Die Zukunft
der Architekturvermittlung

11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007
   

 

___Susanne Schumacher
Zürich
  Digitale Vermittlungsformen in der Architekturgeschichte
   

Werkzeuge der architekturgeschichtlichen Vermittlung

Text und Bild sind die wichtigsten Medien in der Vermittlung von Architekturgeschichte. In einer Reihe von gut erprobten architekturhistorischen Thematisierungsformen (wie Ausstellungen oder Fachliteratur) werden sie von HistorikerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen vielgestaltig eingesetzt. Seit digitale Werkzeuge die Erzeugung und Verarbeitung von Text und Bild unterstützen, ändern sich deren Eigenschaften; vor allem die Prozessierbarkeit digitaler Texte und Bilder ist zu nennen. Dadurch entstehen wesentlich neuartige Möglichkeiten der Beschreibung und Veranschaulichung von Architektur und ihrer Geschichte. Diese Thematisierungsformen sind gekennzeichnet durch ein jeweils spezifisches Verhältnis zwischen der architekturgeschichtlichen Fragestellung und den zum Einsatz kommenden digitalen Werkzeugen.[1]


Digitale Vermittlungsformen

Dieser Beitrag präsentiert vier verschiedene Vermittlungsformen von architekturhistorischen Themenstellungen, bei denen digitale Werkzeuge[2] zum Einsatz kommen. Es soll gezeigt werden, dass die strukturellen Eigenschaften dieser Werkzeuge konstituierend für die Vermittlungsform sind. Dabei beeinflussen sich die thematische Fragestellung und die Eigenschaften des Werkzeuges gegenseitig. Teils überwiegt das Erkenntnisinteresse in inhaltlicher Hinsicht, teils in Bezug auf die Eignung des digitalen Werkzeuges im Hinblick auf die adäquate Umsetzung architekturgeschichtlicher Fragestellungen. Bei allen vier Projekten wird im weitesten Sinne das Verknüpfen von Daten zum Zweck des Darstellens von inhaltlichen Aspekten genutzt. Dies geschieht nach sehr unterschiedlichen Prinzipien, wie der folgende Überblick zeigt:

Das erste Projekt ist eine CD-ROM zum Siedlungsbau der Weimarer Republik und arbeitet mit einer interaktiven und multimedialen Vermittlungsform. Hier ermöglicht die Hypertextstruktur eine nichtlineare Erzählform, die der Komplexität des Themas des Siedlungsbaus gerecht wird. Beim zweiten vorgestellten Projekt kommt ebenfalls Multimedia-Software zum Einsatz. Es handelt sich um eine Rauminstallation zum Atelierhaus von Konstantin Melnikow, bei der die Vermittlungsform des Spiels geeignet ist. Das dritte Projekt zeigt am Beispiel zweier Bildbrowser, dass auch eine assoziative und inspirierende Arbeitsweise mit Architektur-Bilddatenbanken möglich ist. Mit dem vierten Projekt wird veranschaulicht, wie die Beschreibungssprache XML zur strukturellen Analyse des Untersuchungsgegenstandes eingesetzt werden kann.

Bezogen auf die architekturhistorischen Themen und die zum Einsatz kommenden digitalen Werkzeuge sind die vier vorgestellten Projekte aufgrund ihrer Verschiedenheit kaum miteinander zu vergleichen. Doch unter dem Aspekt der architekturgeschichtlichen Vermittlungsformen kann an ihrem Beispiel gezeigt werden, wie die analogen Vermittlungsformen der Architekturgeschichte durch digitale Werkzeuge erweitert werden können und wie eine essenziell neue Ebene des Vergleichens zum Zweck der inhaltlichen Erkenntnis durch die gezielte Verwendung digitaler Werkzeuge erreicht werden kann.[3]

Die vorgestellten Beiträge entstanden während der letzten Jahre im Rahmen der Lehre.[4] Um solche experimentellen Thematisierungsformen ins Werk setzen zu können, ist die intensive Zusammenarbeit von Kunst- und ArchitekturhistorikerInnen mit Fachleuten für die jeweils zum Einsatz kommende Technologie gefordert. Die Projekte werden hier aus der Perspektive ihrer Relevanz für architekturgeschichtliche Vermittlungsformen vorgestellt.


Wandel der digitalen Vermittlungsformen

Am Beispiel dieser vier verschiedenen Projekte soll der Beitrag einen Wandel der digitalen Vermittlungsformen zeigen: Der Einsatz von digitalen Werkzeugen verlagert sich von abgeschlossenen, monografisch darstellenden Präsentationsmodi hin zu offenen, analysierenden Verfahren, welche die strukturellen Eigenschaften der digitalen Werkzeuge stärker für das inhaltliche Erkenntnisinteresse nutzen. Dieser Wandel bildet keine technologische Entwicklung im Sinne einer Chronologie ab, da die Werkzeuge zeitgleich existieren.


Hypermedia und Interaktivität

Multimedia-Software erlaubt es, auf der technischen Ebene verschiedene Medien (wie Bild, Video, Klang und Animation) in eine grafische Oberfläche zu integrieren und für eine interaktive Form der Rezeption zur Verfügung zu stellen. Die einzelnen Text- und Medienteile sind dabei netzartig miteinander verknüpft. Solch eine nichtlineare Organisation von Text- und Medienobjekten nennt man Hypertext bzw. Hypermedia[5]. Diese Art der Wissensstrukturierung macht es möglich, komplexe Zusammenhänge von Informationen möglichst ohne Wiederholungen sichtbar zu machen. Von dieser Form der Vermittlung und ihrer interaktiven, eher assoziativen Rezeption wird angenommen, dass sie den Vorgängen des menschlichen Verstehens entsprechen. Sie ermöglichen es, auf der inhaltlichen Ebene die thematische Verschränkung und die Verknüpfung mehrerer Sichtweisen auf einen Gegenstand zu realisieren. Diese strukturellen Eigenschaften von Multimedia-Präsentationen (z. B. mittels CD-ROM) kommen der Vermittlung von architekturgeschichtlichen Themen entgegen, da sie eine neue Umgangsweise mit der meist materialreichen und vielgestaltigen Quellenlage in der Architekturgeschichte ermöglichen. Im Gegenzug fordern die multimediale Darstellungsform und die inhaltliche Organisationsform von Hypermedia die Berücksichtigung einiger Rahmenbedingungen wie die mediengerechte Portionierung von Text, ein ausgewogenes Verhältnis der einzelnen Medien untereinander sowie eine wohlüberlegte grafische Navigationsführung.[6]

Interaktivität ist eine wichtige Eigenschaft vieler Multimedia-Anwendungen. Harald Krämer hat zwei verschiedene Ansätze von Interaktivität diagnostiziert und damit das Feld multimedialer Anwendungen abgesteckt.[7] Den ersten Ansatz bezeichnet er als „Methode zur Strukturierung des Faktenwissens“, den zweiten als „Zulassen der Kreativität des Benutzers“. Doch trotz aller Interaktivität der Systeme bleiben die BenutzerInnen von den Vorgaben der geschlossenen Systeme abhängig. Eine echte Interaktion, im Sinne der Aktualität des Handelns, ist nicht möglich.


