Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Joachim Ganzert

 

PRÄMISSEN FÜR EINE AUSEINANDERSETZUNG
MIT
„ENTWURF/ENTWERFEN"

Zehn Thesen

 1.

Wer sich mit dem auseinandersetzt, was man unter „Entwurf/Entwerfen" versteht, muß diese Auseinandersetzung wohl gleichermaßen auf zwei Ebenen führen: sowohl auf der Ebene des Gesamtumfangs dieses Begriffes, als auch auf der Ebene der Begriffsbedeutung im Hinblick auf das spezielle Ergebnis. Ähnlich wie der Begriff „Gestaltung" nicht nur auf formal-gestal-terische Aspekte reduziert verstanden werden kann, so umfasst auch der Begriff „Entwurf/Ent-werfen" eine Dimension und Komplexität, die z.B. auch die menschliche Fähigkeit des Entwerfens ganz allgemein, die Bewältigung alltäglicher Probleme, das Wahrnehmen, das Urteilen, das Konzipieren beinhaltet; also die „Lebensgestaltung", den „Lebensentwurf" im weitesten Sinne des Wortes. Damit befindet sich der Entwerfende nicht allein in einem beziehungslos-leeren „Raum", sondern ist automatisch eingebunden in einen allgemeinen und kollektiven „Lebensentwurfsprozeß", der die jeweiligen Rahmenbedingungen auch für die Definition von Entwurf und Architektur setzt. Sie müssen zunächst einmal „wahrgenommen" werden.

Diese Komplexitätsdimension deckt sich mit der immer wieder gleich oder ähnlich - auch jüngst - geforderten Breite des Begriffes Architektur: dem hier angesprochenen speziellen Ergebnis von „Entwurf/Entwerfen".

Trotz allem gehen die Urteile über das, was solche geforderte Breite, solche Komplexitätsdimension tatsächlich heute bedeutet und umfasst, was man unter „Entwurf/Entwerfen" versteht, z.T. weit auseinander.

 2.

Nicht nur wenn Urteile konträr auseinandergehen, sondern ganz allgemein läßt sich ein ausgewogenes Urteil nicht durch Hören auf nur einen „Zeugen" gewinnen; nur ein Abwägen vor dem Hintergrund eines adäquat dimensionierten Wissens- und Vergleichskontextes kann ein ausgeglichenes Urteil erbringen; und dies in besonderer Weise in einer modernen Welt - definiert sich Moderne doch durch ihren grundsätzlich-fundamentalen Denk- und Gestalt-Ansatz.

Was den Wissens- und Vergleichskontext anbelangt, so steht uns ein solcher eben auch heute in unvergleichlicher Größe zur Verfügung. Nicht nur Forschungserkenntnisse und -publikatio-nen sind für uns weltweit abrufbar, sondern auch die Möglichkeit des Reisens in praktisch alle Winkel dieser Erde gibt uns ein Wissens- und Vergleichspotential an die Hand, das sich nicht klein reden läßt und auch nicht lassen sollte, stellt es doch auch einen unvergleichlichen Gewinn dar. Sowohl die damit in unseren Wahrnehmungshorizont tretende Quantität und Qualität an Gebautem, als aber auch die auf uns gekommene und uns umgebende, bestehende Architektur in unserem direkten Umfeld stellen ein unumgängliches Erbe dar, das sich nicht ungeerbt negieren läßt, ja das ganz direkt bzw. indirekt und unaufhaltsam auf uns wirkt. Begriffe wie z.B. „Weltkulturerbe" machen die Dimension deutlich, die sich damit eröffnet.

Der Vergleich schafft Begriffe und Vergleich heißt immer auch: historischer Vergleich. Dieser so große Wissens-, Vergleichs- und Erbkontext stellt also die unumgängliche Grundlage für abwägendes Urteilen, er stellt aber auch die dazu auffordernde Autorität und Verantwortungsinstanz dar !

 3.

So sehr dieser angesprochene Kontext unseren Wahrnehmungshorizont verpflichtend erweitert, so sehr gibt es aber, gerade in unserem Jahrhundert, genügend Mechanismen, die diesen Horizont zu begrenzen, zu negieren bzw. z.T. auch aggressiv auszublenden versuchen. Und so sehr dies z.T. ganz menschlich-natürlich ist, so sehr ist es aber auch oft genug nur polemisch und ideologisiert und schließlich kontraproduktiv.

Erinnert sei nur - in der hier gebotenen Kürze - an die „Kämpfe" und „kriegerischen Auseinandersetzungen" in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in Deutschland zwischen solchen Architektengruppen wie der des „Ring" auf der einen Seite und der des „Block" auf der anderen Seite. Diese Kämpfe wurden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges brutal und „parteiisch" entschieden.

