Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Svetozar Zavarihin

Entwerfen in der Architektur: zwischen Norm und Konzeption

Wie auch jede andere Tätigkeit, ist das Entwerfen historisch konkret und typologisch vielfältig. Zwei Hauptaufgaben liegen aber immer dem Entwerfen zugrunde:

Begründung, Lokalisierung und Modellieren der materiellen, funktionalen, ökonomischen, strukturellen und ästhetischen Werte des künftigen Baues, Prozesses oder der Erscheinung

Dokumentation und der Arbeitsgang bei der Verwirklichung des Projekts.

Die zweite Aufgabe ist technologisch bedingt. Ihre Lösung hängt von den technischen Möglichkeiten der Epoche und von der Art der ersten Aufgabe ab.

Die Formulierung und die Lösung der ersten Aufgabe ist nicht nur von der Eigentümlichkeit des zu entwerfenden Baues und der Schaffenskonzeption der Autoren des Projekts abhängig, sondern auch von den Besonderheiten des gesellschaftlichen Epochebewußtseins, der gesellschaftlichen Produktion und Konsumtion. Diese Faktoren (plus der soziale Auftrag und die individuelle Schaffenskraft) insgesamt konkretisieren die Typologie des Entwerfens. Seinerseits ist Typologie die Widerspiegelung der Projektierungsziele. Man kann dann die zwei äußersten (polaren) Zielgruppen, zwischen denen die ganze Vielfalt der Projektziele untergebracht ist, lokalisieren.

Die erste Zielgruppe strebt danach, die konkreten, meistens traditionellen Ergebnisse, die schon Analoga haben, zu erreichen. In diesem Fall haben die Projektierungsaufgaben eine logische, konsequente Lösung aufgrund der offiziellen und inoffiziellen Normative und Normativvorstellungen. In dieser Art von Lösungen steckt immer ein üblicher ästhetischer Code, der von der individuellen Schaffensmethode der Autoren des Projekts fast unabhängig ist. Dieses methodologische Prinzip weist in die Vergangenheit zurück, als das unpersönliche, «folkloristische» Entwerfen und Bauen aufgrund der Erfahrungen der Vorgänger vorherrschte. Dem Entwurf zugrunde lag dann ein Muster, ein historisches Analogon, die traditionellen Vorstellungen. Die äußerst langsame Entwicklung der produktionsbedingten und sozialen Funktionen, Konstruktionen und Baustoffe hat die Festigkeit und die Unveränderlichkeit der Bauformen gesichert. Solche Sachlage schloß die individuelle Projektierung des Künstlers aus und ließ nur zu, auf den Gebäudetyp hinzuweisen.
Die Individualität des Baues entstand erst im Laufe der Bauarbeiten , auch unter dem Einfluß der Forderungen und Ansichten des Auftraggebers oder war durch die Landschaft bedingt und durch anderes mehr. Das «Selbstentwerfen» des Projekts wurde auch durch die Beschränktheit der architektonischen Typologie erleichtert. Darum beruhte die Technologie des Entwerfens nicht auf den Zeichnungen, sondern auf den mündlichen und schriftlichen Wortblöcken oder Modellen. Diese «ungenaue» Wiedergabe der Information ermöglichte die Entwicklung der architektonischen und konstruktiven Formen. Dadurch wurde die bindende Wirkung des Nomativen in der ganzen vorindustriellen Kultur und somit auch in der Architektur überwunden.
Heutzutage, da sich die Architektur immer mehr dem Design annähert und folglich die traditionelle typologische Stabilität der Formen und Bilder verliert; erhöht sich wieder die Bedeutung des architektonischen «Selbstentwerfens». Dazu trägt auch die Technologie des sich schnell entwickelnden Entwerfens mit Hilfe des Computers bei. Die Computerprogramme erfüllen die Rolle des traditionellen unpersönlichen Algorithmus des Entwerfens. Die Epoche von CAD kann deswegen nicht in der nächsten Zukunft zum Ende kommen; sie entwickelt sich immer weiter in Richtung einer größeren Variabilität. Der soziale Auftrag an die «mechanische» Architektur entspricht der Spezifik des Kapitals als Auslöser und Stimulans für die meisten Bauarbeiten.

Die entgegengesetzte Gruppe der Projektierungsziele findet man in konzeptionellen Entwürfen, die den Durchbruch aus dem Bereich der «Entwicklung der Erfahrung» in den Bereich des «Konstruierens der Zukunft» verwirklichen. Die Methodologie dieser Entwürfe hat die Eigenschaften einer wissenschaftlichen Untersuchung, aber mit spekulativ vorgegebenen Ausgangsparametern. Dabei kann ein bestimmtes funktionales, ingenieur-technisches oder konstruktives Problem besonders hervorgehoben werden (wobei sie alle miteinander zusammenhängen und aufeinander wirken).
Das konzeptionelle Entwerfen ist der Ausdruck des inneren Bestrebens jeder Epoche, jeder konkreten Entwicklungsrichtung, den eigenen Rahmen zu überschreiten und in die Sphäre von neuen schöpferischen Möglichkeiten einzutreten. Diese Richtung des Entwerfens wird besonders aktuell in Krisezeiten und Übergangsperioden, wenn viele Grundlagen der Gesellschaft ihren Halt verlieren, oder umgekehrt , in der Zeit des Stillstandes und der Stagnation, wenn die Suche nach dem Ausgang aus dieser Lage aktiviert wird. Im Vergleich zu der ersten Zielgruppe, wo die materiellen Faktoren primär sind, tritt in der Gruppe der konzeptionellen Suche die Idee und die Konzeption hervor. Diese Projektierungsrichtung meint nicht die obligatorische Umsetzung des Entwurfes. Die Idee selbst und ihre Darstellung in der graphischen , verbalen oder virtuellen Form sind von eigenem Wert. Immerhin gibt es in der Geschichte der Architektur einige Beispiele der baulichen Realisierung von Gebäude-Konzeptionen ( Bauten von B. Fuller, P.-L. Nervi, R. Neitr, K. Kurokawa, Mies van der Rohe).