CD-ROM „weisse vernunft“

Am Beispiel der CD-ROM „weisse vernunft - siedlungsbau der 20er jahre"[8] können einige wesentlichen Aspekte multimedialer Vermittlungsformen im Kontext der Architekturgeschichte genauer erläutert werden. Die CD-ROM ist im Multimediastudio der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe entstanden. Sie thematisiert ausgehend von der 1929 fertig gestellten Dammerstock-Siedlung in Karlsruhe „architektur und lebensentwurf im neuen bauen” (so der Untertitel). Der Siedlungsbau der Weimarer Republik spiegelt ein vielfältiges Ineinandergreifen von architektonischen, kulturellen, sozialen und politischen Entwicklungen. Bei der Konzeption der CD-ROM wurde danach gefragt, wie diese komplexe Thematik des Siedlungsbaus auf eine aufschlussreiche Art und Weise mit Hilfe von Multimedia-Technologie dargestellt werden kann. Darüber hinaus sollten inhaltliche Querbezüge zwischen dem Fallbeispiel der Dammerstock-Siedlung und den überregionalen und internationalen Entwicklungen deutlich werden. Gesucht wurde nach einer Darstellungsform, mit der die vielgestaltigen historischen und aktuellen Quellen (wie Fotografien, Planzeichnungen, Interviews, aber auch Gedichte oder Lieder) sinnvoll miteinander in Beziehung gesetzt werden konnten.[9]

Die CD-ROM „weisse vernunft” nutzt die Vermittlungsformen „Hypermedia“ und „Interaktivität“. Durch die Modularisierung von Inhalten, ihre Vernetzung und grafische Inszenierung erzielt diese Darstellung des eher spröden Themas des Siedlungsbaus einen hohen Grad an Veranschaulichung. Um die vielfältigen dokumentarischen Quellen für die interaktive Rezeption der BetrachterInnen zu erschließen, wurden diese nach einem gedanklichen Modell geordnet. Dieses gedankliche Modell bildet sich im grafischen Modell der Interfacegestaltung ab und ermöglicht die Gesamtnavigation durch funktionelle, strukturelle und inhaltliche Instrumente. Die mediengerechte Portionierung der Inhalte zielt auf den Spannungsbogen der Erzählung. Eine Vernetzung der Inhaltspakete versucht die Zusammenhänge zwischen den Untersuchungsebenen und -ansätzen zu vermitteln. Dadurch kann eine große Vielfalt an dokumentarischen Materialien aus unterschiedlichen Archiven und privaten Quellen zusammengeführt und mit Unterstützung der grafischen Gestaltung vermittelt werden.


Veranschaulichung von Grundrisslösungen
 
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Bild 1:
CD-ROM "weisse vernunft",
Screenshot

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Bild 2:
CD-ROM "weisse vernunft",
Screenshot
  Multimedia-Software ermöglicht Darstellungsweisen, die am Beispiel der Grundrissbeschreibung eine hohe Qualität der Veranschaulichung erlauben. Denn gerade das Thema der Grundrissdiskussion zeichnet sich in der stark textbasierten und mit vergleichsweise kleinen Vergleichsabbildungen operierenden Kunstwissenschaft oft durch schwere Nachvollziehbarkeit oder Unanschaulichkeit aus. Hinzu kommt die grundsätzliche Problematik, mit der Besprechung einer zweidimensionalen und oftmals schwer lesbaren Darstellungsform wie Grundrissen das dreidimensionale Thema der Architektur zu behandeln. Die CD-ROM „weisse vernunft“ zeigt nun an diesem Gegenstand, wie die allgemein sehr trockene Materie des Siedlungsbaus auf eine die Sinne ansprechende Art und Weise vermittelt werden kann.

Diese didaktische Ebene der multimedialen Erzählform kann anhand der Dammerstock-Siedlung beispielhaft demonstriert werden. Die Grundrisslösungen des Neuen Bauens im Allgemeinen wie auch der Karlsruher Versuchssiedlung im Besonderen stellen sich der Herausforderung einer den zeitgemäßen Idealen entsprechenden Besonnung, Belüftung, Wegeführung und Möblierung. Doch im Gegensatz zum gut finanzierten Einfamilienhausbau haben die Protagonisten des sozialen Wohnungsbaus die Aufgabe, günstige Arbeiterwohnungen zu erstellen. Zu diesem Zweck werden fortschrittliche Bauprozesse entwickelt und mit der Verwendung neuer Materialien experimentiert. Aufgrund dieser und weiterer Rahmenbedingungen warten die Siedlungen des Neuen Bauens meist mit hoch funktionalen, aber teilweise extrem reduzierten Grundrisslösungen auf. Dennoch entspricht gerade diese Bauform der ansatzweise realisierten Utopie des Neuen Bauens. Die tatsächliche Lebenswelt des so genannten „Neuen Menschen“ ist hier prototypisch in die Praxis umgesetzt worden und stellt sich einer Beurteilung. Aus diesen Gründen verdienen die Grundrisslösungen des Neuen Bauens im Allgemeinen und diejenige einer Mustersiedlung wie Karlsruhe Dammerstock im Speziellen eine besondere Beachtung.

Das Wissen um die genannten Zusammenhänge macht die Grundrisse überhaupt erst lesbar. Genau hier lassen sich die Möglichkeiten von Multimedia-Software mit Vorteil einsetzen. Zuerst einmal können die Aufteilungen eines Grundrisses durch grafische Markierungen für die BenutzerInnen leichter erkannt werden. Eine Kombination von Blickpunkten und fotografischen Ansichten vereinfacht das Verstehen der räumlichen Anordnungen. Die gezielte Kombination historischer und aktueller Fotografien erlaubt es, Umgestaltungen zu diskutieren. Aber auch Verknüpfungen von bestimmten Grundrisslösungen mit einem Glossar oder dokumentarischen Quellen erläutern den Kontext und vertiefen Angesprochenes. Schließlich lokalisieren grafische Manipulationen und Markierungen in Planzeichnungen oder Fotografien inhaltliche Interpretationen. Eine maßstäbliche Darstellung ermöglicht den Vergleich verschiedener Grundrisslösungen.

Hier werden einige wesentlichen Eigenschaften der multimedialen Darstellungsform im Vergleich mit der des Buches deutlich: Die Integration verschiedener Medien in eine gestaltete Oberfläche fordert eine veränderte Bezugnahme der Medien aufeinander. Hinsichtlich Text und Bild mag dies erstmal als eine quantitative Verschiebung hin zu weniger und modulartig konzipiertem Text im Zusammenhang mit mehr Abbildungen erscheinen. Doch berücksichtigt man das Zusammenspiel von Hypermedia-Struktur, grafischer Gestaltung als Benutzerführung und interaktiver Rezeption der Inhalte, dann entsteht eine neuartige Komplexität bei der Vermittlung von Inhalten.


