Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

A.K.Solovev

Entwerfen und Architekturausbildung in der Moskauer Staatlichen Bauuniversität

unter den neuen ökonomischen Bedingungen Rußlands

Anfang des Jahrhunderts war in Europa die Epoche der Revolutionen. Deutschland und Rußland waren Staaten, deren Geschichte in dieser Zeit sehr ähnlich war.
Diese gemeinsamen Züge in der Entwicklung wurden auch auf dem Gebiet der künstlerischen Mentalität widergespiegelt. Die neuen rewolutionären Ideen in der Kunst wurden in Deutschland im Bauhaus verwirklicht. In Rußland gab es die gleiche Schule und eine ähnliche philosophische Richtung in der angewandten Kunst und Architektur. Ihr Kurzname war WCHUTEMAS oder „ Die Höheren Künstlerisch-technischen Werkstätten". Im Jahre 1922 nahm WCHUTEMAS die künstlerisch-industrielle Ausbildung auf.

Das WCHUTEMAS-Erbe - das sind neue Konzepte in der Formenbildung und das sind auch die Träger dieser Konzepte - die Absolventen dieser Schule, die einen großen Einfluß auf die Architektur und Architekturausbildung hatten.Image1.jpg (28989 Byte)
Im November 1997 feierte die Architekturöffentlichkeit Rußlands das 75jährige Jubiläum von WCHUTEMAS. Zu diesem Jubiläum wurde eine Ausstellung organisiert im MARCHI (Moskauer Hochschule für Architektur) mit dem Hauptziel, die Atmosphäre von WCHUTEMAS erfühlen zu lassen und auch zu zeigen, wie die heutigen Studenten diese Atmosphäre spüren, sie in ihren Entwürfen verkörpern.Image2.jpg (33448 Byte)
Es wurden die Interieurs von einer Werkstatt der WCHUTEMAS wiederhergestellt; die die Atmosphäre von WCHUTEMAS zu spüren erlaubten. Anhand der Bilder wurden diese Interieurs „von innen und von außen" gezeigt.

 

Interieurs einer Werkstatt von WCHUTEMAS

Während der Arbeit an den Interieurs dieser Ausstellung haben die Studenten diese schöpferische Stimmung, die in diesem Ausbildungsorganismus herrschte, nicht nur verstanden, sondern auch gespürt. Der Beweis für den Erfolg dieses Experiments sind seine Entwürfe nach einer Aufgabenstellung, wie sie WCHUTEMAS hatte. In der Regel waren das die Modelle, die teilweise auf den Bildern dargestellt wurden. Hier waren rein formalistische Kompositionen vertreten, z. B. der Tatlin-Turm. Aber es gab auch Formen, die von der heutigen Nachfrage inspiriert wurden.

In dieser Hinsicht ist es interessant, diese Arbeiten mit den originalen Arbeiten von WCHUTEMAS, die auch auf den Bildern dargestellt sind, zu vergleichen. So zum Beispiel die „Fliegende Stadt" von Krutikov und andere Entwurfe. Man kann sagen, daß die Aufgaben von WCHUTEMAS von den heutigen Studenten verstanden wurden.

Die Absolventen von WCHUTEMAS haben in der nachfolgenden Zeit in gleichem Maße Einfluß auf den Stil der Arbeit von drei Hochschulen gehabt. Das waren die Moskauer Architekturhochschule (MARCHI), die Moskauer Hochschule für Kunstgewerbe (Stroganoff) und die Moskauer Ingenieurhochschule für das zivile Bauwesen (MIIGS), aus dem heute die Moskauer Staatliche Bauuniversität entstanden ist. Die Ideen und die formalen Entwurfe wurden in Stein und Beton verkörpert. In diesem Zusammenhang ist es zweckmäßig, den Vergleich zwischen der formalen Suche von Tatlin und den existierenden Metallkonstruktionen des Schuchov-Radioturms zu führen. Dieser Radioturm mit seiner stabartigen Struktur, gelegen im Zentrum Moskaus, weist Motive von Tatlin auf.

