner Städtebaugeschichten, die im Rahmen
von aktuellen Planungen entstanden und präsentiert worden waren, geschrieben
von Experten unterschiedlichster Disziplinen – bevor schließlich
1920 mit Brinckmanns Stadtbaukunst die erste kunsthistorische
Darstellung als Monographie erschien. Auch diese zeichnete sich – wie wir
gesehen hatten – durch die Berücksichtigung diverser Einflussfaktoren auf
die Stadtform aus, und im folgenden möchte ich zeigen, wie auch die
nachfolgenden allgemeinen Städtebaugeschichten dieses multidisziplinäre
Verständnis beibehielten, auch wenn sie sich auf die Entwicklung der
Stadtform konzentrierten.
Nach Brinckmann: Generelle Städtebaugeschichten und ihr
multidisziplinäres Selbstverständnis
Im Jahr 1926 öffnete der Philosoph und Kunsthistoriker Pierre Lavedan "un
nouveau chapitre de l’histoire générale de l’art: l’histoire de
l’architecture urbaine", wie er es in seinem Band Qu’est-ce que
l’urbanisme? formulierte.[18]
Im selben Jahr erschien ebenfalls der erste Band seiner Histoire de
l’urbanisme, der ersten mehrbändigen Städtebaugeschichte, die über
Jahrzehnte als Standardwerk dienen sollte.[19]
Auch wenn Lavedan hier die Stadtarchitektur und den Urbanismus als neues
Thema der Kunstgeschichte apostrophierte und die "étude des apparences
matérielles" als eigentlichen Fokus beschrieb,[20]
so bedeutete dies keineswegs, dass er sie als autonome Formprodukte deutete.
Seine Interpretationen historischer Städte bezogen im Gegenteil eine
Vielfalt relevanter Aspekte wie Geographie, Soziologie, Ökonomie oder
Politik mit ein, wie auch seine Lehre zwischen der Ausbildung von
Historikern und Entwerfern pendelte. Dabei reduzierte er die Form nicht auf
andere Faktoren, sondern forderte im Sinne des
embellissement, sie mit diesen in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen:
"les ville ne devaient donc pas seulement être saines et
commodes, mais belles".[21]
Umfassend – entsprechend seinem Beruf als
Archivar, Bibliothekar und Historiker – behandelte 1929 Marcel Poëte den
Städtebau in seiner Introduction à l'urbanisme. Schon zuvor hatte er
eine monumentale Stadtgeschichte von Paris verfasst,[22]
doch erst mit diesem Buch plante er auch eine systematische Darstellung und
generelle Städtebaugeschichte, die allerdings nicht über die Antike
hinausgelangte. Der Städtebau sei gleichzeitig Kunst und Wissenschaft, "l'Urbanisme,
à la fois science et art", und umfasse "disciplines diverses:
économique, géographique, historique et autres."[23]
Diese verschiedenen Fächer entsprächen den verschiedenen Aspekten des
Städtebaus, "aux données historiques il faut joindre les données
géographiques, géologiques et économiques." Alle Aspekte seien zudem eng
miteinander verknüpft: "les traits économique servent à expliquer les
traits sociaux, de même qu'à ces derniers sont liés les traits politiques ou
administratifs."[24]
Am Beispiel des klassischen Athen erläuterte er eindrücklich, wie ein Faktor
innig mit dem anderen zusammenhänge: "Il y a un lien étroit entre la
découverte de nouveaux filons argentifères au Laurion, vers 484 avant
Jésus-Christ (fait économique), la construction, grâce aux nouvelles
ressources de ces mines, de la flotte par laquelle Athènes est entrée dans
la phase maritime des son existence (fait organique d'évolution), la
victoire navale de Salamine, en 480 (fait historique), l'expansion
commerciale et l'esprit de conquête de la même cité (faits d'ordre
économique et politique), l'essor de la démocratie athénienne (fait
politique), enfin la merveilleuse floraison d'art de la seconde moitié de ce
même ve siècle (fait d'ordre immatériel)."[25]
Das umfassende und angemessene Verständnis einer Stadt konnte für Poëte nur
gewonnen werden, wenn – wie in diesem Beispiel – ökonomische, organische,
politische, historische und immaterielle Faktoren gleichzeitig
berücksichtigt wurden.