Interaktion und Spiel

Die Form der Vermittlung muss nicht nur hinsichtlich des inhaltlichen Themas, sondern auch in Bezug auf die Rezeption konzipiert werden. So erfordert die Entwicklung einer interaktiven Präsentation im Raum andere Prinzipien als diejenige am Bildschirm. Für den Raum eignet sich z. B. die Vermittlungsform des Spiels, wie das Beispiel der Installation „haus melnikow“[10] zeigen kann.

Zum Zweck des Experimentierens mit Interaktionsformen im Raum für die architekturgeschichtliche Vermittlung wurde an der Professur für CAAD, ETH Zürich, das so genannte „Interaktive Bildwurfsystem”[11] (IBWS) entwickelt. Dieses IBWS sollte ausdrücklich eine andere Form der interaktiven Darstellung und Vermittlung architekturbezogener Themen ermöglichen als die Präsentationsform der CD-ROM. Somit bezog sich das Anforderungsprofil auf spezifische Formen der Präsentation (Projektion anstatt Bildschirm), der Darstellung (mehrere Projektionsflächen, je einzeln anzusteuern), der Rezeption (räumliche Situation), der Flexibilität (frei anzuordnendes System) und der Interaktion (körperlicher Einsatz). Entwickelt wurde ein System, das aus vier beliebig anzubringenden Projektionsflächen sowie einem mit Trittsensoren versehenen Teppich besteht. Auf den Teppich wird eine der vier Projektionen geworfen, dadurch dient dieser als Interface für die Steuerung der drei übrigen Projektionen. Die Größe und Anordnung der Projektionsflächen zielt auf eine immersive Wirkung des Arrangements ab. Darüber hinaus zeichnet sich die räumliche Präsentation des IBWS durch eine Reihe besonderer Eigenschaften aus: Das sind die Ausstellungssituation, der Besuch in der Gruppe als eine soziale Situation sowie der aktive körperliche Einsatz zum Bedienen des User Interfaces.


Installation „haus melnikow“

In diesen Rahmenbedingungen präsentiert die Installation „haus melnikow“ verschiedene spielerische Vermittlungsideen. Ihr Thema ist das 1927 fertig gestellte Atelierhaus des russischen Architekten Konstantin Melnikow, eine Inkunabel der Moskauer Avantgarde-Architektur. Der Baukörper wird gebildet durch zwei ineinander geschobene Zylinder, deren Wände mit wabenförmigen Fenstern durchbrochen sind. Für das IBWS sind zu Melnikows Atelierhaus fünf verschiedene interaktive Episoden entstanden. Sie zielen auf die Veranschaulichung von Eindrücken aus dem Bauwerk ab, erzeugen eine Sensibilität für spezifische atmosphärische Qualitäten innerhalb des Hauses oder thematisieren den ideellen Hintergrund des Architekten. Wie dabei die spielerische Vermittlungsform genutzt wurde, kann am Beispiel der Episode „Lichtstimmungen“ veranschaulicht werden.


Episode „Lichtstimmungen“[12]

 
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Bild 3:
Rauminstallation "haus melnikow",
Episode "Lichtstimmungen"
  Diese Episode stellt verschiedene Lichtstimmungen und Raumwirkungen innerhalb des Atelierhauses vor und lässt die BesucherInnen damit spielen. Dabei ermöglicht sie eine sinnliche Erfahrung der Atmosphäre in Melnikows Haus. Bei den BesucherInnen soll ein Gefühl für das Außergewöhnliche dieser Architektur im Allgemeinen und für die qualitativen Unterschiede der Lichtstimmungen in den einzelnen Räumen im Speziellen erzeugt werden. Zum Spielablauf: Zuerst entscheiden sich die BesucherInnen für einen von fünf angebotenen Räumen. Gewählt werden kann z. B. das Atelier, ein hoher, nahezu runder Raum, dessen Wände durch die markanten Fensteröffnungen gleichsam perforiert sind. Oder der Schlafraum, der innerhalb der Kreisgeometrie des Grundrisses und mit Hilfe von Trennwänden eine Aufteilung in Form eines Kuchenstückes erhalten hat. Die zur Auswahl stehenden Räume zeichnen sich real durch stark unterschiedliche atmosphärische Qualitäten aus, die sich aus dem Zusammenspiel von Belichtung und ungewöhnlicher Grundrissaufteilung ergeben.

Für den gewählten Raum können die BesucherInnen die jeweils charakteristischen Lichtstimmungen und Raumwirkungen verändern. Fünf „digitale Regler“ (Helligkeit, Kontrast, Verzerrung usw.), ähnlich einem Mischpult, bilden das User Interface des Spiels. Diese Anordnung erlaubt, verschiedene Situationen zu simulieren: Wie würde die Küche wirken, wenn sie noch enger aber dafür mit mehr Licht durchflutet wäre? Wie hell könnte es im Atelier sein, wenn es nicht nach Norden, sondern nach Süden gerichtet wäre? Es sind vor allem die Lichtstärke, Farbigkeit und die räumliche Weite, mit denen gespielt werden kann. Dieses Vorgehen charakterisiert die Räume visuell hinsichtlich ihrer Atmosphäre und schält die jeweiligen räumlichen Qualitäten auf spielerische Weise heraus. Sind die BesucherInnen zufrieden mit ihrer Manipulation, können sie diese speichern und in ein Archiv der Lichteindrücke einstellen. Die Sensibilisierung für räumliche Qualitäten erfolgt hier durch das Spiel. Dem Umgang mit architekturgeschichtlichen Fragestellungen soll eine neue Qualität abgewonnen werden.


Von der Interaktivität des Systems zur Interaktion der BesucherInnen

Die beiden vorgestellten Projekte zeichnen sich durch die prinzipiell gleiche Anordnung aus: Es gibt ein System (CD-ROM oder Rauminstallation) und die BenutzerInnen, sowie die Möglichkeit der Interaktion zwischen diesen beiden. Doch während bei der CD-ROM „weisse vernunft” von der Interaktivität des Systems die Rede war, steht bei der Rauminstallation „haus melnikow” die Interaktion der BesucherInnen, also die Handlungsform bei der Bedienung des Systems, im Vordergrund. Der Blickwinkel verschiebt sich damit vom System zum Akteur, vom Thema der Interaktivität zu dem der Interaktion. Diese Form der spielerischen Interaktion präsentiert Ansichten auf die digitalen Inhalte, die durch die Handlungen der BesucherInnen hervorgerufen werden, und nicht durch den Ablauf des Programms vorbestimmt sind. Es wird deutlich, dass die bereitgestellten Daten bei der CD-ROM „weisse vernunft“ einen anderen Stellenwert haben als bei „haus melnikow”. Bei der CD-ROM ist die Navigation durch das Autorenteam so angelegt, dass sie den BenutzerInnen ermöglicht, das Thema des Siedlungsbaus aus verschiedenen Richtungen kennen zu lernen, aber es dennoch attraktiv ist, möglichst viele Informationen über den Siedlungsbau angesteuert zu haben. Bei „haus melnikow” ist dies nicht der Fall. Die Daten werden lediglich bereitgestellt, um jedes denkbare Verhalten der Besucherschaft zu befriedigen und den Eindruck eines „wirklichen“ Interagierens zu vermitteln.

