4. Jg., Heft 1 Mai 1999 |
Dörte Kuhlmann Der Kunst ihre Freiheit |
Wer aber da weiß, daß die Kunst dazu da ist, um die Menschen immer weiter und weiter, immer höher und höher zu führen, sie gottähnlicher zu machen, der empfindet die Verquickung von materiellem Zweck mit Kunst als Profanation der großen Göttin. Adolf Loos
Anfang des 17. Jahrhunderts veröffentlichte Federico Zuccari ein Traktat, in dem er die Freiheit des Künstlers forderte, "was immer der menschliche Geist, seine Phantasie oder seine Grille auch erfinden mögen."1 Die Gleichsetzung von künstlerischer Kreativität und Freiheit ist ein traditionelles Konzept der westlichen Philosophie und Ästhetik, das, wie Milton C. Nahm hervorhebt, letztlich alle Aspekte der Kunst durchzieht, angefangen von der freien Bewertung der Kunst über die Kreativität des Künstlers und der freien Imagination.2 Diese theologische und kosmologische Konzeption der Kreativität spiegelte die Vorstellung von Gottes Macht und seiner Freiheit bei der Erschaffung des Universums wieder und mündete in das Konzept der "großen Analogie" zwischen Künstler und Gott, welches bis in die Neuzeit einen großen Einfluß zeigte.3 Für Aristoteles und Platon, die sich beide ausführlich mit der Kreativität in der Kunst in bezug auf Freiheit auseinandersetzten, zählte die Kunst zu den grundlegenden menschlichen Tätigkeiten. Die antike Unterteilung der Künste in mechanische und freie Künste, artes vulgares und artes liberales, je nachdem, ob sie handwerklicher Natur waren (und daher eher in den Bereich von Sklavenarbeit fielen) oder eine von der Aristokratie bevorzugte rein geistige Tätigkeit, wies einmal mehr auf die Bedeutung des Konzeptes von Freiheit hin. Die zahlreichen Bestrebungen, die Architektur mit der Musik oder die Malerei mit der Geometrie zu vergleichen, waren beseelt von dem Wunsch, diese Künste von ihren materiellen Bindungen zu befreien, um ihre Wertigkeit zu erhöhen. In der griechischen Philosophie wurde das künstlerische Schaffen oder techne vornehmlich in Hinsicht der Mimesis oder Imitation diskutiert, was die allgemeine Haltung der westlichen Tradition zur künstlerischen Kreativität maßgeblich prägte. Diese Position zeigte Platon beispielsweise in Timaeus auf, als sein kosmischer Architekt die Welt konstruiert.4 Für Aristoteles war diese Auslegung der Mimesis in ihrer striktesten Form jedoch nicht mehr ausreichend für seine Theorien von Kunst und Künstler.5 Auch das Konzept der künstlerischen Vorstellungskraft und Schöpfungsgabe, das in der Idee des künstlerischen Genies oder des göttlich beseelten Künstlers mündet, wurde bereits in der platonischen Philosophie entwickelt.
Der göttliche Künstler In seinen manieristischen Schriften begann Zuccari sein Argument mit der These, daß die heilige Trinität im Italienischen drei Buchstaben besitzen sollte, nämlich dio. Er spekulierte weiter, daß sich das Wort "Design" oderDisegno ebenfalls in drei Segmente aufteilen ließe, in di-segn-o. Damit ergäbe sich aus der Verbindung der ersten und letzten Silbe dio, also Gott, und aus der mittleren segno, Design. In diesem Sinne würde sich disegno gleichsetzen lassen mit "segno di dio in noi", also "das Zeichen Gottes in uns".6 Solcherlei Spekulationen sollten beweisen, daß der Künstler im Gegensatz zur breiten Masse des Volkes eine besondere Nähe zu Gott besaß, um damit nicht nur den Status des Künstlers zu erhöhen, sondern auch seine Werke in einer anderen Kategorie jenseits des Alltäglichen zu etablieren. Dieses traditionelle Anliegen, daß sich von der Antike bis ins 20. Jahrhundert fortsetzte und während der Romantik eine besonderen