2. Jg., Heft 1
Mai 1997 |
Ulrich Hartung
FEINDBILD MODERNE
Konzept und Städtebau der Moderne im aktuellen
Diskurs
1 Der folgende
Artikel befaßt sich mit dem Bild, das der derzeit
herrschende Diskurs in der Bau- und Planungsgeschichte
von moderner Architektur und modernem Städtebau
zeichnet. Kritisiert werden eine vor allem methodische
Unzulänglichkeit und deren inhaltliche Folgen. Der Text
entstand aus Ärger über die Verfälschungen, die eine
unreflektiert parteiliche Betrachtungsweise angerichtet
hat und weiter anrichtet; versucht wird, deren Logik
darzustellen und damit nachzuweisen, daß die postmoderne
Auffassung von der Moderne dieser historisch weder
gerecht werden kann noch will. Wenn im folgenden
Auffassungen zugespitzt werden, dann nicht, um sie zu
karikieren, sondern um sie in ihren Zielen und
Auswirkungen zu beleuchten.
2 Wer allerdings
eine Berechtigung von Kritik davon abhängig macht, daß
diese die Position des Kontrahenten verständnisvoll
"würdigt", der verlangt Toleranz nur von
anderen, zu dem Zweck, ausschließlich seine eigenen
Auffassungen zur Geltung zu bringen. Auf solche Tricks
dürfte niemand mehr hereinfallen; ich rechne vielmehr
auf das unbefangene Interesse derjenigen, die eine
nüchterne Betrachtung von Konzepten und Resultaten der
Moderne wünschen. Solch "Anspruchsdenken"
gegenüber einer Neuen Unsachlichkeit zu stärken, ist
Anliegen des Textes. Um die gegenwärtige Diskussion in
der notwendigen Kürze zu charakterisieren, beschränke
ich mich auf Äußerungen zu Themenfeldern, die die
moralisch-ästhetische Verurteilung der Moderne besonders
prägnant hervortreten lassen. Anderes soll damit weder
weggeschoben noch beschönigt werden. Aktuelle
Auffassungen als Ausdruck einer neuen Ideologie zu
erkennen, darum geht es.
1. Walter Gropius, der Deutsche Werkbund und das Neue
Bauen
3 Mit der
Attitüde des Aufklärers hat vor kurzem Werner Oechslin
die Ideen des frühen Werkbunds und insbesondere die
Beziehungen von Walter Gropius zur Werkbund-Politik der
Jahre 1907 bis 1917 dargestellt 1).
Oechslin sind an den Werkbund-Schriften einige Begriffe
aufgefallen, die ihm altmodisch erschienen, so die der
'Erziehung' und des 'Formwillens'. Er stellt nun den
emphatischen Bezug der Werkbund-Gründer auf Nietzsches
'Willen zur Macht', auf Julius Langbehns 'Rembrandt als
Erzieher' und auf Alois Riegls 'Spätrömische
Kunstindustrie' als die "mühevoll verdrängte
Vorgeschichte der modernen Architektur vor 1914" 2) heraus. Durch zahlreiche Zitate werden
die nationalliberalen Bestrebungen des Werkbunds, die
Stärkung der Weltgeltung durch eine ästhetische
Exportoffensive, in ihrem Bezug auf die Kriegsziele
Deutschlands dargestellt. Auch im Werkbund herrschten
Chauvinismus und Kriegstreiberei, so lautet das erste
Fazit.
4 Nun sind die
hier mitgeteilten Verbindungen keine Neuentdeckung.
Selbst in der DDR waren sie bereits nachzulesen, und zwar
in dem 1988 erschienenen Band "Geschichte der
deutschen Kunst - 1890 bis 1918" 3).
Das dem Thema gewidmete Buch "Der deutsche Werkbund.
Sein erstes Jahrzehnt" von Kurt Junghanns (Berlin
1982) tut Oechslin mit der Anmerkung ab, es sei "so
sehr mit jüngeren politischen Idealvorstellungen
befaßt, daß ihm die Komplexität und Brisanz der
damaligen politischen Umstände völlig entgeht" 4). Da bei Junghanns die
nationalistischen Vorstellungen z. B. eines Friedrich
Naumann unmißverständlich gekennzeichnet sind und der
Werkbund sehr wohl im Zusammenhang der deutschen
Eroberungspolitik dargestellt wird, kann diese
Beurteilung nur als ignorant gewertet werden. Die
'Angelpunkte' der damaligen Auffassungen von Walter
Gropius sind ebenfalls seit 1985 bekannt; Winfried
Nerdinger hat sie in seinem Beitrag zu der dreibändigen
Gropius-Monographie 5) analysiert.