Explizit eine Formgeschichte der Stadt legte der Architekt und
Kunsthistoriker Paul Zucker 1929 mit seinem Band Entwicklung des
Stadtbildes. Die Stadt als Form vor. Oft genug schon seien "die
Voraussetzungen des Stadtwerdens in sozialer, ökonomischer,
wohnungspolitischer und verkehrstechnischer Hinsicht analysiert worden",
bemerkte er in der Einleitung. Dem wolle er nun die "Behandlung und
Analyse der formalen Erscheinung
der gewordenen Stadt" zur Seite stellen.[26]
Doch auch seine Formgeschichte der Stadt schloss andere Faktoren keineswegs
aus. Im Gegenteil konstatierte er ausdrücklich, dass ein angemessenes
Verständnis der Stadt nur in der Zusammensicht der Faktoren zu gewinnen sei:
"So wird jede Betrachtung des Stadtorganismus immer von einer zweifachen
Sicht ausgehen müssen: einmal von der ästhetischen Auffassung der Stadt als
des einmaligen gestalteten Kunstwerkes, das mit der nur ihm eigenen inneren
Gesetzlichkeit im Raume steht, und daneben von der biologischen Anschauung,
welche die Stadt als einen lebendigen, sich ständig fortentwickelnden
Organismus ansieht, der, sozialen, hygienischen, ökonomischen und
technischen Gesetzen unterworfen, als solcher in der Zeit steht."[27]
Selbst eine Betrachtung der Stadtform ließ sich
für Zucker nur sinnvoll leisten, wenn auch soziale, hygienische, ökonomische
und technische Aspekte beachtet wurden.
Den breitesten Zugang zur Städtebaugeschichte wies schließlich
1938 Lewis Mumfords The Culture of Cities auf. Für Mumford –
Schriftsteller und in der Breite seiner Themen ein Generalist par
excellence, zudem Schüler des Universalisten Patrick Geddes – war die Stadt
Ausdruck aller nur erdenklichen menschlichen Tätigkeiten.
In der
Einleitung schrieb er: "The city, as one finds it in history, is the
point of maximum concentration for the power and culture of a community. It
is the place where the diffused rays of many separate beams of life fall
into focus."[28]
Entsprechend
dieser integrativen Definition der Stadt, die alle unterschiedlichen Aspekte
und Disziplinen mit einschloss, berücksichtigte er
in seiner Erzählung der Städtebaugeschichte eine große Breite
unterschiedlicher Faktoren. Dies hieß wiederum nicht, dass er die
eigentliche Formgeschichte vernachlässigte. Im Gegenteil: Tafeln mit
eindrücklichen Stadtbildern und den entsprechenden Erläuterungen zur
Stadtform bilden das eigentliche Rückgrat seines Werkes – eine Anordnung,
die er in seinem Opus Magnum The City in History 1961 beibehalten
sollte.[29]
Schluss
Städtebaugeschichte war demnach weder als disziplinäres Projekt der
Kunstgeschichte entstanden, noch wurde sie jemals als autonome
Formgeschichte betrieben. Ihre Anfänge lagen in der Städtebaupraxis, bevor
eigenständige historische Monographien erschienen. Sie wurde von Vertretern
unterschiedlicher Disziplinen wie Architekten, Ökonomen, Historikern,
Naturwissenschaftlern und Journalisten verfasst – und schließlich
auch von Kunsthistorikern. Und selbst als Formgeschichte vernachlässigte sie
nicht die Beachtung anderer relevanter Faktoren. Wie die Städtebautheorie
entstand die Städtebaugeschichte im frühen 20. Jahrhundert als ein
multidisziplinäres Projekt.
