Anfang des Jahrhunderts war in Europa die Epoche der Revolutionen.
Deutschland und Rußland waren Staaten, deren Geschichte in dieser Zeit sehr ähnlich war.
Diese gemeinsamen Züge in der Entwicklung wurden auch auf dem Gebiet der künstlerischen
Mentalität widergespiegelt. Die neuen rewolutionären Ideen in der Kunst wurden in
Deutschland im Bauhaus verwirklicht. In Rußland gab es die gleiche Schule und eine
ähnliche philosophische Richtung in der angewandten Kunst und Architektur. Ihr Kurzname
war WCHUTEMAS oder Die Höheren Künstlerisch-technischen Werkstätten". Im
Jahre 1922 nahm WCHUTEMAS die künstlerisch-industrielle Ausbildung auf.Das
WCHUTEMAS-Erbe - das sind neue Konzepte in der Formenbildung und das sind auch die Träger
dieser Konzepte - die Absolventen dieser Schule, die einen großen Einfluß auf die
Architektur und Architekturausbildung hatten.
Im November 1997 feierte die Architekturöffentlichkeit Rußlands das 75jährige Jubiläum
von WCHUTEMAS. Zu diesem Jubiläum wurde eine Ausstellung organisiert im MARCHI (Moskauer
Hochschule für Architektur) mit dem Hauptziel, die Atmosphäre von WCHUTEMAS erfühlen zu
lassen und auch zu zeigen, wie die heutigen Studenten diese Atmosphäre spüren, sie in
ihren Entwürfen verkörpern.
Es wurden die Interieurs von einer Werkstatt der WCHUTEMAS wiederhergestellt; die die
Atmosphäre von WCHUTEMAS zu spüren erlaubten. Anhand der Bilder wurden diese Interieurs
von innen und von außen" gezeigt.
Interieurs einer Werkstatt von WCHUTEMAS
Während der Arbeit an den Interieurs dieser Ausstellung haben die Studenten diese
schöpferische Stimmung, die in diesem Ausbildungsorganismus herrschte, nicht nur
verstanden, sondern auch gespürt. Der Beweis für den Erfolg dieses Experiments sind
seine Entwürfe nach einer Aufgabenstellung, wie sie WCHUTEMAS hatte. In der Regel waren
das die Modelle, die teilweise auf den Bildern dargestellt wurden. Hier waren rein
formalistische Kompositionen vertreten, z. B. der Tatlin-Turm. Aber es gab auch Formen,
die von der heutigen Nachfrage inspiriert wurden.
In dieser Hinsicht ist es interessant, diese Arbeiten mit den originalen Arbeiten von
WCHUTEMAS, die auch auf den Bildern dargestellt sind, zu vergleichen. So zum Beispiel die
Fliegende Stadt" von Krutikov und andere Entwurfe. Man kann sagen, daß die
Aufgaben von WCHUTEMAS von den heutigen Studenten verstanden wurden.
Die Absolventen von WCHUTEMAS haben in der nachfolgenden Zeit in gleichem Maße
Einfluß auf den Stil der Arbeit von drei Hochschulen gehabt. Das waren die Moskauer
Architekturhochschule (MARCHI), die Moskauer Hochschule für Kunstgewerbe (Stroganoff) und
die Moskauer Ingenieurhochschule für das zivile Bauwesen (MIIGS), aus dem heute die
Moskauer Staatliche Bauuniversität entstanden ist. Die Ideen und die formalen Entwurfe
wurden in Stein und Beton verkörpert. In diesem Zusammenhang ist es zweckmäßig, den
Vergleich zwischen der formalen Suche von Tatlin und den existierenden
Metallkonstruktionen des Schuchov-Radioturms zu führen. Dieser Radioturm mit seiner
stabartigen Struktur, gelegen im Zentrum Moskaus, weist Motive von Tatlin
auf.