Dennoch ist Oechslins Text nicht nur von Überheblichkeit
getragen. Sein Ziel besteht darin, die gesamte Tätigkeit
von Gropius durch Verweise auf dessen "Verwicklungen
vor 1914" zu diskreditieren. Oechslin suggeriert
daher, die Grundauffassungen des Architekten hätten sich
seit 1907 im Wesentlichen nicht geändert -
"entgegen späteren internationalistischen
Mythenbildungen von einer schlackenlosen Moderne"
(Barbara Uttenkamp im Vorwort). Obwohl er eingestehen
muß: "Die Vorstellungen mögen sich seitdem
gewandelt haben" 6), und
obwohl gerade die späteren widersprüchlichen
Äußerungen von Gropius zu seiner Rolle im Werkbund
zeigen, daß ihm daran vieles fremd geworden war, macht
Oechslin doch eine innere Verbindung fest, und zwar an
Formulierungen wie 'Einheit künstlerischer Gestaltung',
'Architektur und Erziehung': "Auch der Hinweis auf
die 'Erziehung' von 1952 (aus dem Katalog der ersten
Gropius-Ausstellung nach dem zweiten Weltkrieg in
Frankfurt, U. H.) kann man kaum auf das Bauhaus allein
bezogen verstehen. Schließlich waren sie vor und nach
1914/18 - gemäß einer äußerst beliebten Formel - alle
'Erzieher': von Schopenhauer zu Nietzsche und (dank dem
[!] Rembrandtdeutschen) Rembrandt. Gemäß [!] Jäckh
wurde ja gerade auch der Werkbund schon früh ein
'Areopag von Führern und Erziehern' genannt.
5 Nichts Neues
also anläßlich des Wiedereintritts Gropius' in die
deutsche Architektur 1952! Ganz im Gegenteil: beste
Werkbundtradition aus dessen Anfangsphase!" 7) Daß ein Stil erstrebt wurde, auf
welchem Formkonzept auch immer beruhend, und daß Gropius
ästhetisch erziehen wollte, genügt dem Postmodernen
für die Behauptung einer durchlaufenden
Werkbundtradition - "Muster einer
Geschichtsschreibung, der die Grenzziehung zwischen
Vergleichbarem im engeren Sinne egal ist" 8). Mit dem Gebaren eines Fahnders sucht
Oechslin in den Schriften des Bauhausgründers. Wovon sie
handeln, von Monumentalität im Industriebau, von
Glasarchitektur, von Funktionalismus, vom Neuen
Regionalismus - alles gleichgültig, nur das Beweisziel
zählt: Gropius war in etwas Reaktionäres verstrickt,
und er leugnet es: "Beim Versuch, sich zu
distanzieren und von 'Allzudeutschem' zu befreien, gibt
Gropius gleichwohl zu erkennen, wie sehr er Kind seiner
Zeit ist und wie sehr er seiner Kultur verwurzelt
bleibt" 9). Dabei fand Gropius
an "seiner" Zeit und deren Kultur viel zu
ändern; er entwickelte mit anderen Architekten und
Designern eine neue Gestaltungskonzeption, aber für den
Zeitgeist-Publizisten Oechslin ist die 'internationale
Architektur' bloß ein Hinüberretten 10).
6 Hier wird die
Macht der Vergangenheit noch über den radikalen
Avantgardisten beschworen; daß er seine Auffassungen
korrigierte, an einigen Formentscheidungen festhielt, um
sie in ein größeres Konzept zur "Gestaltung aller
Lebensbereiche" einzubinden, zeigt nach dieser
totalitären Psycho-Logik nur, daß er etwas zu
verdrängen hatte, den Ersten Weltkrieg als
"Schuld" der frühen Moderne. Das Ganze hat
einen Zweck - die Vorgeschichte des Neuen Bauens wird
thematisiert, um dessen Geschichte auszugrenzen. Dem
Autor kann sein eigener Satz entgegengehalten werden:
"So geht man also gegen Ungeliebtes in der jüngeren
deutschen Architekturgeschichte vor". Das Renommee
der Moderne läßt eben postmoderne Entlarver nicht
ruhen, bis sie "nachgewiesen" haben, daß die
Funktionalisten auch nur Menschen waren. Der
konzeptionelle und damit stilistische Wandel in den
Werken Gropius' und seiner Mitstreiter läßt sich aber
nicht wegleugnen 11).
