2.Jg., Heft 1
Mai 1997 |
Hans-Jürgen
Ketzer
Die kulturhistorische
Betrachtung der modernen Architektur als Beitrag zur
Selbstaufklärung der Moderne
1. Moderne Sensualität
1 Ach, diese häßlichste, unruhigste
Stadt der Welt, worin aller Auswurf und Schmutz der Erde
angehäuft ist! Keine Worte kommen dem Abscheu gleich,
den ich vor ihr empfinde. Diese übelriechenden Straßen
voll kläffender Hunde und garstiger Schweine, dies
Rädergerassel auf allen Straßenpflastern,
Pferdegespannne, die den Durchgang versperren, widerliche
Menschen aller Art, das häßliche Bild von Bettlern
neben übermütigen Reichen, von jammervollem Elend neben
toller Freude, überall Zank und Streit, Lug und Trug,
dies Durcheinander von schreienden Stimmen, dies Gewühl
des sich drängenden und stoßenden Pöbels! Solch Dinge
reiben den Geist auf, der an ein besseres Leben gewöhnt
ist, rauben ihm alle Ruhe und stören ihn im Studium der
edlen Wissenschaften. Möge mich Gott mit heilem Nachen
aus diesem Schiffbruch retten!"
2 Diese Schilderung stammt aus Petrarcas
Feder. Es mag weit hergeholt scheinen, dieses Zitat aus
dem 1342 publizierten Dialogen De contemptu
mundi" Über die Weltverachtung"
-, wenn von moderner Architektur gesprochen werden soll.
Francesco Petrarca beschreibt die ihn folternde
Wahrnehmungsumwelt der Städte, die Konfrontation mit
einer für seine Zeit außergewöhnlichen Reizdichte, den
Zwang, sich mit einer die Psyche durch ihre Komplexität
überfordernden Umwelt auseinanderzusetzen. Nicht
zufällig treten dabei akustische Reize und die
Belästigung durch Schmutz und Gerüche in den
Vordergrund. Daß sich gerade an ihnen das aufkeimende
moderne Empfinden stieß, kann nicht verwundern. In ihnen
rückt die Welt dem sich entfaltenden modernen Individuum
förmlich auf den Leib. Der moderne Mensch entwickelt ein
Bedürfnis nach Distanz, nach Abgrenzung und Konturierung
einer ihm vorbehaltenen Intimsphäre. Petrarca geht
darauf in seinem Traktat De vita solitaria"
Vom einsamen Leben" (1354) genauer ein.
Dort schreibt er: Wenn mich die Notwendigkeit
zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir
inmitten des Volkes Einsamkeit, in den Stürmen einen
Hafen zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen
bekannt ist: ich beherrsche meine Sinne so, daß sie
nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen."
3 Damit ist auch die in der Renaissancekultur
erfolgte kardinale Weichenstellung in Bezug auf die
Geschichte der Sinnlichkeit benannt: Nicht wahrnehmen,
was man wahrnimmt, oder genauer gesagt, die Ausbildung
von Fokussierungs-, Selektions- und
Hierarchisierungstechniken, die dazu dienen, die Fülle,
Dichte und Komplexität der Umweltreize gezielt zu
reduzieren. Die Prominenteste dieser Techniken ist
zweifelsfrei die Zentralperspektive in der Malerei. Doch
auch die Ausbildung des modernen Landschaftserlebens, wie
es historisch erstmals in Petrarcas Beschreibung seiner
Besteigung des Mont Ventoux am 26.April 1336 belegt ist,
gehört dazu. Natur wird hier als Landschaft
repräsentiert, etwas vordem kaum vorstellbares. Aus den
auf das Individuum treffenden Umweltreizen wird also
nicht nur ausgewählt, sondern diese werden auch auf eine
bestimmte Weise arrangiert. In all dem artikuliert sich
das Bedürfnis nach einer die Umweltstrukturen
durchdringenden Klarheit, Deutlichkeit, Konturiertheit,
Ordnung und Regularität, mit dem der überwältigenden
Reizdichte und komplexität Paroli geboten werden
soll. Dies gipfelt in der planmäßigen Schaffung urbaner
Szenarien. Die menschliche Sinnlichkeit wird insgesamt
nach dem Muster der Visualität modelliert. Der
Distanzsinn wird zum Paradigma des Wahrnehmens und
sinnlichen Interagierens.