Daraufhin war dann die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg durch eine zwar verständliche, aber doch wiederum einseitige Kontraposition bestimmt. Vor allem in Deutschland bezog man sich viel eher und tendenziös auf die nun richtiger angesehene Seite einer Bauhaus-Moderne, als daß man sich mit der ganzen Vielfalt der Diskussionsansätze aus dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts kritisch hätte auseinandersetzen bzw. sie weiterführen können und wollen.

Der Hinweis auf den in der zweiten Jahrhunderthälfte dann häufig gebrauchten Begriff einer sog. „klassischen Moderne" mag hier dazu dienen, um zu verdeutlichen, wie vorschnell und befangen der Wahrnehmungshorizont eingeengt wurde auf eine angeblich abgeschlossene und bereits erreichte „Klassik". Sie kann es schon aus Gründen der nicht genügend zur Verfügung stehenden Entwicklungszeit, der unzureichenden historischen Beurteilungsdistanz und der auch am Bauhaus kontrovers geführten und dann jäh unterbrochenen Moderne-Diskus-sion nicht gegeben haben. Nicht nur war die so wichtige Debatte um die Verbindung von Kunst und Handwerk bzw. von Kunst und Industrie in keiner Weise abgeschlossen, sondern auch die Ausbildung von Architekten am Bauhaus noch nicht einmal richtig begonnen gewesen. Dabei handelt es sich aber gerade bei dieser Thematik um eine nach wie vor bestehende Problematik, die allzu diskussionslos und einseitig zugunsten von Funktion, Konstruktion, Technik und Industrie entschieden worden zu sein scheint - eine Ironie der Entwicklung, wenn man die eben durch die Technik- und Industriewalze des Krieges geschaffenen Fakten bedenkt. Schlagworte wie „Funktions-", „Konstruktions-" oder „Technikfetischismus" im Hinblick auf die Architektur der 60-er bis 90-er Jahre weisen heute auf die ungelösten Fragen hin, die in dem größeren Rahmen einer allgemeinen Rationalismuskritik in unserem Jahrhundert gesehen werden müssen und natürlich auch hier nicht allein architektonische oder formale Probleme betreffen. Wer den Begriff „Ökologie" nicht nur „materialistisch" auf Holz und Lehm reduziert, sondern ihn im Sinne von „Haushaltung" umfassender versteht, kann auch in der Ökologie-Bewegung diese Probleme angesprochen hören und verstehen.

Anstatt die begonnene Debatte fortzusetzen und uns die Zeit zu nehmen, die angedachten wichtigen und richtigen Probleme souverän zu diskutieren, werden wir, fasziniert von unseren technischen Beschleunigungs- und Innovationsmechanismen, von einem angeblich neuen Stil zum nächsten gezogen. Ein kunsthistorisch geprägtes Denken in Stilkategorien und die Forderung nach üppig-medialer Präsentation und Vermarktung in großen Ausstellungen und glänzenden Zeitschriften unterstützen diesen Sog zusätzlich. Gegenbewegungen bzw. -über-legungen zu Funktionalismus- und Moderne-Einseitigkeiten verschwanden sehr schnell in der kategorisierenden Schublade eines angeblichen Postmoderne-Stils. Dabei müsste über viele Argumente dieses „Stils" in einem größeren Kontext vielleicht erst einmal überhaupt nachgedacht und sie in Bezug auf ihr oft genug auch sehr amerikanisches Umfeld reflektiert werden. Doch schon präsentierten „die Medien" wiederum einen neuen „Stil", den Dekonstruktivismus, bei dem es ebenfalls viele grundsätzliche, strukturalistische Ansätze aus den 60-er Jahren gäbe, die ganz sicher einen fruchtbaren Beitrag zu einer umfassenderen Diskussion zu leisten imstande wären, die aber allzu oft in zu gering-kontextualem, journalistischem Rhetorikeifer zugrundezugehen in Gefahr sind.

Durch diese - hier sehr gerafft geschilderte - Situation ergaben sich Konsequenzen, die den angesprochenen Wissens-, Vergleichs- und Diskussionskontext z.T. zusätzlich einengten. Der mit dem einseitigen Bezug auf die Bauhaus-Moderne vor allem in der Nachkriegszeit genährte Mythos einer voraussetzungslosen, genial-kreativen und a-historischen Moderne verstellte fast jeglichen Zugang zu den historischen Dimensionen des gesamten Moderneprozesses. Ein unbefangener Umgang mit historischem Erbe war damit nicht nur erschwert, sondern z.T. unmöglich gemacht (auch dies betraf natürlich nicht nur architektonische Problemfelder, wir sehen es an der gesamten Thematik „Vergangenheitsbewältigung"). Zeugnis dafür kann z.B. auch das allzuoft stark gestörte Verhältnis von sog. freischaffendem Architekten und Denkmalpfleger ablegen.