Auch das User Interface übernimmt in jedem der beiden Projekte eine andere Funktion. Die Rezeption der CD-ROM „weisse vernunft” erfolgt individuell am Bildschirm und mit Hilfe einer Computermaus. Zu diesem Zweck dient ein prägnantes Screen-Design sowohl der Gesamtübersicht über die komplexen Zusammenhänge als auch der destaillierten Strukturierung des darin aufgearbeiteten Wissens. Das Screen-Design bildet eine Metapher über den „digitalen Wissensraum“ des Siedlungsbaus ab und stellt zugleich die Instrumentarien der Navigation für die BenutzerInnen dieses Informationsgefüges zur Verfügung. Die Gestaltung kommentiert die Formsprache der 1920er Jahre und stellt sich dabei in den Dienst der präsentierten Materialien. Bei der interaktiven Rauminstallation „haus melnikow” hingegen besteht das User Interface aus dem interaktiven Teppich und der Projektion auf diesen. Bei der Entwicklung von fünf Episoden zu Melnikows Atelierhaus sind verschiedene Modelle der räumlichen, spielerischen Auseinandersetzung mit dem Thema entstanden. In dieser Installation unterstützt die Gestaltung der verschiedenen User Interfaces vor allem die Idee des Spiels und bettet die vorbereiteten Materialien darin ein. Es zeigt sich: Auch wenn bei beiden Projekten die gleiche Multimedia-Software (Macromedia Director) verwendet wurde, so entstanden doch vollkommen verschiedene Thematisierungsformen von Architekturgeschichte.


Die Funktion von Abbildungen bei interaktiven Vermittlungsformen

„Vom Bild ausgehen“[13] – so benennt Arthur Engelbert eine Doppelstrategie multimedialer Thematisierungsformen. Diese Arbeitsweise stellt verstärkt den „bildlichen Inhalt“ (Engelbert) eines Gegenstandes ins Zentrum der Untersuchung. Dabei erfolgt die Untersuchung und Vermittlung dieses Werkes nicht mehr ausschließlich im Medium der Sprache, sondern wird ergänzt durch die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung.[14] Der Vorgang der Analyse ist nicht länger nur ein Sprechen über den Gegenstand, sondern auch ein Bearbeiten seines Abbildes. In ähnlicher Weise, wie Engelbert dies postuliert hat, verfolgt auch die CD-ROM „weisse vernunft“ eine Vermittlungsstrategie, die „vom Bild ausgeht“. Sowohl durch die Gestaltung des Interface, als auch durch Montagen und grafische Eingriffe in die Abbildungen selbst haben diese eine zentrale Funktion in der gesamten Erzählung inne. Verschiedene Strategien der visuellen Argumentationen (z. B. Motivvergleiche über Bildbänder) werden entwickelt, um entsprechende Aussagen zu verdeutlichen. Diese Veränderung im Umgang mit Abbildungen im kunst- und architekturgeschichtlichen Kontext wird ermöglicht und herausgefordert durch die technische Veränderbarkeit, die Prozessierbarkeit des digitalen Abbildes. Im Projekt „haus melnikow“ wird bei der Episode „Lichtstimmungen“ diese Art der Manipulierbarkeit des Bildes noch weiter getrieben. Die BesucherInnen verändern scheinbar durch ihre Interaktion mit dem System das Abbild des architektonischen Gegenstandes. Diese Vermittlungsform kann – in Anlehnung an Engelbert – als „mit dem Bild spielen“ bezeichnen werden.

Das als nächstes vorgestellte Projekt „bild-o-mat“ geht einen Schritt weiter in der Nutzung der technischen Bedingungen digitaler Abbildungen. Um ein „Browsen“ – also ein Stöbern – in großen Bildsammlungen zu ermöglichen, organisieren verschiedene Bildschirmmasken den Zugang zu Bildern nicht über Metadaten, sondern über das Vergleichen von Abbildungen. Diese Vorgehensweise, die man als „über Bilder zu ähnlichen Bildern navigieren“ bezeichnen könnte, nutzt die Verknüpfung von Bilddaten mit systematisch geordneten Metadaten.


Bilddatenbanken

Bilddatenbanken sind ein elementares Werkzeug in der Kunst- und Architekturgeschichte zur Archivierung und Erschließung von Sammlungsbeständen geworden und haben analoge Archive in vielen Fällen bereits ersetzt. Mit dem Einsatz digitaler Technologien bieten sich unübersehbare Verbesserungsmöglichkeiten der traditionsreichen Archivierungspraxis: Zu nennen sind effektivere Suchmöglichkeiten in Metadaten (z. B. Verknüpfung von Suchbegriffen durch Boolesche Operatoren versus herkömmliche alphabetische, topografische oder chronologische Ordnung) und Werkzeuge zu einer erweiterten Betrachtung der einzelnen Bilder (etwa Vergrößerung, Kontrast usw.) sowie der zeit- und ortsunabhängige Zugang zu Bildsammlungen mittels Internetbrowsern.

Eine Bilddatenbank enthält Bilddaten (z. B. digitalisierte Planzeichnungen oder Fotografien) und Metadaten zu diesen Bilddaten (z. B. Angaben zu den ArchitektInnen, Entstehungszeit, usw.). Diese Daten sind nicht geordnet wie in analogen Archiven, sondern sie sind abgelegt in einer Datenbank und werden verwaltet von einem Datenbankmanagementsystem. Der Eindruck von „Ordnung” entsteht für die BenutzerInnen erst durch das User Interface einer Bilddatenbank. Denn es legt fest, nach welchen Kriterien die Datensätze aufgerufen werden können und präsentiert die Ergebnisse dieser Anfragen. Ermöglicht durch die Trennung von Inhalt (Bilddaten und Metadaten) und Form (User Interface) bei einer Bilddatenbank zeigt das User Interface eine so genannte „generische“ Darstellung der Daten; es bestimmt die „Sichtweise” auf die abgelegten Daten. Während das User Interface bei Multimedia-Projekten wie der CD-ROM „weisse vernunft“ für jede Bildschirmansicht individuell gestaltet ist, folgt es bei Bilddatenbanken dem Prinzip der Maske: eine Maske ist für alle aufgerufenen Daten die gleiche.