Schuchov-Radioturm

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Arbeiten von Absolventen dieser Schule sind:

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das Planetarium der Architekten Barsch und Sinjawsky,

das Haus der Kommune von Ivan Nikolaev, der lange Zeit der Rektor von MARCHI war, das berühmte Narkomfin-Haus von Ginsburg,

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das Moskauer Kraftwerk

gegenüber vom Hotel Rossija, gebaut von Joltovsky, einem Apologeten der Renaissance-Interpretationen der stalinistischen Architektur, der auf dem Platz der Revolution „Palazzo del Kapitanio aus Vichenza von Palladio" wiederholt hatte, sind in den goldenen Bestand der Architektur der Epoche des Konstruktivismus aufgenommen.

Einige von diesen Avantgardisten, z.B. Melnikov ( sein Haus in den Arbat-Gassen im Moskau und sein Klub namens Russakov sind auf den Bildern dargestellt) waren mit der formalen Seite dieser Architektur beschäftigt. Andere haben die funktionale Schule gegründet. Viele von denen wurden zu solchen Spezialisten, die wir jetzt die Ingenieur-Architekten nennen.Image8.jpg (32585 Byte) Einer von ihnen war faktisch auch Le Corbusier, dessen Haus (eine der besten Schöpfungen von ihm) - das Haus des Zentrosojus in Moskau - alle funktionalen und konstruktiven Prinzipien des Konstruktivismus verkörperte.

Haus des Zentrosojus

 Die heutige Moskauer Staatliche Bauuniversität ist faktisch der Nachkömmling von der Moskauer Ingenieurhochschule für das zivile Bauwesen. Hier haben solche Absolventen von WCHUTEMAS wie Chernopischsky, Fufajev, Welikovsky, Ralisch, Menschikov und andere gearbeitet. Diese Leute haben das Konzept der Ingerieuren-Architekten vom Tode gerettet. Heute ist dieser Beruf wiedergeboren.

Die ökonomische Situation in unserem Lande heute ist sehr ähnlich der ökonomischen Situation nach dem Bürgerkrieg und dem Kriegs-Kommunismus in Rußland. Im Jahre 1921 wurde die Neue Ökonomische Politik (NEP) begonnen, das war ein wirklich blühendes Wachstum der Marktökonomie in Sowjetrußland. Das alles gab den Anstoß für die Organisierung von WCHUTEMAS.

Die ökonomischen Änderungen in Rußland im Zusammenhang mit dem Übergang zur Marktökonomie haben zu tiefen Änderungen im Bauwesen und in der Projektierung geführt, was sich unvermeidlich in der Ausbildung der Fachleute widerspiegelte. Die Grundmerkmale der Projektierungpraxis in den vergangenen Jahrzehnten waren die Konzentrierung von Projektarbeiten in großen Projektinstituten und wissenschaftlichen Instituten der experimentalen Projektierung, wo große Kollektive arbeiteten. Den Projektlösungen zugrunde lag das Prinzip der strikten Typisierung von Objekten bei der Massenbebauung und Massenindustrie. Die typisierten Konstruktionen bestanden vorwiegend aus Stahlbeton. Es genügt zu sagen, daß 95% der städtischen Häuser nach Typenprojekten entstanden. Solche Art der Projektierung erlaubte nur eine sehr schmale Spezialisierung von Projektanten, und zwar nicht nur als Architekten oder Bauingenieure, sondern auch nach den typologischen Prinzipien ( zum Beispiel gab es den Architekt im Wohnungsbau, den Architekt für Schulen und Kinderkrippen usw. oder den Ingenieur-Konstrukteur für Holzkonstruktionen, für Stahlkonstruktionen, den Ingenieur für Fenster oder den für Wandplatten und sogar den für Plattenfugen.).

Die heutige Situation ist mit dem Zerfall der großen Projektinstitutionen verbunden. Die großen staatlichen Aufträge sind drastisch reduziert worden. Ebenso das Volumen der Typenprojektierung und Typenbauweise. Die Kapazitäten der Baukombinate sind geringer geworden. Die große Bauorganisationen zerfallen.