Aus all dem ergeben sich z.T. große Mängel in dem zu fordernden Kontextumfang, in der Kommunikation und in der davon abhängigen Wahrnehmung.

4.

Etymologisch leitet sich das Wort Ästhetik von „aisthesis" ab und dies bedeutet „Wahrneh-mung".

Eingeschränkte und begrenzte Wahrnehmung hat eingeschränkte Ästhetik zur Folge. Wir können uns gerne über entwerferische Vielfalt, Kreativität und Unterschiedlichkeit Gedanken machen oder sie umzusetzen versuchen, die geschilderten Wahrnehmungs- und Kommunikationsblockaden sind damit alleine nicht zu lösen, das tiefere Unbehagen an einer unausgewogenen Entwurfs- und Architektursituation damit nicht zu beseitigen, ein ausgeglichenes Urteil nur auf diesem Wege nicht zu gewinnen.

Unser Wahrnehmungshorizont muß - wohl oder übel - zunächst einmal auf die unserem Wissens-, Vergleichs- und Erbkontext adäquate Größe erweitert werden, damit wir angemessene und damit befriedigende Urteile fällen können; erst dann werden wir den laufenden Prozeß als einen gerechten und angemessenen akzeptieren.

 5.

Daraus folgend auch einige Gedanken und Fragen zu dem Text aus dem „call for papers" für dieses Heft:

- Sind Architekten erst seit der Globalisierung der Ökonomie in unserer Zeit unabhängig von einem bestimmten Wirkungsraum geworden oder waren sie dies, mehr oder weniger, nicht eigentlich schon immer? Sie bzw. die Bauhütten und Handwerker sind doch immer schon gereist, gewandert, wurden ausgesandt, um ihr Blickfeld zu erweitern, oder haben auf der Suche nach Arbeit an ganz verschiedenen Orten gewirkt. Ist denn z.B. antik-hellenistische (oikouméne) und -römische, oder mittelalterlich-gotische oder neuzeitlich-klassizistische Architektursprache nicht ein „International Style" gewesen? Auf welchen Grundsätzen beruhte die „globale" Akzeptanz solcher Architektursprachen und Konzepte? Deutet dies nicht auf eine Ebene von architektonischen Konstanten hin, auf der aufbauend die jeweiligen Variablen ihre Akzeptanz fanden?

- Darf es uns überraschen, daß sich mit dem Wegfall der Systemunterschiede zwischen Ost und West die Architekturverständnisse noch nicht angenähert haben? Reichen die wenigen Jahre seit diesem Wegfall wirklich aus, um solche Erwartungen schon erheben zu können, wenn man bedenkt, welch „gnadenlose" Kontinuitäten (Konstanten s.o.) - positiv wie negativ - Traditionen, Bräuche, überlieferte Anschauungen, Gewohnheiten, „Infrastrukturen", baurechtliche und bauwirtschaftliche Organisationsstrukturen etc. normalerweise haben und haben müssen? Greifen und begreifen wir hier nicht zu kurz, wenn wir solches schon erwarten wollten und muß unser Wissens- und Vergleichskontext nicht solche Dimensionen der Kontinuitäten und Konstanten viel mehr berücksichtigen? Betrachten wir u.U. zu einseitig nur die Ebene der Variablen?

- Jedes neue Instrumentarium, jede neue Methodik scheint die vollständige Ablösung einer bislang gewohnten oder vielleicht auch bewährten zu versprechen, die Begeisterung für solches Neue ist zumeist leicht überdimensioniert groß und daraus folgend die Erwartung, mit diesem neuen Instrument sei nun alles zu lösen. Zeigt die Erfahrung nicht eigentlich viel mehr, daß sich mit einem neuen Instrumentarium die Instrumenten-Pallette zwar erweitert, die alte nicht aber völlig abgelöst wird? Ist dies nicht auch der Fall mit dem CAD? Haben wir - trotz der großen Vorteile und Erleichterungen - nicht schon längst auch die Grenzen und Einschränkungen dieses Instruments erfahren? Ist also tatsächlich dadurch das Ende des Entwerfens in Sicht oder gar zu erwarten?