Neue Formen der Bildpraxis

Durch Verbünde von einzelnen weltweit vernetzten Bilddatenbanken und einem Zugriff über das Internet öffnen sich einige – auch sehr spezialisierte – Sammlungen einer größeren wissenschaftlichen Nutzerschaft. Jenseits der akademischen Anwendung wird das Sammeln und Distribuieren von Bildern im Internet mittlerweile vor allem durch thematische Portale und Communities zu einem sehr prominenten Thema. Das „gemeinschaftliche Indexieren”[15] als ein neues Phänomen im Umgang mit großen Bildmengen zeigt sich bei „Bild-Communities“ wie z. B. „Flickr“.[16] Hier werden Bilder von ihren UrheberInnen – aber auch von anderen Mitgliedern der Community – mit beliebigen Stichworten (Tags) versehen. Diese Form der Verschlagwortung (Tagging) erfolgt nach höchst individuellen Kriterien und bildet eine private Systematisierung der Welt ab. Sie steht in einem starken Kontrast zu den Sortierungsbemühungen in wissenschaftlichen Bilddatenbanken. Dennoch ergibt das beim „gemeinschaftlichen Indexieren“ zusammengetragene Wissen eine Ansammlung von Schlagworten, die einem Thesaurus entspricht. Doch dieser wächst „bottom up” und wird nicht – wie für wissenschaftliche Kontexte üblich – „top down” von Fachleuten entwickelt. Dabei spielt die inhaltlich präzise Zuordnung von Begriffen zu Bildmotiven eine untergeordnete Rolle, vielmehr entsteht aus der schieren Menge an Tags eine immense Datenwolke. Sie ist groß genug, um die begrifflichen Unschärfen bei der Verschlagwortung zu kompensieren. Bei Bildsammlungen dieser Art ist die Quantität an Bildern das entscheidende Kriterium für das Funktionieren ihrer individualisierten Rezeptionsstrategien.


Inhaltsbasierte Suche

Die avancierteste technologische Entwicklung im Feld der Bilddatenbanken betrifft die Entwicklung von Algorithmen, die nicht die Metadaten, sondern die Bilddaten selbst nach vergleichbaren Mustern (Pattern) durchsuchen und auf ihren Ähnlichkeitswert hin vergleichen. Diese Suchvorgänge nutzen die Prozessierbarkeit von digitalen Bildern, man bezeichnet sie als „inhaltsbasierte” Suche in Bildern („Content based image retrival“). Zwar sind die tatsächlichen Anwendungsmöglichkeiten dieser Technologien gegenwärtig noch eingeschränkt, doch stellen sie im Rahmen von Forschungsprojekten und prototypischen Anwendungen zunehmend ernst zu nehmende Herausforderungen an EntwicklerInnen und werden sicherlich in den nächsten Jahren Leitideen zu einem erweiterten Gebrauch des Werkzeuges Bilddatenbank bieten.[17]


Assoziation und Inspiration
 
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Bild 4:
Bildbrowser "run browser",
Screenshot

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Bild 5:
Bildbrowser "metasort",
Screenshot
  Im Prinzip erlaubt der Einsatz von Bilddatenbanken im Kontext der Architekturgeschichte heute vor allem das systematische Suchen von Bildern. Die Strategien des Suchens von Bildern in großen Bildmengen basieren dabei auf dem Abfragen von Metadaten mit Hilfe einer Suchmaske. Dem gegenüber steht ein nicht zielgerichtetes, eher intuitives Suchen und Browsen, das als Bildzugang nach wie vor wenig erprobt ist. Doch gerade im automatisierten Verknüpfen von Bildern nach bildimmanenten Kriterien liegt ein bislang wenig ausgeschöpftes Potential, das für die Bildpraxis der Architekturgeschichte und des Architekturbetriebs möglicherweise fruchtbar sein kann. Um dieser Vermutung nachzugehen, wurden im Rahmen des Projektes „bild-o-mat“[18] an der Professur für CAAD, ETH Zürich, verschiedene „Bildbrowser” als User Interfaces für eine Architektur-Bilddatenbank realisiert. Diese Bildbrowser zeigen verschiedene Strategien der automatischen Anordnung von Bildern auf dem Bildschirm und liefern unterschiedliche Argumente für die Frage nach einem assoziativen und inspirierenden Browsen in Bilddatenbanken.

Das Beispiel des „run browsers“[19] führt vor, wie zu ausgewählten Referenzbildern automatisch eine große Anzahl vergleichbarer Abbildungen präsentiert werden kann. Diese sind nach verschiedenen Kategorien wie ArchitektIn, Bildgattung, Bauaufgabe usw. geordnet und auf beweglichen Bändern vorgeführt. Die Bildbänder öffnen zu den ausgewählten Themen den weiteren Kontext des Ausgangsbildes im Sinne eines diskursiven Feldes.

Während „run browser“ manuell erstellte Metadaten analysiert, greift ein weiterer Bildbrowser auf maschinell erzeugte Metadaten zu: „metasort“[20] verarbeitet vorwiegend Daten, die bei der Aufnahme eines digitalen Bildes in das Bilddokument eingeschrieben werden. Diese sind z. B.: Dokumentgröße, Zeitpunkt der Aufnahme, verwendete Kamera. Es könnten aber auch Daten z. B. zu Farbwerten und -verteilungen oder zu geografischen Koordinaten des Ortes der Aufnahme sein. Die Suchergebnisse werden in einem räumlichen Koordinatensystem angeordnet (x-/y-Achse sowie eine Schichtung in drei Ebenen). Somit gruppiert „metasort” beispielsweise Bilder von Objekten, die räumlich beieinander liegen oder Aufnahmen von Ereignissen, die zeitnah stattgefunden haben. Aber auch Farb- und Formverwandtschaften werden im User Interface abgebildet. Es entstehen sinnvolle oder weniger sinnvolle, aber durchaus überraschende Ordnungen.

Die beiden vorgestellten Bildbrowser unterstützen das „Stöbern” in Bildersammlungen, das intuitive Aufspüren sowie das Gegenüberstellen und Vergleichen von Bildern. Die Funktionalitäten des Bilddatenbank-Systems stärken das abgebildete Motiv gegenüber dem klassischen Zugang über Eingabemasken. Beide vorgestellten Bildbrowser ermöglichen „über Bilder zu ähnlichen Bildern zu navigieren“ und dabei thematische Nachbarschaften zu entdecken. Sie imitieren die Suche nach visuellen Anregungen in Zeitschriften und Katalogen sowie das Surfen im Internet. Doch darüber hinaus arbeiten sie mit dem Feedback der NutzerInnen und unterstützen so eine individuelle Sicht auf die Bildsammlung. Es steht weniger das Vermitteln von Informationen im Vordergrund als vielmehr das Unterstützen persönlicher Fragestellungen.


Vom Bild zur Struktur?