Arbeiten von Absolventen dieser Schule sind:
das Planetarium der Architekten Barsch und Sinjawsky,
das Haus der Kommune von Ivan Nikolaev, der lange Zeit der Rektor von MARCHI war, das
berühmte Narkomfin-Haus von Ginsburg,
das Moskauer Kraftwerk
gegenüber vom Hotel Rossija, gebaut von Joltovsky, einem Apologeten der
Renaissance-Interpretationen der stalinistischen Architektur, der auf dem Platz der
Revolution Palazzo del Kapitanio aus Vichenza von Palladio" wiederholt hatte,
sind in den goldenen Bestand der Architektur der Epoche des Konstruktivismus aufgenommen.
Einige von diesen Avantgardisten, z.B. Melnikov ( sein Haus in den Arbat-Gassen im
Moskau und sein Klub namens Russakov sind auf den Bildern dargestellt) waren mit der
formalen Seite dieser Architektur beschäftigt. Andere haben die funktionale Schule
gegründet. Viele von denen wurden zu solchen Spezialisten, die wir jetzt die
Ingenieur-Architekten nennen. Einer von ihnen war faktisch auch Le Corbusier,
dessen Haus (eine der besten Schöpfungen von ihm) - das Haus des Zentrosojus in Moskau -
alle funktionalen und konstruktiven Prinzipien des Konstruktivismus verkörperte.
Haus des Zentrosojus
Die heutige Moskauer Staatliche Bauuniversität ist faktisch der Nachkömmling
von der Moskauer Ingenieurhochschule für das zivile Bauwesen. Hier haben solche
Absolventen von WCHUTEMAS wie Chernopischsky, Fufajev, Welikovsky, Ralisch, Menschikov und
andere gearbeitet. Diese Leute haben das Konzept der Ingerieuren-Architekten vom Tode
gerettet. Heute ist dieser Beruf wiedergeboren.
Die ökonomische Situation in unserem Lande heute ist sehr ähnlich der ökonomischen
Situation nach dem Bürgerkrieg und dem Kriegs-Kommunismus in Rußland. Im Jahre 1921
wurde die Neue Ökonomische Politik (NEP) begonnen, das war ein wirklich blühendes
Wachstum der Marktökonomie in Sowjetrußland. Das alles gab den Anstoß für die
Organisierung von WCHUTEMAS.
Die ökonomischen Änderungen in Rußland im Zusammenhang mit dem Übergang zur
Marktökonomie haben zu tiefen Änderungen im Bauwesen und in der Projektierung geführt,
was sich unvermeidlich in der Ausbildung der Fachleute widerspiegelte. Die Grundmerkmale
der Projektierungpraxis in den vergangenen Jahrzehnten waren die Konzentrierung von
Projektarbeiten in großen Projektinstituten und wissenschaftlichen Instituten der
experimentalen Projektierung, wo große Kollektive arbeiteten. Den Projektlösungen
zugrunde lag das Prinzip der strikten Typisierung von Objekten bei der Massenbebauung und
Massenindustrie. Die typisierten Konstruktionen bestanden vorwiegend aus Stahlbeton. Es
genügt zu sagen, daß 95% der städtischen Häuser nach Typenprojekten entstanden. Solche
Art der Projektierung erlaubte nur eine sehr schmale Spezialisierung von Projektanten, und
zwar nicht nur als Architekten oder Bauingenieure, sondern auch nach den typologischen
Prinzipien ( zum Beispiel gab es den Architekt im Wohnungsbau, den Architekt für Schulen
und Kinderkrippen usw. oder den Ingenieur-Konstrukteur für Holzkonstruktionen, für
Stahlkonstruktionen, den Ingenieur für Fenster oder den für Wandplatten und sogar den
für Plattenfugen.).
Die heutige Situation ist mit dem Zerfall der großen Projektinstitutionen verbunden.
Die großen staatlichen Aufträge sind drastisch reduziert worden. Ebenso das Volumen der
Typenprojektierung und Typenbauweise. Die Kapazitäten der Baukombinate sind geringer
geworden. Die große Bauorganisationen zerfallen.
