Die Zukunft
der Architekturvermittlung

11. Jahrgang
Doppelheft 1-2
Februar 2007

   

 

___Marion Kuzmany
Wien
  Exkursion = Architektur + Erleben
   

EXKURSION ist laut Duden als „wissenschaftlich vorbereitete und unter wissenschaftlicher Leitung durchgeführte Lehr- oder Studienfahrt“ definiert. Sie stellt im Kontext der ARCHITEKTUR eine unumgängliche, wenn nicht die einzig wahre Form der ArchitekturVERMITTLUNG dar. Architektur begehen, langsam beschreiten, befühlen und das Verweilen am Ort ist durch keine Art medialer Aufbereitung zu ersetzen.

Das reale Objekt wird immer anders wahrgenommen als sein Abbild, sei dieses statisch oder bewegt, mehrdimensional oder multimedial, technisch perfekt und virtuell umspielt. Architektur kann nur durch Begehen begriffen werden. Das Umfeld muss erlebt werden, die Luft gerochen und geschmeckt, die Temperatur gespürt, mit den vor Ort lebenden Menschen interagiert und aktiv am Straßenleben teilgenommen werden. Es ist wichtig, den Weg zum Grundstück und jenen, der in das Objekt führt, zu beschreiten, den Raum beim Durchwandern des Gebäudes zu empfinden, die unendlich vielen Blickwinkel und Perspektiven dabei selbst zu erfahren, verschiedene Materialien zu berühren, Licht und Geräusche zeitgleich mit dem Gesehenen zu erleben. Durch körperliche Ermüdungserscheinungen wird das wirkliche Ausmaß eines Weges oder Baukomplexes wahrgenommen, ein Steigungsverhältnis von Stiegen tatsächlich begriffen, etwa die Annehmlichkeit eines Liftes zu schätzen gelernt und ein Ruheort im richtigen Augenblick als solcher dankbar angenommen und genossen.


Exkursion = Architektur + Bewegung

Bewegung für Architektur: ArchitektInnen oder hier ExkursionsteilnehmerInnen bewegen sich zur Architektur, rund um die Architektur, auf und in der Architektur. Von FührerInnen, VermittlerInnen oder anderen ArchitektInnen geführt, bespielen sie in dynamischem Wechsel von Objekt zu Objekt den umgebenden Stadtraum. Führt der Architekt selbst durch sein Bauwerk, lässt er die Bestaunenden seine Entwurfsideen nochmals miterleben. Der Stadtraum stellt nicht nur einen bloßen Zwischenraum zwischen den einzelnen Objekten dar, er ist ein eben nur bei Gebäudebesichtigungen vor Ort erlebbarer Raum, der einen essenziellen Faktor zum Verständnis der Architektur ausmacht. Überdies ist die Erforschung der urbanen Zwischenräume wohl eine der spannendsten Begleiterscheinungen von Exkursionen. Zufällige Begegnungen, Momentaufnahmen von verschiedensten Situationen, eine mehrdimensionale Flut von Eindrücken und Erlebnissen werden zu den schönsten Bausteinen bleibender Erinnerung. Der englischsprachige Begriff für "Exkursion" ist mit "field trip" für den expeditionsartigen Charakter des Aufspürens von Unbekanntem sehr bezeichnend.

Architektur für Bewegung: Transiträume, wie Hotels, Bahnhöfe, Flughäfen, Autoraststationen, Hafenterminals und die Verkehrsmittel selbst – Züge, Flugzeuge, Autos, Schiffe – werden zunehmend spektakulärer und technisierter, ihre Volumina bestimmen teilweise ganze Stadtgebiete und Regionen. Am Beispiel Tokyo wird deutlich, dass Verkehrsbauten ein entscheidender Bestandteil der modernen Stadtentwicklung sind. Die Stadtzentren entstehen rund um Bahnhöfe, der parallele Bau von Siedlungsgebieten und Bahnlinien, die erstere mit neuen kommerziellen Zentren verbinden, kreiert eine eigenständig metabolistische, auf Kriterien des Verkehrs basierende Stadtstruktur. Projiziert man das "Tokyo-Modell" nun auf die gesamte Erde, ist eine ähnliche Entwicklung in größerem Maßstab ablesbar.