4 All dies sind kulturhistorische Prozesse,
denen man bislang bei der Bestimmung dessen, was in den
Geisteswissenschaften allgemein als Moderne"
gilt, zu wenig Beachtung schenkte. Als zentralen
Bezugspunkt für deren Definition gilt weithin die
Prädominanz der Rationalität, ganz gleich, ob diese nun
in Max Webers Tradition unmittelbar als
Bestimmungskriterium dient oder ob sie selbst andere dazu
herangezogene Kriterien nur konfiguriert, letzteres
beispielsweise in den sogenannten materialistischen
Geschichtsinterpretationen. Die Sensualität hingegen
fungierte kaum als Feld, dem eine eigenständige
Bedeutung zugebilligt wurde.
2. Architektur Moderne
5 Bestimmt man im Kontext der Moderne den
kulturhistorischen Platz der Architektur, so erscheint
diese als ein besonders gewichtiges Feld der Entfaltung
soeben genannter und beschriebener Reduktionstechniken.
Architektonische Projekte beziehen sich zunächst primär
auf jene Orte, an denen die Menschen mit einer besonders
hohen Dichte und Komplexität von Umweltreizen
konfrontiert sind. Sie beziehen sich auf Zeitmodi, in
denen die Menschen besonders dauerhaft und konzentriert
der Reizdichte und komplexität ausgesetzt sind. Es
geht also dabei immer um Orte und Zeiträume, an denen
sehr viele Menschen in einer oft höchst differenzierten
sozialen Zusammensetzung zusammenkommen, bzw. sich sehr
komplizierte und höchst komplexe kulturelle Handlungen
vollziehen. Es gilt ja zu beachten: Der Bereich des
alltäglichen Wohnens und Arbeitens der Mehrzahl der
Bevölkerung wird in der frühen Moderne von
architektonischen Projekten kaum berührt. Für die
mehrheitlich in ruralen und patriarchalen
Kulturzusammenhängen lebenden Menschen existierte eine
sie überfordernde Reizdichte und komplexität auch
nicht.
6 Die Architektur hingegen zielt in der
Moderne kulturgeschichtlich gesehen - direkt
darauf ab, die Dichte und Struktur der Dinge im Raum und
der Ereignisse in der Zeit auf ein sinnlich
beherrschbares Maß zu bringen. Das ist ihre
Kulturfunktion, die freilich nicht neben sondern
verbunden mit und integriert in ihre anderen Funktionen
existiert. Als kulturelle Funktion stellt sie darauf ab,
solche zentralen Werte der Moderne wie die independente
Individualität abzusichern und zu reproduzieren.
7 Wenn die Kulturfunktion der Architektur in
der Moderne nun darauf gerichtet ist, die Dichte und
Struktur erlebbarer Dinge und Ereignisse auf ein sinnlich
beherrschbares Maß zu bringen, dann stellt sich
natürlich eine gewichtige Frage: Für wen soll da etwas
sinnlich beherrschbar sein? Wer ist dieses Subjekt, auf
dessen Reproduktion die Architekturprogrammatik
ausgerichtet wird?
8 Diese Fragen verweisen uns darauf, daß die
Architektur stets mit Herrschaftsansprüchen und
Machtmechanismen verbunden ist. Zugleich machen sie uns
darauf aufmerksam, daß es immer ein Maß
kulturhistorisch zumutbarer sinnlicher Beanspruchungen
gibt. Wir haben zu jedem Zeitpunkt ein vorgefundenes
Niveau der Konditionierung menschlicher Sinnlichkeit.
Diese kann mithin nicht beliebig beansprucht und auch
nicht beliebig modelliert werden.
9 Herrschaftsansprüche und Machtmechanismen
sind etwa entscheidend dafür verantwortlich, daß und in
welchem Maße durch architektonische Entwürfe auch immer
Unüberschaubarkeit, Verwirrung und eine Überforderung
der Sinnlichkeit mit inszeniert wird. Typisch dafür sind
beispielsweise die feudalen Paläste und Gärten des 17.
und frühen 18.Jahrhunderts ebenso wie die bürgerliche
Architektur der Neostile in der 2.Hälfte des
19.Jahrhunderts.