Vor diesem Hintergrund erscheint es erstaunlich, wie überhaupt der Vorwurf
einer formautonomen Betrachtungsweise entstehen konnte, wie er heute immer
noch gerne Kunsthistorikern und Architekten von Soziologen, Ökonomen oder
Politikwissenschaftlern gemacht wird, wenn es um die Deutung der Stadt als
gebauter Umwelt geht. Tatsächlich wird nicht selten in diesen Fächern die
Relevanz der gebauten Form ignoriert oder unterschätzt, obwohl doch
ein Auseinanderdividieren der verschiedenen Aspekte dem komplexen
Sachverhalt der Stadt gänzlich unangemessen ist, wie es die Theorie und
Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts dargelegt hat.
Viel eher ließe sich zeigen, wie im Zuge
der Avantgarden des 20. Jahrhunderts die Beachtung formaler Aspekte im
Städtebau zunehmend an Bedeutung verlor und entwerferische Prozesse oftmals
eindimensional auf soziale, ökonomische oder technische Faktoren reduziert
wurden – je nach Provenienz und Vorliebe der Autoren.
Diese
Entwicklung kündigte sich schon zu Beginn der 1920er Jahre an, als Hegemann
und Peets in ihrem American Vitruvius kritisch bemerkten: "Indeed,
the authors feel that the young profession of city planning is drifting too
strongly in the directions of engineering and applied sociology."[30]
Um dem
entgegenzuwirken, legte Hegemann als Ökonom (!) den Schwerpunkt seines
historischen Atlasses auf die architektonische Form der Stadt: Hier galt es,
unabhängig von persönlicher Vorbildung die dem Gegenstand angemessene
Balance der Betrachtungsweisen zu wahren.
Anders wurde dies jedoch von den Vertretern der unterschiedlichen
Avantgardebewegungen gehandhabt, die gerne die Stadt auf wenige Faktoren,
wenn möglich gar nur einen Faktor, reduzierten, was die Griffigkeit ihrer
Theorien erhöhte. Dies war allerdings kein notwendiger Zeitgeist, sondern
wurde von aufmerksamen Zeitgenossen hellsichtig erfasst und
kritisiert. Als Beispiel sei hier die scharfzüngige Besprechung von
Le Corbusiers The City of Tomorrow von 1929 durch den englischen
Architekten und Architekturtheoretiker A. Trystan Edwards gegeben.
Der Kernpunkt
seiner Kritik lag in der reduktionistischen Stadtauffassung Le Corbusiers: "It
is much too easy to design ideal or Utopian cities if the artist
concentrates upon two or three of the factors to be considered and rejects
all others."[31]
Und weiter: "The real effect of M. Le Corbusier's proposals is an
over-simplification of the city [...]. M. Le Corbusier's solution is to do
away with the complexity. This complexity, however, is part of the subject
of civic design. The modern great city is like a large orchestra which often
plays an inferior piece of music, and in which the instruments themselves
may occasionally even be out of tune. It is the business of a reformer to
improve the music and the instruments, but not to cut down the range of the
orchestra, nor the number of musical effects that are aimed at by it. M. Le
Corbusier has not the patience to attempt this, but substitutes for this
orchestra a single tin whistle with about five notes, with which he plays a
perfectly rhythmical tune.
But it is not enough."[32]
So wenig wie mit einer Blechpfeife eine Symphonie von Elgar aufgeführt
werden kann, so wenig eignet sich das reduzierte Instrumentarium zum
angemessenen Verständnis des komplexen Phänomens der Stadt.
