4. Jg., Heft 1 Mai 1999 |
Jörg Schnier In welchem Stile sollen wir entwerfen? |
Der Beitrag will zeigen wie seit der ägyptischen Antike
der Möglichkeitsspielraum für Entwurfsentscheidungen sukzessive zugenommen hat. Als
Ursache hierfür wird ein zunehmender Verlust an Verbindlichkeit der jeweiligen formalen
Ordnungssysteme, sowie die sich immer schneller verändernden Rahmenbedingungen
(Bautechnik, Bauaufgaben ...) festgestellt. Der hieraus folgende Orientierungsverlust
mußte früher oder später zu der Frage "In welchem Stile sollen wir
entwerfen?" führen. Diese Frage nach der formalen Ausprägung eines Entwurfes
verrät eine existentielle Unsicherheit über die anzustrebende Gestalt von
Entwurfsprodukten. Deshalb nochmals die Frage: "In welchem Stile sollen wir entwerfen?" Den alten Ägyptern war das sonnenklar. Hier legten die Götter symbolisch noch selbst mit Hand an, wie folgender Bericht eines Pharao über das religiöse Zeremoniell zu Beginn der Bauarbeiten an einem Tempel beschreibt: "Ich ergriff ein hölzernes Rädchen und den Griff eines Stabes [Zepter], halte
die Schnur Der Legende nach veranlaßte Imhotep, der berühmte Architekt der Stufenpyramide von Sakkara, die Götter sogar, ein Buch mit Anweisungen für den Tempelbau nördlich von Memphis vom Himmel fallen zu lassen. Dieses Buch mußte von den Herrschern und Priestern bei jedem größerem öffentlichen Bauvorhaben konsultiert werden.2 Die Form der Architektur war unmittelbarer Ausdruck der göttlichen Inspiration, die Herrscher und Hohepriester als höchste Repräsentanten der Götter auf Erden empfingen und ausführten. Ihre Schönheit begründete sich in der in ihnen sichtbar werdenden, ewig gültigen, göttlichen Ordnung. Dadurch erhielten diese Bauten einen starken Präzedenzfallcharakter von extrem hoher Verbindlichkeit. Neuheit an sich war in diesem auf Ewigkeit ausgerichteten Kunstwollen kein positiv bewerteter Begriff. Die erhaltenen Bauwerke des antiken Ägypten zeugen deshalb von einer außerordentlich geringen Innovationsgeschwindigkeit. Im Unterschied zum antiken Ägypten sind die Götter beim Entwerfen in Griechenland und im römischen Reich nicht unmittelbar beteiligt. Die göttliche (Bau)Ordnung wird nicht mehr direkt mitgeteilt, sondern ist in der Struktur der Welt verborgen. Sie kann nur durch den Filter menschlicher Erkenntnis entdeckt werden. Dies hat zur Folge, daß die ordnungsstiftenden Regeln der Architektur zwar göttlichen Ursprungs sind, realaber nur als menschliche Interpretationen dieser Ordnung auftreten. Sie werden durch von Menschen geprägte Konventionen und Traditionen definiert und sind damit wesentlich weniger verbindlich. Dies erlaubt dem Entwerfer einen viel größeren Innovationsspielraum. Neben der wesentlich geringeren Verbindlichkeit von formalen Konventionen wurde der entwerferische Freiraum auch durch die Entwicklung neuer Bautechniken ausgedehnt. Ein Beispiel ist die Ablösung der griechischen Gebälk-Konstruktion mit ihrer geringen Variationsfähigkeit durch die Gewölbekonstruktion. Der größere Freiheitsgrad bedingte aber auch automatisch die wachsende Gefahr von Fehlentscheidungen. Während in Ägypten die überaus strenge Verbindlichkeit des Formenkanons und die nur sehr geringe Innovationsgeschwindigkeit Entwurfsfehlern entgegenwirkten, sieht sich bereits Vitruv veranlaßt, in seinem Architekturtraktat dezidiert auf die Beachtung von formalen Regeln zu pochen. "Die Formgebung der Tempel beruht auf Symmetrie, an deren Gesetze sich die