- Wird die Auseinandersetzung mit dem, was man unter „Entwerfen" versteht, erst seit der Renaissance geführt? Bezieht sich die Renaissance nicht ausdrücklich auf entsprechende Auseinandersetzungen in der Antike und wird diese antike bzw. neuzeitlich „wiedergeborene" Auseinandersetzung nicht durch die ganze Neuzeit hindurch bis in die Moderne hinein fortgesetzt? Müssen wir diese Auseinandersetzung nicht als Grundlage - im Sinne des grundsätzlich-fundamentalen Denk- und Gestalt-Ansatzes der Moderne - in unsere heutige Auseinandersetzung miteinbeziehen?

 6.

Ein Großteil der abendländischen Architekturgeschichte ist von der Rezeption von Vitruvs Werk gekennzeichnet - in affirmativem Glauben an es oder in kritischer Kontraposition zu ihm und zu Recht oder zu Unrecht, sei zunächst dahingestellt. Die Auseinandersetzung zwischen Vitruvianismus und Gothic-Revival beherrscht direkt/indirekt selbst noch die Diskussionen, die der „Klassizist" Mies van der Rohe und der „Gotiker" Hugo Häring, Wand an Wand im gleichen Bürogebäude in Berlin arbeitend, in den 20-er Jahren u.Jhs. führen. Es ist also zu bedenken, ob wir diesen sehr weitgehenden Bereich der architekturtheoretischen Diskussion außer acht lassen können, wenn wir über einen angemessenen Wahrnehmungshorizont sprechen. Deshalb seien dazu - wiederum in der hier gebotenen Kürze und Gerafftheit - verschiedene, z.T. parallel laufende Denk- und Entwicklungsstränge angesprochen:

- Auf Vitruvs Werk bezog man sich in unterschiedlichster Weise durch alle Jahrhunderte hindurch u.a. auch, weil es einfach durch sein einzigartiges Überleben mit einer Aura versehen war, die es automatisch in den Rang eines Kronzeugen für architekturtheoretische Beschäftigung schlechthin hat aufsteigen lassen. Auch heute bezieht man sich auf sein Werk, indem man die stets gleich wiederholte, scheinbar architekturdefinierende Triade „firmitas - utilitas - venustas", zustimmend oder ablehnend, zitiert.

Der Wert der Aussagen und Gedanken in Vitruvs Werk läßt sich heute wohl relativ besser einschätzen und überprüfen, schon allein durch die große Anzahl neu ausgegrabener und erforschter, antiker Bauten; aber auch durch Vergleich mit Renaissance-Traktaten, die sich auf Vitruv beziehen bzw. mit ihm auseinandersetzen. Auch wenn wir damit ganz sicher nicht „alles" wissen, auch wenn unser Blick auf sein Werk durch mannigfaltige Lenkung und Beeinflussung unserer Wahrnehmung, durch festgefahrene Denkmuster allzu gerichtet sein mag, ist unser Wissenskontext, auch im Hinblick auf das historische Umfeld dieses Werkes, doch größer geworden; dies trifft auch auf ähnliche Werke folgender Jahrhunderte zu. Die architekturhistorische und -theoretische Forschung ist nicht stehengeblieben.

- Vitruv spricht in seinem Werk viele Aspekte an, die Architektur und Entwurf betreffen, er tut dies jedoch in z.T. prosaischer und durchaus nicht immer genügend systematischer Weise. Das stellt nicht nur in der Renaissance Leon Battista Alberti in seinem Werk fest, das hat u.a. auch die Arbeit von Alste Horn-Oncken aus den 60-er Jahren u.Jhs. deutlich machen können. Sie versucht - neben den stets zitierten, jedoch sowohl Architektur als auch Vitruvs Bezugshorizont nicht hinreichend charakterisierenden Begriffen „firmitas - utilitas - venustas" - einen zentraleren, architekturtheoretischen Begriff aus seinem Werk herauszudestillieren: den Begriff „decor - decet" (das Geziemende; es ziemt sich, es schickt sich). Sie sieht ihn gleichgesetzt mit dem griechischen Begriff „prépon" (das Angemessene, das Geziemende, die Lehre vom Ethos), vergleicht ihn mit Goethes Gedanken über das „Schickliche" in der Baukunst, das nicht „das Übliche" meint, bzw. mit Goethes Begriffen „Charakter" und „Ebenmaß" und verweist auf seine Betonung des „Poetischen", auf die Betonung der „Fiktion". Goethe versteht Begriffe wie „Charakter" bzw. „Ebenmaß" ausdrücklich nicht auf „Zahlenverhältnisse" reduziert und wendet sich damit gegen die herrschende rationalistische und klassizistische Auffassung.