Mit den drei vorgestellten Projekten – auf CD-ROM, als Rauminstallation und Bildbrowser – konnten drei verschiedene Vermittlungsformen vorgeführt werden. Es lässt sich feststellen, dass die hier zum Einsatz kommende Multimedia-Software und Bilddatenbank-Systeme hauptsächlich dazu geeignet sind, die bildliche Repräsentation und die Erscheinungsform der architektonischen Objekte zu thematisieren. Wie gezeigt wurde, ermöglichen es diese Werkzeuge auf sehr differenzierte Art und Weise, „vom Bild auszugehen“, „mit dem Bild zu spielen“, oder „über Bilder zu ähnlichen Bildern zu navigieren“. Man gelangt mit ihnen aber nicht „hinter die Oberfläche der Bilder“ an die Struktur der abgebildeten Gegenstände. Es stellen sich die Fragen: Lassen sich mit digitalen Werkzeugen nicht nur die Abbildungen, sondern auch die strukturellen Prinzipien eines architektonischen Werkes fassen? Wie können die Werkzeuge eingesetzt werden, damit das Vorgehen der ArchitekturhistorikerInnen weniger ein redaktionelles Verknüpfen von Daten als vielmehr ein Strukturieren und Prozessieren von Daten ist? Kann die manuelle Arbeit des Screen-Designs ersetzt werden durch generierte Repräsentationen? Diese Fragen sollen beispielhaft anhand der Vorstellung des Projektes „<säulen/>atlas“ diskutiert werden.


Formale Sprache – strukturelle Analyse

Die klassischen Säulenordnungen der Architekturtraktate sind prädestiniert dazu, mit Hilfe digitaler Werkzeuge erfasst und analysiert zu werden. Denn aufgrund einer Reihe von Charakteristika kann man die Anleitungen in den Traktaten als „formale Sprache“ bezeichnen: Die einzelnen Ordnungen (z. B. Dorika, Ionika) bestehen aus einer begrenzten Anzahl von festgelegten Elementen (z. B. Torus, Trochillus), die nach bestimmten Maßgaben von den jeweiligen Autoren (Alberti, Serlio u. a.) verändert und miteinander kombiniert werden. Diese Sichtweise auf die klassischen Säulenordnungen als eine historische formale Sprache ermöglicht deren Übertragung in eine heutige formale Sprache und begünstigt dadurch die Untersuchung ihres strukturellen Aufbaus.


Die klassischen Säulenordnungen der Architekturtraktate

Die Konstruktion und die Proportionierung der Säulenordnungen, ihre Ornamente und deren Verwendung sind maßgeblicher Diskussionsgegenstand in den Architekturtraktaten von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. Die fest umrissene Formensprache der einzelnen Ordnungen ist einer kontinuierlichen Interpretation und differenzierten Veränderungen unterworfen. Für ihre Darstellungen haben sich Konventionen herausgebildet, in denen sich Illustrationstechniken, mathematisches bzw. geometrisches Wissen sowie ideelle Positionen des jeweiligen Autors widerspiegeln. Die Komplexität der Darstellungen in Hinsicht auf die Fülle und Vielfalt der Informationen hat im Laufe der Zeit zugenommen. Damit geht einher, dass die Vermittlung der geometrischen Konstruktion der Säulenordnungen zunehmend vom Text auf das Bild verlagert wurde.

Die Versuche einer regelhaften Erfassung der Säulenordnungen resultieren aus einer historischen Beschreibungs- und Anwendungsproblematik. Denn die Autoren der Renaissance versuchten, die sich widersprechenden Zeugnisse der Antike – der schwer verständliche Text Vitruvs und die römischen Ruinen – in Übereinstimmung mit ihren eigenen Vorstellungen vom Gebrauch der Säulen bei antiken Tempeln und anderen Bauaufgaben zu bringen. Deshalb zielten die einzelnen Traktate auf die Überwindung dieser Schwierigkeit und die Entwicklung einer verbindlichen und anwendbaren Theorie.

Den HistorikerInnen heute präsentieren sich die Säulenordnungen der Architekturtraktate einerseits durch die historischen Traktate selbst, aber auch durch zeitgenössische monografische Untersuchungen oder Überblicksdarstellungen. Diese ausgesprochen unterschiedlichen Darstellungsformen erschweren den gezielten Vergleich der Ordnungen und Autoren untereinander. Um dieser Problematik zu begegnen, wurden an der Professur für CAAD, ETH Zürich, die historischen Beschreibungsformen der klassischen Säulenordnungen in die heutige Beschreibungssprache „Extensible Markup Language“ (XML) übersetzt.


Extensible Markup Language (XML)

XML ist ein Standard zur Erstellung menschen- und maschinenlesbarer Dokumente.[21] Er basiert auf dem Grundgedanken der Trennung von Struktur, Inhalt und Form. Aufgrund dieser strukturellen Eigenart wird er von verschiedenen Computerprogrammen verstanden und als Austauschformat genutzt. Somit unterscheidet sich XML wesentlich von den anderen, bislang vorgestellten digitalen Werkzeugen; es ist weder ein Programm noch eine Programmiersprache. Das Format XML ist außerordentlich flexibel und kann auf sehr verschiedene Anforderungen hin angepasst werden. Als Beschreibungsstandard ist für XML eine einfache, aber strenge Syntax definiert, in der sich Daten als Text mit lesbaren Markierungen (Tags) strukturieren und speichern lassen. Diese Daten können mit Hilfe von Transformationsanweisungen nach Bedarf in unterschiedliche virtuelle und reale Derivate verwandelt werden. Dabei können aus einer XML-Beschreibung verschiedene Repräsentationsformen (z. B. Text oder Vektorgrafik, HTML oder 3D-Modell) gewonnen werden.

Abgesehen vom Einsatz als Austauschformat wird die Auszeichnungssprache XML als Werkzeug in der architekturgeschichtlichen Untersuchung bislang wenig erprobt und nicht zur formalen Erfassung eines Untersuchungsgegenstandes selbst eingesetzt. Doch gerade für die analytische Beschreibung einer Struktur, die konsistente Speicherung der Resultate und die separate Interpretation dieser Daten als vielgestaltige Darstellungs- und Vermittlungsformen ist XML ein leistungsstarkes Werkzeug.


„<säulen/>atlas“
 
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Bild 6:
"<säulen/>atlas",
Synopse
Ionische Ordnung

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Bild 7:
"<säulen/>atlas",
Konkordanz
Ionische Ordnung
 

Der so genannte „<säulen/>atlas“[22] begegnet den oben erläuterten Schwierigkeiten des Beschreibens und Vergleichens von Säulenordnungen. Für dieses Buch wurden aus zehn historischen Traktaten jeweils die dorische und die ionische Säulenordnung analysiert und in der Syntax von XML beschrieben. Durch Transformationen sind unterschiedliche Sichtweisen auf die so gewonnenen Daten möglich: z. B. die Detailansicht einer Ordnung mit der Beschriftung einzelner Elemente, ein vergleichender Überblick über alle untersuchten Ordnungen auf der Basis des gleichen Moduls, die Erstellung einer Konkordanz der Begriffe für die verschiedenen Säulenelemente, die Klassifizierung von Elementen in Typen oder eine vergleichende Matrix einzelner Elemente.