7 Forderte
Gropius in seinen Aufsätzen über Industriekultur von
1911 bis 1914, den Ausdruck von Material und Konstruktion
zu überformen, um monumentale Baumassen zu schaffen, so
betrachtete er 1925/26 die "anstößige"
Wirkung von offen gezeigten Beton- und
Stahlkonstruktionen im Wohnbau als etwas, das mit der
Gewöhnung verschwinden werde 12).
Sah er in ersteren die Vorboten eines neuen Idealismus,
so propagierte er Jahre später das Wohnhochhaus als
rationelle Bebauungsform. Ordnete Gropius 1909 selbst
kleine Landarbeiterwohnungen in Behrenssche Villentypen
ein, so brachte er 1929 bei seinen Wohnhäusern in Berlin
und Karlsruhe die Funktionselemente gestalterisch zur
Geltung. Und nicht zuletzt: Aus monumentalen Blockformen,
inspiriert von seinem Lehrer Behrens, wurden
spannungsvolle Gebilde, die auf reine Kontrastbeziehungen
hin entworfen sind, aus Urformen Montageelemente; aus
einem elementarisierten Klassizismus wurde die moderne
Ästhetik gleichwertiger Teile. Den Postmodernisten, der
über alles Oberflächliche hinweg- und hinter allem die
Hintergründe sieht, ficht das nicht an. Im Gegenteil, er
geht zum Angriff über, gegen die Formanalyse: "So
wie Riegl im richtigen Moment die Formel des
'Kunstwollens' der Architektur vermittelt hatte, so hat
jetzt [?] der Lehrer Giedions, Heinrich Wölfflin, mit
seiner Formanalyse die entwickeltere Sichtweise der
modernen Architektur über seinen Schüler
bestimmt". Damit nicht genug: "Etwas zugespitzt
darf man im Falle der modernen Architektur von einer
Synergie von Kunstgeschichte und Kunst sprechen" 13). Will der Professor für Kunst- und
Architekturgeschichte ernsthaft behaupten, die Entstehung
der Moderne in der Architektur sei so zu erklären, daß
sich in Deutschland und der Schweiz ein paar engstirnige
Bauleute mit ebensolchen Kunsthistorikern zusammengetan
hätten? Er will: "Die moderne Architektur der 20er
Jahre, sie war wie der entsprechende Zweig der
Kunstgeschichte formalistisch und warf den Rest als
Ballast über Bord" 14). Das
mußte ja mal kommen, der Formalismus-Vorwurf! So setzt
sich Oechslin mit Paul Schmitthenner und Walter Ulbricht
in ein Boot, denn um die Gesellen abzufertigen, die so
dogmatisch vom Einzelbau ausgehen und genaues Hinsehen
verlangen, ist keine Gesellschaft zu schlecht. Solche
Formalisten stören, wenn gerade zum
sozialgeschichtlichen Überflug angesetzt werden soll und
Kontinuitäter dingfest zu machen sind. Leider wird es
wohl ein Paradox bleiben, warum Heinrich Wölfflin nicht
zuerst vor dem Bauhausgebäude, sondern vor Renaissance-
und Barockarchitektur seine "Grundbegriffe"
entwickelte. Aber an Paradoxien fehlt es ja nie in der
Welt derer, die den Widerspruch zwischen ihren
Vorstellungen und den wirklichen Erscheinungen
aufrechtzuerhalten wünschen.
8 Fazit: Was
Oechslin richtig darstellt, stammt nicht von ihm, und was
von ihm stammt, ist grob zerzerrend. Zusammen stimmt
nichts, aber alles entspringt der gleichen, fast
psychotischen Abwehr gegenüber dem
Betrachtungsgegenstand, dem Neuen Bauen.
2. Nationalsozialismus und Moderne
9 Am 23.
September 1936 besichtigte Joseph Goebbels auf einer eher
privaten Griechenlandreise die Hauptstadt Athen. In
seinem Tagebuch notierte er, nach einigen Ergüssen über
"diese edelste Stätte nordischer Kunst",
Anerkennendes über jüngere Architektur: "Moderne
sehr gute Bauten: Bibliothek, Universität und Akademie.