Es entstehen reine Projektbüros, die sich an den individuellen Aufträgen orientieren.
Diese Aufträge werden sowohl in industriellen als auch in traditionellen Konstruktionen
verwirklicht. Kleinen Baufirmen entstanden.
Solch eine Umwandlung im Projekt-und Bauwesen weckt die Nachfrage an Fachleuten mit
einem breiten Profil, verlangt die Annäherung von Architekten- und
Bauingenieureausbildung. Das hat zur Wiedergeburt von Ingenieur-Architekten geführt.
Das führende Konzept der Ausbildung von Ingenieur-Architekten beinhaltet die
ausgewogene Zusammensetzung von künstlerischen und Architekturfächern sowie
Ingenieurfächern, die die komplexe Ausbildung von Fachleuten garantiert, die die ganze
Kette von Arbeiten im Bauwesen und Projektmanagement beherrschen.
Der Ingenieur-Architekt soll die Vorprojektanalyse beherrschen. Er muß
juristisch-korrekte Verträge abschließen. Ferner muß er die funktionale und räumliche
Seite beachten und Architektur- und Kompositionsprobleme lösen können. Er muß auch die
konstruktiven Fragen lösen und mit der Ingenieursausrüstung der Gebäude vertraut sein.
Der Fachmann soll die Methoden der Bauaufsicht beherrschen und auch die Kenntnisse
über die Organisation und Technologie des Bauprozesses haben. Natürlich kann und soll er
nicht allein alles machen. Die komplizierten statischen und dynamischen Fragen können an
die Konsultingbüros übergegeben werden. Bauausführung ist auch nicht seine Metier. Aber
die Hauptqualität eines solchen Fachmanns sollte folgende sein: Er soll das ganze Projekt
von Anfang bis zu Ende führen können, soll die Arbeit von Spezialisten kontrollieren und
sachkundige Entschlüsse fassen.
Das heißt nicht, daß er mechanisch gekürzte Kenntnisse auf dem Gebiet der
Architektur und des Ingenieurwesens bekommen soll. Der Lehrprozeß muß so aufgebaut
werden, daß am Ende ein komplexer Fachmann das Resultat ist, der in der Zukunft seine
Begabungen entweder in der Architektur- oder in der Ingenieurrichtung weiter entwicklen
kann. Aber mit seinen Kenntnissen und seiner Kultur soll er die architektonischen und
technischen Konzepte der Gebäude entwickeln, die Autorenaufsicht und das ganze Projekt
führen, das Bauvorhaben oder die Baupolitik leiten.
Die methodische Hauptrichtung der Ausbildung von Ingenieuren-Architekten ist die
Entwicklung von Projektierungsfähigkeiten als Basis für die zukünftige
Berufstätigkeit. Die Reihenfolge der Ausbildung gründet sich auf der überwiegend
künstlerisch-kompositionalen Ausbildung und der humanitären Ausbildung in den ersten
Kursen, aber dann mit dem Verschieben der Akzente auf technische Fächer in den höheren
Kursen, Die Gesamtdauer der Ausbildung inklusive der Diplomarbeit ist 5,5 Jahre. Die
komplexen Projekte, wo der Student in einem Projekt verschiedene künstlerische und
technische Aufgaben löst, sind in allen Semestern vorhanden.
Die erste Diplom-Projekte von Ingenieuren-Architekten wurden im vorigem Sommer
verteidigt. Die Praxis zeigt, daß die Nachfrage nach solchen Spezialisten sehr groß ist.
Alle Absolventen haben einen Arbeitsplatz in Baufirmen erhalten.
Ein Wettbewerb von Diplomarbeiten, der zusammen mit der Technischen Universität Berlin
organisiert wurde, hatte einen großen Erfolg, Die Ideen von WCHUTEMAS, die in der
Ausbildung von Ingenieuren-Architekten in der Moskauer Staatlichen Bauuniversität
wiedergeboren sind , haben in unserer Zeit der Wandlungen wieder eine große Nachfrage.