Eine besondere Zielgruppe bilden die architektonischen Projekte, die auf die Suche nach einer neuen Ästhetik oder auf das ästhetische «Kanonisieren» einer konkreten existierenden Stilrichtung hinzielen. Alle andere Bestandteile des Bauwesens werden in diesem Fall der ästhetischen Dominante untergeordnet. Diese Art der konzeptionellen Projektierung liegt in der Regel nahe bei der schöpferischen Suche in den anderen Kunstarten und garantiert eine neue Synthetisierung der Kulturformen. Unter dem Einfluß der ästhetischen Konzeption werden die üblichen Formen der «Materialisierung» der Funktion umgebildet und die Suche nach neuen konstruktiven Möglichkeiten aktiviert.
In dieser Zielgruppe haben die Entwurfskonzeptionen eine selbständige Bedeutung. Allein ihr Vorhandensein übt schon eine Wirkung auf die Entwicklung der Architektur aus
( Entwürfe von Piranesi, N. Ledoux, I. Leonidov, A. Sant-Elia). Diese Wirkung bringt nicht so sehr konkrete Formen hervor, als vielmehr die Richtung der Suche nach neuen Formen und Prinzipien (darunter auch Prinzipien der Projektierung). Aber keine geringere Bedeutung für die Entwicklung haben Gebäude, die als Demonstration der «reinen» ästhetischen Konzeption gebaut worden sind (Werke von F. Brunelleski, A. Palladio, Le Corbusier, F. Johnson, Mies van der Rohe, K. Tange, F. O`Gery, R. Venturi, O. Niemeyer).

Der moderne Entwicklungsstand der Architektur demonstriert die neuen Möglichkeiten und die neue Rolle der Projektierung. Die bis heute vorherrschende traditionelle Funktion der Projektierung bestand in der «Materialisierung» der vorgegebenen idealen Vorstellungen (von historischer Analoga, Ideen des Autors, Forderungen des Auftraggebers, Forderungen der Norm u.ä.). Das Schaffen von O`Gery, der die architektonischen dekonstruktivistischen «Skulpturen» mittels des Computers schafft, beweist die prinzipielle Möglichkeit der Vorrangigkeit der Projektierungstechnologie vor der Idee des Autors. Der höchste Grad der Kompliziertheit der dreidimensionellen Komposition ermöglicht nicht ihre Entstehung ausschliesslich durch die kreative Vorstellung des Autors: nur Computer sind imstande, eine Projektversion auf der Grundlage des vom Autor und von den objektiven Tatsachen vorgegebenen Algorithmus der Formengebung herzustellen.
Bei aller Vielfalt der Aufgaben und Formen zeichnet sich die Projektierung durch Mannigfaltigkeit möglicher Lösungen aus und durch die Unmöglichkeit, ein absolut objektives Ergebnis zu erreichen. Das ist nicht nur durch die Technologie der Projektierung, sondern auch durch die Spezifik der Hauptkomponente der Projektierung - der Architektur - zu erklären. Die Vielseitigkeit der Architektur, nicht eindeutig fixierte «Ausgangswerte» bringen mit sich die Variabilität der Ergebnisse. Der Relativismus der Lösungen entsteht direkt infolge der subjektiven Faktoren, eines aktiven axiologischen Feldes, das jeder Entwurf bis zu seiner Vollendung und danach durchläuft (Wertungen der Auftraggeber, Experten, Behörden, Kritiker, der öffentlichen Meinung). Es ist deswegen unmöglich, eine Projektierungsaufgabe vorzugeben, die eine einzige, absolute Lösung zum Ziel hat.
Somit kann die Projektierung als einer der wichtigsten kulturbildenden Faktoren sowohl passiv sein (den vorherrschenden kulturellen Formen und Traditionen untergeordnet) als auch aktiv sein( wobei sie die neuen kulturellen Formen und Traditionen schafft). Die neuen Projektierungstechnologien bringen neuen Wertungskriterien mit sich. Die Totalität der neuen Technologien und die Umrwandlung der Projektierung in einen eigenständigen Tätigkeitsbereich, der auf dem «Förderbandprinzip» und den eigenen Entwicklungsgesetzen beruht, führt zur Instabilität des axiologischen Feldes und des ganzen Wertungsystems im architektonischen Bereich. Das führt direkt zur Verwandlung der Architektur in ein Umweltdesign - in eine dynamische, mobile Sphäre, die zur Eigenreproduktion und zum Selbstentwerfen fähig ist. Die Voraussetzungen für solch eine radikale Umwandlung wurzeln sich schon im Inneren des modernen Projektierungsprozesses.

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