10 Die Kulturgeschichte verweist uns freilich
auch darauf, daß eine radikale Reduktion der Reize, daß
Einfachheit und Überschaubarkeit zur Überforderung der
Sinne führen kann. Wie Schivelbusch analysierte, weckte
die Nacktheit der Konstruktion, wie sie in Form der
Glasarchitektur Mitte des 19.Jahrhunderts auftauchte,
zunächst erst einmal Ängste und wurde deshalb vorerst
zurückgenommen. Sie wirkte in einer Umwelt, in der
Umkleidung und Verschleierung zum unvermeidlichen
kulturellen Repertoire gehörten, schockierend auf die
Zeitgenossen.
11 Ohne das Thema der Umkleidung und
Verschleierung kann die Geschichte der modernen
Sinnlichkeit auch nicht geschrieben werden. Zum einen
wird, indem und insofern die Dichte und die Komplexität
der Umweltreize hier gezielt reduziert werden, stets auch
verschleiert und umkleidet. Zum anderen kann sich diese
Tendenz, nie radikal, nie vollends und durchgreifend
realisieren. Die Moderne konturiert sich auf allen ihren
Betätigungsfeldern als solche nur vor dem Hintergrund
der stets vorhandenen nichtmodernen Elemente.
12 In eben diesem Kontext muß auch die
sogenannte klassische Moderne", zu der auch
die moderne Architektur zu rechnen ist, situiert werden.
Sie setzt auf die radikale Reduktion der Reizdichte und
komplexität. Auf allen Feldern, auf denen die
klassische Moderne tätig wird, verkündet sie die
Rückkehr zu den elementaren Formen und, darauf
basierend, die Dekonstruktion unserer Wahrnehmungswelt.
Ob nun in der abstrakten Malerei oder in der konkreten
Poesie, im nichtaristotelischen Theater oder in der
atonalen Musik, überall ist dies das Übergreifende
ihrer Programme. Letztendlich trifft das auch auf die
moderne Architektur zu.
13 Anmerkung: Als begriffliche Differenzierung
schlage ich vor, zwischen moderner Architektur und
Architektur in der Moderne zu unterscheiden.
Letztgenannte umfaßt damit aus meiner Sicht nicht nur
die Architektur der Renaissance, des Barock, des
Klassizismus etc., sondern auch die sogenannte
postmodernistische Architektur".
14 Die moderne Architektur kalkuliert mit ihrer
radikalen Reduktion der sinnlich erlebbaren Umwelt auch
bewußt die Evokation von Schocks und
Verfremdungseffekten ein. Diese betrachtet sie als Formen
psycho-sozialer Therapie und als heuretische Mittel.
Bewußt möchte sie die überkommenen
Herrschaftsansprüche beseitigen, wobei letzteres nicht
unbedingt als politische Programmatik verstanden werden
darf. Bei den meisten Vertretern des Neuen Bauens
handelte es sich viel mehr primär um eine kulturelle
Programmatik, die erst sekundär - durch den
geschichtlichen Kontext - zur politischen und sozialen
wurde.
15 Die moderne Architektur vertrat eine
dezidiert modernistische Position, insofern sie darauf
abzielte, die Moderne bewußt voranzutreiben. Sie kann
deshalb zurecht den im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts
grassierenden ästhetischen Avantgarden zugerechnet
werden.
16 Ihr Effekt ging freilich viel weiter als der
bei den meisten zeitgenössischen Avantgardisten. Indem
die moderne Architektur die Reduktion der sinnlichen
Umwelt derart konsequent und radikal ausführte, wurde
eben diese quasi transzendiert. Sie verwies damit in den
avanciertesten ihrer Gestaltungen auf indirekte Weise
gerade auf die Dichte und Komplexität der Reize, die sie
scheinbar beseitigte. In diesem Sinne kann sie mit dem
Surrealismus verglichen werden. Auch die Surrealisten
zielen auf das Transzendente, das hinter den Gestalten
des Modernen spürbar wird.