Visualisieren und Vergleichen

Der wesentliche Unterschied dieser Arbeitsweise hinsichtlich der Darstellung und Vermittlung zu dem bisher vorgestellten Einsatz digitaler Werkzeuge liegt auf der Ebene der Repräsentation des Untersuchungsgegenstandes. Während bislang meist mit Abbildungen (Rastergrafik) operiert wurde, sind es in diesem Falle errechnete Vektorgrafiken. Die Grundlage der Darstellung sind die Übersetzungen der schriftlichen Konstruktionsanweisungen aus den historischen Traktaten in eine XML-Beschreibung. Da die historischen textlichen Anweisungen als „Programm“ interpretiert wurden, sind auch Visualisierungen nach Säulentraktaten möglich, die ursprünglich keine Abbildungen enthielten (Vitruv, Alberti). Auf der Basis dieser parametrisierten Beschreibungsform und den vielfältigen Repräsentationsmöglichkeiten ist eine substanziell neue Ebene der Vergleichbarkeit zwischen den untersuchten Säulenordnungen hergestellt.


Strukturelle Beschreibung und Flexibilität

Der Einsatz von XML ermöglicht eine enorme Flexibilität bei der Erfassung, Strukturierung und Repräsentation von Daten. Auf den Ebenen der strukturellen Beschreibung und des Datenbestands sind prinzipiell beliebige Erweiterungen oder Veränderungen möglich. Auch lassen sich neben den vielen bereits bestehenden Ausgabeformaten neue erfinden. Unter dem Aspekt der Vermittlung der in XML beschriebenen Säulenordnungen bedeutet dies: Die strukturelle Beschreibung der Ordnungen kann bei Hinzutreten neuer Erkenntnisse geändert werden. Diese Korrektur ist übertragbar auf alle bereits bestehenden einzelnen Beschreibungen. Bei der Repräsentation dieser Daten sind nicht nur beliebige Vergleiche zwischen den Ordnungen verschiedener Autoren möglich, sondern auch alle nur denkbaren Ausgabeformate. Die Trennung von Struktur, Inhalt und Form erlaubt somit nahezu beliebige Repräsentationsformen zu unterschiedlichen Darstellungs- und Vermittlungszwecken.


Multimedia-Software, Bilddatenbanken und XML – von der Redaktion zur Berechnung

Es wurden vier Vermittlungsformen für architekturgeschichtliche Fragestellungen vorgestellt, die in Auseinandersetzung mit den zum Einsatz kommenden digitalen Werkzeugen entwickelt worden sind. Diese digitalen Vermittlungsformen erweitern traditionelle Formen der Darstellung auf unterschiedlichen Ebenen; teils mehr auf der inhaltlichen, teils mehr auf der Werkzeugebene. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
CD-ROM: Die Aufbereitung vielgestaltiger Quellen in einem Hypermedia-System erlaubt den BenutzerInnen, durch interaktive Rezeption einen individuellen Zugang zu einer komplexen thematischen Materie wie dem Siedlungsbau der 1920er Jahre zu finden.
Interaktive Rauminstallation: Am Beispiel des Atelierhaus von Konstantin Melnikow konnte gezeigt werden, wie eine Rauminstallation das Erfahren architektonischer Aspekte und Qualitäten durch die Rezeptionsform des interaktiven Spiels fördern kann.
Bildbrowser: Als Datenbank-Interface können Bildbrowser der individuellen Assoziation und Inspiration zu Themen der Architektur und Architekturgeschichte dienen.
XML: Am Beispiel der Säulenordnungen konnte gezeigt werden, dass der Einsatz der Beschreibungssprache XML eine strukturelle Analyse erlaubt. Darüber hinaus ermöglicht XML, die substanziell neuen Ebenen des Vergleichens in einer so vertrauten Vermittlungsform wie dem Buch zu präsentieren.

Alle vier Projekte beschäftigten sich im weitesten Sinne mit der Frage des Verknüpfens von Daten zum Zwecke des Darstellens und Vermittelns von Informationen. Jedes der vorgestellten digitalen Werkzeuge erlangt in dieser Hinsicht in Relation zu den traditionellen Vermittlungsmedien der Architekturgeschichte eine essenziell neue Ebene des Vergleichens. Mit der Gegenüberstellung der Projekte ist die Verschiedenheit der Darstellungsformen deutlich geworden, und die Stärken und die Grenzen eines jeden digitalen Werkzeuges für die spezifischen Anforderungen bei der Vermittlung von Architekturgeschichte wurden aufgezeigt. Hinsichtlich der Datenorganisation ist augenscheinlich: Sobald Datensammlung und Präsentationsform voneinander getrennt sind, werden die Vermittlungsmöglichkeiten flexibler und sind einfacher auf die entsprechenden Kontexte anpassbar. Solche Modelle erlauben eine größere Spezialisierung in der Fragestellung und mit einem präziseren Einsatzbereich auch eine wirksamere Anwendung von digitalen Werkzeugen.

Die hier vorgestellten Projekte sind repräsentativ für eine allgemeine Tendenz beim Einsatz digitaler Werkzeuge in der Kunst- und Architekturgeschichte. Seit einigen Jahren steht hier eher die quantitative Erfassung von Daten im Mittelpunkt und man versucht die Integrationsleistungen und Verarbeitungsmöglichkeiten digitaler Werkzeuge stärker zu nutzen. Es findet eine Verlagerung in der Nutzung des Computers vom Zweck der Visualisierung hin zu einer mehr die Strukturen des Untersuchungsgegenstandes betreffenden Arbeitsweise statt.[23] Wie an den vier ausgewählten Projekten gezeigt werden konnte, fördert die Verwendung digitaler Werkzeuge bei architekturgeschichtlichen Themen eine erweiterte Sicht auf den untersuchten Gegenstand und kann wesentlich dazu beitragen, dass neue Formen der Vermittlung entwickelt werden.



Die Projekte

CD-ROM „weisse vernunft – siedlungsbau der 20er jahre“.
Pilotprojekt des Multimediastudios der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, 1997-99.
Leitung: Prof. Dr. Andrea Gleiniger
Konzeption und Realisierung: Katharina Bosch, Andrea Gleiniger, Susanne Schumacher und projektgruppe dammerstock
Interface-Design: Bela Stetzer, Frank Fassmer
Macromedia-Director: Christian Kellner, Reform-Design, Stuttgart

Im Buchhandel erschienen:
Katharina Bosch, Andrea Gleiniger, Susanne Schumacher (Hrsg.). (1999). weisse vernunft – siedlungsbau der 20er jahre. architektur und lebensentwurf im neuen bauen. München: Prestel.