Architekten Während in der Antike die Ordnung der Welt durch Zahlen mathematisch beschrieben werden konnte, was sich in den Proportionsregeln der Architektur wiederspiegelte, wurde im Mittelalter die Zahl selbst, aufgrund ihrer symbolischen Aufladung, Verkörperung der göttlichen Ordnung. Mit der weitgehenden Abkehr von einer mathematisch beschreibbaren Ordnung hin zu einer Zahlensymbolik geht diesem Ordnungssystem zwangsläufig auch die mathematische Klarheit und Geschlossenheit eines strengen Proportionssystems verloren. Die formale Durchgestaltung folgte nicht mehr einer Maßeinheit, aus der die Proportionen des Gebäudes abgeleitet werden konnten, sondern bestand aus einer Vielzahl miteinander verwobener Symbolismen. Da diese Zahlenmystik kaum noch für Laien handhabbar war, nahm der Einfluß der Priester als in der Regel umfassend in der Exegese gebildete Bauherren auf die Entwurfsentscheidungen stark zu.4 Dies legt die Vermutung nahe, daß sich auch theologische Meinungsunterschiede indirekt als innovatives Element in der Architektur niederschlugen. Dieser Verlust an Geschlossenheit der formalen Ordnung führte automatisch zu einem im Vergleich zur Antike deutlich erweiterten Freiheitsgrad für Entwurfsentscheidungen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich, obwohl seit der ägyptischen Antike
der Freiheitsgrad des Entwerfens sukzessive zugenommen hat, die Frage: "Was ist
schön?" gar nicht stellte. Die Schönheit war eine objektive Eigenschaft, die
Manifestation des Göttlichen in der Welt. Diese göttliche Ordnung war ein fixer
Bezugspunkt, ganz gleich ob sie nun den Menschen direkt von den Göttern mitgeteilt, oder
indirekt in der Struktur der Welt beziehungsweise der christlichen Lehre erkannt wurde. "... Jedes Erschaffene wird schön genannt, insofern ihm etwas von der Schönheit Als objektive Qualität konnte die Schönheit vom Menschen zwar aufgedeckt aber nicht
selbst hervorgebracht werden. Erst in Folge der kopernikanischen Wende, als Denker wie Kopernikus, Gallilei, Newton,
Descartes und Hume den Glauben an die göttliche Harmonie des Universums erschütterten,
und sich die mittelalterliche Gesellschaft mit ihren transzendentalen Bezügen auflöste
und das weitreichende Bildungsmonopol der Kirche schwindet, werden die Grundlagen für
einen veränderten "Schönheitsbegriff" geschaffen. Zwangsläufig konnte und mußte jetzt die Frage nach dem "richtigen" Stil entstehen. Tatsächlich taucht der Begriff "Stil" im Italien der Renaissance zum ersten Mal auf. Seine ursprüngliche Bedeutung als Synonym für "maniera", der persönlichen Handschrift, verweist ausdrücklich auf seinen Ursprung in der Subjektivität.7 Da sich ein subjektiver Schönheitsbegriff, im Gegensatz zu einem objektiven, nicht auf
einen durch die göttliche Ordnung mehr oder weniger verbindlich festgelegten, allgemein
akzeptierten Formenkanon stützen kann, entstand ein ganz neues Dilemma. Wenn sich
nämlich ein subjektiver Schönheitsbegriff auf ein individuelles Wertesystem gründet,
ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, daß niemand anderes dies "schön" findet.