- Die Architektur- und Baugeschichtsforschung u.Jhs. betrachtet antike Architektur unter einem Blickwinkel, der in starker Abhängigkeit von klassisch-archäologischen, d.h. philhellenistischen und klassizistisch-rationalistischen Perspektiven steht. In modern-rationalistischer Fortsetzung dieser Perspektiven sieht sie in antiker Architektur vor allem die mathematisch-numeri-schen Aspekte und dies prägt unseren Begriff „Entwurf" in antiker Architektur. Zu diesem, von der Herausarbeitung zahlen-proportionaler Befundrealitäten dominierten Begriff gelangt man nur durch Ausgrenzung all der innerhalb dieses modern-rationalistischen Systems heterogen erscheinenden Elemente. In der Gleichsetzung des griechisch-antiken Begriffes von ‘Rationa-lismus’ mit dem neuzeitlich-aufklärerischen Begriff von Rationalismus werden andere, das antike und das neuzeitliche Denken jedoch wesentlich bestimmende Elemente ausgegrenzt. Der Bezug auf die Persönlichkeit Pythagoras, auf seine Lehre, ihre enorme Wirkungsgeschichte auch in Vitruvs Werk (Neu-Pythagoreismus) und ihre heutige Deutung im Sinne einer angeblich rationalistischen und zahlenspekulativen Lehre ist hier von eminenter Wichtigkeit. Dies wird in der vor allem französischen, italienischen und angelsächsischen, strukturalistischen Forschung seit den 50/60-er Jahren u.Jhs. mit guten Gründen kritisiert.

- Die Persönlichkeit Pythagoras führt uns nach Kleinasien, das bei der kulturellen Definierung des Begriffes und Gebietes Europa im 6./5. Jh.v.Chr. eine entscheidende Rolle gespielt hat. Die Ostgrenze Europas wird entlang der kleinasiatischen Küste gezogen, sie bestimmt bis heute unseren Europa-Begriff. Diese Grenze ist das Produkt des Selbstdefinierungs - und -identi-fizierungsprozesses der griechischen Kultur durch Kontraposition zu und Abgrenzung von einer anderen, der kleinasiatisch-orientalischen nämlich. Diese Kulturgrenze schließt nun zwar das Gebiet Kleinasien und damit das Herkunftsgebiet des Pythagoras aus, kann aber nicht über die grenzüberschreitende enorme Wirkung und Wirklichkeit der Lehre des Pythagoras hinwegsehen. Als Reaktion darauf stellt sich nur die Möglichkeit ihrer Vereinnahmung unter den nun eigenen kulturellen Prämissen und dies heißt: unter antik-‘rationalistischen’ Gesichtspunkten. Dies ist der Beginn der mehr oder weniger unausgesprochenen Aufteilung in „die Lehre des Pythagoras" auf der einen Seite und in eine „griechisch-‘rationalistische’ Interpretation dieser Lehre" auf der anderen Seite; dies ist der Beginn der Antithesen Weisheit-Wissenschaft, Barbaren-Griechen, Orient-Okzident. Die ursprünglich kosmische Zahlensymbolik und Zahlenweisheit, das symbolische Ordnen der Vielfalt der Erscheinungen, die religiös-ethische Sinndeutung in der pythagoreischen Philosophie bzw. Naturphilosophie wird in der antik-‘rationa-listischen’ und dann vor allem auch in der spätantiken, neuplatonisch-neupythagoreischen Schultradition zu Mathematik und Wissenschaft ver-‘rationalisiert’.

Die antike Auseinandersetzung mit der Lehre des Pythagoras unter griechisch-’rationalisti-schen’ Aspekten (also die griechische „Interpretation dieser Lehre") liefert heute die Rechtfertigung für eine Betrachtung griechischer Architektur unter neuzeitlich- bzw. modern-rationalistischen Gesichtspunkten, eine damit eigentlich notwendige Differenzierung zwischen „antik-‘rationalistisch’" und „neuzeitlich-/modern-rationalistisch" wurde und wird nicht vorgenommen. Ebenso ist die eigentliche „Lehre des Pythagoras" und ihre Wirkung auch auf die griechische Kultur damit ja nicht einbezogen bzw. diskutiert.

Neuzeitlicher Graeko- und Eurozentrismus hatte zur Folge, nur diese eine Spur der „griechisch-’rationalistischen’ Interpretation dieser Lehre" gelten lassen zu können und unter solchen Aspekten auch antike Architektur zu betrachten. Daß Pythagoras und seine Lehre einem ganz anderen, nämlich viel eher orientalischen Kultur- und Denkkreis angehörte und solch „wissen-schaftliche" Rationalität nicht nur nicht teilte, sondern ihr die Perspektive der „Weisheit" entgegenzusetzen hatte, wurde dabei unterdrückt, fand dann in Platos Lehre jedoch einen seiner ganz wesentlichen Vermittlungsversuche.