17 All dies provoziert mich zu folgender These:
Ihre ganze Größe entfaltet die moderne Architektur
dort, wo sie eben diesen Effekt evoziert. Sicher, dies
geschieht zumeist jenseits der Programmatik ihrer
Projektanten, müssen doch die herausragenden Architekten
der Moderne dem Funktionalismus und Konstruktivismus
zugerechnet werden. Dennoch würde ich die eigentlichen
Gipfelleistungen der modernen Architektur dort sehen, wo
nicht nur beispielhafte funktionale Lösungen erzielt,
die modernen Materialien und Technologien musterhaft
ausgeschöpft und die soziale Programmatik kühn
umgesetzt wurde, sondern dort, wo auch die Grenzen der
kulturellen Moderne überschritten werden und der
Charakter der modernen Kultur als einer Art Schleier der
Maja spürbar wird, der über allem Nicht- oder
Noch-nicht-Beherrschbaren liegt.
18 Von diesem Standpunkt aus konturiert sich
auch meine Haltung zum Postmodernismus. Er kritisierte
nämlich im Grunde nur die moderne Architektur auf der
Ebene ihrer Selbstreflexion. Wo ihre Kritik zutraf, traf
sie nur die Epigonen der Moderne oder den matten Abglanz,
nie aber die wirklich großen Gestaltungen und Entwürfe
etwa von Taut, Gropius, Le Corbusier, Van der Rohe ...
19 Wesentliche Qualitäten, in denen Charles
Jencks die Überlegenheit der Postmoderne gegenüber der
Moderne sah, kamen letztendlich bereits der klassischen
Moderne zu. Speziell trifft dies etwa auf die sogenannte
Doppelcodierung, oder besser: Mehrfachcodierung, zu. Der
Postmodernismus, die praktizierte Postmoderne, stellte
damit im Grunde nichts anderes dar als eine Übertreibung
der Moderne, ein eher zynischer denn wie so oft
gesagt ironischer Kommentar. Er leistete nichts
neues, als daß er die moderne Architektur ebenso wie das
moderne Design der totalen Unterhaltung, dem
Neil-Postmanschen We amousing ourselfs to
death" subsumierte. Deshalb konnte aus ihr auch
nichts anderes werden als eine inzwischen
abgeebbte Modeströmung.
3. Extrem - Beispiel
20 Um das Dargelegte zu erläutern und zu
verdeutlichen eignen sich am besten Extrembeispiele. Im
Spiegel des Außergewöhnlichen offenbart sich das Wesen
des Alltags.
21 1926 ließ sich der Leipziger
Schauspieldirektor Wilhelm Berthold von Bruno Taut ein
Wohnhaus entwerfen. Das Grundstück, auf dem es errichtet
werden sollte, lag auf einer damals noch unbebauten
Fläche zwischen den Dörfern Gautzsch und Oetzsch.
Später gingen diese Orte in der Stadt Markkleeberg auf.
Heute steht das Haus inmitten einer Villengegend. Zum
Zeitpunkt seines Baus jedoch gab es ringsum eine nahezu
unberührte Landschaft. Aus dem heutigen Zustand läßt
sich deshalb kaum die Wirkung ableiten, die das Bauwerk
damals auf einen Betrachter ausübte. Taut konzipierte
dafür einen liegenden und einen aufrecht stehenden
Quader über Eck sowie in der Ecke einen Viertelzylinder,
mithin eine Komposition reiner geometrischer Körper.
22 Dem Bereich des Außergewöhnlichen muß
dieser Entwurf schon deshalb zugerechnet werden, weil es
sich dabei um etwas bei Taut unübliches handelt, die
Realisierung eines Solitärhausentwurfs. Von den für den
eigenen Bedarf gebauten Häusern in Berlin bzw. in der
Türkei abgesehen, konzentrierte sich sein Schaffen
bekanntermaßen bewußt auf die sozialen Aufgaben des
Siedlungsbaues. Wir haben mithin einen Entwurf vor uns,
der im Grunde jenseits der eigentlichen architektonischen
Programmatik Bruno Tauts angesiedelt ist. Doch
außergewöhnlich ist er auch in einem tiefergehenden
Sinn: Zur Zeit seiner Errichtung entbehrte der Bau
jeglichen Bezugs zum üblichen Umfeld der modernen
Architektur. Deren Eigenart entfaltet sich ja im Grunde
im Spannungsfeld zur Dichte und Komplexität des urbanen
sinnlichen Wahrnehmungs- und Aktionsraums. Hier aber
waren allenfalls rurale Bezüge präsent. Das Haus stand
weithin einsam in der Landschaft, lediglich von einigen
Bäumen und Sträuchern umgeben. Daß sich bei den
zeitgenössischen Betrachtern geradezu unvermeidlich
surreale Effekte eingestellt haben müssen, steht außer
Frage. Die Formulierungen in der behördlichen
Baugenehmigung lassen deutlich das Unbehagen erkennen,
das bereits der Entwurf hervorrief.