Vor allem die Architektur mit ihrer öffentlichen Wahrnehmbarkeit kann sich diesen rein
subjektiven Schönheitsbegriff, schon allein um Bauherren zu überzeugen und Aufträge zu
bekommen, nicht ohne weiteres erlauben. Deshalb mußte trotz der Möglichkeit eines
subjektiven Schönheitsbegriffes nach wie vor ein formaler Konsens erreicht werden. Ein Bedürfnis nach einem anderen Stil entsteht, wenn die orthodoxe Praxis bereits
erschüttert ist. Es wird ausgelöst von einer wachsenden Diskrepanz zwischen Bedeutung
und formaler Ausprägung der Architektursprache. Nach der kopernikanischen Wende verlor
der gotische Stil seine Grundlage dadurch, daß die durch ihn verkörperten Inhalte der
Scholastik und Zahlensymbolik mehr und mehr an Bedeutung verloren. Sobald sich ein neuer Stil als ein von einem breiten Konsens getragenes Wertesystem
durchgesetzt hat, ist er ein für den Entwerfer sehr nützliches Werkzeug. Er kann sich
auf ein erprobtes, allgemein akzeptiertes Vokabular an Formen stützen, das bereits bei
vorangegangenen Aufgaben erfolgreich angewandt wurde. Für die Praxis kann das Weiterbauen
eines althergebrachten Stiles eine ausgezeichnete Richtschnur für zu treffende
Entwurfsentscheidungen sein. Es engt den Entscheidungsspielraum ein und reduziert damit
die Handlungsmöglichkeiten bis hin zu der Idealsituation, in der der Entwerfer keine
eigenen Entscheidungen mehr treffen muß. Diese Einengung der Variationsbreite ist meist
gar nicht unwillkommen, da sie die Anzahl der zu untersuchenden Alternativen verringert.
Die Vereinfachung des Komplexitätsgrades des Entwurfsproblemes erhöht die Effizienz der
Lösungsfindung und verringert die Gefahr von Entwurfsfehlern. Treten dennoch durch die
Kluft zwischen Bedeutung und Form verursachte Unstimmigkeiten auf, können diese mit dem
Verweis auf die angestrebte Stilreinheit als unvermeidlich abgetan werden. "Die meisten Architekten des Barock arbeiten wie im 15. und 16 Jh. nach tradierten Regeln. Die genialen Einzelnen benutzen die freie Verfügung über das gesamte Repertoire, um neue Kompositionstechniken für ihre Raumphantasie zu entwickeln."8 Ein besonders Problem entstand durch den immer mehr zunehmenden Stilpluralismus vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Die simultane Existenz von verschiedenen gleichwertigen, konkurrierenden Ordnungssystemen mußte zu einem neuen Streit um die Frage "In welchem Stile sollen wir entwerfen" führen. Drastisch verschärft wurde die Frage nach dem richtigen Stil durch die Folgen der industriellen Revolution. Das Auftreten neuer und komplexerer Bauaufgaben (z.B.: Bahnhöfe, Fabrikanlagen, Großkaufhäuser... ) und die sich rasant entwickelnde Bautechnik (z.B.: industrielle Massenherstellung von Stahl, Portlandzement, Tafelglas... ) überforderte die Assimilationssfähigkeit und Flexibilität der historischen Stile. Die formale Bewältigung der neuen architektonischen Aufgaben begann immer mehr hinter den technischen und typologischen Anforderungen hinterherzuhinken. Zusätzlich führte die durch die Leistungen von Wissenschaft und Technik hervorgerufene Fortschrittseuphorie dazu, daß die etablierten Archtitekturstile als rückständig empfunden wurden. "Die fortwährende Anleihe bei den historischen Stilen erscheint als Verleugnung der Kräfte, die in Wissenschaft, Industrie und Technik zu immer neuen Leistungen vordringen und sich in kühnen Ingenieurbauten manifestieren."9 Der Versuch des Historismus durch die wahlweise Anwendung, Abwandlung und Kombination der jeweils geeigneten Elemente verschiedener historischer Stile erleichtert zwar die Anpassung an neue Bauaufgaben, gleichzeitig sinken aber die auf einer anderen technischen und geistigen Grundlage gewachsenen Epochenstile zu einer bloßen Dekoration herab.10 Die historisch aus der gemeinsamen Grundlage der Antike gewachsenen Stile