7.

Diesem solchermaßen beeinflussten und letztlich reduzierten Begriff von Architektur und Entwurf entgegengesetzt hat sich der Begriff „Architektur" und „Entwurf" der Moderne, indem darin nun besonders künstlerische Freiheit und Kreativität betont wurden. Unter anderem auch daraus folgend formierte er sich gegen historische Bezugnahme und legitimierte sich durch sein ahistorisches Potential. Vergangenheit, Klassizismus, Historismus, 19.-Jahrhundert wurden zu Quasi-Schimpfwörtern und Ausgrenzungskategorien.

Solche Sicht erfuhr und erfährt ihre angeblich historische Berechtigung und ideologisch-ein-seitige Aufheizung durch die politischen Ereignisse in unserem Jahrhundert und wird in der Kontraposition zunehmend und kritiklos abhängig; abhängig eben durch die kontrafiliatorische Stellung zu Bisherigem. Dadurch werden die Diskurs- bzw. Monolog-Ebenen zwischen den Architektur-"Parteien" politisch und ideologisch okkupierte, Sprach-, Kommunikations- und Wahrnehmungsschwierigkeiten zur Normalität und die Architekturkriterien werden auf formale, materiale, funktionale und konstruktive reduziert. Architektur definiert sich innerhalb dieses ideologisch-engen Rahmens und innerhalb dessen wird ihre Funktionsfähigkeit gemessen. Beispiel: Bauen für die Demokratie hat gläsern-transparent zu sein. Daß solche Maßstäbe eine Ebene der Banalität erreichen, die dem eigentlichen Gesamtdefinitionsumfang von Architektur nicht gerecht werden, drückt sich in dem Dilemma und der Orientierungslosigkeit heutiger Architektur aus.

 8.

Der Stellenwert von Geschichte bzw. Architektur-/Baugeschichte ist am Ende des 20.Jhs. also durchaus kein selbstverständlicher. Da ist nicht nur die Infragestellung der historischen Disziplinen in den 1960-er und -70-er Jahren, sondern da ist auch der unerwartete Gang der Ereignisse, den die Jahreszahl 1989 stichwortartig markiert, in dessen Folge zwar die Geschichtswissenschaft auf immer breitere Resonanz stieß, doch stellt sich die Frage: „Wie und wozu noch Historie?" wohl eben deshalb umso dringlicher.

Kaum jemand geht heute noch von einem Begriff von Geschichte aus, dem eine Philosophie des Fortschritts zugrundeliegt; also Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, Geschichte als Fortschritt zu heutiger Spitzenposition, im Sinne stetiger Quantitätssteigerung des Know-how-Vermögens, bzw. im Sinne von: „die Geschichte vom Faustkeil zum Roboter". Wir kennen die übliche Frage: „Konnten die denn das damals schon?" Solche Sicht sieht sich natürlich jenseits der fortschrittlich überholten Vergangenheit.

Doch dieses Argument der Geschichte hat seine Überzeugungskraft verloren.

Solcher Verlust und die tiefgreifenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte - unterstrichen durch das Jahr 1989 - werden ganz natürlicherweise begleitet von wachsenden Verunsicherungen und einem ihnen entsprechend verstärkten Orientierungsbedürfnis. Damit richten sich an Geschichte bzw. Architektur-/Baugeschichte gesteigerte Ansprüche und Erwartungen. Sich mit ihnen nicht auseinanderzusetzen, dürfte Türen und Tore öffnen für zu kurzsichtige und ideologisch-mißbrauchte Erklärungsmodelle, von denen gerade unser Jahrhundert genügend katastrophale und kulturlose anzubieten hatte. Andererseits wäre es aber auch die vertane Chance, diesen faszinierenden und grundsätzlichen Herausforderungen unserer Gegenwart auszuweichen. Es würde bedeuten, den innersten Legitimationskern der Beschäftigung mit Geschichte zu ignorieren, der sich in der Gleichung kundtut: die Zukunft ist eine Funktion der Vergangenheit.

Was läßt sich bieten, wenn die bisherige Sicht der Geschichte ihre Überzeugungskraft verloren hat?