Von Hansen" 15). Dieses Lob
galt einem Architekten, der mit seinen
neoklassizistischen Prunkbauten die Gestalt der Wiener
Ringstraße wesentlich geprägt hatte. Theophil Edvard
von Hansen (1813-1891) war vor den siebziger Jahren in
der griechischen Hauptstadt tätig gewesen; neben dem
Gebäude der Otto-Universität (ab 1839 zusammen mit
seinem Bruder Hans Christian) waren dort nach seinen
Entwürfen 1859-1887 die Akademie der Wissenschaften und
1885-1892 die Bibliothek 16)
entstanden. Wenn Goebbels solche Monumentalbauten des
Historismus als "modern" bezeichnete, was
wollte er damit ausdrücken? Doch wohl, daß er ihren
Stil durchaus auch für die Gegenwart als angemessen
betrachtete, zumindest im "klassischen" Kontext
Athens. Damit war der Begriff des "Modernen" in
der Architektur völlig abgetrennt von den stilistischen
Charakteristika, die sich heute damit verknüpfen:
sachlich-nüchterne Gestaltung, Rationalität,
Funktionalismus. Offenbar jedes historischen Inhalts
frei, diente die Bezeichnung nur dazu, alle möglichen
Gegenstände und Auffassungen als
"zeitgemäß", d. h. den politischen Zielen der
Nazis gemäß zu kennzeichnen. In genau diesem Sinne
verwandte sie auch Werner Best als Stellvertreter
Heydrichs im Geheimen Staatspolizeiamt, als er 1936 die
Rechtsauffassung des nationalsozialistischen
Führerstaates definierte: "Der politische
Totalitätsgrundsatz des Nationalsozialismus [...] duldet
keine politische Willensbildung in seinem Bereich, die
sich nicht der Gesamtwillensbildung einfügt. Jeder
Versuch, eine andere politische Auffassung durchzusetzen
oder auch nur aufrechtzuerhalten, wird als
Krankheitserscheinung, die die gesunde Einheit des
unteilbaren Volkswillens bedroht, ohne Rücksicht auf das
subjektive Wollen seines Trägers ausgemerzt. Aus diesen
Grundsätzen heraus hat der nationalsozialistische
Führerstaat zum ersten Mal in Deutschland eine
politische Polizei entwickelt, wie sie von unserem
Standpunkt aus als modern, d. h. den Bedürfnissen
unserer Gegenwart entsprechend, aufgefaßt wird ..."
17). Die Massen-KZs, die die SS ab
1936 bauen ließ, waren "modern" (Himmler) nach
dieser Begriffsbestimmung, in keiner anderen Hinsicht.
Wenn Dieter Hoffmann-Axthelm, bezogen auf den
Lagerkomplex von Sachsenhausen, schreibt: "Man kann
sich das Ganze als Pervertierung moderner Stadtplanung
vorstellen" 18) und auf die
Trennung der Lagerfunktionen verweist, so zeigt er damit
nur, daß er weder die Intentionen der KZ-Planer noch die
moderner Städtebauer untersuchen will: Wo findet jemand
bei letzteren die Stacheldrahtzäune, die die
Funktionseinheiten als räumlich streng geschlossene
Bereiche voneinander trennen, wo die Ausrichtung der
Einheiten auf eine Symmetrieachse, wo die Schotter- und
Betonflächen ohne Grün (beim "Wohngebiet" des
Häftlingslagers)? Nur aus fanatischem Haß gegen die
Stadt der Moderne läßt sich auf einen solchen Vergleich
kommen. Als Beleg für die Behauptung, daß letztere doch
etwas mit dem Nazi-System zu tun gehabt habe, werden
immer wieder sachlich-funktionale Fabrikbauten
herangezogen, wobei die paar Beispiele, die sich fast an
den Fingern abzählen lassen, flott verallgemeinert
werden 19).