haben letztendlich ihre Gültigkeit als Ordnungssystem verloren. Das Zitat Berlages aus dem Jahre 1905 gibt Zeugnis ab von der Sehnsucht nach einem verbindlichen Ordnungssystem. "Denn worum handelt sichs? Darum wieder einen Stil zu haben! Nicht nur ein Königreich, sondern der Himmel für einen Stil! ist der Ausruf der Verzweiflung; das ist das große verlorengegangene Glück. Es gilt die Scheinkunst, d.h. die Lüge zu bekämpfen, wieder das Wesen und nicht den Schein zu haben"11 (H.P. Berlage 1905) Aufgrund der unübersehbaren Erfolge des Ingenieurbaues fordern Vordenker wie Josef August Lux in seiner "Ingenieur Aesthetik" bereits 1910 eine neuen, konsequent aus der Technik abgeleiteten Stil. Doch erst die pathetische Überspitzung dieser Ideen in Le Corbusier´s "Vers une architecture" von 1924, verschafft ihnen eine breite Öffentlichkeit. Aber auch die aus diesen Ideen entstandene Moderne war von relativ kurzer Dauer. Zuerst heftig von den Gralshütern der orthodoxen Lehrmeinung bekämpft verbreitete sich ihr Formenkanon aufgrund der Fähigkeiten, die Qualitäten der Ingenieurkunst in eine formale Ordnung zu integrieren, ökonomischere Bauweisen zu propagieren und nicht zuletzt durch das Erfassen der herrschenden Fortschrittseuphorie. Aber auch die Moderne unterlag dem typischen Lebenszyklus eines Stils. Er beginnt mit einer experimentellen Aufbruchsphase, geht über in die Hochphase der allgemeinen Durchsetzung und theoretischen Untermauerung und endet als Legitimationsinstrument unreflektierter Entwurfsentscheidungen deren katastrophale Folgen schließlich die Gegenbewegung der Postmoderne hervorrufen mußten.
Das postmoderne Credo des Pluralismus "Anything goes" mit seiner radikalen Absage an die Möglichkeit allgemeingültiger sinn- und ordnungstiftender Stile machte die Hoffnung auf einen allgemein akzepierten Stil endgültig zunichte. Die Folge war eine weitere Aufsplitterung der Stillandschaft in immer kleiner Einheiten. Heute im Zeitalter des Kultes um den Individualismus ist Stil lediglich eine Frage der "Corporate Identity", ein Verkaufsargument auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Der zunehmend erweiterte Freiheitsgrad der möglichen Entwurfsentscheidungen führte zu
einem immer größeren Orientierungsverlust. Die Renaissance läutete das Ende der
unantastbaren göttlichen Schönheit ein und zwang damit dem Entwerfer die Last der
eigenen Entscheidung auf, die er durch den Rückgriff auf antike Formen zu umgehen suchte.
Die industrielle Revolution beendete die Phase der aus der Antike abgeleiteten
Formensprache und machte den Weg frei für die Ideen der Moderne. Und damit steht man wieder wie zu Anfang vor der Frage: In welchem Stile sollen wir
entwerfen, oder was ist schön? Jedes Produkt wird durch die ihm innewohnenden objektiven Prinzipien, sowie seinen soziokulturellen Kontext definiert. Die Prinzipien sind den Dingen inhärent, sie definieren das Wesen des Produktes.12 Das Prinzip einer Geraden ist es, die "kürzeste eindimensionale Verbindung zwischen zwei Punkten" zu sein. Es ist als Stilfrage Teil des soziokulturellen Kontextes ob ich nun eine Gerade freihand als gedöllgastelten Zitterstrich oder als 0,13 mm Tuschlinie darstelle, das Prinzip der Geraden wird davon nicht berührt. Selbst wenn die Suche und Diskussion dieser Prinzipien nicht zu einem Konsens führt, so zwingt sie immerhin zu einem ständigen Hinterfragen eigener und fremder Positionen, ist dadurch in der Lage Fehlentwicklungen entgegenzuwirken und Gemeinsamkeiten aufzudecken. Statt der unmöglichen Frage nach dem "richtigen" Stil sollte es heute viel eher heißen "Was ist mein Stil?" d.h. welche Qualitäten will ich erreichen und welche Bewertungskriterien lege ich deshalb meinen Entwurfsentscheidungen zugrunde.
Fußnoten:
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