Es entstehen reine Projektbüros, die sich an den individuellen Aufträgen orientieren. Diese Aufträge werden sowohl in industriellen als auch in traditionellen Konstruktionen verwirklicht. Kleinen Baufirmen entstanden.

Solch eine Umwandlung im Projekt-und Bauwesen weckt die Nachfrage an Fachleuten mit einem breiten Profil, verlangt die Annäherung von Architekten- und Bauingenieureausbildung. Das hat zur Wiedergeburt von Ingenieur-Architekten geführt.

 

Das führende Konzept der Ausbildung von Ingenieur-Architekten beinhaltet die ausgewogene Zusammensetzung von künstlerischen und Architekturfächern sowie Ingenieurfächern, die die komplexe Ausbildung von Fachleuten garantiert, die die ganze Kette von Arbeiten im Bauwesen und Projektmanagement beherrschen.

Der Ingenieur-Architekt soll die Vorprojektanalyse beherrschen. Er muß juristisch-korrekte Verträge abschließen. Ferner muß er die funktionale und räumliche Seite beachten und Architektur- und Kompositionsprobleme lösen können. Er muß auch die konstruktiven Fragen lösen und mit der Ingenieursausrüstung der Gebäude vertraut sein.

Der Fachmann soll die Methoden der Bauaufsicht beherrschen und auch die Kenntnisse über die Organisation und Technologie des Bauprozesses haben. Natürlich kann und soll er nicht allein alles machen. Die komplizierten statischen und dynamischen Fragen können an die Konsultingbüros übergegeben werden. Bauausführung ist auch nicht seine Metier. Aber die Hauptqualität eines solchen Fachmanns sollte folgende sein: Er soll das ganze Projekt von Anfang bis zu Ende führen können, soll die Arbeit von Spezialisten kontrollieren und sachkundige Entschlüsse fassen.

Das heißt nicht, daß er mechanisch gekürzte Kenntnisse auf dem Gebiet der Architektur und des Ingenieurwesens bekommen soll. Der Lehrprozeß muß so aufgebaut werden, daß am Ende ein komplexer Fachmann das Resultat ist, der in der Zukunft seine Begabungen entweder in der Architektur- oder in der Ingenieurrichtung weiter entwicklen kann. Aber mit seinen Kenntnissen und seiner Kultur soll er die architektonischen und technischen Konzepte der Gebäude entwickeln, die Autorenaufsicht und das ganze Projekt führen, das Bauvorhaben oder die Baupolitik leiten.

Die methodische Hauptrichtung der Ausbildung von Ingenieuren-Architekten ist die Entwicklung von Projektierungsfähigkeiten als Basis für die zukünftige Berufstätigkeit. Die Reihenfolge der Ausbildung gründet sich auf der überwiegend künstlerisch-kompositionalen Ausbildung und der humanitären Ausbildung in den ersten Kursen, aber dann mit dem Verschieben der Akzente auf technische Fächer in den höheren Kursen, Die Gesamtdauer der Ausbildung inklusive der Diplomarbeit ist 5,5 Jahre. Die komplexen Projekte, wo der Student in einem Projekt verschiedene künstlerische und technische Aufgaben löst, sind in allen Semestern vorhanden.

Die erste Diplom-Projekte von Ingenieuren-Architekten wurden im vorigem Sommer verteidigt. Die Praxis zeigt, daß die Nachfrage nach solchen Spezialisten sehr groß ist. Alle Absolventen haben einen Arbeitsplatz in Baufirmen erhalten.

Ein Wettbewerb von Diplomarbeiten, der zusammen mit der Technischen Universität Berlin organisiert wurde, hatte einen großen Erfolg, Die Ideen von WCHUTEMAS, die in der Ausbildung von Ingenieuren-Architekten in der Moskauer Staatlichen Bauuniversität wiedergeboren sind , haben in unserer Zeit der Wandlungen wieder eine große Nachfrage.

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