10 Selbst einmal
davon abgesehen, ob die Behauptung einer Vorherrschaft
der "Neuen Sachlichkeit" im NS-Industriebau
überhaupt einer umfassenden Betrachtung standhält -
bedeutete sie tatsächlich eine wenn auch partielle
Annahme des Konzepts Moderne durch die
Nationalsozialisten? Schließlich ist es schon ein
Widerspruch, penetrant den "totalen
Gestaltungsanspruch" des Neuen Bauens
hervorzukehren, um eine Entsprechung zum totalen Staat zu
suggerieren, andererseits aber zu behaupten, schon einige
funktionell gestaltete Fabriken bewiesen die Geltung
dieses Anspruchs im Dritten Reich. Denn daß die großen
Partei- und Staatsbauten mit "Modernismus" 20) nicht das geringste zu tun hatten,
dürfte jedem Einsichtigen klar sein. Als Konzept, und
nur als solches, in ihrem ganzen Anspruch, ist sie
historisch zu begreifen, war die Moderne für die
Nationalsozialisten unbrauchbar. Sie akzeptierte die
Technik und Wissenschaft der bürgerlichen Neuzeit nicht
nur als Mittel, sondern wollte sie bewußt zur
individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation der
Menschen von allen idealistischen Glaubensartikeln
einsetzen und gelangte deshalb zu der Konsequenz,
wissenschaftlich-technische Forschung selbst zu
betreiben. Maßstab der Gesellschaft sollte die
praktische Subjektivität der Einzelnen sein, was
verpflichtende Werte und Menschenbilder zur belanglosen
Privatsache machte oder gar ausschloß. Ein gemeinsamer
verpflichtender Sinn, der den rationellen oder
emotionalen Beziehungen der Menschen übergeordnet war,
existierte für die konsequenten Funktionalisten nicht;
damit war die traditionelle Hierarchie von Zweck und
Mittel überhaupt suspendiert, die Zwecke immer als
"Sinn" überhöht und die Mittel immer als
bloß Bedingendes, weil lediglich Zweckbezogenes
abgewertet hatte. Deshalb konnten nun die Bauten ihre
Funktionen und die Mittel zu ihrer Erfüllung offen
zeigen: "Wenn der Zweck nicht mehr schmutzig ist,
muß die erscheinende Zweckmäßigkeit nicht mehr
wegdekoriert werden." 21)
(Lothar Kühne).
11 Das Neue
Bauen sollte diese radikal rationale
Gesellschaftsvorstellung, die gerade in seinem Umkreis
entwickelt wurde, nicht lediglich ästhetisieren, sondern
sie architektonisch, d. h. räumlich funktional
verwirklichen. Hierbei entstanden einige Unstimmigkeiten;
die größte ist vielleicht die Definition der
Architektur als Ding, d. h. als ergonomischer Gegenstand,
die zu der Vorstellung führte, sie wie ein unmittelbar
handhabbares Gerät, als "Wohnmaschine",
funktionsästhetisch objektivieren zu können. (Diese
Vorstellung hatte vor allem metaphorische Wirkung,
insofern sie die Forderung nach Sachlichkeit und Analyse,
den Prozess ihrer Herstellung, betonte). Daß Architektur
die praktischen Beziehungen der Menschen zu ihren
"Dingen" wie zur Landschaft vermittelt, wurde
erst bei Hannes Meyer gesehen. Dessen Architektur ist
wirklich analytisch aufgebaut und also komponiert,
während Sachlichkeit und Objektivität vorher nur zum
Ausdruck gebracht worden waren, wobei oft der Ausdruck
der Funktion ihre praktische Erfüllung behindert hatte.
Die Ästhetik des Neuen Bauens, die jede Hierarchie
zwischen Formen vermeidet und strenggenommen keinen
Wertbegriff mehr kennt, entsprach als solche lediglich
den Bestrebungen der linken Architekten und Planer, dies
aber perfekt. Die Beziehung beider besaß nicht die
behauptete sachlich notwendige, wohl aber eine historisch
notwendige Qualität. Die Moderne hatte ihren Stil; sie
geht in ihm gewiß nicht auf, ist aber ebensowenig ohne
ihn zu denken. Die Moderne war der Versuch, das Leben als
Selbstzweck zu inthronisieren, der Versuch, die Spannung
zwischen reiner und instrumentaler Vernunft
materialistisch aufzulösen.