Höhepunkt erfuhr, war eng an philosophische Anschauungen gebunden, deren Einfluß am sich wandelnden Bild vom Verhältnis des Künstlers zu Gott illustriert werden kann. So betrachtete Platon den Künstler und seine Kunst als wertlos, da für ihn nur die Idee die ultimative Realität darstellte und jedes materialisierte Objekt eine imperfekte Reflexion der Welt der Ideen (Gott) verkörperte. Auch die Götter gehörten zur Welt der Ideen und damit zur immerwährenden Wahrheit. In diesem Sinne konnte die Kunst für Platon zwar Ideen zeigen, doch da die Ideen Universale waren, wurde Kunst nicht neu geschaffen. Vielmehr war die Kunst lediglich eine Darstellung der bereits existierenden Wahrheit und ein Künstler vermochte nur dieselbe zu enthüllen. Gemäß dieser Auffassung war ein realisiertes Kunstobjekt zweifach von der Wahrheit entrückt: es war nur die Nachahmung einer materiellen Welt, die bereits ihrerseits die Imitation der göttlichen Idee darstellte. Diese Vorstellung trat in gemäßigter Form wieder unter den Neoplatonisten wie Plotinus auf, der die Position des Künstlers viel höher einschätzte, weil er davon ausging, daß der Künstler die göttliche Idee direkt imitiert. Er betrachtete Schönheit als einen essentiellen Teil der göttlichen Natur und betonte, daß die Kunst durchaus als ein Abbild des Göttlichen betrachtet werden könnte. In der Renaissance griffen Platonisten wie Marsilio Ficino die Gedanken von Plotinus auf, indem sie anführten, daß der Mensch die kreative Schöpfungsgewalt Gottes in Bezug auf die irdischen, materiellen Dinge besäße; eine Haltung die auch durch Paolo Pino vertreten wurde, der beispielsweise Michelangelo und Titian als "sterbliche Götter" bezeichnete.7 Später folgten auch die Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman und mit ihnen Architekten wie Louis Henry Sullivan oder Frank Lloyd Wright dieser Auffassung einer engen Verbindung des Künstlers mit Gott und sahen in der materiellen Welt ein Abbild göttlichen Waltens. Sie gingen sogar soweit, die Vision eines neuen gesellschaftlichen Gefüges zu vertreten, das sie gedachten, mit Hilfe der Kunst zu erreichen. So bemerkte Whitmann, "Von einer genügend hohen Warte aus betrachtet, stellt sich das Problem der Menschheit heute in der gesamten zivilisierten Welt als ein soziales und religiöses dar, ein Problem, dem letztlich nur durch die Literatur zu begegnen ist. Der Priester geht, der göttliche Dichter kommt."8
Non murato, ma veramente nato 9 Die Verschmelzung von künstlerischer und göttlicher Form äußerte sich in der
Architektur der Antike beispielsweise in den mathematischen Proportionen. Doch gingen
einige Architekten, wie etwa Antonio Averlino alias Filarete, weit über die Beachtung
mathematischer Proportionierungen hinaus. Er behauptete, daß "das Gebäude wirklich
wie ein lebendiger Mensch" sei und meinte, daß es nicht nur der Verdienst eines
Architekten, sondern vielmehr das Kind der gelungenen Vermählung von Bauherrn und
Architekten sei. "Nach der Geburt solle der Architekt wie ein Kindermädchen sein,
das sich um das Kind kümmert - und wie jede gute Mutter sich um eine gute Erziehung
sorgt, so müsse sich auch der Architekt um gute Handwerker kümmern, damit das Kind
gedeiht."10 Auf diese Weise wurde dem Architekten eine Rolle
zugeschrieben, die zwischen der eines Menschen und der eines Schöpfers lag, eine
gottähnliche Position. Aber auch seine spezielle Künstlernatur wird hier deutlich: er
mußte über eine besondere Genialität verfügen, um diese Fähigkeiten auszufüllen.
Damit hob er sich von der breiten Masse ab, um als Genius und Künstler weit über ihr zu
stehen.