23 Die Ursache dessen liegt auf der Hand: Hier
dekonstruiert sich die Moderne. Die Rationalität des
architektonischen Entwurfes legt gerade durch ihre
Radikalität und Konsequenz eine Wirklichkeit jenseits
der Vernunftkonstrukte frei. Sie kehrt sich um in
Irrationalität.
24 Ein Gegenstück zu dieser Konstellation
findet sich innerhalb der gleichen Stadt, im Ortsteil
Raschwitz. Dort entstand in den 20er Jahren für
verschiedene Leipziger Industrielle eine städtische
Villensiedlung. In der Dölitzer Straße errichtete der
dezidierte Anti-Moderne Paul Schultze-Naumburg ebenfalls
1926 ein architektonisches Emsemble, das aus mehreren
aneinander gereihten Villen besteht. Das bedeutendste
Werk Schultze-Naumburgs, Schloß Cäcilienhof bei Potsdam
verdeutlicht, wo sich der Neoromantizismus seiner
Programmatik am besten entfalten kann, nämlich im
repräsentativen Solitärbau, der sich in eine komplexe
Landschaftsgestaltung einordnet. Mit modernen Mittel wird
hier der Schein einer längst zerfallenen Harmonie von
Natur und Kultur in Szene gesetzt.
25 Ein solches Programm entwertet sich
natürlich dort, wo wie in Markkleeberg-Raschwitz mehrere
derartige Baukörper in einem Straßenzug
aneinandergereiht werden. Für den einzelnen Bau entsteht
dadurch eine quasi-urbane Umwelt, zumal dann, wenn die
Häuser wie im vorliegenden Fall in nahezu ein und
demselben Abstand zur Straße stehen. Schultze-Naumburg
versuchte dem dadurch entstehenden Dilemma zu entgehen,
indem er die Villen in verschiedenen Neostilen
ausführte. Dennoch wirkt sein Emsemble ebenso surreal,
wie dies beim Tautschen, in einer ruralen Umgebung
errichteten Solitärhaus der Fall gewesen sein muß.
Schultze-Naumburgs Entwurf wird auf diese Weise, von
seiner Intention wie von seiner stilistischen Eigenart
abgesehen sozusagen wider Willen zu einem
Zeugnis modernen Bauens.
4. Resümee
26 Wirkungen und Qualitätsmaßstäbe moderner
Architektur lassen sich vom Standpunkt des herkömmlichen
Moderne-Begriffs nur unzureichend erklären. Dessen
stärkere Fundierung in sensualitätstheoretischer
Hinsicht ermöglicht jedoch differenziertere Einsichten.
Mehr noch: Will man den Fragen, die im Diskurs von
moderner und postmoderner Architektur auftauchten,
offensiv begegnen, bedarf es einer so gearteten
Vertiefung des Nachdenkens über die Moderne. Mithin kann
die kulturhistorische Betrachtung der modernen
Architektur wesentliche Beiträge zur Selbstaufklärung
der Moderne leisten.
Literatur:
Gottfried Boehm: Studien zur
Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Frühen
Neuzeit, Heidelberg 1969
Francesco Petrarca: Dichtung und
Prosa. Hrsg.: Horst Heintze, Berlin 1968
Joachim Ritter: Landschaft. Zur
Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft,
Münster 1963
Wolfgang Schivelbusch: Geschichte
der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und
Zeit, München, Wien 1977
Murray Shafer: Klang und Krach.
Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt 1988
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