12 In der Zeit
des Nationalsozialismus herrschte weder eine sachliche
Vorstellung von Funktions- und Gestaltungsprinzipien der
Moderne, noch wurde unter "modern" etwas
Dementsprechendes verstanden. Sonst wäre es auch kaum
erklärlich, daß in der Zeitschrift mit dem Titel
"Moderne Bauformen" Heimatstil-Wohnhäuser,
sachliche Fabrikhallen sowie Monumentalprojekte von Speer
bis Schmitthenner vorgestellt werden konnten. Es mag ja
Versuche einzelner moderner Architekten gegeben haben,
sich dem Regime mit Entwurfsvorschlägen aus dem eigenen
früheren Zuständigkeitsbereich anzudienen - aber hatten
solche Bemühungen irgendeinen Erfolg? Ist auch nur ein
Repräsentationsbau bekannt, der nach 1933 in den Formen
des Neuen Bauens entstand? Es wird Zeit, daß eine
Parteilichkeit in der Baugeschichtsforschung aufgegeben
wird, welche unverhohlen die Denunziation moderner
Konzepte betreibt. Damit ist immer Ignoranz gegenüber
wichtigen Quellenbereichen verbunden. Zur Rolle der
Technik und des Ingenieurbaues im Nazisystem läßt sich
wesentlich mehr aus offiziellen Äußerungen wie dieser
erfahren: "In allen Bauten des neuen Reiches, die
gleichzeitig an den Ingenieur wie an den Architekten
höchste Anforderungen stellen, wird deutlich fühlbar,
daß das deutsche Volk zum Herrn über die Technik
aufgestiegen ist und ihre machtvollen Möglichkeiten
souverän seinem Willen unterordnet." 22)
3. Zum Städtebau der Moderne in Berlin
13 Nicht erst
seit Beginn der Hauptstadt-Planung geben in der Berliner
Architekturdiskussion diejenigen den Ton an, die die
Ergebnisse des modernen Städtebaues als Stadtzerstörung
anprangern. Aus der Vielzahl gleicher Äußerungen sei
eine herausgegriffen, die die feststehende Bewertung fast
gelangweilt als Erkenntnisstandard anführt: "Was
die modernen Städteplaner von Martin Mächler bis Martin
Wagner nicht erreichten und Speer glücklicherweise nur
im Ansatz gelang, besorgten dann die Zerstörungen des 2.
Weltkrieges und der Wiederaufbau der geteilten Stadt nach
1945, der ja zugleich Ausdruck der ideologisch
aufgeladenen innerdeutschen Systemkonfrontation war. Kaum
verwunderlich, daß das Urteil über den aktuellen
städtebaulichen Zustand, zumal [!] der Berliner
Kernstadt nach vier Jahrzehnten 'sozialistischen
Städtebaus' vernichtend ausfällt" 23).
In der Tat, das Urteil ist vernichtend und zeitigt durch
die Gewalt, die hinter ihm steht, schon praktische Folgen
- 1995 wurde das ehemalige DDR-Außenministerium am
Kupfergraben, ein "gut erhaltenes, voll intaktes,
flexibel auf eine Vielzahl möglicher Nutzungen
einrichtbares Gebäude" 24),
abgerissen. Die Kosten spielten dabei keine Rolle, denn
"mit dem 'Beitritt' der DDR zur BRD mußten die
materialisierten Erinnerungen an die nie akzeptierte
Eigenstaatlichkeit der DDR beseitigt werden" 25). Dies geschah und geschieht ohne jede
Reflexion, mit einer wahrhaft grenzenlosen
Überheblichkeit. "Was den Machthabern der DDR
anläßlich des Schloßabrisses vorgeworfen wurde -
unliebsame Geschichte durch Zerstören zu verdrängen
statt zu verarbeiten -, das hat man mit dem
Außenministerium wiederholt" 26).
14 Nun sollte
aber aus den durchgezogenen und geplanten Abrissen nicht
geschlußfolgert werden, die Fanatiker der
"europäischen Stadt" besäßen kein positives
Leitbild; dies hieße nämlich, ihre eigene Ignoranz
gegenüber der Städtebaugeschichte zu fortzusetzen. 1986
stellte der Architekturhistoriker Wolfgang Schäche einen
Kolloquiumsbeitrag vor, der im Wesentlichen aus Thesen
einer "IFP, Stadtentwicklung seit 1945",
besteht 27). Gleich zu Beginn
heißt es dort: "Die qualitative Veränderung von
Nutzungsstrukturen, Stadtgrundriß und baulicher
Gestaltung der Metropole durch Planung und
Realentwicklung setzt nicht erst 1948/49 mit der
administrativen Teilung der Stadt ein, sondern bereitet
sich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor, erlebt -
während der Weimarer Republik und der Nazizeit durch
unterschiedliche Intentionen getragen - eine erhöhte
Dynamik und setzt sich über die Phase zwischen 1945 und
1948/49 bis heute fort. Die damit untrennbar verbundene
Zerstörung der Stadt des 19. Jahrhunderts ist dabei
durchgehender, permanenter [!] Antrieb. [...] Die
Zerstörung der Stadt wurde in den 20er Jahren mit
flächendeckenden Projekten planerisch erprobt, in der
Nazizeit durch die 'Neugestaltungsmaßnahmen' vorbereitet
und begonnen sowie durch den alliierten Bombenhagel als
furchtbare Konsequenz der NS-Herrschaft fortgesetzt. Auch
in der Nachkriegszeit behalten stadtzerstörende,
antiurbane Planungsmuster (unabhängig von ihren
ästhetischen Repertoires - W.S.) über historische
Brüche hinweg ihre Gültigkeit." 28)
Selbst die sozialwissenschaftliche Terminologie kann
nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier nicht
um Sachaussagen handelt, sondern um Polemik.