Genie und Wahnsinn Margot und Rudolf Wittkower, die sich in ihrem Buch Künstler- Außenseiter der
Gesellschaft, mit dem oft ungestümen Privatleben bekannter Künstler
auseinandersetzten, kamen zwar zu dem Schluß, daß es keinen über alle Epochen gleichen
Künstlertypus gab, doch haftete dem Künstler stets der Mythos des Besonderen an, der im
Gegensatz zum normalen Menschen seine Freiheit auslebte. Es hing viel davon ab, wie sich
das Publikum gegenüber dem Künstler verhielt und mit welchen Erwartungen es an den
Künstler herantrat. In Epochen, in denen Rationalität und Intellekt für den
schöpferischen Vorgang als essentiell angesehen waren, fand man ihn im Künstler;
gleichwohl, in Epochen, in denen man Gefühl und Intuition als maßgeblich für
künstlerische Tätigkeit ansah, wurden diese Fähigkeiten den Künstlern im besonderen
Maße bescheinigt. Die fortschrittlichsten Künstler folgten nicht nur dem allgemeinen
Trend, sondern führten ihn sogar an. "Sie glaubten mit Michelangelo, daß ein Mann
mit seinem Gehirn malt, und stimmten mit Leonardo darin überein, daß Malerei mit
Naturphilosophie zu tun hat, daß sie wirklich Wissenschaft ist und daß ein Maler
zunächst die Wissenschaften zu studieren habe und dann in seinem Handwerk darauf bauen
müsse."14 Im 18. Jahrhundert verschob sich der Schwerpunkt langsam
zugunsten der Vorstellung, daß künstlerisches Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen.
So formulierte William Blake in einem Gedicht recht zynisch: Gefangen im Kontext Solcherlei nunmehr wissenschaftlich gestützten Eigenarten sollten den Künstlernaturen
helfen, sich von den Fesseln jeglicher Tradition zu befreien, die grundsätzlich als
verstaubte alte Dogmen angesehen wurden, von denen es sich zu lösen galt, um völlig neue
Wege zu gehen. Um dem Argument mehr Gewicht zu verleihen, verband man Traditionen zuweilen
mit Zeitgeisttheorien, indem man auf jene Aspekte verwies, die ihren besonderen Ausdruck
zu bestimmten Zeitperioden fanden. Dabei wurden stets die Unterschiede zur eigenen
Situation betont, um eine Fremdheit gegenüber der Vergangenheit zu implizieren und selber
im Vergleich eine avantgardistische Position einzunehmen. In diesem Sinne schrieb die
Wiener Sezession auf ihr neues Ausstellungsgebäude: Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst
ihre Freiheit. Die Sezessionsgruppe revoltierte damit nicht allein gegen den
Historismus der Gründerzeit, den man für veraltet und daher ablehnenswert hielt, sondern
auch gegen die konservative Künstlergenossenschaft, die bis dato das Monopol für
Kunstausstellungen in Wien besessen hatte. 23 Der Architekt jedoch entfloh... Angesichts dieser Entwicklung zeichnete sich im Bereich der Architektur in den letzten
Jahren eine neue Strategie ab, die von Christopher Alexander und sechs weitere Kollegen
initiiert wurde, als sie 1977 mit A Pattern Language den Versuch eines Regelwerks
für einen partizipatorischen Bauprozeß vorstellten.27 Für ihn war das Bauen
ein fortschreitender, organischer Prozeß, der auf einem genetischen Kode als Muster
basiert, wobei er seine Theorie wie zuvor Ruskin, Steiner oder Taut auf eine metaphysische
Basis stellte, die einmal mehr den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und
architektonischer Form beschwor. Seine Mustersprache sollte ähnlich einem Ereignismuster
die Wohnungen, Häuser, Straßenzüge und schließlich die ganze Stadt strukturieren. A
Pattern Language stellte ein demokratisches System von Bauprozessen als Analogie zu
natürlichen Prozessen vor, wobei jedes Element mit jedem verbunden war. Damit wurde nun
die autoritäre Rolle des Architekten als alleiniger Autor ernsthaft in Frage gestellt.