Es war diese Art des reduktionistischen Städtebauverständnisses (und weniger
die Frage von Neu und Alt bzw. Moderne und Tradition), die in der Folge der
Charta von Athen zu den Verfehlungen der so
genannten funktionalistischen Stadtplanung führte. Nicht die autonome
Konzeption der Form hat im 20. Jahrhundert die größten
städtebaulichen Probleme bereitet, sondern das reduktionistische Verständnis
der Stadt als soziales, ökonomisches oder technisches Phänomen unter
Ausschluss der eigenständigen Rolle der formalen Aspekte. Hier kann die
Untersuchung der frühen modernen Städtebautheorie und Städtebaugeschichte
erhellende Einsichten zeitigen, bildet sie doch einen multidisziplinären
Höhepunkt zwischen dem oftmals ingenieurstechnisch bestimmten Städtebau des
19.
Jahrhunderts und dem oftmals funktionalistischen Städtebau des späteren 20.
Jahrhunderts.
Ihre Autoren versuchten nicht, die Stadtform auf wenige Faktoren zu
reduzieren, sondern den unterschiedlichen Aspekten der Stadt durch eine
reichhaltige nicht-reduktive Theorie gerecht zu werden. Exemplarisch hatte
dies Paul Wolf in seinem Städtebau 1919 verdichtet: "Stadtbau aber
ist ein Produkt, bestehend aus den Einzelfaktoren: Volkswirtschaft, Technik,
Hygiene, Verwaltung und Kunst. Die Kunst ist der sichtbare Ausdruck des
Ganzen. Das höchste Ziel der Kunst ist Monumentalität; im monumentalen
Bauwerk, in der Monumentalstadt erreicht die Kultur ihren höchsten Punkt."
[33]
Nur eine
multidisziplinär konzipierte Stadtbaukunst, die das Ziel der Form nicht aus
den Augen verliere, könne zu einem kulturellen Gipfel führen.
Erst die "Blicke von außen" konstituierten
in der Städtebautheorie und der Städtebaugeschichte das "Innere" des Faches;
erst der multidisziplinäre Zugang definierte die Disziplin. Diese verlor
sich jedoch nicht in transdisziplinärer Beliebigkeit, sondern fokussierte –
ohne die vielfältigen Faktoren zu vernachlässigen – auf das für die
Städtebauer und Städtebauhistoriker zentrale Problem: die Interpretation und
Bestimmung der gebauten Form der Stadt.
[1]
Vitruv: De architectura libri decem, Buch 1, Kapitel 1.
Dieser Artikel entwickelte sich aus einem Beitrag zur vom Autor
konzipierten Sektion "Urban Design History as an Interdisciplinary
Field: Working across Boundaries in the Formative Years 1890-1940"
des gemeinsam vom INHA und der SAH veranstalteten Kongresses
"Changing Boundaries: Architectural History in Transition" im
September 2005 in Paris, zu der ebenfalls Gabriele Barman-Krämer,
Christiane Crasemann Collins, Diana Periton, Ulrich Maximilian
Schumann, Nancy Stieber und Iain Boyd Whyte beitrugen.
[2]
Vgl. Sonne, Wolfgang: "'The entire city shall be planned as a
Work of Art.' Städtebau als Kunst im frühen modernen Urbanismus 1890
– 1920", in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 66, Nr. 2, 2003,
S. 207-236; Sonne, Wolfgang: Representing the State. Capital
City Planning in the Early Twentieth Century, München, London und
New York 2003, S. 44-49.
[3]
Vgl. Hebbert, Michael, Sonne, Wolfgang: "'History Builds the
Town.' On the Uses of History in Twentieth Century City Planning",
in: Monclus, Xavier, Guardia, Manuel (Hg.), Culture, Urbanism
and Planning, London 2006 (im Druck).
[4]
Brinckmann, Albert Erich: Stadtbaukunst. Geschichtliche
Querschnitte und neuzeitliche Ziele, Berlin 1920, S. 134.
[5]
Brinckmann, Albert Erich: Platz und Monument. Untersuchungen
zur Geschichte und Ästhetik der Stadtbaukunst in neuerer Zeit,
Berlin 1908, 19122,
19233, S. 209.