Argumentative Schwäche wird durch Aggressivität
kompensiert, die eigene Stadtvorstellung verabsolutiert
und in die Geschichte verlängert, wodurch sich alle
anderen Konzepte als rein böswillig darstellen lassen:
Wer die alte Stadt nicht total wiederaufbauen wollte,
hatte nur das Kaputtmachen von Stadt überhaupt im Sinn.
An dem Maßstab eines Steinstadt-Kults, der die
Gründerzeit-Urbanistik der Polizeibeamten und
Kanalisationsspezialisten als Residuum des Menschlichen
bewundert, wird alles gleichgemacht - Reformwohnungsbau,
City-Plätze, Nord-Süd-Achse, Alexanderplatz und Palast
der Republik. Wenn von den unterschiedlichen
Zielsetzungen, von ihren historischen Umständen, von den
gegensätzlichen Raum- und Formkonzepten abgesehen wird,
dann, und nur dann können sie alle auf einen gemeinsamen
negativen Nenner gebracht werden - sie bezweckten die
Zerstörung der Gründerzeitstadt. Deren Geschlossenheit,
die lieblichen Kitschfassaden, die Hinterhöfe mit
Funktionsmischung, mit Dunkelheit, Dreck, Lärm und
Gestank - das ist heute zum Idealbild städtischer
Existenzweise geworden, einer Existenzweise, in der die
Einzelnen nur noch als Menge angesehen sind, dazu da, das
total geordnete Chaos ihrer Verrichtungen mit
"Leben" zu erfüllen. Bettler, Nutten,
Händler, Polizisten, Musikanten - alles Beiträge zu
einer Urbanität, die die praktische Subjektivität der
Individuen als Egoismus verteufelt, die staatliche
Ordnung des ökonomischen Darwinismus dagegen als
"gewachsen" biologisiert. Erst wenn die
Menschen wie Maden in den Straßenkanälen herumwimmeln,
dann herrscht Stadt - über sie. Und wenn irgendwo Stadt
in diesem Sinn noch gar nicht existiert, dann muß sie
hergestellt werden, "historisch gewachsen" hin
oder her. So verordnete Dieter Hoffmann-Axthelm als
Gutachter des Wettbewerbs für das ehemalige
Sachsenhausener SS-Gelände eine "Kreuzberger
Mischung": "Es müssen alle Funktionen der
Stadt anwesend sein, oder zumindest so viele wie
möglich, und in gemischter, darum widerstandsfähiger
Form" 29). Hobrechtsfelde als
Widerstandsnest gegen die Moderne - so kommt einer zu
seiner Konsequenz, der einmal den Arbeitern ihr
Klassenbewußtsein erhalten wollte, durch Konservierung
von Korridorstraßen und Gewerbehöfen. Dieses
"schwache Subjekt" träumt sich immer noch
hinein in die Kneipen-Solidarität und
Tante-Emma-Geborgenheit der kleinen Leute, auf daß sie
klein bleiben und nicht dem sündigen
"Konsumterror" verfallen. Aufs Beste verbindet
sich solcher Städtebau-Trappismus mit der unkritischen
Fluchtlinien-Rekonstruktion, wie sie im Berliner Zentrum
betrieben wird. Abgetreppter Stumpfsinn, der auch
urbanistisch das Anspruchsdenken bekämpft - da helfen
keine Hoffmannstropfen mehr!