Jedoch waren Alexanders Muster nicht allgemeingültig, sondern kulturgebunden, da sie sich
eindeutig auf die europäische Tradition zurückzuführen ließen. Auch stellte er keine
Hierarchien auf, so daß sich gewisse Muster widersprechen oder ausschließen. Wenn das Schaffen von Kunst mit dem Kampf für Freiheit gleichzusetzen ist, so scheint es, als sei mit diesem Schritt die totale Grenzenlosigkeit erreicht. Es gibt auf künstlerischem Gebiet nichts mehr, was nicht bereits erdacht worden ist und spätestens seit den Hermann Nitsch und den Wiener Aktionisten mit ihren Blutorgien auch kein Tabu mehr, daß noch gebrochen werden kann. Muß man daher zu dem Ergebnis kommen, daß kurz vor der neuen Jahrtausendwende in Wirklichkeit gar keine künstlerische Freiheit mehr existiert, weil es nichts mehr gibt, was noch irgendwen erschüttert, und nichts mehr auf dem Spiel steht? Wenn keine Entscheidung mehr Folgen hat, gibt es im herkömmlichen Verständnis keine Kreativität mehr. Vielleicht muß der Künstler für die Wiedererlangung von Kreativität in ein neues Feld ziehen, aber das sollte für die Kreativen kein Hindernis darstellen, denn "in jedem Künstler liegt ein Keim von Verwegenheit", sinnierte Goethe in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften, "ohne den kein Talent denkbar ist, und dieser wird besonders rege, wenn man den Fähigen einschränken und zu einseitigen Zwecken dingen und brauchen will." 29
Anmerkungen: 1 Margot und Rudolf Wittkower, Künstler- Außenseiter der Gesellschaft, (Stuttgart 1965), S.308. 2 Philip Wiener, History of Ideas, (New York 1968), Band 1, S.577ff. 3 Milton C. Nahm, The Artist as Creator, (Baltimore 1956). 4 Platon, Timaeus 28A-B. 5 Aristoteles, Politik 1340a-13ff 6 Disegno (it. Wort und Konzept), in Panofsky, Erwin. Idea. A concept in art theory, (New York 1968), S.88. 7 Kari Jormakka, Constructing Architecture. Datutop 15. (Tampere, Finnland 1991),S. 8. 8 Walt Whitman, "Demokratische Ausblicke "in Lyrik und Prosa, (Berlin 1966 [_1881]), S.450. 9 "Ma molto piu gliene diede il modello del palazzo di Agostino Chigi condotto con quella bella grazia che si vede, non murato, ma veramente nato...". Giorgio Vasari über den Palazzo di Agostino Chigi. Giorgio Vasari, Vita de Baldassare Peruzzi. Vite de' piu eccellenti pittori scultori e architetti. Tomo VII. (Venezia 1828), S.406. 10 Filarete, folio 7, nach Gerd Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, (Darmstadt 1987), S.69f. cf. Kari Jormakka, Inadvertent Ontologies, (Weimar 1994), S.35. 11 Platon, Phaidros, übersetzt von Rudolf Kassner (Jena 1914), S.68. 12 Benjamin de Casseres, "The Brain and the World", in Camera Work 31, Juli 1910 c S.27. 13 Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, (Göttingen 1990), S.124ff. 14 Margot und Rudolf Wittkower. Künstler- Außenseiter der Gesellschaft.( Stuttgart 1965), S.308. 15 William Blake,The Selected Poetry of Blake, edited by David V. Erdman (New York 1981), S.286. 16 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, (München 1986). 17 Diane Ackerman, Die schöne Macht der Sinne, (München1991), S.327. 181 J.-K. Huysmans, Gegen den Strich, (1984). 19 Joanne Cubbs, "Rebels, Mystics, and Outcasts: The Romantic Artist Outsider " in Michael D. Hall, Eugene W. Metcalf Jr. (Ed.) The Artist Outsider (Washington & London 1994), S.78. 20 Dieses Thema wurde beispielsweise empirisch untersucht von Louis A. Sass, Madness and Modernism. Insanity in the Light of Modern Art, Literature and Thought, Harvard University Press 1994 oder Kay R. Jamison, Touched with Fire. Manic-depressive Illness and the Artistic Temperament, (New York 1993). 21 Émile Zola, Mes Haines, suivi de Mon Salon, (Genève, Slatkine, 1979). 22 Margot und Rudolf Wittkower, Künstler- Außenseiter der Gesellschaft. (Stuttgart 1965), S.309. 23 Kirk Varnedoe, Wien 1900. Kunst, Architektur, Design, (Berlin 1987), S.28f. 24 Demetri Porphyros, Klassisches Bauen, (Stuttgart 1993.), Kapitel 6. 25 Arthur C. Danto, Beyond the Brillo Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective. (New York 1992), S.38. 26 Arthur C. Danto, Beyond the Brillo Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective. (New York 1992), S.6. 27 Christopher Alexander (u.a.), A Pattern Language (New York 1977). 28 Vor dem Hintergrund der
dekonstruktivistischen Tendenzen der letzten Jahre und der implizierten Auflösung von
Werk und Autor, liest sich sein altes Gedicht "Der Lattenzaun" jedoch mit einer
überraschenden Aktualität, insbesondere die letzten Zeilen: 29 Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften, Band V, (Dornach 1982), S.505. |
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