Zur Beantwortung dieser Frage gibt es jüngste Denkansätze, z.B. zur Thematik: „Kulturelles Gedächtnis" oder „strukturalistische" bzw. sog. „dekonstruktivistische" Ansätze, die hier miteinbezogen werden müssen, wenn wir den Anspruch erheben wollen, zeitgemäße Geschichte bzw. Architektur-/Baugeschichte betreiben zu wollen. „Zeitgemäß" kann hier nur im Sinne des Denk- und Gestaltansatzes der Moderne verstanden werden, der, wie gesagt, ein grundsätzlich-fundamentaler ist.

- Mit dem Verlust des bisherigen Argumentes von Geschichte ist die Bedeutung der Methodik der Geschichtswissenschaft nicht nur nicht verloren, sondern das kritische Potential hat sich laufend verstärkt und verfeinert. Ausschweifende Deutungsversuche und Erklärungsmodelle, die auf vordergründige Plausibilität setzen und auf historische Beweisführung und Faktendokumentation verzichten, haben heute, zumindest, einen schweren Stand. Dazu hat u.a. auch die historische Bauforschung durch ihren Grundsatz des strikten Bezuges auf die Befundrealitäten mitbeitragen können. Die methodisch kontrollierte und abgesicherte Zensorfunktion bleibt also nach wie vor gültig und erhielt seit den 60-er Jahren einen entscheidenden Differenzierungsimpuls durch die französischen Strukturalisten, z.B. Michel Foucault und seine an der Geschichte des Wahnsinns und der Psychiatrie exemplifizierte Kritik an der Rationalität des okzidentalen Wissenschaftsverständnisses.

- Über das kritische Potential hinaus hat die Historie eine enorme Bedeutung bei der Ausformung eines sog. „kulturellen Gedächtnisses", bei der Entwicklung einer kulturellen Tradition. Man versteht darunter die Vermittlung von Kenntnissen und Einsichten, von Vorstellungen und Werthaltungen, und, nicht zuletzt, als Träger all dessen, die Vermittlung von Sprache, von Bild, von Gebautem und am Ende von Schrift. Der Mensch ist von Natur ein Kulturwesen und mit einem Erinnerungsvermögen ausgestattet, dessen Sinn, Zweck und Bestreben primär nicht Selbstvergessenheit, sondern Selbstbewußtsein ist. Den Menschen besser zu verstehen, ist das Ziel aller Humanwissenschaft bzw. einer zur historischen Kulturwissenschaft geweiteten Geschichtswissenschaft.

- Der Unterschied zum bisherigen Argument der Geschichte ist die Abkehr von einer Fortschrittsidee und die Hinwendung des Blickes auf den dynamischen Prozeß der Selbstdefinition und Selbstidentifizierung des Menschen. Er, der Mensch, untersteht dabei vielfältigen, im Code der jeweiligen kulturellen Tradition festgeschriebenen Bestimmungsgründen, andererseits verändert er laufend jenen Code durch entsprechende Impulse und öffnet die Vergangenheit zur Zukunft. Die Hinwendung des Blickes auf diesen dynamischen Prozeß läßt die jeweiligen Höhepunkte in den verschiedenen Kulturen und Epochen mit prinzipiell gleichberechtigtem Gültigkeits- und Wichtigkeitsanspruch erkennen und muß nicht einen bestimmten Kulturkreis bzw. eine bestimmte Epoche hervorheben oder idealisieren, wie wir dies z.B. von Gotikverehrern einerseits oder Klassikverehrern andererseits kennen. Hier haben die letzten Jahre eine deutliche Wende hervorgebracht.

Daß dieser Wandlungsprozeß ganz unmittelbare Konsequenzen für ein zu wandelndes Verständnis von Architektur und Architekturgeschichte zur Folge hat, mag heute z.T. vielleicht noch verwundern, aber zur Eigenschaft einer Umbruchsituation, wie wir sie erleben, gehört auch, daß bereits heute schon bestimmte Denk- und Verhaltensweisen anachronistisch dastehen, obgleich viele sie noch bewundern. Für Architekturgeschichte bedeutet all dies eine Öffnung von einer rationalistisch-verengten und fortschrittsorientierten Geschichtssicht hin zu einer kulturgeschichtlich-interdisziplnären; für Architektur bedeutet dies eine Öffnung von einer künstlerisch-genial-verengten und z.T. willkürlichen Praxis zu einer originär architekturspezifisch enzyklopädischen, methodisch-überprüf- und nachvollziehbaren, angemessenen Kooperation. Welch enorme Konsequenzen substanzieller Art dies auch für einen Begriff von Entwurf hat, bleibt zu diskutieren bzw. umzusetzen.

 9.