Rauminstallation „haus melnikow“
Professur für CAAD, Prof. Dr. Ludger Hovestadt, ETH Zürich
Diplomwahlfach „replay haus melnikow“, Wintersemester 2002/03

Leitung: Katharina Bosch, Susanne Schumacher
Macromedia-Director und IBWS: Tom Pawlofsky
http://wiki.arch.ethz.ch/twiki/bin/view/Archinf/Replay02

Ausstellung:
„replay haus melnikow“, 4.-16. April 2003, im Rahmen des gta-Ausstellungsprogramms, ARchENA, ETH Hönggerberg, Zürich


Bildbrowser „bild-o-mat“
Professur für CAAD, Prof. Dr. Ludger Hovestadt, ETH Zürich
Diplomwahlfach „replay bild-o-mat“, Wintersemester 2004/05
Leitung: Katharina Bosch, Kai Rüdenauer, Susanne Schumacher, Torsten Spindler
http://wiki.arch.ethz.ch/twiki/bin/view/Archinf/Replay04


„<säulen/>atlas“
Professur für CAAD, Prof. Dr. Ludger Hovestadt, ETH Zürich
Diplomwahlfach „replay <säulen/>atlas“, Wintersemester 2003/04
Leitung: Katharina Bosch, Markus Braach, Susanne Schumacher
http://wiki.arch.ethz.ch/twiki/bin/view/Archinf/Replay03

In Buchform erschienen:
<säulen/>atlas. Die klassische dorische und ionische Säulenordnung – generiert nach Anweisungen aus zehn wichtigen Traktaten der Architekturtheorie. Herausgegeben von der Professur für CAAD, ETH Zürich, Katharina Bosch, Markus Braach, Susanne Schumacher, 2004.
Erhältlich an der Professur für CAAD, ETH Zürich


 


Anmerkungen:
 

[1] Allgemein zum Einsatz digitaler Werkzeuge in der Kunst- und Architekturgeschichte:
Frings, M. (Hrsg.). (2001). Der Modelle Tugend: CAD und die neuen Räume der Kunstgeschichte, Weimar: VDG.
Gabriel, N. (1997) Kulturwissenschaft und Neue Medien. Wissensvermittlung im Digitalen Zeitalter. Darmstadt: Primus.
Kohle, H. & Kwastek, K. (Hrsg.). (2003). Digitale und digitalisierte Kunstgeschichte. Zeitenblicke. Online-Journal für die Geschichtswissenschaften, 2 (1).
Kohle, H. & Kwastek, K. (2003)
. Computer, Kunst und Kunstgeschichte Köln: Deubner.

[2] Die Bezeichnung „digitale Werkzeuge“ ist so allgemein gewählt, dass sie die im Folgenden besprochene Multimedia-Software, Bilddatenbank-Systeme und die Beschreibungssprache XML umfasst. Darüber hinaus wird der Begriff des „Werkzeugs“ hier als Mittel zum Zweck der Erkenntnisgewinnung verstanden.

[3] Die vorgestellten Projekte sind als „Probebohrungen“ im Anwendungsfeld digitaler Werkzeuge zu verstehen. Aus diesem Grund wurden Themen gewählt, die in der Forschung weitgehend aufgearbeitet und durch einschlägige Publikationen und Ausstellungen einem breiten Publikum bekannt sind (der Siedlungsbau der Weimarer Republik, das Atelierhaus von Konstantin Melnikow, die klassischen Säulenordnungen). Doch trotz der guten Forschungs- und Materiallage war vor allem die Unanschaulichkeit der Vermittlungsformen und die schwere Vergleichbarkeit der historischen Beispiele markant. Dieses Problem hängt eng mit den Eigenschaften analoger Vermittlungsformen zusammen und ihm sollte mit dem Einsatz digitaler Werkzeuge begegnet werden.

[4] Siehe Abschnitt „Die Projekte“ am Ende des Textes.

[5] Die Bezeichnungen Hypertext und Hypermedia werden im Allgemeinen synonym verwendet. Der Terminus Hypertext bezieht sich mehr auf die textuelle, Hypermedia mehr auf die multimedialen Bestandteile.

[6] Schumacher, S. (2001). Kunst- und Architekturgeschichte/multimedial. Darstellungen im digitalen Wissensraum. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.

[7] Krämer, H. (2001). CD-ROM und Digitaler Film. Interaktivität als Strategie der Wissensvermittlung. In C. Gemmeke, H. John & H. Krämer (Hrsg.), Euphorie digital? Aspekte der Wissensvermittlung in Kunst, Kultur und Technologie (S. 223ff.). Bielefeld: Transcript.

[8] Siehe Abschnitt „Die Projekte“ am Ende des Textes

[9] Siehe auch: Gleiniger, A. (1997). Die Herausforderungen des Modells: “Weisse Vernunft – Der Dammerstock und das Neue Bauen” Ein CD-Rom-Projekt an der Hochschule für Gestaltung. In: Neues Bauen der 20er Jahre. Gropius, Haesler, Schwitters und die Dammerstock-Siedlung in Karlsruhe 1929 (Seite 199-204), Karlsruhe.

[10] Siehe Abschnitt „Die Projekte“ am Ende des Textes.

[12] Studierende: Ruth Bühler und Sabine Einhäuser

[13] Engelbert, A. (2003). Bildanalyse und technologischer Standard – ein kritischer Rückblick auf Multimedia. zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.05.2003]
http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/engelbert/index.html (besucht am 1.11.2006)

[14] Engelbert arbeitet diese Doppelstrategie in einer ausführlichen Analyse am Beispiel einer multimedialen Werkmonografie zum „Johannesaltar“ von Rogier van der Weyden, ca. 1454, für die Gemäldegalerie Berlin aus. Siehe vorangehender Literaturnachweis.

[16] http://www.flickr.com/ (besucht am 01.11.2006)

[17] Ernst, W., Heidenreich, S. & Holl, U. (Hrsg.). (2003). Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, Berlin: Kadmos.

[18] Siehe Abschnitt „Die Projekte“ am Ende des Textes.

[19] Studierende: Vjera Bakic und Matthias Kulstrunk

[20] Studierende: Vera Nowakowski und Oliver Romppainen

[21] http://www.w3.org/XML (Besucht am 01.11.2006)

[22] Siehe Abschnitt „Die Projekte“ am Ende des Textes.

[23] Diese Verschiebung wird innerhalb der Architekturgeschichte als wesentlich beobachtet und wurde kürzlich als eine Verlagerung vom „Didaktik- zum Forschungsparadigma“ diagnostiziert. Siehe: Hoppe, S. (2006). Architektur in virtueller Realität. Vom Didaktik- zum Forschungsparadigma. Vortrag auf der Tagung „Digitale Medien und Wissenschaftskulturen“, 30.03.2006, Universität zu Köln.

 


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11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007