Vgl. Brinckmann, Albert Erich: Deutsche Stadtbaukunst in der
Vergangenheit, Frankfurt 1911.
[6]
Brinckmann, Albert Erich: Stadtbaukunst. Geschichtliche
Querschnitte und neuzeitliche Ziele, Berlin 1920, Vorwort.
[9]
Brinckmann, Albert Erich:
Platz und Monument, Berlin 1908, 3. Auflage 1923, S. 190.
[10]
Burnham, Daniel Hudson, Bennett, Edward Herbert: Plan of
Chicago, Chicago 1909, S. 9.
[11]
Eberstadt, Rudolf: Handbuch des Wohnungswesens und der
Wohnungsfrage, Jena 1909, Inhaltsverzeichnis.
[15]
Hegemann, Werner: Der Städtebau nach den Ergebnissen der
allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin nebst einem Anhang: Die
internationale Städtebau-Ausstellung in Düsseldorf, Bd. 1, Berlin
1911, S. 129.
[16]
Plan der Ausstellung mit Geddes' Beschriftungen, in: Welter,
Volker M.: Biopolis. Patrick Geddes and the City of Life,
Cambridge und London 2002, S. 126.
[17]
Andersen, Hendrik Christian, Hébrard, Ernest M.: Creation of
a World Centre of Communication, Paris 1913 (französische Ausgabe:
Création d'un centre mondial de communication, Paris 1913).
Andersen, Hendrik Christian, Cushing Andersen, Olivia: Creation
of a World Centre of Communication. Legal Argument, Economic
Advantage, Rom 1918 (französische Ausgabe: Création d'un centre
mondial de communication. Science positive du gouvernement, les
avantages économique, Rome 1918).
[18]
Lavedan, Pierre:
Qu’est-ce que
l’urbanisme? Introduction à l’histoire de l’urbanisme, Paris
1926, Vorwort.
[19]
Lavedan, Pierre:
Histoire de l’urbanisme, Bd. 1: Antiquité-Moyen Âge,
Paris 1926, Bd. 2: Renaissance et temps moderne,
Paris 1941, Bd. 3: Epoque contemporaine, Paris 1952.
[20]
Lavedan, Pierre:
Histoire de
l’urbanisme. Antiquité-Moyen Âge, Paris 1926, S. 2.
[21]
Lavedan, Pierre:
Histoire de l’urbanisme. Renaissance et temps moderne, Paris 1941,
S. 6.
[22]
Préfecture du Département de la Seine, Commission d'Extension de
Paris: Aperçu historique, Paris 1913 (Text von Marcel Poëte);
Poëte, Marcel: Une vie de cité. Paris de sa naissance à nos
jours, 4 Bde., Paris 1924-31.
[23]
Poëte, Marcel: Introduction à l'urbanisme. L'évolution des
villes, Paris 1929, S. 1.
[26]
Zucker, Paul: Entwicklung des Stadtbildes. Die Stadt als
Form, München, Berlin 1929, S. 7.
[28]
Mumford, Lewis: The Culture of Cities, New York 1938,
S. 3.
[29]
Mumford, Lewis: The City in History. Its Origins, Its
Transformations, and Its Prospects, London 1961.
[30]
Hegemann, Werner, Peets, Elbert: The American Vitruvius. An
Architects' Handbook of Civic Art, New York 1922, p. 4; vgl.
Sonne, Wolfgang: "Bilder, Geschichte und Architektur. Drei
wesentliche Bestandteile der Städtebautheorie in Werner Hegemanns
und Elbert Peets' American Vitruvius", in: Scholion. Bulletin der
Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, Nr. 2, 2002, S. 122-133.
[31]
Edwards, A. Trystan: "The Dead City", in: The Architectural
Review, Bd. 66, 1929, S. 135-138, Zitat S. 137.
[33]
Wolf, Paul: Städtebau. Das Formproblem der Stadt in
Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1919, S. 4.
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