Vor all diesem Hintergrund kann der Begriff „Globalisierung" gar nicht anders verstanden werden als über eine eindimensionale, nur ökonomie-gesteuerte Begriffsebene hinaus auf den angesprochenen „Erweiterungs- und Wandlungsprozeß" hin, der ganz natürlicherweise auf mehrdimensional-komplexer Ebene stattfindet; ihr muß eine sehr differenzierte, unsere Denk-, Begriffs- und Kriterienstrukturen betreffende Auseinandersetzung entsprechen. Mehrdimensional kann dabei nur heißen, die Dimension der Zeit, d.h. der Geschichte ganz selbstverständlich und gelassen einzubeziehen, ideologisch-politische Wahrnehmungsgrenzen zu Kultur-Räumen hin zu öffnen, die zu unserer Geschichte und zu unserem Erbe gehören. Ein solch weniger inter-nationaler, als viel mehr inter-kultureller „Raum"-Begriff muß unserem Verständnis von „Entwurf" und „Architektur" zugrundeliegen, wenn wir unserer Zeit entsprechen wollen.

Wer sich in einem solchen Erweiterungs- und Wandlungs-Prozeß befindet, kann nicht auf fertige Regeln zurückgreifen, denn er befindet sich ja im Prozeß der Erarbeitung. Insofern können wir unter „Entwurf/Entwerfen" ganz sicher nicht Regel-Applikation verstehen. Wir würden uns von Vitruv einen zu prosaischen Rat geben lassen, wenn wir uns an die „pein-lichst genaue Einhaltung" von Regeln (praescriptiones terminatae) halten oder Architektur mit der Begriffstriade „firmitas - utilitas - venustas" erschöpfend definieren wollten. Doch auch zu seiner Zeit war dies nicht angebracht und wir sollten es aus seinem Werk nicht einseitig herauslesen wollen, denn dazu ist es einfach zu wenig wirklich systematisch durchdacht. Deshalb auch kann es nicht genügen, antike bzw. spätere, z.B. Renaissance-Architektur und -theorie, nur unter zahlenproportionalen Gesichtspunkten betrachten zu wollen. Dies wäre als eine neuzeitlich-rationalistisch verengte Perspektive zu bezeichnen.

 10.

Jedoch: „Entwurf/Entwerfen" ist nicht ein Spiel ohne Regeln. Sie müssen vor einem angemessen dimensionierten Hintergrund erarbeitet und begründet werden, wobei Begründen das Gründen auf Konstanten in der Architekturtheorie und -praxis beinhalten muß, auf denen sich die entsprechenden Variablen umsetzen lassen. Dazu bedarf es eines angemessenen Wahrnehmungs- und Urteilsvermögens, das im Zentrum entwerferischer Überlegungen stehen muß.

Damit ließe sich die Diskussion auf eine umfassendere Perspektive erweitern, der es um „Angemessenheit" im weitesten Umfang des Wortes geht. Der Begriff der „Angemessenheit" stellt eine Konstante in der historischen Architekturdebatte dar: vom „Geziemenden, Schicklichen" (decor) bei Vitruv, über Albertis Begriff des „Ebenmaßes" (concinnitas), zu Schinkels Begriff der „Zweckmäßigkeit", die er fast genauso definiert wie Alberti das „Ebenmaß", bis zum Begriff des „Charakters" bzw. des „Ebenmaßes" bei Goethe und dem des „Schicklichen" bei Horn-Oncken. Daß sich „Angemessenheit" zunächst so wenig durch Zahlen wie durch Regeln rationalistisch-wissenschaftlich ausdrücken läßt und folglich ihnen vorangestellt sein muß, dürfte klar geworden sein; es muß also weniger um Regeln als um Kriterien und Kategorien gehen. Und dabei müssen Kategorien der Weisheit, der Kultur, der Fiktion den ihnen angemessenen ersten Rang vor Wissenschaft, Prosaik und Funktionieren im Entwurfsprozeß einnehmen. Daran läßt sich unser „Herr-Knecht-Verhältnis" zu technischen Mechanismen und Automatismen prüfen. Was dies heute bedeutet, muß diskutiert und gefunden werden.

Es geht also um „Angemessenheit" in der „Haltung" (auch Haushaltung = Ökologie), im „Urteil", um ein Urteilsvermögen, um umfassende „Proportionalität" im Sinne eines „sich-ins-Verhältnis-setzens", um ein angemessenes Verhältnis von Konstanten und Variablen, von Erkenntnis und Interesse, um einen angemessenen Wahrnehmungshorizont, der durch ein entsprechendes Urteilsvermögen gefunden werden muß. Daran muß sich Kreativität und Materialisation messen lassen. 

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