Reisende brauchen Räume, Räume für Zwischenstationen, Aufenthaltsräume, Bedürfnisräume, Beherbergungsräume. Als Architekturreisender nimmt man diese Reiseräume auch als wichtigen Bestandteil der Gesamtreise wahr, die Reise selbst ist hier schon das Ziel und sollte bei jeder Exkursion auch in diesem Sinne miteingeplant werden.


Exkursion = Architektur + Weg

Reiseberichte galten einst als einzige Informationsquelle über fremde Kulturkreise und deren Architekturen. Um nur die wichtigsten Eckdaten seit dem antiken Reiseschriftsteller Herodot zu nennen, gaben Marco Polos Berichte seiner Chinareise Ende des 13. Jahrhunderts Aufschluss über den exotischen Kontinent, und verschafften Reisedarstellungen der Grand Tour – ein von der englischen Aristokratie praktiziertes Bildungsmodell des 18. und 19. Jahrhunderts, sich der Antike in Form von Reisen vorwiegend nach Italien und später nach Griechenland anzunähern – Einblick in unbekannte Schauplätze historischer Architekturdenkmäler. Es folgte eine Unmenge von Reiseliteratur der vergangenen Zeitepochen, anfänglich Berichte von meist einigen Jahren dauernden, unter beschwerlichsten Umständen absolvierten Reisen bis zu zeitgenössischen digitalen, global zugänglichen Aufbereitungen.

Was lässt es also in unserer Zeit des regen Informationsaustausches und der einfachen Zugriffsmöglichkeiten auf zahlreiche Medien noch notwendig erscheinen, sich überhaupt physisch auf eine Reise in hergebrachtem Sinn zu begeben? Wozu sollte man alle damit verbundenen Mühseligkeiten, wie Zeitaufwand, Witterung, körperliche Anstrengungen und Kosten auf sich nehmen, wenn alle relevanten Informationen bequem zu Hause auf der Couch liegend über das Internet abrufbar sind?

Studenten und Architekten bedienen sich nach wie vor rege und sogar in zunehmendem Maße der klassischen Architekturreisen zur Wissenserweiterung und zum internationalen Austausch. Die Exkursion gilt als Reise zu einem bestimmten Zweck, von einzelnen Bautenbesichtigungen und Ausflügen zur Vertiefung in der eigenen Umgebung bis zur aufwändigen Fernreise zur Erforschung des Unbekannten trotz voranschreitender Globalisierung. Inspiration erfolgt oft durch die bloße Bewegung, um des Reisens selbst Willen und durch das Erleben der Aufbruchsstimmung in Transiträumen. Eine äußerst wichtige Komponente stellt bei Exkursionen in Gruppen der Dialog mit den anderen ReiseteilnehmerInnen in einer fremden oder gegenüber dem Alltag veränderten Umgebung dar. Gemeinsam etwas zu sehen, zu erleben, zu reflektieren und Dokumentationen auszutauschen ist wohl eines der wertvollsten Ziele einer effektiven Architekturvermittlung. Die Exkursion stellt gewissermaßen die perfekte Vereinigung von Theorie und Praxis in der Architektur dar.

Auch Individualisten und quasi Autodidakten der eigenen Architekturvermittlung ist spontanes Reisen jederzeit möglich. Mit international gültigen Bankkarten, Mobiltelefon und Internetzugang ausgestattet, kann eine Reise kurzfristig geplant und organisiert werden. Hotels und Transporte sind leicht online gebucht und bezahlt, digitale Stadtführer weitgehend erhältlich. Im Fachbereich Architektur wäre dies ein noch ausbaubares Gebiet!


Exkursion = konkret + abstrakt

Im Folgenden möchte ich das Wesen und die Auswirkungen von Architektur-Exkursionen auf der Basis der Erfahrungen aus meiner Tätigkeit im Architekturzentrum Wien und bei einigen Exkursionen nach Japan anhand zweier Diagramme kurz beschreiben.


Diagramm 1 zeigt den linearen Ablauf von der Objektrecherche bis zur Durchführung. Dem Ablauf vorangestellt ist stets ein bestimmtes Thema, meist geographischer oder funktioneller Natur, oder ein herausragendes Einzelobjekt als Ausgangspunkt zur Planung einer Exkursion.