Anmerkungen
1) Werner Oechslin: Politisches,
allzu Politisches ...: "Nietzschelinge", der
"Wille zur Kunst" und der deutsche Werkbund vor
1914; in: Hermann Hipp; Ernst Seidl (Hg.): Architektur
als politische Kultur - Philosophia praktika. Berlin
1996, S. 151-190.
2) Ebenda, S. 151.
3) Harald Olbrich (Hg.): Geschichte
der deutschen Kunst. 1890 -1918. Leipzig 1988, S. 16, 39,
speziell zum Werkbund S. 376.
4) Oechslin 1996, Anm. 22, S. 182.
5) Hartmut Probst; Christian
Schädlich; Sektion Architektur der Hochschule für
Architektur und Bauwesen Weimar (Hg.): Walter Gropius.
Band 1: Der Architekt und Theoretiker, Werkverzeichnis
Teil 1, Berlin 1985, S. 48ff.
6) Oechslin 1996, S. 157.
7) Ebenda.
8) Ebenda.
9) Ebenda, S. 156f.
10) Ebenda, S. 158.
11) Präzise dargestellt ist dieser
Wandel bei Norbert Huse, "Neues Bauen" 1918 bis
1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik.
Berlin 1985 (1975), S. 44ff, 121ff.
12) Walter Gropius: Grundlagen für
Neues Bauen; in: Hartmut Probst; Christian Schädlich;
Sektion Architektur der Hochschule für Architektur und
Bauwesen Weimar (Hg.): Walter Gropius. Band 3:
Ausgewählte Schriften, Berlin 1987, S. 109.
13) Oechslin 1996, S. 158.
14) Ebenda.
15) Ralf Georg Reuth (Hg.): Joseph
Goebbels, Tagebücher. Band 3: 1935-1939, München,
Zürich 1992, S. 987.
16) Harald Olbrich u. A. (Hg.):
Lexikon der Kunst, Neubearbeitung, Leipzig 1991, Band 3,
S. 133.
17) Zitiert nach Martin Broszat:
Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in:
Hans Buchheim; Martin Broszat; Hans-Adolf Jacobsen;
Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates, München 1967,
Band 2, S. 44.
18) Dieter Hoffmann-Axthelm, in:
Stadt Oranienburg, Landesentwicklungsgesellschaft für
Städtebau, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg
(Hg.): Gutachterverfahren [zur] Urbanisierung des
Geländes der ehemaligen SS-Kaserne Oranienburg.
Dokumentation (unveröff. MS.), Oranienburg März 1993,
S. 22.
19) Typisch dafür ist Wolfgang
Schäche: Architektur und Städtebau in Berlin zwischen
1933 und 1945 - Planen und Bauen unter der Ägide der
Stadtverwaltung (Hg.: Senatsverwaltung für
Stadtentwicklung und Umweltschutz), Berlin 1991, S. 67.
20) Gerhard Fehl, in: Hartmut Frank
(Hg.): Faschistische Architekturen. Planen und Bauen in
Europa 1930-1945, Hamburg 1985, bezeichnet den Stil der
Monumentalbauten als "Modernismus" (Die Moderne
unterm Hakenkreuz. Ein Versuch, die Rolle
funktionalistischer Architektur im Dritten Reich zu
klären, S. 88-122).
21) Lothar Kühne: Über
Postmodernismus; in: Ders.: Haus und Landschaft.
Aufsätze, Dresden 1985, S. 193.
22) Gerdy Troost (Hg.): Das Bauen
im neuen Reich, Bayreuth 1938, S. 116.
23) Peter Reichel: Berlin nach 1945
- eine Erinnerungslandschaft zwischen Gedächtnis-Verlust
und Gedächtnis-Inszenierung, in: Hipp, Seidl (Hg.) 1996,
S. 274.
24) Irma Leinauer: Das
Außenministerium der DDR. Geschichte eines politischen
Bauwerkes. (Arbeitshefte des Instituts für Stadt- und
Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin,
H. 57) Berlin 1996, S. 177.
25) Ebenda, S. 176.
26) Ebenda, S. 177.
27) Wolfgang Schäche: Von der
Stunde Null und der Legende des Wiederaufbaues, in: Erich
Konter (Hg.): Wendezeiten in Architektur und
Stadtplanung. Kontinuität oder Bruch in der Entwicklung
nach 1945 (Arbeitshefte des Instituts für Stadt- und
Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, H.
36), Berlin 1986, S. 78-88).
28) Ebenda, S. 79
29) Wie Anm. 18, S. 42
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