Bei der Recherche werden alle in den relevanten Themenkreis, die jeweilige Region oder Zeitepoche passenden Objekte erhoben, geprüft und beurteilt. Bei der Programmerstellung erfolgt eine logische Zusammenfügung aller Koordinaten aus Objekten, Orten, Personen, die bei der Organisation in eine bestimmte Zeit– und Raumabfolge gebracht werden. Ist die Exkursion nicht für eine bestimmte Gruppe erstellt, wird sie nun marketingtechnisch beworben, gefolgt vom geschäftlichen Teil der Anmeldungen und Buchungen. Der Erfolg der Durchführung ist abhängig von der Exaktheit der Planung und ist garantiert bei einem guten Zusammenspiel von ausführenden und teilnehmenden Personen, die vermittlungsfreudig und wissensdurstig mit Informations- und Navigationsmaterial bestückt, mit Dokumentationsgeräten ausgestattet und auf alle Eventualitäten gefasst, zielstrebig die architektonische Expedition in Angriff nehmen.



Das zweite Diagramm zeigt das komplexe räumliche Gefüge aller Komponenten und Beteiligten, die den Entstehungsprozess, die Organisation und Abwicklung einer Exkursion bestimmen. Das Objekt steht dabei im Vordergrund, Drehpunkt ist die Organisation als „Basisstation“. Die „Basisstation“ ist auch Drehscheibe der Vermittlungsprozesse zwischen ArchitektInnen, FührerInnen oder sonstigen VermittlerInnen und ExkursionsteilnehmerInnen. Alle blauen Verbindungslinien in beiden Diagrammen stehen für "Recherche", alle roten für "Vermittlung".

Dieses präzis organisierte Gefüge durchdringt eine Ebene aus unvorhersehbaren Faktoren, die bei der Konzeption einer Exkursion als unbekannte Variable mitgeplant werden muss. Vom Regisseur dieses Theaterstücks, bei dem man die Darsteller nicht kennt, ihr Verhalten – das heißt ihre Rolle, deren Bedeutung sie auch selbst noch nicht kennen – nur auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen einschätzen kann, werden die einzelnen Stationen und Begegnungen für einen Stegreifauftritt genau choreografiert. Objekt und Stadtraum dienen als Bühne. Die Kulissen dafür, die aus möglichen spontanen Veränderungen von Wetter, Verkehrsaufkommen, Temperatur, Stimmungen und Emotionen bestehen, sind nicht voraussehbar.



Anmerkung:
abbildung3.jpg (356773 Byte)   Mein Vortrag zur Konferenz "Die Zukunft der Architekturvermittlung" mit dem Titel "Exkursion als abstraktes Produkt" basierte auf einem Beitrag für "Thesis. Die nützliche Reise". (Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, 1. Heft 2003, 49. Jahrgang, S. 139). Den Vortrag begleitete neben den Darstellungen der beiden oben genannten Diagramme eine rasche Abfolge von Bildern verschiedenster Schauplätze und Situationen bei zahlreichen Architekturexkursionen der vergangenen Jahre – eine Gruppe des Architekturzentrums Wien etwa erkundet HOLODECKs komplexe Formen des "floating house" in Siegenfeld, genießt Walter Angongeses kühle Räume bei einer Weinverkostung im Kalterner Weingut Manincor, pilgert durch die Architekturbiennale in Venedig und freut sich an Schrägem in Hermann Czechs neuem Messehotel in Wien, österreichische Architekturstudenten durchschreiten Arata Isozakis Konzerthalle in Nara, gleiten auf Vito Acconcis schwimmender Murinsel in Graz oder eine Südtiroler Architektengruppe rastet bei einer Teepause auf dem Berg der Fujimi-Inari-Schreine in Kyoto und freut sich an einer Baustellenbesichtigung des Yokohama Port Terminal.

Jene die Zuhörer etwas überfordernde Präsentation mehrerer gleichzeitig einwirkender akustischer und visueller Eindrücke sollte die Stimmung bei Exkursionen, bei denen die Teilnehmer mit einer Fülle von aufzunehmenden und zu verarbeitenden Wahrnehmungen konfrontiert sind, vermitteln. Es wurde hier also der Versuch einer Vermittlung von Architekturvermittlung unternommen.

 

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